Deutschland im Übergang: Parteien und Wähler vor der Bundestagswahl 1990
Max Kaase/Wolfgang G. Gibowski
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Zusammenfassung
Der Beitrag skizziert die politischen Ausgangsbedingungen für die kommende gesamtdeutsche Bundestagswahl aus dem Blickwinkel der Wähler — ihrer Parteipräferenzen, ihrer Sicht der politischen Tagesordnung und ihres Wahlverhaltens bei den Landtags-und Europawahlen seit der Bundestagswahl 1987; er versucht, auf dieser Grundlage die Entwicklungstendenzen des deutschen Parteiensystems nach der deutschen Vereinigung zu analysieren. Die Befunde belegen, daß erst das Aufkommen der deutschen Frage im Herbst 1989 und ihre seitherige Dominanz der politischen Streitfragen nachhaltig zu einer Erholung der Union aus einem zweijährigen Tief in der Wählergunst geführt hat, weil überwiegend ihr und dem amtierenden Bundeskanzler Handlungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz in diesem Bereich zugeschrieben werden. Insofern sind die Chancen — vorbehaltlich einer zumindest tendenziell positiven weiteren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in der DDR — für die amtierende Regierungskoalition gut, in der Wahl ihre Position zu bestätigen. Nach dem überraschenden Auftauchen der Republikaner 1989 und deren Niedergang bis Sommer 1990 ist die interessanteste Frage, ob und in welchem Umfang sich das deutsche Parteiensystem im Prozeß der Einigung neu formieren wird. Das Ergebnis dieses Teils der Analyse ist. daß sich zwar größere Veränderungen des Parteiensystems vor allem wegen der PDS nicht ausschließen lassen, diese aber eher als unwahrscheinlich gelten können.
I. Vorbemerkung
Die kommende Bundestagswahl 1990, die am 2. Dezember stattfinden wird, ist eine Wahl des Übergangs. Durch den Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten ist sie weder eine he Dezember stattfinden wird, ist eine Wahl des Übergangs. Durch den Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten ist sie weder eine herkömmliche Bundestagswahl noch bereits eine gesamtdeutsche Wahl im Sinne einer Wahl in einem gewachsenen Gesamtstaat. Ihr Charakter als Wahl des Übergangs wird auch nicht davon berührt, daß am Tag der Wahl die DDR bereits der Bundesrepublik beigetreten sein wird. Trotzdem wird sich diese Wahl für die Bundesbürger, genaugenommen, kaum von den bisherigen Bundestagswahlen unterscheiden; allenfalls könnten Parteien, die es bisher nur in der DDR gibt (wie z. B. die PDS), auch im Westen gewählt werden. Selbst wenn für die Bundesbürger im Westen Deutschlands die politischen Probleme der DDR und die Folgen der Vereinigung im Bewußtsein noch zu weit entfernt sind, um diese zumindest der Perspektive nach in eine Art gesamtdeutschen Wahlverhaltens einzubringen, findet diese Wahl dennoch unter dem Eindruck dieser Vereinigung statt. Das Erscheinungsbild der Politiker und der Parteien sowie die politisehe Tagesordnung in der Bundesrepublik werden nachdrücklich durch den Einigungsprozeß geprägt, der im Sommer 1989 mit der Massenflucht von Bewohnern der DDR über Ungarn und die damalige CSSR einsetzte und mit der Öffnung der Mauer am 9. November einen besonderen, symbolträchtigen Höhepunkt erreichte.
Eine Vorausschau auf die Bundestagswahl muß sowohl den Verlauf dieser Legislaturperiode als auch die politischen Ereignisse und Trends berücksichtigen, die sich in den Ergebnissen der verschiedenen politischen Wahlen, insbesondere der Landtagswahlen, ausgedrückt haben. In ihrer Analyse der Landtagswahlen 1987/88 1) hatten die Verfasser ausgeführt, daß Landtagswahlen wie auch alle anderen sogenannten Nebenwahlen 2) in der Wahrnehmung der Wähler nur eine geringe eigenständige politische Bedeutung haben, wodurch die Wechselbereitschaft erhöht wird und die Gründe für die Wahlentscheidung nachdrücklich individualisiert werden. Die Entwicklung zur deutschen Einheit hat der Vielzahl der Einflußgrößen, die das politische Klima einer Legislaturperiode prägen, nun noch weitere Elemente hinzugefügt.
II. Die politische Entwicklung seit der Bundestagswahl 1987
Abbildung 4
Tabelle 2: Wahlergebnisse 1987— 1990: Differenzen zur Vorwahl
Tabelle 2: Wahlergebnisse 1987— 1990: Differenzen zur Vorwahl
1. Die Landtagswahlen seit 1987
Seit der Bundestagswahl vom 25. Januar 1987 sind in zehn der elf Bundesländer neue Landesparlamente Landtagswahl in Bayern worden, die steht am 14. Oktober noch bevor. In Schleswig-Holstein wurde zweimal gewählt, weil es nach dem Patt vom 13. September 1987 unter dem Eindruck der Barschel-Affäre am 8. Mai 1988 zu einer weiteren Wahl kam. In Hessen fand die ohnehin für 1987 geplante Wahl ein halbes Jahr früher statt, weil nach dem Scheitern der rot-grünen Koalition bei den bestehenden Mehrheitsverhältnissen eine neue Regierung nicht gebildet werden konnte. Auch in Hamburg kam es schon ein halbes Jahr nach der letzten Bürgerschaftswahl zur erneuten Wahl, weil nach der Wahl im November 1986 eine Regierungsbildung nicht gelungen war.
Mit Ausnahme der Landtagswahl in Hessen, der ersten Wahl nach der Bundestagswahl, und der Wahl in Nordrhein-Westfalen gab es für die CDU bei allen Wahlen Verluste, die in Bremen, bei beiden Wahlen in Schleswig-Holstein, in Berlin und in Rheinland-Pfalz deutlich ausfielen (vgl. Tabellen 1 und 2). Die Gründe für die Verluste der Union sind dabei recht vielfältig. Abnutzungserscheinungen dort, wo die CDU alleine oder mit der FDP regiert(e), überlagerten sich zum Teil mit koalitionspolitisch zu erklärenden Verlusten an die FDP; hinzu kamen jeweils noch landesspezifische Gründe. Der dramatische Absturz der CDU in Schleswig-Holstein von 49, 0 Prozent im März 1983 auf zunächst 42, 6 Prozent und schließlich auf 33, 3 Prozent erscheint besonders spektakulär, ist jedoch zumindest bezüglich des Rückgangs von 1987 auf 1988 auf die Barschel-Affäre zurückzuführen. In Berlin erklären sich die Verluste der CDU teilweise aus dem plötzlichen Auftreten der Republikaner; in Rheinland-Pfalz — wie übrigens auch in Schleswig-Holstein — hatte die CDU 1983 von der gleichzeitig stattfmdenden Bundestagswahl profitiert und so ein besonders hohes Niveau erreicht. In Hamburg war der Rückgang der CDU praktisch ausschließlich der FDP zugute gekommen, weil viele CDU-Wähler versucht hatten, über eine Stimmabgabe für die FDP die gemeinsamen Stimmenanteile des bürgerlichen Lagers zu optimieren. Damit kam die FDP zwar wieder in die Bürgerschaft, zu einer gemeinsamen Mehrheit mit der CDU reichte es dennoch nicht. Auffällig sind aber auch die Verluste der CDU in Bremen und im Saarland, wo die Partei in der Opposition so wenig überzeugend agierte, daß trotz des starken Stimmenpolsters der SPD keine Verbesserung gelang; in diese Kategorie schwacher CDU-Ergebnisse gehört, genaugenommen, auch das Abschneiden der Partei in Nordrhein-Westfalen, da der Verbesserung von 0, 2 Prozentpunkten bei schwacher Ausgangsbasis bestenfalls symbolische Bedeutung zukommt.
