Vom Post-Kommunismus zur Demokratie. Politik, Parteien und Wahlen in Ungarn <fussnote> Der Beitrag ist die gekürzte Fassung von: „Interne Studie Nr. 18, Vom Post-Kommunismus zur Demokratie. Politik, Parteien und die Wahlen 1990 in Ungarn“, Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin bei Bonn. August 1990. </fussnote> | APuZ 45/1990 | bpb.de
Vom Post-Kommunismus zur Demokratie. Politik, Parteien und Wahlen in Ungarn <fussnote> Der Beitrag ist die gekürzte Fassung von: „Interne Studie Nr. 18, Vom Post-Kommunismus zur Demokratie. Politik, Parteien und die Wahlen 1990 in Ungarn“, Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin bei Bonn. August 1990. </fussnote>
Rudolf L. Tökes
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Zusammenfassung
Mit der Entfernung Jänos Kädärs und seiner Verbündeten aus dem Politbüro und dem ZK der regierenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) im Mai 1988 beginnt in Ungarn der post-totalitäre Weg in die pluralistische Demokratie. Die Wahlen vom März und April 1990 schließen eine erste Phase politischer Transformation Ungarns ab, die wegen ihrer gewaltlosen Änderungsprozesse und der kompromißbereiten Handlungsinitiative der politischen Akteure als „ausgehandelte Revolution“ bezeichnet werden kann. Zudem läßt sich im Fall Üngarns von „hausgemachten“ Entwicklungen sprechen, die aufgrund inneren Drucks und des entschlossenen Vorantreibens der politischen Neuerungen durch eine emanzipierte Mittelklasse bewegt wurden. Anders als bei den zeitweise sehr raschen Umstürzen in der damaligen DDR, der Tschechoslowakei und Rumänien ist es Langsamkeit, die die Reformprozesse innerhalb Ungarns bestimmt. Betrachtet man die Ergebnisse der Volksbefragungen im November 1989 im Vergleich zu den Frühjahrswahlen 1990, so wird eine Bewußtwerdung der Wählerschaft während der manchmal ungestümen Wahlkämpfe erkennbar: weg von Persönlichkeitspräferenzen und abrechnenden Stellungnahmen zur totalitären Vergangenheit, hin zu allmählichen Identifizierungen mit den politischen Programmen im neuen Parteienpluralismus. Hervorstechend aus der Analyse der Wählerentscheidungen ist das Verschwinden der USAP als parlamentarische Partei und damit die demokratische Entscheidung für den Systemwechsel, gebunden an die Einsicht schmerzlicher sozialer Konsequenzen bei der wirtschaftlichen Umgestaltung. Die neue Koalitionsregierung, bestehend aus dem christlich-nationalen Ungarischen Demokratischen Forum (UDF), der Partei der Kleinlandwirte und der Christlich-Demokratischen Volkspartei, wird unter Führung des UDF-Vorsitzcnden Dr. Jözsef Antall bei ungesicherten Mchrheitsverhältnissen auf partei-übergreifende Initiativen und die konstruktive Rolle der Oppositionsparteien angewiesen sein.
Die politische Transformation Ungarns von einem post-totalitären Staat zu einer pluralistischen Demokratie fand zwischen Mai 1988 und Mai 1990 statt. Die wichtigsten Merkmale dieses Übergangsprozesses von einem politischen System zu einem anderen waren Gewaltlosigkeit, Kompromißbereitschaft seitens der politischen Akteure sowie das gemeinsame Engagement einer überwältigenden Mehrheit in Eliten und Bevölkerung zugunsten radikaler Änderungen in den Institutionen, in der Regierungspolitik und bei der außenpolitischen Orientierung des Landes. Das Ergebnis dieses Prozesses könnte man als „ausgehandelte Revolution“ bezeichnen In der vorliegenden Studie wird die Dynamik der politischen Umwälzung in Ungarn analysiert; dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle die politischen Parteien spielten, wie es zu den Wahlergebnissen vom 25. März und vom 8. April 1990 kam und was der Ausgang der Wahlen für die Regierungsfähigkeit Ungarns bedeutet.
I. Vom Post-Totalitarismus zur Demokratie (1988 bis 1990)
Ungarns Weg zur Demokratie begann mit der Entfernung Jänos Kädärs und mehrerer seiner engen politischen Verbündeten aus dem Politbüro und dem ZK der regierenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) anläßlich der historischen nationalen Konferenz dieser Partei am 22. Mai 1988 Dieses Ereignis war nicht lediglich — wie manche Kädär-Treuen später behaupteten — das Ergebnis eines innerparteilichen Putsches, sondern Folge des unwiderstehlichen Drucks, den bereits überfälligen Generationswechsel in der Führung einzuleiten. Wie die Ereignisse der folgenden 24 Monate demonstrierten, stellte die innerparteiliche Machtübernahme durch die von Käroly Grosz angeführten „Jungtürken“ mittleren Alters aus dem Parteiapparat wesentlich mehr dar als die bloße Beendigung der Kädär-Ära. In diesem Ereignis ist vielmehr der erste Schritt zur politischen Emanzipierung und zum letztendlichen Sieg der neuen post-kommunistischen Mittelklasse Ungarns zu sehen. Zu ihr gehören städtische und ländliche, administrative und akademische, kulturelle und jugendliehe Eliten, Manager und Technokraten sowie Vertreter der Medien; für diese Schichten war der Zeitpunkt für eine politische Machtübernahme in Ungarn gekommen
Interne Schwierigkeiten der USAP und der schnell zunehmende Druck aus dem Westen und der UdSSR trugen dazu bei, daß in Ungarn ein neues politisches Umfeld entstand, in dem Regimekritiker nunmehr in der Lage waren, ihre Anliegen offen vorzutragen. Im Mai 1988 existierten bereits drei organisierte Gegner der USAP: das Ungarische Demokratische Forum (UDF), der Bund Freier Demokraten (BFD), der sich damals als Netzwerk freier Initiativen bezeichnete, und der Bund Junger Demokraten (BJD). Zwar unterlagen Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk nach wie vor der Zensur, das Regime schien jedoch schon ein wenig hilflos zu sein, und es konnte die erste vom UDF veranstaltete Massendemonstration zugunsten der Menschenrechte in Siebenbürgen im Juni 1988 nicht verhindern. So entstand im Herbst 1988 aus der Koexistenz von Altem und Neuem ein neuer, „präpluralistischer“ Typus von politischem Umfeld.