Das Abschneiden der FDP bei Landtagswahlen ist jeweils unter der gültigen Koalitionsperspektive zu sehen. Dort, wo die Liberalen Koalitionen mit der CDU bilden wollten und eine alleinige CDU-Mehrheit nicht mehr gewährleistet war, so in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, gingen Stimmengewinne der FDP ebenso zu Lasten der CDU wie in Hamburg, wo schließlich die gemeinsame Mehrheit mit der CDU doch nicht zustande kam; dies gilt bedingt auch in Hessen, wo beide Parteien gemein-15 sam einen knappen Sieg errangen. Jedenfalls sind — ganz im Sinne der mancherorts so in Mißkredit geratenen Lagertheorie — die Gewinne der Liberalen in den Landtagswahlen bis zur ersten Wahl in Schleswig-Holstein sicherlich überwiegend im Zusammenhang mit den Verlusten der CDU zu sehen. In den Landtagswahlen seit 1988 hat allerdings auch die FDP fast nur Verluste zu beklagen. Analysen haben gezeigt, daß hier jeweils spezifische landespolitische Konstellationen ausschlaggebend waren. So riskierte es die FDP im baden-württembergischen Wahlkampf, die Frage der Bonner Koalition zu thematisieren, weil es über Einzelheiten bei der Steuerreform zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Bonner Koalitionspartner gekommen war; in Berlin hatte sich die FDP darauf verlassen, daß die vier Jahre zuvor unter besonderen Anstrengungen und unter deutlichem Hinweis auf den möglichen Machtverlust des bürgerlichen Lagers gewonnenen 8, 4 Prozent inzwischen überzeugte FDP-Wähler geworden wären — ein bitterer Irrtum. Ähnliches gilt für das Saarland, wo die FDP 1985 ebenfalls von dem Versuch der CDU profitiert hatte, gemeinsam mit dem Koalitionspartner die Mehrheit des bürgerlichen Lagers zu erhalten.
Bei der SPD verlief die Entwicklung der Stimmen-anteile uneinheitlich und war von einer Reihe von Sonderentwicklungen geprägt. In Hessen war die" rot-grüne Koalition gescheitert, wobei die hinhaltende Taktik der SPD die Wähler offensichtlich nicht überzeugt hatte. Die Gewinne von Hamburg sind durch den Versuch des linken Lagers zu erklären, die Pattsituation in der Bürgerschaft zu überwinden, während der der SPD eine Koalition mit den GRÜNEN/GAL nicht gelungen war. Im benachbarten Bremen kann man die geringen Verluste der SPD sicherlich mit den Abnutzungserscheinungen einer seit langer Zeit mit absoluter Mehrheit regierenden Partei erklären. Die für bundesdeutsche Verhältnisse ganz außerordentlich hohen Gewinne in Schleswig-Holstein (1988) kamen zweifelsohne durch die Barschel-Affäre zustande. Die Gewinne in Berlin und in Niedersachsen, die in beiden Ländern zum Regierungswechsel zugunsten der SPD führten, können weitgehend mit der Ent-täuschung früherer CDU-Wähler erklärt werden. Die sehr hohen Zugewinne im Saarland, wo auf hohem Niveau nochmals eine deutliche Verbesserung des Wahlergebnisses gelang, sind als persönlicher Erfolg von Oskar Lafontaine zu werten, dessen Spitzenkandidatur für die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 1990 sich damals immer deutlicher abzeichnete.
Die Entwicklung der GRÜNEN ist unter ähnlichen Koalitionsperspektiven im Hinblick auf die SPD zu sehen wie die Veränderungen der FDP im Zusammenhang mit der CDU. Besonders deutlich gilt dies für Hessen sowie unter entgegengesetzten Vorzeichen für Hamburg und Niedersachsen, wo die SPD Stimmen vormals grüner Wähler gewann. Daß die GRÜNEN in Nordrhein-Westfalen offensichtlich auf Kosten der SPD zum erstenmal in den Landtag kamen, ist auf die besonders starke Position der SPD zurückzuführen, deren Mehrheitsfähigkeit auch bei geringen Verlusten nie ernstlich in Frage gestellt schien.
Die bis heute in der Bundesrepublik zu beobachtende Stabilität im Wählerverhalten, die bisher bei Bundestagswahlen noch nicht und bei Landtagswahlen nur selten zu einem direkten Regierungswechsel geführt hatte, wird durch die Ergebnisse der Landtagswahlen seit 1987, mit Regierungswechseln in Hessen, Schleswig-Holstein, Berlin und Niedersachsen, erheblich in Zweifel gezogen. Die in keiner früheren Legislaturperiode erreichte Zahl der Regierungswechsel stützt Überlegungen Klingemanns, der trotz weiterhin geltender historisch etablierter Bindungen zwischen bestimmten sozialen Gruppierungen und den beiden Volksparteien vermutet, daß aufgrund der allgemeinen Politisierung der Bevölkerung und der damit verbundenen Politisierung der Wahlentscheidungen künftiges Wahlverhalten einem stärkeren Wechsel unterliegen wird als bisher Landtagswahlen mit ihrer in der Regel nur geringen eigenständigen politischen Bedeutung eignen sich besonders gut, die steigende Bereitschaft der Bevölkerung zum Wechsel auch in der Stimmabgabe manifest werden zu lassen.
Daneben bestätigen die Trends der CDU-Ergebnisse von 1987 bis 1990 die Befunde Dinkels, der für Regierungsparteien einen zyklischen Verlauf der Popularität behauptet, die kurz nach und kurz vor einer Bundestagswahl zugunsten der amtierenden Bundesregierung besonders ausgeprägt ist und in deren Folge auch die Landtagswahlergebnisse der Regierungsparteien vergleichsweise besser ausfallen als in der Mitte der Legislaturperiode 2. Das politische Klima seit der Bundestagswahl 1987
Das Ergebnis der Bundestagswahl von 1987 beließ die Bonner Koalition im Amt und war, trotz des Stimmenrückgangs von insgesamt 2, 4 Prozent (der mit — 4, Prozent ausschließlich zu Lasten der CDU/CSU gegangen war), ein Erfolg der Bundesregierung. Diese Situation bestimmt zunächst die positive Stimmung in der Bevölkerung für die Bonner Regierungsparteien, was der hessischen CDU und FDP dazu verhalf, zum ersten Mal die bis dahin ununterbrochen regierende SPD abzulösen.