Was dann die schrittweise Desintegration und letztliehe Auflösung der Politik und Institutionen des „real existierenden Sozialismus“ in Ungarn nicht nur ermöglichte, sondern unausweichlich werden ließ, war von Oktober 1988 an ein in der Geschichte vorher nie dagewesenes Zusammentreffen von innerem und äußerem Druck zugunsten eines Wandels. Der Zusammenbruch des Ancien regime in Ungarn spielte sich zwischen Mai 1988 und April 1990 in sieben Phasen ab. Die wichtigsten Wendemarken dabei waren: 1. November bis Dezember 1988: Angesichts eines massiven Mitgliederschwundes und Auflösungserscheinungen im Parteiapparat trat Grosz seine persönliche Führungsfunktion in der Regierung an Mikios Nemeth ab, der Ende November Premierminister wurde. Darüber hinaus unternahm Grosz den Versuch, die Partei zu reorganisieren; es gelang ihm jedoch nicht, das Drängen der Reformer auf Dezentralisierung, Demokratisierung und lokale Autonomie aufzufangen? Am Ende verlor er die Nerven und sprach von der Gefahr eines „weißen Terrors“ in Ungarn. Aus Furcht vor einem möglichen konservativen Staatsstreich scharten sich die Reformkräfte der Partei um Imre Pozsgay und die kleine Gruppe seiner Gefolgsleute im ZK der USAP 2. Januar 1989: Am 29. Januar erklärte Imre Pozsgay öffentlich, die Ereignisse vom Oktober 1956 seien ein „Volksaufstand“ gewesen und nicht eine „Konterrevolution“, wie dies die USAP 33 Jahre lang behauptet hatte Vor diese Herausforderung gestellt, entschieden sich Grosz und die konservative Mehrheit im ZK dafür, die Position des von Pozsgay geführten Reformflügels zu übernehmen. Ferner befürwortete die USAP nunmehr das Prinzip eines Mehrparteiensystems für Ungarn. Damit legitimierte das Regime nicht nur die Bildung nichtkommunistischer Parteien, sondern auch die Entstehung von Reformgruppen innerhalb der herrschenden Partei. 3. März bis Mai 1989: Die gleichzeitige Entstehung mehrerer demokratischer Parteien, Vereinigungen und sonstiger politischer Gruppierungen sowie der „Reformzirkel“ innerhalb der eigenen Partei unter-gruben die politische Autorität von Grosz. Den Forderungen nach Reformen in der Partei kam man dadurch entgegen, daß der Einberufung einer nationalen Parteikonferenz (aus der später ein vollwertiger Parteikongreß werden sollte) für den Herbst zugestimmt wurde; die gleichen Forderungen führten zu einem Revirement von Teilen der Parteiführung im April. Der Logik dieser Ereignisse entsprach es, daß es im weiteren Verlauf zu einer Konfrontation zwischen Grosz und Nemeth kam, aus der der letztgenannte als Sieger hervorging. Am 9. Mai erklärte sich die Partei bereit, ihre noch verbliebenen Befugnisse gegenüber der Regierung abzugeben; gleichzeitig verlor Jänos Kädär den Ehrenposten eines Parteivorsitzenden. 4. Juni bis September 1989: Die Zustimmung der Regierung zur feierlichen Umbettung von Imre Nagy — einem der Führer des Volksaufstandes von 1956, der 1958 nach einem Geheimverfahren hingerichtet worden war — und der Beginn substantieller Verhandlungen mit der Opposition im Rahmen eines nationalen „Runden Tisches“ kennzeichneten den Anfang vom Ende der Einparteiherrschaft in Ungarn. Mit Rezsö Nyers als neuem Parteivorsitzenden an der Spitze eines vierköpfigen Präsidiums und eines aus 21 Mitgliedern bestehenden Exekutivausschusses der Partei löste sich die USAP schrittweise in eine passive schweigende Mehrheit und sechs formlose Gruppierungen von Befürwortern und Gegnern der Reformen auf. Die erdrutschartigen Siege der Oppositionsparteien bei vier Nachwahlen zur Nationalversammlung im Sommer zwangen die Verhandlungsführer der USAP dazu, zwar nicht allen, aber doch vielen Forderungen der Opposition nach radikalen gesetzgeberischen und institutioneilen Reformen nachzugeben. Die am 18. September 1989 erzielte Einigung am „Runden Tisch“ schuf die formellen Spielregeln für einen friedlichen Übergang bis hin zu freien Wahlen im Frühjahr 1990 5. Oktober bis November 1989: Der Kongreß der USAP vom 6. bis 9. Oktober markierte die Auflösung dieser Partei und die Geburtsstunde der Ungarischen Sozialistischen Partei (USP). Um den Neubeginn unter Beweis zu stellen, entließ die neue Partei alle Mitglieder ihrer Vorgängerin — allerdings nur um sofort einen Werbefeldzug für den Beitritt zur neuen Partei in Gang zu setzen. Diese wohlgemeinten Schritte konnten jedoch weder die nicht parteigebundene Mehrheit der Ungarn noch das möglicherweise umfangreiche prosozialistische Wählerpotential des Landes davon überzeugen, daß die „erneuerte“ USP fest entschlossen sei, unter die Ideologien und die Politik der alten USAP einen klaren Schlußstrich zu ziehen Inzwischen wurde aus der von Nemeth geführten und nunmehr der Kontrolle der Partei entzogenen Regierung eine „geschäftsführende Administration“ aus ehemaligen Kommunisten und einigen unabhängigen Politikern. Diese Regierung sorgte für eine zügige Umsetzung der Absprachen des „Runden Tisches“. Bis zum Ende des Monats Oktober war aus Ungarn eine Republik mit überarbeiteter Verfassung und einem nicht mehr rückgängig zu machenden Fahrplan für die Abhaltung freier Wahlen geworden. 6. November 1989 bis März 1990: Der Wahlkampf des Jahres 1990 begann im Grunde genommen mit der Volksbefragung am 26. November 1989, die von BFD, BJD, der Partei der Kleinlandwirte und den Sozialdemokraten gefordert worden war. Ihr Ergebnis war ein zweifaches: Zum einen wurde es dadurch dem von der USP unterstützten Imre Pozsgay unmöglich gemacht, sich vor den landesweiten Wahlen durch Volksentscheid zum Präsidenten Ungarns wählen zu lassen. Zum anderen wurde dadurch der tatsächliche Umfang (etwa fünf Prozent) an Unterstützung sichtbar, mit der die Reste des totalitären Staats — Betriebsgruppen der Partei, Arbeitergarden und parteieigene Unternehmen — noch rechnen konnten. Der eigentliche Wahlkampf begann mit einer Beteiligung von über 50 Parteien. Diese Zahl reduzierte sich zunächst auf 43 und schließlich bis zum Ablauf der Aufstellungsfrist auf zwölf. Diese zwölf Parteien waren es, welche die erste Runde der landesweiten Wahlen am 25. März 1990 austrugen. Danach blieben nur noch sechs Parteien übrig, welche zur Entsendung von Abgeordneten in die Nationalversammlung berechtigt waren. 7. April bis Mai 1990: Die beiden Wahlgänge am 25. März und 8. April stellten das derzeitige Kräfteverhältnis im ersten frei gewählten Parlament Un-garns seit 1945 her. Aus diesem ergab sich eine Koalitionsregierung unter dem Vorsitzenden des UDF, Dr. Jözsef Antall, mit Beteiligung der Partei der Kleinlandwirte und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (CDVP); die Opposition besteht aus dem BFD, der USP und dem BJD.
II. Die Ursprünge des Mehrparteiensystems
Abbildung 2
Tabelle 2: Parteipräferenzen nach Wohnort Quelle: Vier landesweite Umfragen des Nationalen Instituts für Meinungsforschung, die zwischen 15. September und 2. November 1989 durchgeführt wurden; Ergebnisse in Hang-Suly, Nr. 8-9, November-Dezember 1989, S. 36.
Tabelle 2: Parteipräferenzen nach Wohnort Quelle: Vier landesweite Umfragen des Nationalen Instituts für Meinungsforschung, die zwischen 15. September und 2. November 1989 durchgeführt wurden; Ergebnisse in Hang-Suly, Nr. 8-9, November-Dezember 1989, S. 36.
Das gegenwärtige ungarische Mehrparteiensystem leitet sich aus drei wesentlichen Ursprüngen ab. Der erste war die von Jänos Kädär geführte USAP, der zweite war jenes Bündel „historisch gewachsener“ und „neuer“ nicht-kommunistischer politischer Kräfte, die Anfang der siebziger Jahre auf der Bildfläche erschienen; und der dritte ging aus von der in den frühen achtziger Jahren neuentstandenen „civil society“. Dabei handelte es sich um Klubs, Vereinigungen und informelle politische Lobbies auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene.
1. Auch abgesehen von den traditionellen Gegensätzen innerhalb der kommunistischen Bewegung Ungarns („Einheimische“ — Moskautreue, Nationalisten — Internationalisten, ländliche — städtische Lobbies) kann die Geschichte der USAP in der Zeit nach 1956 durchaus im Sinne eines „latenten Pluralismus“ und des Aufkommens immer selbstbewußterer politischer Interessengruppen innerhalb der als USAP firmierenden allumfassenden Massenpartei interpretiert werden
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die „Marathonläufer“ aus dem kädäristischen Zentrum der „alten“ USAP in voller Stärke in der „erneuerten“ USAP vertreten sind. Der frühere Reformflügel der USAP und die kooptierten Sozialdemokraten wie Rezsö Nyers schlossen sich im Oktober 1989 in Gestalt der USP wieder zusammen. Die „grüne Lobby“ der alten USAP tauchte 1990 als Agrarallianz wieder auf; der ländliche Apparat der USAP, „parteiinterne Mitläufer“ und zahllose örtliche Parteigrößen und nicht parteigebundene Würdenträger organisierten sich im November 1989 als Patriotisches Wahlbündnis; und schließlich fanden die alte „Industrielobby“ und die Führungsschicht der Manager Unterschlupf in der USP und der Unternehmerpartei. Einige der hauseigenen intellektuellen Rebellen von Kädärs USAP und viele Angehörige der reformorientierten Intelligentsia halfen bei der Gründung des BFD, der SDPU und des UDF oder wurden später Mitglieder dieser Parteien. Und schließlich sind aus der politisch bewußten „schweigenden Minderheit“ der alten USAP die Nichtwähler von heute oder die stillen Wahlhelfer des UDF, der Partei der Kleinlandwirte oder sogar der CDVP geworden.