Das politische Meinungsklima seit der Bundestagswahl 1987 läßt sich anhand der Ergebnisse der in der Wahlforschung üblichen „Sonntagsfrage“ (Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, welche Partei würden Sie dann wählen?) nachzeichnen 5). Abbildung 1 zeigt daher die repräsentativ gewichteten Ergebnisse der Wahlabsichtsfrage, die in den monatlichen Politbarometer-Untersuchungen der Forschungsgruppe Wahlen (im Auftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens) erhoben wurden. Die Prozentuierungen erfolgten auf der Grundlage der Befragten, die auf die Wahlabsichtsfrage eine Partei genannt haben („gültige Stimmen“).
Die Kurvenverläufe von CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEN zeichnen die Entwicklung der politischen Stimmungslage in der Bundesrepublik in eindrucksvoller Weise nach. Nach dem für viele Beobachter überraschend guten Abschneiden von CDU und FDP in Hessen endeten die Erfolge und die gute Atmosphäre für die CDU/CSU. Bereits die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im Mai 1987 brachte deutliche Stimmenverluste, obwohl zu dieser Zeit im Meinungsklima die CDU/CSU noch vor der SPD lag. Nach einer Phase der Annäherung von CDU/CSU und SPD plazierte sich die SPD ab Herbst 1987, nach den Landtagswahlen in Schles-wig-Holstein und Bremen im September, kontinuierlich und zum Teil mit deutlichem Vorsprung vor der CDU/CSU. Die Stimmungslage im Herbst 1987 für die beiden großen Parteien ist vor allem auf die sich damals entwickelnde Barschel-Affäre zurückzuführen. 1988 kamen dann die äußerst kontroversen Reformpläne der Bundesregierung für das Gesundheitswesen sowie für das Steuersystem hinzu, wobei vor allem die Steuerreform unter dem Reiz-wort „Quellensteuer“ mit ausgesprochenem Schaden für die CDU/CSU diskutiert wurde
Unter dieser Entwicklung litt zunehmend auch die FDP, deren Stimmenanteil ab Januar 1988 fast immer niedriger eingeschätzt wurde als der der GRÜNEN. Daß in der Phase schwacher politischer Stimmungen zugunsten der beiden Regierungsparteien die Landtagswahl in Baden-Württemberg trotz eines Verlustes von 2, 9 Prozent für die CDU und 1, 3 Prozent für die FDP mit der Beibehaltung der Regierungsposition für Lothar Späth endete, konnte zumindest für die CDU noch als Erfolg gewertet werden. Die Wiederholung der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Mai 1988 brachte dann allerdings einen ausgesprochenen Stimmungshöhepunkt für die SPD in dieser Legislaturperiode, Bei dieser Wahl wurde die seit der Gründung der Bundesrepublik dort ununterbrochen regierende CDU von der SPD mit absoluter Mehrheit abgelöst — ein Signal für den Beginn einer noch schwächeren Phase der CDU/CSU. Auch diese Zeit ist geprägt von der weiterhin heftig diskutierten Steuerreform, insbesondere der Quellensteuer, der Reform des Gesundheitswesens und dem mit der Wahl in Berlin plötzlich aufkommenden Thema der Asylanten und deutschstämmigen Aussiedler aus Ost-und Südosteuropa.
Das mit dem Wahlergebnis von Berlin überraschende Auftreten der Republikaner machte diese Partei plötzlich auch bundesweit bekannt und führte im April 1989 zu dem demoskopischen Höhepunkt dieser Partei, als die Republikaner vor GRÜNEN und FDP drittstärkste politische Kraft wurden Dieser Zeitpunkt markiert auch den absoluten Tiefstand der CDU/CSU mit wenig mehr als 30 Prozent der Wählerpräferenzen. Erst die danach eingeleiteten Veränderungen der Regierungspolitik, insbesondere die Rücknahme der umstrittenen Quellensteuer und damit verbunden die Kabinettsreform, ließen die politische Stimmungslage für die CDU/CSU wieder ansteigen, so daß die dritte Direktwahl zum Europaparlament im Juni 1989 bereits in einer Phase der Konsolidierung der Bonner Regierungsparteien, insbesondere der CDU/CSU, stattfand.
Die Europawahl brachte der CDU trotz eines deutlichen Absinkens von 45, 9 Prozent auf 37, 8 Prozent insofern Auftrieb, als sie entgegen der demoskopischen Situation der vorhergehenden Monate knapp vor der SPD geblieben war, deren Anteil sich von 37, 4 Prozent auf 37, 3 Prozent verringert hatte. Daß die FDP nach dem knappen Scheitern von 1984 wieder im Europäischen Parlament vertreten war, signalisierte auch für die Liberalen in der Bonner Regierungskoalition eine Verbesserung des Meinungsklimas. Bemerkenswert war jedoch auf jeden Fall, daß trotz des Erfolges der Republikaner, die mit 7, 1 Prozent noch besser abgeschnitten hatten als die FDP, für diese Partei in der Folgezeit keine Stimmungsverbesserung sichtbar wurde. Im Gegenteil näherte sie sich immer deutlicher der Fünf-Prozent-Linie, um diese dann ab Dezember 1989 systematisch und deutlich zu unterschreiten. Ab dem zweiten Halbjahr 1989 verbesserte sich die Situation der CDU in einem fast regelmäßigen Auf und Ab der Stimmungslagen, so daß die Landtagswahlen 1990 bereits in einem deutlich günstigeren Klima stattfanden. Daß im Saarland dennoch Oskar Lafontaine, wohl auch unter dem Eindruck seiner sich abzeichnenden Kandidatur als Spitzenkandidat für die SPD zur Bundestagswahl 1990, nochmals Stimmenanteile hinzugewann und die CDU auf ohnehin schon niedrigem Niveau noch weiter verlor, ist eher mit regionalen Faktoren zu erklären und beeinflußte die Bundesstimmung nicht nachhaltig. Selbst die als Erfolg der SPD zu wertenden Wahl-ausgänge in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen — immerhin gelang es in Niedersachsen SPD und GRÜNEN, die bisherige CDU-FDP-Koalition abzulösen — hatten offensichtlich keinen anhaltenden negativen Einfluß auf die Stimmungslage zugunsten der CDU/CSU.
Im Juni 1990. kurz vor der Sommerpause, lagen dann SPD und CDU/CSU in der politischen Stimmung der Bevölkerung gleichauf, während die FDP sich wieder knapp vor die GRÜNEN geschoben hatte — ein Bild, das dem Wahlergebnis beider Parteien bei der Bundestagswahl 1987 ähnelt. Die Republikaner hatten sich in leichten Wellenbewegungen immer deutlicher der Null-Linie genähert und waren im Juni 1990 nur noch auf einen Präferenz-anteil von 0, 5 Prozent gekommen.