2. Die Ursprünge der „historischen“ demokratischen Parteien Ungarns, die zu den Akteuren von 1990 gehören, lassen sich unterschiedlich weit zurückverfolgen: bis ins 19. Jahrhundert bei der So-zialdemokratischen Partei Ungarns (gegründet 1890), in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts (radikale und liberal-demokratische Parteien), in die Zwischenkriegszeit (die Kleinlandwirte und die Christdemokraten gründeten ihre Parteien in den späten zwanziger Jahren), in die späten dreißiger Jahre (die Bauernpartei, die nicht unbestritten als Vorläuferin der heutigen Volkspartei gilt, wurde 1939 gegründet) und in die unmittelbare Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1948 (letzteres gilt für die Unabhängigkeitspartei und die Katholische Partei unter Führung von Istvän Barankovics). Die meisten dieser Parteien wurden während der kurzlebigen ungarischen Revolution sofort neu gegründet und gerieten dann bis zum Anfang des Jahres 1989 — wie sich inzwischen herausgestellt hat: nur zeitweilig — in Vergessenheit.
Die weithin verstandenen, jedoch nur schwach artikulierten Forderungen der nicht parteigebundenen Mehrheit der Ungarn waren es, womit sich die national-christlichen und hberal-demokratischen Reformintellektuellen bei ihren historischen Treffen in Monor und Lakitelek in den Jahren 1985 — 1987 befaßten. Die Diskussionen dieser und ähnlicher Konferenzen und Gesprächskreise der Reformintelligentsia halfen bei der Ausformung der ideologischen Grundlagen und der spezifischen Aktionsprogramme von zwei heute führenden Parteien, nämlich des BFD und des UDF.
Die Ursprünge des BFD lassen sich auf das ideologische Erbe von Imre Nagy und seinem Kreis von Reformkommunisten sowie teilweise auch auf die revisionistisch-marxistische und später sozialliberale demokratische Protestbewegung junger städtischer Intellektueller seit Beginn der siebziger Jahre zurückführen. Das historische Verdienst der Anbindung Ungarns an die Reformbestrebungen der tschechoslowakischen Charta 77 und der polnischen Solidarno-Bewegung sowie der brillanten Formulierung einer Reihe von Alternativvorschlägen für die demokratische Umwandlung Ungarns (über die Samizdatpublikation [Selbstverlag] Beszelö) gebührt dieser Gruppe und in erster Linie ihrem Parteivorsitzenden Jänos Kis.
Der BJD schuldet seine intellektuellen Ursprünge einer ungarischen Bewegung des Generationsprotests, die durch die Studentenbewegungen der sechziger Jahre im Westen ausgelöst wurde. In einem unmittelbareren Sinn wurde der BJD von vier couragierten jungen Leuten (und insgesamt 37 Gründungsmitgliedern) am 30. März 1988 ins Leben gerufen, um das durch den Zusammenbruch des Bundes Junger Kommunisten entstandene Vakuum zu füllen und auf die unbefriedigten Forderungen der jungen Generation nach politischer Repräsentation und angemessener Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Interessen seitens des Kädär-Grosz-Regimes einzugehen
Ende 1988 — also relativ spät — erschienen die Partei der Kleinlandwirte und die CDVP auf der politischen Bildfläche. In den darauffolgenden Monaten mußten viele ihrer potentiellen Aktivisten und Parteiorganisatoren zwischen dem Beitritt zum UDF und der Neugründung ihrer angestammten Parteien wählen. Die in derartigen Fällen getroffene Entscheidung gründete sich in erster Linie auf persönliche Präferenzen, wie z. B. alte Freundschaften und persönliche Verträglichkeiten, und nicht so sehr auf prononcierte ideologische Unterschiede zwischen führenden Politikern des christlich-nationalen Lagers. Regionale und religiöse Differenzen mögen allerdings letztendlich beim Parteibeitritt einzelner eine Rolle gespielt haben. Entstammten Führung und ursprüngliche Anhängerschaft des UDF überwiegend dem „calvinistisehen“ Osten des Landes, so suchte die Leitung der Partei der Kleinlandwirte und mehr noch die der CDVP zunächst einmal ihre Wählerschaft im vorwiegend katholischen Süden und Westen. 3. Wichtige Komponenten des politischen Spektrums in Ungarn sind politische Lobbies im außer-parlamentarischen Raum sowie Dutzende von neu-gegründeten staatsbürgerlichen, kulturellen, einzelthemenorientierten und generationsbezogenen Vereinigungen und Interessengruppen. Bei den Verhandlungen am nationalen „Runden Tisch“ im Sommer 1989 spielten einige dieser Gruppen wie z. B. die zentristische Endre Bajcsy-Zsilinszky-Gesellschaft oder die linksextreme Ferenc Münnich-Gesellschaft eine wichtige Rolle. Andere Gruppierungen wie z. B. die Umweltschützer haben wesentlich zur Politisierung der ungarischen Öffentlichkeit beigetragen, indem sie grundsätzliche Fehler des kommunistischen Parteistaats in diesem Bereich herausstellten. Die Entstehung zahlreicher autonomer Diskussionsforen und Jugendgruppen trug dazu bei, daß das Monopol der Frontorganisationen des Regimes wie beispielsweise der Patriotischen Volksfront und des Bundes Junger Kommunisten als Repräsentanten der Interessen der Nation und der Jugend unterlaufen werden konnte. Eine Schlüsselrolle nahmen schließlich autonome Gruppierungen zur Verteidigung öffentlicher Interessen wie das Forum Unabhängiger Anwälte ein. die ihren Sachverstand beim Aufbau vieler neuer politischer Parteien einbrachten. Bis zum Ende des Jahres 1989 entwickelten sich in Ungarn über 50 politische Parteien. 43 dieser Gruppierungen beteiligten sich an der ersten Phase des Wahlkampfs von Ende Januar bis Ende Februar 1990. Zwölf von ihnen gelang es, in den örtlichen Wahlbezirken eine ausreichende Anzahl an Kandidaten aufzustellen, um sich für die Vorlage regionaler und nationaler Kandidatenlisten zur ersten Runde der Wahlen am 25. März 1990 zu qualifizieren. Sechs von diesen Parteien erhielten mehr als vier Prozent der für die Parteilisten abgegebenen Stimmen und konnten sich somit in der zweiten und abschließenden Runde der Stimmabgabe am 8. April 1990 um Parlamentssitze bewerben.
III. Die Parteiprogramme
Abbildung 3
Tabelle 3: Parteipräferenzen nach Altersgruppen
Tabelle 3: Parteipräferenzen nach Altersgruppen
Bei der Erörterung von Wahlprogrammen der Parteien muß daran erinnert werden, daß diese Dokumente verschiedenen Zwecken dienen. Dazu gehören: a) die Bestimmung der historischen und ideologischen Identität der Partei und ihrer Position in dem kleinen Universum politischer Kräfte, die in Ungarn heute aktiv sind; b) Kritik an den Resultaten des kommunistischen Regimes in den Bereichen der Menschenrechte, der Kultur-, Wirtschafts-, Sozial-und Außenpolitik; c) eine Bestimmung der Wählergruppen, deren Interessen die Partei zu vertreten behauptet; d) ein Katalog von Veränderungen und politischen Neuerungen, deren Verwirklichung in einer freigewählten Legislative und in der Regierung die Partei verspricht.