Abbildung 1 läßt erkennen, daß die Erholung der CDU im Herbst 1989 beginnt. Es liegt auf der Hand, zu vermuten, daß diese Veränderung in engem Zusammenhang mit dem überraschenden Auftauchen der „Deutschen Frage“ auf der politischen Agenda steht. Wie Abbildung 2 zeigt, wird die Tagesordnung seither tatsächlich nur noch durch ein Thema beherrscht: die politischen Entwicklungen in der DDR und der Einigungsprozeß zwischen den beiden deutschen Staaten. 3. Die Formation der Einstellungen zur deutschen Vereinigung Bedenkt man, daß selbst — wenn man den diesbezüglichen Berichten Glauben schenken kann — die Phantasie der Berufspolitiker in Deutschland und anderswo immer wieder dem Tempo der tatsächlichen Entwicklung in Sachen Vereinigung hinterher-gehinkt ist, so kann nicht überraschen, daß in der Anfangsphase das Bild der öffentlichen Meinung durch eine gewisse Ratlosigkeit und Diffusität gekennzeichnet war. Zu lange war die deutsche Wiedervereinigung schon im Status eines abstrakten Desiderats ohne jegliche Realisierungschance, als daß über konkrete Probleme und mögliche Lösungswege im Zusammenhang mit einer politischen Vereinigung nachgedacht worden wäre, ja es sich gelohnt hätte, darüber nachzudenken. Hinzu kam bei vielen, vor allem bei jüngeren Menschen, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der stetig voranschreitenden Westintegration der Bundesrepublik und einer nach wie vor tiefen Ambivalenz im Umgang mit der geschichtlichen Wahrheit des Nationalsozialismus. eine aktive Zustimmung zur Realität zweier Staaten einer Nation mit unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, Als die Forschungsgruppe Wahlen im Oktober 1989, veranlaßt durch die beginnende Öffnung der politischen Grenzen im westlichen Osteuropa, erstmals seit längerem wieder nach der Einstellung gegenüber der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten fragte, äußerten sich drei Viertel der Wahlbürger positiv. Diese Zustimmung hat sich bis zum Juni 1990 leicht, aber kontinuierlich auf über 80 Prozent erhöht, wobei — sieht man von den Anhängern der GRÜNEN ab, die sich allerdings dem Trend auch nicht völlig entziehen konnten — der Umstand besonders interessant ist, daß sich im zeitlichen Verlauf diese Zustimmung zwischen den restlichen Wählergruppen zunehmend homogenisierte, also an Strittigkeit verlor.
Heute existiert in der Bundesrepublik keine politische oder sozialstrukturelle Gruppe mehr, in der die Befürworter der Einigung nicht eine deutliche Mehrheit besäßen, wenn auch unter den jungen Menschen (bis 40 Jahre) mit hoher Schulbildung — unter diesen Bürgern sind bekanntlich viele Anhänger der GRÜNEN zu finden — die Befürwortung immer noch relativ am geringsten ausgeprägt ist. Dort waren auch die den Vereinigungsprozeß begleitenden Gefühle von Angst und Freude fast ausgeglichen, ganz anders als bei den älteren Bildungsbürgem, bei denen die Freude über die mögliche Vereinigung bei weitem überwog. Auf dem Hintergrund von Ambivalenz und Unstrukturiertheit der Meinungen (an eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den „nächsten zehn Jahren“ glaubten: im Oktober 1989 28 Prozent der Wahlberechtigten, im November 1989 48 Prozent und im Januar 1990 68 Prozent) fokussierte sich die Diskussion zunächst im wesentlichen auf die Frage nach dem optimalen Verlauf des Vereinigungsprozesses, und hier vor allem auf das Problem der Schnelligkeit, in der der Prozeß vonstatten gehen sollte. Im Januar 1990 waren die Auffassungen zu dieser Frage zwischen den drei Alternativen zu schnell, zu langsam und gerade richtig mit ca. einem Drittel fast gleich verteilt, und zwargleichermaßen bei den Anhängern aller Parteien Bis zum Mai 1990 war es dann allerdings Oskar Lafontaine gelungen, in dieser Frage eine Polarisierung zwischen Regierungsund Oppositionslager herbeizuführen und für seine Politik zunächst eine deutliche Mehrheit zu gewinnen (42 Prozent für Lafontaine zu 29 Prozent für Kohl).
Mit seinem Zaudern in der Frage der Kanzlerkandidatur, der die Uneinigkeit der SPD in dieser Frage bloßstellenden Diskussion über den ersten Staatsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR und dessen erfolgreicher parlamentarischer Verabschiedung sowie mit der darauf folgenden Einführung der DM in der DDR wurden entscheidende Weichenstellungen für den deutschen Vereinigungsprozeß vorgenommen, viele der vorhandenen Ambivalenzen durch die tatsächliche Entwicklung gedämpft (zumindest vorerst neutralisiert) und — darüber liegen uns noch keine genauen Daten vor — mit den Abmachungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesregierung vom 14. bis 16. Juli über die außen-und militärpolitische Einbettung des neuen gesamtdeutschen Staates ein Schlußpunkt bezüglich der Einigungsdiskussion gesetzt, der in der Sache nur noch kleinere Korrekturen und Anpassungen notwendig erscheinen läßt. Bedenkt man, daß schon im Mai ca. zwei Drittel der Wahl-bürger in der Bundesrepublik, d. h. notwendigerweise auch viele Anhänger der Oppositionsparteien, der Union die Kompetenz für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zusprachen, und bezieht man den weiteren, für die Bundesregierung sehr positiven Verlauf des Vereinigungsprozesses in die Betrachtung ein (schon im Juni fand Kohl für seine Politik eine Mehrheit unter den Wahlberechtigten), so muß außer Frage stehen, daß dieser Prozeß in der Bundesrepublik die Wahlchancen der beiden Regierungsparteien stark fördert, zumal die Dominanz der dabei zu lösenden wirtschaftlichen Probleme notwendigerweise deren wirtschaftspolitischen Kompetenzvorsprung (und damit -Vorschuß) aktiviert — vorausgesetzt natürlich, daß keine gravierenden wirtschaftlichen Probleme bis zur Wahl im Gefolge des Einigungsprozesses eintreten oder absehbar werden (dazu später mehr). Für das Gebiet der DDR hegen zwar keine vergleichbaren Verlaufsdaten vor, doch deuten bekanntgewordene Umfrageergebnisse für die Zeit nach der Einführung der DM darauf hin, daß trotz aller offensichtlichen Probleme auch in der DDR vorsichtiger Optimismus in bezug auf die Zukunft herrscht, von dem CDU und Liberale dort bei der Bundestagswahl ebenfalls profitieren müßten. Wenn also zur Zeit die politische Agenda durch eine hohe Themendominanz und -homogenität mit eindeutigen Vorteilen für die Bonner Regierungsparteien gekennzeichnet ist. kann sich daran dennoch das eine oder andere ändern. Somit stellt sich die Frage, ob mögliche Akzentverschiebungen in der Agenda schon jetzt absehbar sind.
Hier tauchen zum einen politische Probleme auf, die schon seit langer Zeit in der Bundesrepublik kontrovers diskutiert werden: Schwangerschaftsabbruch, die Etablierung plebiszitärer politischer Elemente in der Verfassung, die Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips durch ein Recht auf Arbeit und die (Übergangs-) Subventionierung veralteter Industrien. Diese Themen werden, sollten sie im Wahlkampf überhaupt an Bedeutung gewinnen, in erster Linie etablierte Parteiloyalitäten bei Anhängern von Regierung und Opposition stabilisieren, jedoch kaum so viel Kraft entfalten, daß über sie politische Gewichte (im Sinne von Wählerstimmen) nennenswert verändert werden. So sehen wir zur Zeit nur einen Bereich, über den bis zur Wahl, dann allerdings in erheblichem Umfang. Parteipräferenzverteilungen berührt werden: die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR und, damit eng verknüpft, auch in der Bundesrepublik.