Die wesentlichen Unterschiede in den Parteiprogrammen sind in dem Ausmaß zu finden, in dem die politische, ökonomische und soziale Umformung Ungarns nach den Vorschlägen der verschiedenen politischen Parteien verwirklicht werden soll. In dieser Hinsicht bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Programmen der USP und ihrer Ableger (Patriotisches Wahlbündnis, Bauernbund und Volkspartei) auf der einen und den fünf übrigen im Parlament vertretenen Parteien auf der anderen Seite. Es ist offensichtlich, daß das Hauptziel dieser fünf Parteien in der schnellen Demontage und der Beseitigung aller politischen, rechtlichen, institutioneilen und ideologischen Überreste der kommunistischen Herrschaft in Ungarn besteht. Das gleiche gilt weitgehend auch für die derzeitigen politischen. militärischen und wirtschaftlichen Bindungen Ungarns an die UdSSR, wenngleich man sich in der Aufrechterhaltung korrekter diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zur Sowjetunion einig ist. Diese allgemeinen politischen Präferenzen werden von der überwältigenden Mehrheit der außerparlamentarischen politischen Kräfte Un-garns geteilt.
Von den übrigen Parteien differierende Auffassungen vertritt die USP insbesondere in Fragen der Eigentumsverhältnisse, der Privatisierung, des Landbesitzes, der Lohn-und Preiskontrollen sowie der Sozialpolitik. Die außenpolitischen Präferenzen der Sozialisten hingegen sind denen der fünf anderen im Parlament vertretenen Parteien wesentlich ähnlicher. Neben dem Rückzug aus dem RGW und Warschauer Pakt strebt man eine engere Zusammenarbeit mit den westlichen Wirtschaftszentren (EG; USA; Japan) und eine Neubelebung Mitteleuropas an, wobei die ungarischen Minderheiten besonders in Rumänien, aber auch in der SFR und Jugoslawien ein Sonderproblem darstellen.
In allen Parteien besteht weitgehende Übereinstimmung darüber, daß das Land sich in einer schwerwiegenden wirtschaftlichen Krise befindet, zu deren Überwindung es mindestens fünf bis zehn Jahre bedarf. Alle stimmen darin überein, daß ausnahmslos jede ins Auge gefaßte kurzfristige Abhilfemaßnahme schmerzliche soziale Konsequenzen in Gestalt von Arbeitslosigkeit, Verarmung und einer eindeutigen Verschlechterung der Lebensqualität für die meisten Ungarn zur Folge haben müssen, die von festen Löhnen und Gehältern oder von Renten leben. Zu den Standardrezepten gehören Privatisierung und die Beseitigung von Subventionen für Lebensmittel und öffentliche Dienstleistungen. Laut ihren Wirtschaftsprogrammen wollen die beiden größten Parteien zwar das gleiche, der BFD will aber noch schneller mehr erreichen als das UDF.
Geht es hingegen um die Reprivatisierung von Grund und Boden, der 1947/48 gewaltsam kollektiviert und in den Genossenschaftssektor überführt wurde, so neigt das UDF eher dazu, mit der Partei der Kleinlandwirte gemeinsame Sache zu machen. Demgegenüber rät der BFD zu Vorsicht und einem schrittweisen Vorgehen in diesem politisch wenig griffigen Bereich der Eigentumsverhältnisse. Beide Parteien sind dagegen, daß die derzeitige Manager-elite sich über die Privatisierung staatseigener Industrie-, Handels-und Dienstleistungsunternehmen oder aber unter Mißbrauch von Gesetzeslücken illegale Gewinne durch betrügerische Joint Ventures mit skrupellosen Investoren aus dem Westen aneignet.
Erheblicher Raum wird in den Parteiprogrammen auch der Auflistung der gesetzgeberischen Prioritäten nach der Wahl eingeräumt. An der Spitze der Liste steht die Festlegung auf eine Delegierung von mehr fiskalischer und administrativer Selbständigkeit an die örtlichen Behörden, die Erneuerung der Gerichte und die Einführung einer gründlichen Aufsicht über Armee, Polizei und Behörden der inneren Sicherheit seitens der Legislative. Mit dem größten Konfliktpotential verbunden ist der Vorschlag einer Überprüfung aller aus dem kommunistischen Regime übriggebliebenen leitenden Beamten hinsichtlich ihrer politisch-moralischen und fachlichen Eignung für den Dienst in der öffentlichen Verwaltung eines demokratischen Ungarn.
IV. Der ungarische Wahlkampf 1990
Abbildung 4
Tabelle 4: Parteipräferenzen von Berufsstatusgruppen
Tabelle 4: Parteipräferenzen von Berufsstatusgruppen
Die wichtigsten Ziele einer politischen Partei im Wahlkampf bestehen darin, die Aufmerksamkeit der Wählerschaft auf sich zu ziehen, die Wähler für die Übernahme und Unterstützung des Parteiprogramms zu gewinnen und die Öffentlichkeit dafür zu mobilisieren, am Wahltag tatsächlich zur Urne zu gehen. Im folgenden Abschnitt werden zwei Aspekte des Wahlkampfs in den Monaten Januar bis März 1990 behandelt: 1. Chancengleichheit im politischen Wettstreit, 2. Aspekte der „negativen Wahlpropaganda“ in Ungarn. 1. Chancengleichheit Die Absprachen am „Runden Tisch“ sahen vor, daß für alle politischen Parteien bei ihrem Streben nach öffentlicher Unterstützung für ihre Programme Chancengleichheit bestehen sollte. Diese Vorstellung war insofern unrealistisch, als sie die ungeheure Disparität von Ressourcen bei der regierenden USAP/USP und ihren demokratischen Widersachern absichtlich außer acht ließ. Regierungsmittel für Wahlkampfzwecke, die nach einer gleitenden Skala aufgrund der registrierten Mitglieder-zahlen der Parteien verteilt wurden, reichten bei weitem nicht aus, um die vielfältigen Handikaps der neuentstandenen Parteien im Wahlkampf auszugleichen. Diese Ungleichheiten wurden noch durch die Höhe der Mittel verschärft, die den Parteien für die Werbung in den nach wie vor weitgehend vom Regime kontrollierten Medien für Zeitungs-, Rundfunk-und Fernsehwerbung zur Verfügung standen Auf jeden Fall war das gesamte Wahlsystem darauf angelegt, zwar den Einstieg einer beliebigen Anzahl neuer Konkurrenten in die Wahlkampfarena zu ermöglichen, dann jedoch die meisten rasch aus dem Wettbewerb zu eliminieren. Tatsächlich die USP in den Genuß aller Vorteile der Amtsinhabe und konnte darüber hinaus von ihrem nicht offengelegten Vermögen profitieren, das sie während der Kädär-Ära gesetzwidrig erworben hatte. Die Führer der Partei waren gleichzeitig Regierungsmitglieder; Wahlkampfaktivitäten und vorgeblich überparteiliches Auftreten von Premierminister Nemeth und Außenminister Horn waren daher drei bis viermal so häufig Gegenstand von Femseh-und Rundfunkberichten wie die des UDF-Vorsitzenden Jözsef Antall und des BFD-Vorsitzenden Jänos Kis
Dem steht gegenüber, daß UDF, BFD und Sozialdemokraten in erheblichem Umfang finanzielle Unterstützung aus dem Westen erhielten, die wahrscheinlich deutlich über die Beträge hinausging, die ihnen von der Regierung als Wahlmittel zur Verfügung gestellt wurden Ein weiterer, offensichtlich nicht quantifizierbarer Faktor, der die Aussichten der Opposition auszugleichen half, war die wachsende Unbeliebtheit des Regimes und die weitverbreitete Unterstützung, welche der Opposition (und insbesondere dem BFD) seitens der Journalisten in den gedruckten Medien sowie in Rundfunk und Fernsehen zuteil wurde. 2. Wahlkampf 1990: Über und unter der Gürtellinie Für das ungarische Volk war der Wahlkampf 1990 ein traumatisches Erlebnis. Der Übergang zur Demokratie sollte zwar eigentlich „friedlich“ verlau-fen, niemand hätte jedoch das tägliche Trommelfeuer dramatischer Nachrichten aus dem Ausland (insbesondere aus Rumänien, wo das Schicksal der ungarischen Volksgruppe vom Ausgang der dortigen Revolution abhing) oder die erschreckenden Enthüllungen über die fortdauernde Tätigkeit der Geheimpolizei in Ungarn vorhersehen können. Der alte Parteistaat starb einen schweren Tod, und das gleiche galt auch für das schwere psychologische Erbe der totalitären Vergangenheit, die eine Saat des Mißtrauens und der Uneinigkeit in den Reihen der Führungsschichten ebenso wie im Volk hinterlassen hatte.