In diesem Zusammenhang sind seit Beginn des Einigungsprozesses die unterschiedlichsten Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen in der Öffentlichkeit geäußert worden, wobei auch die Experten einmal mehr eher abweichende als ähnliche Akzentsetzungen vorgenommen haben. Immerhin scheint sich in der öffentlichen Diskussion inzwischen ein gewisser Konsens darüber eingestellt zu haben, daß bei der Vereinigung kurzfristig die Probleme dominieren werden und seitens der Bevölkerung der Bundesrepublik dafür auch Nachteile in Kauf genommen werden müssen, daß aber auf mittlere bis lange Sicht alle Beteiligten aus diesem Einigungsprozeß erhebliche Vorteile ziehen werden. Auf diesem Hintergrund sind Ergebnisse von drei Fragen von Interesse, welche die Forschungsgruppe Wahlen seit Februar 1990 an die Wahlbevölkerung der Bundesrepublik gestellt hat. Erhoben wurde, ob man eher Vor-oder Nachteile aus der deutschen Vereinigung erwarte, welches die kurzfristigen Nachteile konkret seien, und ob es Unterschiede zwischen den Entwicklungen „der nächsten Zeit“ und „auf lange Sicht“ gebe.
Diese Daten lassen sich zu drei Kernbefunden zusammenfassen. Zunächst einmal überwiegt kurzfristig die Erwartung von Nachteilen durch die Vereinigung bei weitem, ohne erkennbare Veränderungen im zeitlichen Verlauf; diese Nachteile werden fast ausschließlich im wirtschafts-und sozialpolitischen Bereich gesehen. Zweitens überwiegt, mit noch größerem Abstand, unter langfristiger Perspektive zur Zeit die Erwartung von Vorteilen durch die Vereinigung. Und drittens schließlich kann bestenfalls von einer milden Unterschiedlichkeit in der Bewertung durch die Anhänger der großen Parteien, um die es hier in erster Linie geht, gesprochen werden. Diese Divergenzen hüben sich zwar im Verlauf der Frühjahrsdebatte über den Staatsvertrag etwas verschärft, beziehen sich aber eher auf die kurzfristige als auf die langfristige Einschätzung der gesehenen Probleme.
Insgesamt kann nach dem augenblicklichen Kenntnisstand also nicht damit gerechnet werden, daß bei einigermaßen ruhigem Verlauf des Einigungsprozesses bis zur gesamtdeutschen Bundestagswahl aus dem Bereich der Einigungsbelastungen entscheidende Impulse ausgehen werden, welche die Position der Regierungsparteien nachhaltig schwächen und die der Oppositionsparteien ebenso nachhaltig stärken werden. Dieses Bild kann sich bei der allgemeinen Situationsunsicherheit natürlich sehr schnell ändern, wenn gravierende soziale und wirtschaftliche Probleme in der DDR und/oder der Bundesrepublik entstehen.
In der DDR war das Stimmungsbild gegenüber der deutschen Vereinigung übrigens schon zum Zeitpunkt der Volkskammerwahl am 18. März 1990 recht eindeutig und hat sich bis heute kaum verändert: Damals wie heute votieren über 90 Prozent für die Vereinigung, wobei auch ca. 80 Prozent der PDS-Anhänger diese Meinung teilen, und nach wie vor ist vielen das Tempo der Vereinigung etwas zu schnell, wobei die Anhänger der Allianz für Deutschland mehrheitlich mit der Geschwindigkeit des Vereinigungsprozesses einverstanden sind. Die Einführung der DM wurde von Anfang an von über 90 Prozent der Befragten für gut gehalten, eine Meinung, der sich auch die PDS-Anhänger mit großer Mehrheit angeschlossen haben. Insgesamt überwog bisher zu jedem Zeitpunkt die Auffassung, daß die Vereinigung der beiden deutschen Staaten — selbst dann, wenn sie kurzfristig zu Nachteilen führen mag — auf lange Sicht eher Vorteile bringt. Dies drückt sich auch in der Beurteilung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage aus, die Ende Juni/Anfang Juli von nur 1, 5 Prozent aller in der DDR Befragten für gut gehalten wurde, während gleichzeitig 73 Prozent davon ausgingen, daß die wirtschaftliche Lage in einem Jahr besser sein würde, und nur neun Prozent eine Verschlechterung erwarteten. Insgesamt ist die Situation in der DDR seit der Wahl vom 18. März durch einen vorsichtigen Optimismus geprägt. Insofern war es auch keine Überraschung, daß das Abschneiden der Parteien bei den Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 dem bei der Volkskammerwahl beobachtbaren Muster folgte
III. Zur Entwicklung des deutschen Parteiensystems
Abbildung 5
Quelle: Politbarometer — monatliche Befragung von jeweils 1000 Personen, die repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland sind. Berechnung und Grafik: Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim. Abbildung 1: Die politische Stimmungslage der Bevölkerung 1987— 1990
Quelle: Politbarometer — monatliche Befragung von jeweils 1000 Personen, die repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland sind. Berechnung und Grafik: Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim. Abbildung 1: Die politische Stimmungslage der Bevölkerung 1987— 1990
Die kommende Bundestagswahl bringt für die Bundesrepublik eine wichtige historische Periode zum Abschluß, in der die von Konrad Adenauer gesteuerten Grundsatzentscheidungen für die soziale Marktwirtschaft und für die wirtschaftliche wie militärische Westintegration diesem Land eine klare Entwicklungsperspektive und nach großen Schwierigkeiten letztlich auch eine eigenständige gesellschaftlich-politische Identität gegeben haben. Ähnliche Ambivalenzen über das Gesicht des zukünftigen Deutschland, wie sie im Augenblick von vielen benachbarten Nationen empfunden und — erfreulicherweise — offen geäußert werden, bestimmen notwendigerweise angesichts der großen Entwicklungsunsicherheiten im einzelnen auch die Gefühle der Bürger von Bundesrepublik wie DDR gegenüber der Herstellung der staatlichen Einheit. Dabei, das sei am Rande gesagt, geben Sachlichkeit und Distanz der Bürger im Umgang mit dieser Problematik durchaus Anlaß zu Beruhigung.
Dennoch wirft die Zusammenführung der Bevölkerungen beider Staaten, von denen einer fast vollständig 45 Jahre lang unter ganz anderen gesellschaftlichen und politischen Ordnungsvorstellungen mit hoher Homogenität der beteiligten Institutionen sozialisiert worden ist, unter ein Verfassungsdach Probleme und vor allem Fragen auf. Eine dieser Fragen, mit der wir uns im folgenden befassen wollen, bezieht sich auf die möglichen Einflüsse des Vereinigungsprozesses auf das sich danach konstituierende gemeinsame Parteiensystem. Hier ist zunächst einmal an institutionelle Arrangements bezüglich des Wahlrechts zu denken, deren Erörterung sich im Frühsommer 1990 besonderer Popularität erfreute. Diese Diskussion war nicht zuletzt deswegen unerfreulich, weil sie leicht unter Manipulationsverdacht geraten mußte — eine Gefahr, die gerade wegen des hohen Legitimitätsbedarfs des Einigungsprozesses in beiden Teilen Deutschlands um jeden Preis vermieden werden sollte Es versteht sich von selbst, daß die hier getroffenen Entscheidungen (vor allem: Zahl und Art der Wahleinheiten. Höhe und Geltungsbereich der Sperrklausel) eine erhebliche Bedeutung für die Weiterentwicklung des deutschen Parteiensystems gewinnen werden. Die seit langem in der Bundesrepublik erfolgreich arbeitende empirische Wahlforschung hat die Konturen und Bedingungen für die Etablierung des jetzigen Parteiensystems in vielen Einzelheiten nachgezeichnet; darauf muß an dieser Stelle nicht rückverwiesen werden. Zu erinnern ist lediglich daran, daß der für viele Demokratien typische Prozeß der modernisierungsbedingten Entstrukturierung (dealignment) — d. h.der partiellen Auflösung klassischer Parteimilieus und sozialstrukturell vermittelter Parteibindungen — auch die Bundesrepublik begrenzt erfaßt hat. Ergebnisse dieses Prozesses sind einerseits die kontinuierliche Erhöhung des vor allem aus der neuen Mittelschicht, aber auch aus der Milieuauflösung stammenden Wechselwählerpotentials und andererseits die Etablierung der GRÜNEN als einer wert-und ideologie-geprägten Milieupartei neuer Art (die sich als „Neue Linke“ vor allem aus dem „Dunstkreis“ der neuen sozialen Bewegungen speist).
Diese spätestens seit der vollen parlamentarischen Repräsentation der GRÜNEN bei der Bundestagswahl 1983 stabile Systemstruktur ist mit den bereits angesprochenen und durchaus spektakulär zu nennenden Wahlerfolgen der rechtsgerichteten Republikaner 1989 zumindest zwischenzeitig ins Wanken geraten. In historischer Perspektive könnte sich herausstellen, daß diese Partei ihre Systemfunktion zumindest insofern erfüllt hat, als sie der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit eine Diskussion über Themen aufgezwungen hat, die von ihr aus mancherlei Gründen gescheut worden ist: die Ausländer-und Asylantenproblematik, Verteilungsgerechtigkeit der wohlfahrtsstaatlichen Transfers, ein vor allem in den Großstädten zusammenbrechender Wohnungsmarkt und nicht zuletzt die Demaskierung eines partiell interessengeleiteten stereotypen Etikettierungsrituals als „rechtsextremistisch“
und „nationalsozialistisch“ für bestimmte Negativ-erscheinungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Differenzierungsprozesses. Sowohl die Analysen zur sozialstrukturellen Verankerung des Wählerpotentials der Republikaner als auch die Versuche, deren politischen und ideologischen Standort im Parteiensystem der Bundesrepublik eindeutig zu bestimmen, haben zu dem Ergebnis geführt, den Wahlerfolg dieser Partei im wesentlichen als Protestphänomen zu bewerten Mit dem schnellen Aufgreifen der Republikaner-Themen durch die etablierten Parteien und durch die Öffentlichkeit 1989 war ohnehin schon zweifelhaft geworden, ob es dieser Partei gelingen würde, die hohe Schwelle für eine dauerhafte Rolle im bundesdeutschen Parteiensystem zu überspringen. Wie bereits ausgeführt, wurde darüber hinaus mit dem Aufkommen der deutschen Frage im Herbst 1989 die politische Tagesordnung derart verändert, daß mit den Themen — sofern sie wie etwa der Wohnungsmarkt nicht bereits institutionalisiert worden waren — auch die elektorale Unterstützung dieser Partei geschwunden ist; schon seit Monaten befindet sie sich in den Politbarometeruntersuchungen am Rande der Meßbarkeit. Unsere Analysen lassen zur Zeit nicht erwarten, daß die Republikaner in das erste gesamtdeutsche Parlament einziehen werden, zumal durch weitläufige interne Parteiquerelen auch ihr äußeres Erscheinungsbild erheblich beeinträchtigt ist.
Während also auf der bundesrepublikanischen Seite eher Kontinuität angesagt ist, stellt der Eintritt von ca. 12 Mio. DDR-Wahlberechtigten zumindest die Chance einer erheblichen Veränderung im Parteiensystem dar. Haben sich doch an der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 34 Parteien und Gruppierungen beteiligt, die in 23 Listen und Listenvereinigungen zusammengefaßt waren und von denen zwölf eine parlamentarische Repräsentation erreichen konnten Das kaum erwartete gute Abschneiden der Blockpartei CDU bei dieser Wahl hat natürlich die Öffentlichkeit ungemein beschäftigt. Unter wahlsoziologischer Perspektive ergeben sich daraus mehrere Fragen und Überlegungen. Die genannte Überraschung über das Wahlergebnis war so groß, weil viele — mehr oder minder seriöse — „Wahlprognosen“ bis kurz vor der Wahl die SPD in der Nähe einer Mehrheitsposition gesehen hatten. Diese Vermutung war auch unter struktureller Perspektive durchaus plausibel; denn die SPD hatte bei der von der NSDAP noch einigermaßen unbeeinflußten Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 in den zehn Wahlkreisen, die im wesentlichen das Gebiet der jetzigen DDR repräsentieren, immerhin 35, 1 Prozent der Stimmen erreicht, denen man noch 6 Prozent zurechnen kann (aus damaliger Sicht), die KPD gewählt hatten 15).
Nun läßt sich sicherlich keine mechanische Kontinuität von Parteitraditionen postulieren, wenn wichtige politische Sozialisationsinstanzen wie Parteien und Interessengruppen über eine Periode von rund sechzig Jahren ausfallen und keine Möglichkeit zur Wahl der Partei besteht Dennoch ist das schwache Abschneiden der SPD, die mit der bundesdeutschen SPD als einer modernen, ideologisch weitgehend offenen Massenpartei eng verbunden schien, erklärungsbedürftig, zumal der geringe Katholikenanteil in der DDR (mit ca.sechs Prozent) und der hohe Anteil der Bevölkerung ohne Religionszugehörigkeit auch strukturell an sich ein gutes Wahlergebnis der SPD begünstigt hätten.
Die vorliegenden Daten gestatten, wie schon weiter vorne gesagt, die Schlußfolgerung, daß die Volkskammerwahl im wesentlichen ein Plebiszit über den schnellen Vollzug des Einigungsprozesses dargestellt hat. Mit ihrer ambivalenten Position in dieser Frage, die nicht zuletzt durch Oskar Lafontaine hohen Aufmerksamkeitswert erlangt hatte, minderte die SPD ihre grundsätzlich sehr gute Wahl-chance entscheidend. Als Regierungspartner in der neuen DDR-Regierung hat sie sich jedoch — wie auch die Liberalen — eine angemessene Plattform für zukünftige Wahlen geschaffen. Die bevorstehenden Vereinigungen der drei westdeutschen Traditionsparteien mit ihren Schwesterorganisationen in der DDR werden diese Situation auch für das Gebiet der DDR verfestigen. Offen bleibt damit die Zukunft der vier Parteigruppen, die in der DDR ebenfalls nennenswerte Wählerunterstützung erhalten haben: die SED-Nachfolgeorganisation PDS, die CSU-gesponserte Deutsche Soziale Union (DSU), die Bauernparteien Demokratische Bauernpartei Deutschlands und (der erstmals bei der Kommunalwahl am 6. Mai kandidierende) Bauernverband sowie die DDR-GRÜNEN.