In dem Maße, wie sich der Wahlkampf entwickelte, kam es zu einem nahezu vollständigen Zusammenbruch zivilisierter Kommunikation der neuen Parteien untereinander Öffentliche Erklärungen gewissenloser Demagogen und Flüsterkampagnen ihrer jeweils gedankenlosen Gefolgschaft hinsichtlich der angeblichen antisemitischen Überzeugungen der jeweils anderen Seite oder latenter marxistischer Sympathien trugen dazu bei, daß die Atmosphäre sich vergiftete dazu und es beinahe kam, daß der Wahlkampf in die Niederungen einer Schlamm-schlacht zwischen Forum und Freien Demokraten absank. Diese bedauerliche Ablenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf eine Politik der Gosse mußte früher oder später eintreten. Vierzig Jahre kommunistischer Herrschaft mit dem damit einhergehenden, zwangsweise aufrechterhaltenen Muster eines künstlichen „gesellschaftlichen Konsenses“ hatten dem Volk und den Führungsschichten jene überaus notwendigen Gelegenheiten vorenthalten, ihre Auffassungen über Ungarn und das politische Geschick der Nation zu artikulieren und möglicherweise in Einklang zu bringen.
In diesem Zusammenhang verdient die Tatsache erwähnt zu werden, daß die Wahlkampfstile von BFD und UDF miteinander kontrastierten. Während der BFD versuchte, die Wählerschaft durch den Nachweis seiner radikalen und kompromißlosen Haltung zu allen Grundsatzfragen zu überzeugen, und sich bei seiner Argumentation einer sehr deutlichen Sprache bediente, schlug das UDF leisere Töne an, obwohl es im wesentlichen für die gleiche Sache eintrat wie der BFD. Dabei war der Ton auf Seiten des UDF eher traditionsverhaftet, beruhigender und gegenüber dem ohnehin labilen Gefühl der Wählerschaft hinsichtlich der eigenen Sicherheit wesentlich weniger bedrohlich als der kompromißlose Ruf des BFD nach radikalem Wandel. Aus diesen Gründen und im Lichte der tatsächlichen Wahlergebnisse könnte man argumentieren, daß der politische Stil der Parteien mindestens das gleiche Gewicht hatte wie der programmatische Inhalt ihrer Botschaften an die Wählerschaft.
Eine vor den Wahlen durchgeführte Befragung des Gallup-Instituts über die Abstimmungspräferenzen der ungarischen Wählerschaft gab den Befragten die Möglichkeit, sich mit einem Wort zu den Gründen zu äußern, aus denen sie sich für eine bestimmte politische Partei entscheiden würden. Die für eine Unterstützung des BFD angeführten Gründe bestanden in den Begriffen „Programm“, „radikal“, „Sachverstand“ und „Zukunft“. Wähler, die für das UDF stimmen wollten, antworteten mit „ausgewogen“, „moderat“, „Wohlfahrt“ und „Sicherheit“. Die Wähler der Partei der Kleinlandwirte nannten „Rückgabe des Grundbesitzes“, „Bauerntum“, „Privateigentum“ und „Familientradition“. Die Wähler der USP reagierten mit „Reform“, „links“, „Erfahrung“ und „Parteitreue“. Die Ungarn hatten sich somit dafür entschieden, nicht für unverständliche Parteiprogramme, sondern am Wahltag für attraktive politische Symbole sowie für die für sie entscheidenden Werte und ihren gemeinsamen Willen zu einem radikalen politischen Wandel zu stimmen.
V. Parteipolitische Präferenzen und Wählerunterstützung 1989— 1990
Abbildung 5
Tabelle 5: Parteipräferenzen nach Einkommen
Tabelle 5: Parteipräferenzen nach Einkommen
Es gehört zu den axiomatischen Thesen der demokratischen politischen Theorie, daß die Menschen — wenn man ihnen nur eine angemessene Gelegenheit gibt, eine politische Wahl zu treffen und ihre parteipolitischen Präferenzen zum Ausdruck zu bringen — sich rational entscheiden werden.
Der Prozeß der politischen Umwandlung Ungarns vom Post-Totalitarismus zur Demokratie unterschied sich qualitativ von den entsprechenden Vorgängen in der DDR, der Tschechoslowakei und Rumänien. Lag in diesen Ländern die Zeitspanne zwischen dem stürmischen Zusammenbruch der alten Ordnung und der Abhaltung freier Wahlen bei fünf bis sieben Monaten, so erstreckte sich in Ungarn der gleiche Prozeß bei einem vergleichsweise gemütlichen Tempo über 23 Monate. Betrachtet man die Reihenfolge der Ereignisse in Ungarn, so ist die im wesentlichen friedliche und „ausgehandelte“ Natur des gesamten Prozesses ebenso beeindruckend wie das „konsenssuchende“ Verhalten der Eliten und der Bevölkerung des Landes. Wie im weiteren noch darzulegen sein wird, hat das ungarische Volk in der Tat eine angemessene Gelegenheit gehabt, seinem politischen Willen Ausdruck zu verleihen; in den Wahlergebnissen von März und April 1990 muß somit der rationale und legitimierende Ausdruck der ideologischen (wenn auch nicht notwendigerweise der programmatischen) Präferenzen der Nation gesehen werden. Aus diesen Gründen ist die Annahme berechtigt, daß der Wahlausgang in Ungarn kurzfristig gesehen mindestens gleich gute, wenn nicht gar bessere Chancen für politische Stabilität unter einer freigewählten Regierung bietet als die anderen Wahlergebnisse in Osteuropa im Jahre 1990.
Um der Entwicklung der parteipolitischen Präferenzen der Bürger Ungarns nachzugehen, werden im folgenden die Ergebnisse von 16 zwischen Mai 1989 und März 1990 durchgeführten Umfragen behandelt (vgl. Tabelle 1). Die erste Umfra zwischen Mai 1989 und März 1990 durchgeführten Umfragen behandelt (vgl. Tabelle 1). Die erste Umfrage nach parteipolitischen Präferenzen für den hypothetischen Fall einer Wahl wurde im März 1989 durchgeführt, d. h. kurz nachdem die USAP der Gründung nicht-kommunistischer Parteien zugestimmt hatte. Aus der von Budapest her zum flachen Lande hin abnehmenden Unterstützung der Wählerschaft für die neuen Parteien läßt sich ablesen, daß unzureichende Information und die Furcht vor einer möglichen Umkehr der halbherzigen Position der USAP zur politischen Demokratisierung die vorherrschenden Merkmale der spontanen Reaktionen der Bürger auf Umfragen dieser Art waren. Jedenfalls genoß zum damaligen Zeitpunkt die USAP in hohem Maße die Unterstützung der Öffentlichkeit, dies allerdings schon in spürbar geringerem Umfang als in den Jahren 1987— 1988 bzw. 1985, als die vom Regime gestützten Kandidaten bei landesweiten Wahlen über 98 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten 15).
Aus den Meinungsumfragen im Zeitraum zwischen März und Juni 1989 ergaben sich erste Hinweise auf die relativen Positionen der wichtigsten Oppositionsparteien. Spitzenreiter waren das UDF, der BFD, die Partei der Kleinlandwirte, die SDPU und der BJD. Christdemokraten, Volkspartei und die Unabhängige Demokratische Partei Ungarns bildeten das Mittelfeld, gefolgt von einigen weiteren Par-teien, die auf der Beliebtheitsskala „unter ferner liefen“ rangierten.
In dieser Phase (März—Juni 1989) hatten verschiedene Ereignisse dazu beigetragen, die Autorität der herrschenden Partei zu untergraben. Nutznießer dieser Entwicklung waren die Reformkräfte in der USAP und die neuen Oppositionsparteien. Die Unterstützung der USAP in der Bevölkerung lag im Juli 1989 bei 37 Prozent. In den gleichen Monat fällt auch der Anfang vom Ende der herrschenden Partei.
In den Monaten Juli, August und September 1989 kam es in Ungarn zu fünf Nachwahlen zum Parlament. Vier davon (Gödöllo, Szeged, Keskemt und Zalaegerszeg) führten zu eindeutigen Ergebnissen, während es im fünften Fall (Kiskunfelegyhäza) aufgrund fehlender Stimmanteile auch bei zwei Wahlgängen nicht dazu kam.
Die Ergebnisse der Nachwahlen im Sommer — insbesondere die in Kecskemt und Zalaegerszeg, wo das UDF mit 70 bzw. 59 Prozent die Mehrheit errang, während die USAP nur 19 bzw. 32 Prozent erreichte — hatten entscheidende Rückwirkungen auf die Politik im gesamten Land. Die Wahlergebnisse bewiesen die Lebensfähigkeit der neuen Parteien und erinnerten die Menschen auch an der Basis daran, daß die USAP zusammengebrochen war 16).
Nach einer auf Meinungsumfragen beruhenden Analyse wurden die Wähler allem Anschein nach vor allem durch die Persönlichkeit der Kandidaten sowie dadurch beeinflußt, in welchem Ausmaß sie in Opposition zur USAP standen oder sich von dieser distanzierten. Die Unterstützung der Parteien durch die Wählerschaft war weit mehr durch persönliche Emotionen der Art Sympathie/Antipathie gegenüber dem Kandidaten „motiviert“ als durch eine positive Identifizierung mit der betreffenden Partei.
Die offensichtliche Unfähigkeit der ungarischen Wähler, sich mit (alten oder neuen) Parteiprogrammen zu identifizieren, war kein gutes Vorzeichen für die Aussichten auf Demokratie in Ungarn. Hätten die Wahlen in der zweiten Jahreshälfte 1989 oder im Januar 1990 stattgefunden, so hätten in der Tat die sehr profilierten Reformführer der USAP und ihre Anhänger die Masse der Wählerstimmen auf sich vereinigen können. Glücklicherweise geschah dies nicht. Als Begründung hierfür bieten sich mehrere Erklärungen an: Infolge aufreibender innerparteilicher Kämpfe zwischen den Reform-kräften und ihren Gegnern löste sich die USAP Anfang Oktober selbst auf. Zweitens ließen die am 19. September am nationalen „Runden Tisch“ erzielten Vereinbarungen eine ausgehandelte Alternative zu einer möglicherweise stürmischen und politisch höchst instabilen Übergangsphase zu freien Wahlen in Ungarn möglich erscheinen. Drittens trugen der Zusammenbruch der Regimes in der DDR und der Tschechoslowakei und die schnell anwachsende Unruhe in der UdSSR zur Radikalisierung der ungarischen Wählerschaft bei und untergruben weiter das Ansehen der ungarischen kommunistischen, reformkommunistischen und sozialistischen Parteien und Politiker. Schließlich half das Ergebnis des landesweiten Referendums vom 26. November — eines Wettstreits politischer Ideen, der entlang der Parteilinien ausgefochten wurde — bei der Legitimierung der Oppositionsparteien als angemessene Instrumentarien für einen tiefgreifenden politischen Wandel in Ungarn. Die Tatsache, daß bei diesem Referendum Imre Pozsgay, der populärste Reformpolitiker, mit der winzigen Marge von 7 000 Stimmen als Bewerber um das Präsidentenamt durch die Wähler abgelehnt wurde, war ein Ereignis von historischer Tragweite Es markierte den Anfang einer Entwicklung, bei der die Wähler ihre Unterstützung von Einzelpersonen auf politische Parteien übertrugen, und gleichzeitig einen Riesensprung zur Übernahme der freiheitlich-demokratischen Gepflogenheit der „Parteinahme“ und der Identifizierung mit den Wahlprogrammen der Parteien.
Dieser Prozeß der Politisierung ging aber auch einher mit einer Spaltung der ungarischen Gesellschaft in politisch bewußte bzw. aktive und politisch apathische bzw. passive Schichten. Wie aus den Meinungsumfragen hervorgeht, schwankte der Anteil der Nichtwähler in den neun Monaten zwischen Spätsommer 1989 und März 1990 zwischen 32 und 42 Prozent. Die verfügbaren Erkenntnisse über diejenigen, welche im März 1990 nicht wählten, legen die Annahme nahe, daß etwa die Hälfte dieser Nichtwähler in Stadt und Land zu den Gesellschaftsschichten mit niedrigerem Bildungs-bzw. Ausbildungsstand gehört
Die Herkunft der Wähler neuer Parteien läßt sich aus Umfrageergebnissen über Parteipräferenzen ableiten (vgl. Tabellen 2— 5).
Bei einer Konzentration der Analyse auf die beiden größten politischen Parteien wird erkennbar, daß es insgesamt eher die Ähnlichkeiten als die Unterschiede zwischen dem UDF und dem BFD sind, die für die Zukunft der Demokratie in Ungarn besonders ins Gewicht fallen. Zwar ist das Wählerpotential des UDF geographisch gleichmäßiger verteilt; dies wird jedoch teilweise ausgeglichen durch die überdurchschnittliche Stärke des BFD in städtischen Bereichen mit höherer Bevölkerungsdichte. Bei beiden Parteien kommt die Masse der Anhängerschaft aus den Reihen der jüngeren bis mittleren Altersgruppen. Im Vergleich zum UDF hat der BFD einen etwas größeren Wähleranteil bei Sekundär-und Hochschulabsolventen, Lohnempfängern und bei Angestellten, Intellektuellen und Angehörigen des Managements. Betrachtet man die sozioökonomischen Merkmale der Anhängerschaft der sechs führenden, im Parlament vertretenen Parteien, so tritt in einigen Punkten eine wichtige Aufspaltung zutage. Die Mehrheit der wohlhabenden und gebildeten ungarischen Wähler hat sich für die Unterstützung dreier Parteien entschieden: des BFD, des UDF und der USP. Die weniger gebildeten „Habenichtse“ unterstützen die Partei des unteren Mittelstandes auf dem Lande, die Partei der Kleinlandwirte, sowie die sozialdemokratische Volkspartei und — in diesem Falle allerdings eher aus generationsbedingten denn aus ökonomischen Beweggründen — den BJD. Auf jeden Fall aber ist es schwierig, die bemerkenswerten Wahlergebnisse der Partei der Kleinlandwirte lediglich anhand sozioökonomischer Merkmale der Anhängerschaft dieser Partei zu erklären. Es läßt sich vermuten, daß die von der Partei der Kleinlandwirte im Normalfall mobilisierbare Anhängerschaft in den Kleinstädten und Dörfern Ungarns für sich allein genommen die Zahl von 570 000 Stimmberechtigten nicht erreicht. Es müssen also das Thema des Landbesitzes und das Wahlkampfversprechen der Partei gewesen sein, die Besitzverhältnisse auf dem Lande auf die Situation vor 1947 zurückzuführen, die ansonsten politisch passive Bürger in signifikantem Umfang am 25. März zur Stimmabgabe veranlaßt haben.
Für den Zeitraum zwischen Dezember 1989 und März 1990 lassen sich die folgenden wesentlichen Trends bei den Präferenzen der Wähler feststellen:
— Zwischen November 1989 und Mitte Februar 1990 stieg die Beliebtheit des BFD von 9 auf 23 Prozent steil an. Mitte März hatte die Kampagne des BFD an Schwung verloren, und seine Unterstützung in der Öffentlichkeit nahm ab — zunächst (bis 25. März) um etwa fünf und später (bis 8. April) noch um einige weitere Prozentpunkte.