Man sollte sich vor allzu schnellen historischen Verallgemeinerungen hüten, wenn sie nicht theoretisch fundiert werden können. Dennoch liegt die Parallele zu den ersten Bundestagswahlen von 1949 und 1953 nahe, als sich mit der beginnenden Konsolidierung der Bundesrepublik auch sehr schnell die 1949 noch große Parteienvielfalt entscheidend verminderte, allerdings — das ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung — nicht ohne die Unterstützung einer veränderten Sperrklausel, die nun nicht mehr in den Ländern, sondern bundesweit galt. Auf die Situation der DDR umgedeutet, hegt die Schlußfolgerung nahe, daß bei einer günstigen Wirtschaftsentwicklung dort auch über wahlgesetzüche Regelungen hinaus ein Druck zur Konzentration des Parteiensystems entstehen wird, der spätestens 1994 bei der nächsten Bundestagswahl Wirkung zeigen sollte.
Es gibt jedoch guten Grund zu der Annahme, daß. dies schon früher geschehen könnte, worüber z. B. die jetzt für den 14. Oktober 1990 vorgesehenen Wahlen für die Landtage der fünf neu gegründeten DDR-Bundesländer einen ersten Aufschluß geben könnten. Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands ist bereits in der CDU aufgegangen. Ob sich der Bauernverband an einer nationalen Wahl überhaupt beteiligen wird, ist offen. Die enge Verbindung zwischen DSU und CSU bedeutet auf mittlere Sicht für die DSU zumindest eine organisatorische Stützung. Daß die feinsinnige Logik, die zur Gründung dieser Partei geführt hatte, auch den Wählern überzeugend vermittelt werden kann, darf bezweifelt werden. In Umfragen in der DDR liegt die DSU jedenfalls bezüglich der Frage nach der Wahlabsicht für die Bundestagswahl zur Zeit kontinuierlich bei Werten, die selbst im Falle der Beibehaltung der DDR als eines getrennten Wahlgebietes eine parlamentarische Repräsentation nahezu ausgeschlossen erscheinen lassen. Insgesamt kann also von diesen politischen Kräften kein nachhaltiger Einfluß auf das westdeutsche Parteiensystem erwartet werden — es sei denn über eine längerfristige Repräsentation in den neuen Landesparlamenten der fünf DDR-Bundesländer, die aber auf lange Sicht ebenfalls wenig wahrscheinlich ist (immer vorausgesetzt, daß der Angleichungsprozeß der beiden deutschen Teile in den nächsten Jahren ohne große soziale und politische Konflikte verläuft). Damit bleibt die Frage nach der Zukunft der PDS zu beantworten, die bei der Volkskammerwahl 16, 3 Prozent der gültigen Stimmen und 65 der 400 Mandate gewann. Bedenkt man, in welchem Umfang die PDS in städtischen Gebieten, vor allem in Ost-Berlin, Unterstützung fand, so liegt die Vermutung einer klientelistischen Verschränkung zwischen Partei und Wählern, die in Staats-und Parteipositionen beschäftigt sind bzw. waren, auf der Hand. Mit der politischen Marginalisierung der PDS im Laufe des Vereinigungsprozesses, der eine Delegitimierung dieser Partei angesichts fehlender überzeugender Programmalternativen nach sich ziehen wird, dürfte dieser Verbindung jedoch der Boden entzogen werden. Andererseits kann angesichts der Auflösung der etablierten Interessenmonopole der Mitglieder und Anhänger der Staatspartei (man denke nur an die Ostberliner Akademie der Wissenschaften und die dort beschäftigten ca. 25 000 Personen) auch nicht ausgeschlossen werden, daß die PDS sich zumindest auf mittlere Sicht als Auffangbecken für den sich aus diesem Auflösungsprozeß mit einiger Sicherheit ergebenden Sozialprotest noch halten kann. Auf lange Sicht allerdings besteht ihre Chance, sich im deutschen Parteiensystem festzusetzen, wohl nur darin, sich als radikale Linkspartei zu definieren. Da diese Alternative durch den Demokratisierungsprozeß in den sozialistischen Ländern ideologisch entleert worden ist und die PDS darüber hinaus mit der Einnahme dieser Position in Konkurrenz zu den GRÜNEN geraten würde, die bekanntlich über einen festen, überzeugten Wählerstamm in der Bundesrepublik verfügen, müssen ihre Erfolgschancen über ihre Rolle einer sektiererischen linken Protestpartei hinaus langfristig als gering eingestuft werden. Hingegen kann man erwarten, daß mit der wirtschaftlichen Erholung sehr schnell — nicht zuletzt über die hohen objektiven Umweltbelastungen in der DDR — ein Reservoir für die GRÜNEN entstehen wird, sofern es deren westdeutschem Zweig auch weiterhin gelingt, trotz erheblicher Zieldifferenzen zwischen den Parteieliten ihre organisatorische Einheit zu erhalten. Nicht ganz auszuschließen ist eine Situation, in der die beiden Flügel der GRÜNEN sich am Ende doch nicht mehr als kooperationsfähig erweisen. Dann könnte eine Situation eintreten, in der diese Partei zerfällt, die „Realos“ sich der SPD anschließen und die „Fundamentalisten“ sich mit der PDS zu einer populistischen Linkspartei am äußersten Ende des ideologischen Spektrums zusammenfinden. Große Überlebenschancen möchten wir auch einer so gearteten Linkspartei auf Dauer nicht einräumen.
Zusammenfassend erwarten wir also im Rahmen der Angleichung der Lebensverhältnisse und institutionellen Gegebenheiten in der DDR an die der Bundesrepublik auch einen Transfer des westdeutschen Parteiensystems in die DDR. so daß sich auf mittlere Sicht formal, d. h. nach der Zahl und Art der Parteien, keine wesentlichen Veränderungen gegenüber dem jetzigen westdeutschen Parteiensystem ergeben dürften — dies natürlich unter den bereits mehrfach angesprochenen Vorbehalten bezüglich des Verlaufs und der Folgen des Einigungsprozesses.