— Das UDF schien nach dem November-Referendum, dem es sich widersetzt hatte, zunächst an Schwung verloren zu haben. Ab Mitte Februar führten dann eine geänderte Wahlstrategie, die stärkere Betonung der christlich-nationalen Identität der Partei und in geringerem Ausmaß die März-Ereignisse in Rumänien zu dem Wahlsieg des UDF im ersten Wahlgang.
— Der Partei der Kleinlandwirte gelang es, die Wähler auf dem Lande zu mobilisieren — wahrscheinlich waren dies in manchen Fällen die gleichen Wähler, die im März 1989 die alte USAP unterstützt hatten. Die zeitverzögerte Reaktion der ländlichen Bevölkerung auf die radikale Politik der Großstädte Ungarns, eindeutig nationalistische Wahlkampfsprüche und der wirksame Einsatz von Fernsehwerbung waren die wesentlichen Gründe für den kometengleichen Aufstieg der Partei der Kleinlandwirte aus dem Mittelfeld bis fast an die Spitze der Parteienliste am Ende des Wahlkampfs. — Die USP konnte sich eines — dazu noch zweifelhaften — Nutzens aus der Unterstützung professioneller amerikanischer Wahlkampfberater erfreuen, aber nicht von der Geschichte ihrer diskreditierten Vorgängerin distanzieren. Der Prozeß der politischen Mobilisierung der Wählerschaft, der tendenziell zu einer Abkoppelung führender politischer Persönlichkeiten von ihren jeweiligen Parteien führte, machte es der USP unmöglich, aus der persönlichen Beliebtheit des amtierenden Staatspräsidenten Mätyäs Szürös, des Premierministers Mikios Nemeth, des Außenministers Gyula Horn und des Staatsministers Imre Pozsgay Nutzen zu ziehen. So landete die USP schließlich auf dem vierten Platz. Von den durch die USP unterstützten Kandidaten für die Persönlichkeitswahl in den Einzelwahlkreisen überlebten nur Szürös und Nemeth das Urteil des Volkes über ihre Partei. — Der Platz des BJD in der Wählergunst schwankte zunächst zwischen sieben und 13 Prozent und pendelte sich Anfang März bei sieben Prozent ein. Wenn diese Partei dem Schicksal der Sozialdemokraten entging, so war dies auf den neuen politischen Stil zurückzuführen, den sie in den Wahlkampf eingebracht hatte. Eine offene Sprache, eine zwar jugendliche, aber verantwortungsbewußte Wahlkampfrhetorik und die Annahme der Schuldlosigkeit an den Fehlern der älteren Generation sprachen nicht nur junge Menschen, sondern auch ältere Ungarn in besonderer Weise an. Für den BJD waren die „Stimmen der Großeltern“ eine große Hilfe; das gleiche gilt für die absichtlich abgesetzte Position im Verhältnis zu dem älteren „ideologischen Verwandten“, dem BFD. — Die Gründe für das vergleichsweise gute Abschneiden der Christdemokraten in den Wahlen erscheinen einigermaßen mysteriös. Während sie bei früheren Meinungsumfragen nie mehr als fünf Prozent erreichte, erzielte die Partei immerhin im Endergebnis der Listenwahlen 6, 46 Prozent und konnte insgesamt die gleiche Anzahl von Abgeordneten ins Parlament entsenden wie der BJD. Nun ist die CDVP eine katholische Partei in einem Land mit einem katholischen Bevölkerungsanteil von über 60 Prozent. Wohin gingen dann aber die katholischen Wählerstimmen?
Die beste Erklärung läßt sich möglicherweise in der Tatsache finden, daß angesichts des Fehlens einer populären und respektierten katholischen Hierarchie die meisten Katholiken ihren Einkommensverhältnissen und ihrem Bildungsstand entsprechend abstimmten und dabei das UDF, die Partei der Kleinlandwirte und wahrscheinlich auch den BFD unterstützten. Auf jeden Fall waren die Gemeindepfarrer von ihren kirchlichen Vorgesetzten angewiesen worden, sich im Wahlkampf neutral zu verhalten; erst gegen dessen Ende entschieden sich einige Geistliche dafür, ihre Gläubigen zur Unterstützung der CDVP aufzufordern. Diese Wahlhilfe in letzter Minute reichte aus, um der Partei über die Vierprozenthürde zu helfen, war jedoch nicht genug, um die Positionen anderer christlich-national orientierter Parteien zu gefährden.
— Übereinstimmend wird die Auffassung vertreten, daß das unerwartet schlechte Abschneiden der SDPU in erster Linie auf eine ganze Serie katastrophaler Fehlkalkulationen und Wahlkampfpannen zurückzuführen ist. Nachdem die Partei in Meinungsumfragen ursprünglich bei zehn Prozent gelegen hatte, ging dieser Anteil bis Anfang 1990 auf fünf Prozent zurück. Selbstzerstörerische Konflikte zwischen der alten Garde der Partei und ihren jüngeren Mitgliedern, ideologische Orientierungslosigkeit und die bemerkenswerte Unfähigkeit der Parteivorsitzenden waren die wichtigsten Gründe für das enttäuschende Wahlergebnis. Am Ende Hefen die Stammwähler der Partei zum BFD, zum BJD und wahrscheinlich auch zum UDF über.
Für die Mehrheit der ungarischen Wähler war vermutlich das befriedigendste Einzelergebnis der März-Wahlen das Verschwinden der USAP als parlamentarische Partei. Der Zusammenbruch von vier benachbarten kommunistischen Parteistaaten und Gorbatschows Schwierigkeiten in der UdSSR waren für die USAP keineswegs hilfreich. Das gleiche gilt für die Weigerung ihrer Führung, gemei sam mit elf anderen ungarischen Parteien ui Wahlbündnissen im März 1990 gegen die Behan lung der ungarischen Volksgruppe in Siebenbürge durch das rumänische Regime zu protestieren. D USAP stellt sich somit 1990 als politische Leicl ohne große Aussicht auf eine Wiederbelebung der nahen Zukunft dar.
Betrachtet man den Trend in den öffentlichen Pe zeptionen der alten und neuen politischen Parteie Ungarns, so beeindruckt der frühzeitige Aufstie und das spätere Stehvermögen der sechs führende politischen Parteien des Landes. Im Gegensatz z seinen Nachbarn im übrigen Osteuropa hatte da ungarische Volk genügend Zeit und mehrfach Gele genheit, die Parteien,; ihre Führer und Prc gramme sowie ihr Verhalten im Wahlkamp zwölf Monate lang vor den Wahlen auf den Prül stand zu stellen und sich ein Urteil zu bilden. Ein zelne Ereignisse wie z. B. die Nachwahlen des Som mers 1989, die ersten Schritte zur institutionellei Umwandlung Ungarns in einen Rechtsstaat, de Zusammenbruch des Regimes Ceausescu, das er mutigende Beispiel der nationalen Befreiungsbe wegungen der baltischen Nationen und der Aus gang der Wahlen in der DDR haben alle zu der Ergebnissen der Wahlen vom März 1990 beigetra gen. Auf jeden Fall jedoch bleibt als wichtigste] Punkt festzuhalten, daß äußere Ereignisse — sc wichtig sie auch gewesen sein mögen — bei der im wesentlichen hausgemachten Serie von Entwicklungen, welche die ausgehandelte Revolution des Jahres 1990 in Ungarn prägten, nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
VI. Die Märzwahlen 1990
Abbildung 6
Tabelle 6: Wahlergebnis vom 25. März 1990 Quelle: Ungarische Presseberichte (3. April 1990).
Tabelle 6: Wahlergebnis vom 25. März 1990 Quelle: Ungarische Presseberichte (3. April 1990).
Am 25. März 1990 nahmen 5 083 086 Menschen — d. h. etwa 65 Prozent der Wahlberechtigten — an den landesweiten Wahlen teil und gaben ihre Stimmen für regionale Kandidatenlisten der Parteien ab. Etwas weniger, nämlich etwa 61 Prozent der Wahlberechtigten, bedienten sich ihrer Zweit-stimme, um in einem der 176 Wahlbezirke des Landes einen Einzelkandidaten zu wählen.