Das Wahlergebnis in der DDR vom 18. März wirft nun unter wahlsoziologischem Blickwinkel interessante Fragen auf. Dieses Quasi-Plebiszit könnte nämlich, angesichts fehlender Wahltraditionen und klar definierter sozialstruktureller Trennungslinien (cleavages), sehr wohl den Status einer strukturierenden (aligning, um einen Begriff aus der amerikanischen Wahlsoziologie zu verwenden), Partei-präferenzen auf längere Zeit fixierenden Wahl annehmen. Aber auch auf diese Weise zunächst einmal vorläufig zustandegekommene Bindungen benötigen kommunikative Absicherung, zu der einmal das persönliche Lebensumfeld der Wähler und zum anderen das System der Massenkommunikation beitragen. Darüber hinaus, und darauf hat die Wahlforschung immer wieder hingewiesen, bedarf es jedoch auch der intermediären Integration der Wähler, d. h.der Einbindung in ein System der organisierten Interessenvermittlung. Dieser Bereich ist nun gerade in der DDR aus politisch-historischen Gründen außerordentlich unterentwickelt oder — wo noch in Ansätzen vorhanden — nachhaltig delegitimiert (letzteres gilt z. B. für die „alten“ Gewerkschaften, für Schulen, Vereine usw.). In Zukunft wird man also der Entwicklung des Verbandswesens auf dem Gebiet der DDR große Aufmerksamkeit schenken müssen, wobei für die Wahlsoziologie von besonderem Interesse sein wird, ob sich die Gewerkschaften dort in ähnlicher Gestalt wie in der Bundesrepublik verfestigen und welche Koalitionen sie mit politischen Parteien bzw. überwiegend einer politischen Partei (wie auf dem Gebiet der Bundesrepublik mit der SPD) eingehen werden.
Die neben dem „Klassencleavage“ zweite zentrale Konfliktlinie der Bundesrepublik, die einen überwiegend katholischen und allgemein wertkonservativen Bereich einem dekonfessionalisierten säkularen Bereich gegenüberstellt, hat angesichts des geringen Katholikenanteils und einer weitgehend durch den Staat erzwungenen Säkularisierung für das Gebiet der DDR eine wesentlich unsicherere Zukunftschance. Bedenkt man allerdings, daß die Kirche in der DDR mit der zunehmenden Demokratisierung und der Errichtung pluralistisch verfaßter. genuin politischer Institutionen zunehmend ihre Position als Träger politischen Protests verlieren wird, kann nicht völlig ausgeschlossen werden, daß sie sich wieder aus dem politischen Raum zurückziehen und möglicherweise sogar zum Träger konservativer Wertorientierungen werden könnte; wahrscheinlich ist diese Entwicklung allerdings nicht.
Damit entsteht die Frage, auf welcher Grundlage — wenn überhaupt — sich in der DDR dauerhafte Parteibindungen bilden und stabilisieren werden. Von besonderem Interesse wäre dabei eine Entwicklung, die geltende, historisch gewonnene wahlsoziologische Erkenntnisse geradezu auf den Kopf stellen würde: indem sich nämlich nicht — wie üblich — gesellschaftliche Interessen ihre Organisationen schaffen und über Kooperation mit Parteieliten dauerhaft vermitteln, sondern daß umgekehrt etablierte Parteiensysteme — zumindest in diesem Sonderfall — sich ihren eigenen intermediären gesellschaftlichen Unterbau erzeugen.
IV. Epilog: Plus 9a change. . .?
Abbildung 6
Abbildung 2: Wichtigste Probleme 1989— 1990 Quelle: vgl. Abbildung 1
Abbildung 2: Wichtigste Probleme 1989— 1990 Quelle: vgl. Abbildung 1
Mit der am 2. Dezember 1990 stattfindenden ersten gesamtdeutschen Wahl des nationalen Parlaments kommt ein bedeutsamer Teil der deutschen Geschichte zu einem Abschluß, aber auch die bundesdeutsche Wahlforschung sieht sich vor einer großen Zäsur. Wie groß dieser Einschnitt sein wird, kann im Augenblick noch nicht genau bestimmt werden. Drei Einflußgrößen sollten jedoch besonders beachtet werden. Am offensichtlichsten ist die Tatsache, daß sich zwei Wahlgebiete vereinigen werden, von denen eines einen langen und erheblichen Kontinuitätsbruch demokratischer Institutionen, eine Phase sozialistisch-kommunistischer Indoktrinierung, eine umfassende gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheitsberaubung und einen plötzlichen Verlust staatlicher Identität zu überwinden hat. In diesem Sinne wird Deutschland nach dem 2. Dezember etwas anderes als die Summe der beiden Staaten sein. Für einige Zeit wird die Wahlforschung diesen Umstand in ihren Theorien, Methoden, Fragestellungen und Daten besonders zu berücksichtigen haben. Ob sich daraus erhebliche neue theoretische Akzente ergeben werden, lassen wir vorerst offen. Ein zweiter Gesichtspunkt liegt ebenfalls auf der Hand: Die spezifischen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Unterschiede der beiden deutschen Teile werden der politischen Agenda neuartige Probleme und damit eine veränderte Qualität bescheren. Sie werden politische Akteure vor Herausforderungen stellen, auf die Routinereaktionen noch nicht verfügbar sind. Es wird sorgsam zu beobachten sein, wie sich die Wähler auf diese Veränderungen und die Reaktionen der’ politischen Akteure einstellen werden.
Drittens werden jedoch auch das Verfassungs-und Institutionengefüge sowie der politische Prozeß insgesamt ein neues Gesicht gewinnen, wobei die Tatsache des Hinzukommens von fünf neuen Bundesländern mit zusätzlichen Landtagswahlterminen und damit verbunden die noch höhere Politisierung des Gesamtsystems vermutlich nicht die unbeachtlichste ist. So wird z. B. die Frage erneut gestellt werden müssen, ob sich die Bundesrepublik im Interesse eines einigermaßen stetigen Verlaufs der Bundespolitik in Zukunft pro Legislaturperiode ca. 15 — 16 Wahltermine leisten will und kann (von den inzwischen auch schon fast zu quasi-nationalen Wahlen hochstilisierten Kommunalwahlen einmal ganz abgesehen).
Diese Fragen und Probleme werden ihre volle Kraft und Folgen noch nicht bei der kommenden Bundestagswahl entfaltet haben, die man vielmehr als Übergangswahl mit theoretischem und politischem Sonderstatus kennzeichnen muß. Dieser Status entkleidet sie allerdings nicht ihrer zentralen Funktion der Herrschaftszuweisung auf Zeit und entläßt die Wahlsoziologie auch nicht aus ihrer Aufgabe, die kurz-, mittel-und langfristigen Bestimmungsgründe für das Stimmverhalten der Bürger in ihrer relativen Bedeutung zueinander zu analysieren. Wir haben versucht, in dem vorliegenden Beitrag diese Faktoren und ihr Zusammenwirken deskriptiv-analytisch zu bestimmen. Für das Ergebnis der kommenden Wahl gelangen wir dabei, bezogen auf die politische Zusammensetzung der ersten gesamtdeutschen Bundesregierung, zu dem Ergebnis: plus a change, plus c’est la meme chose.
Max Kaase, Dr. rer. pol., geb. 1935; o. Professor für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung an der Universität Mannheim; von 1974 bis 1980 Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim, einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Hilfseinrichtung der Forschung für die Sozialwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themenbereichen Wahlsoziologie, politische Partizipation, Demokratietheorie, vergleichende Regierungslehre (im Sinne der comparative politics), Massenkommunikation und Methoden der empirischen Sozialforschung. Wolfgang G. Gibowski, Dipl. -Volksw., geb. 1942; Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen e. V., Mannheim; Lehrbeauftragter an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themenbereichen Wahlsoziologie, Massenkommunikation und Methoden der empirischen Sozialforschung.