Zwölf Parteien hatten die Voraussetzungen für die Aufstellung landesweiter Kandidatenlisten erfüllt. Einer etwas größeren Zahl von Parteien war es gelungen, Wahllisten auf Kreis-oder regionaler Ebene aufzustellen. Alle Parteien, die mindestens 750 Unterschriften für die Unterstützung ihres Kandidaten aufweisen konnten, durften dessen Namen auf dem Wahlzettel des betreffenden Wahlkreises unterbringen. Insgesamt bewarben sich 1614 parteigestützte oder unabhängige Kandidaten in den einzelnen Wahlkreisen. Über 90 Prozent aller Kandidaten waren Männer; wie aus den von den Kandidaten veröffentlichten Wahlbiographien hervorgeht, handelte es sich überwiegend um ortsansässige, männliche Akademiker mittleren Alters, die nicht Mitglieder der alten USAP gewesen waren. Um die Kandidatur besonders wichtiger Politiker abzusichern, setzten die größeren Parteien deren Namen zusätzlich (oder alternativ) zu ihrer Aufstellung im örtlichen Wahlkampf auch auf die Kandidatenlisten auf Kreis-und nationaler Ebene -Auf jeden Fall traten bei den Vahlen am 25. März mehr als 2 500 Ungarn mit em erklärten Ziel an, ins Parlament einzuziehen; Die Anzahl der Staatsbürger, die sich als Wahlhelfer etätigten, betrug mindestens das Zehnfache.
Das Wahlgesetz bestand aus folgenden Elemenen: a) einem komplizierten Vorprüfungsmechanismus, vozu u. a. die Registrierung der Parteien und das Jammein von 750 Zustimmungserklärungen für jelen in einem Einzelwahlkreis aufgestellten Kandilaten gehörten;
b) einer weiteren Zwischenstufe, welche die Einteiung der Parteien nach örtlicher, regionaler und nationaler Ebene je nach Anzahl und Verteilung ihrer erfolgreich nominierten Einzelkandidaten zum Zweck hatte; c) einem Mischsystem aus Direktwahl (176 Einzel-mandate) und der indirekten Wahl von Kandidaten für 152 „Kreis-“ und 58 „nationale“ Listen-plätze
Ziel dieses komplizierten Wahlsystems war es, einen Ausgleich zwischen örtlichen, regionalen und nationalen Parteiinteressen herbeizuführen und gleichzeitig die Regierbarkeit des Landes (durch die Vierprozenthürde bei den für die Parteiliste abgegebenen Stimmen) zu gewährleisten.
Die Wahlen am 25. März brachten folgende Ergebnisse:1. Auf die sechs stärksten Parteien entfielen 84, 15 Prozent der für Parteilisten abgegebenen Stimmen. Die alte USAP, die Sozialdemokraten, die „trojanischen Wahlpferde“ des alten Regimes sowie mehrere kleinere Parteien erhielten nicht genügend Stimmen, um sich für eine Vertretung im Parlament zu qualifizieren.
2. Der relative Anteil der Stimmen, die für die drei christlich-nationalen Parteien abgegeben wurden, betrug 42, 92 Prozent; auf die zwei neodemokratischen Parteien entfielen 30, 34 Prozent und auf die Sozialisten 10, 89 Prozent. Das anfängliche Kräfte-verhältnis der drei Parteigruppierungen untereinander erlaubte vorläufige Rückschlüsse auf die parteipolitischen Präferenzen auf nationaler Ebene und trug somit in einer Art „Dominoeffekt“ dazu bei, die Unterstützung der Wähler zugunsten der Gewinner der ersten Runde umzuverteilen. 3. Bei den Verlierern handelte es sich überwiegend um Parteien des linken Flügels sowie um entweder rechtsorientierte oder auf Einzelthemen zielende Parteien wie z. B. die ungarischen Grünen. Daraus hätte man — wie sich später herausstellte: fälschlicherweise — schließen können, daß die im ersten Wahlgang für die USAP und die SDPU abgegebenen Stimmen im zweiten Wahlgang unschwer der USP zufallen könnten.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Wahlen vom 25. März war ebenfalls alles andere als schlüssig im Hinblick auf den Ausgang der zweiten Stimmabgabe. Bei 176 Kandidaturen in Einzelwahlkreisen gelang es nur fünf Kandidaten, mehr als 50 Prozent zu erzielen und sich somit direkt den Einzug ins Parlament zu sichern
Nach den Ergebnissen der Märzwahl wurde der zweite Wahlgang in erster Linie zu einem Duell zwischen UDF und BFD.
Das allgemeine Ergebnis dieser ersten Wahlrun gestattete vier Feststellungen hinsichtlich der w terreichenden Auswirkungen: 1. Das ungarische Volk hat sich mit einer groß Mehrheit dafür entschieden, das System ausz wechseln. Ob dies nun als eine Protestwahl oder positive Unterstützung der Programme der par mentarischen Parteien zu werten ist, läßt sich ai grund der Stimmenanteile für die Parteilisten nie schlüssig entscheiden. 2. Mit ihrer Weigerung, prominente Persönlichk ten bereits im ersten Wahlgang mit der erforder chen Mehrheit auszustatten, bewiesen die Wähl ein hohes Maß an Identifizierung mit den Partei« und somit auch ihre Präferenz für politische Org nisationen im Vergleich zu politischen Persönlic keiten. Die Umorientierung der ungarischen Wä ler seit Sommer 1989 ist als überzeugender Bewe für das Entstehen einer themenbewußten und u teilsfähigen Wählerschaft in Ungarn anzusehen. 3. Die eindeutige Absage der Wähler an d Adresse der Parteien und politischen Symbole de kommunistischen Parteistaats ging Hand in Han mit der Unterstützung für die sozialistischen, libe ral-demokratischen, christlich-nationalen und koi servativen Parteien — ein politisches Spektrui also, das von linken bis zu Mitte-Rechts-Orientie rungen reicht. 4. 439 649 ungarische Wähler entschieden sich fü den BJD, für eine Partei, deren Mitglieder in Durchschnitt nicht älter als 35 Jahre sind. Ursach« hierfür war wohl die „Politik der neuen Art“ de BJD — eine Politik der Aufrichtigkeit, der offenei Worte und der ideologischen Integrität.
VII. Die Aprilwahlen 1990
Abbildung 7
Tabelle 7: Verteilung der Parlamentssitze Quellen: Heti Viläggazdasäg, 14. April 1990; Nepszabadsäg, 10. April 1990, Magyar Közlöny, Nr. 44, 13. Mai 1990.
Tabelle 7: Verteilung der Parlamentssitze Quellen: Heti Viläggazdasäg, 14. April 1990; Nepszabadsäg, 10. April 1990, Magyar Közlöny, Nr. 44, 13. Mai 1990.
Am 8. April 1990 beteiligten sich dreieinhalb Millionen Menschen, d. h. etwa 45 Prozent der Wahlberechtigten, an der zweiten Runde der Parlamentswahlen und entschieden dabei über 171 Einzelwahlkreise. Gleichzeitig ergab sich aus dem zweiten Wahlgang die endgültige Verteilung der Mandate aufgrund regionaler und landesweiter Parteilisten. Nachdem die Ergebnisse des ersten Wahlgangs vorlagen, veränderte sich auch die Natur des politisehen Einsatzes, der auf dem Spiel stand. Aus der Sicht des ungarischen Volkes waren die Zerstörung des alten und der Aufbau eines neuen Systems miteinander verbundene, jedoch unterschiedliche Aufgaben. Diejenigen Parteien, die sich — wie speziell der BFD — in unermüdlichen Angriffen gegen das alte Regime und seine Nachfolgeparteien einschließlich der USP besonders hervorgetan hatten, wurden nunmehr, nachdem diese Arbeit mit der Märzwahl getan war, hinsichtlich ihrer Fähigkeit zum Aufbau eines neuen politischen Systems in einem anderen Licht gesehen. Dies betraf ganz besonders das Denken der politisch Heimatlosen — ist 464 000 Wähler der USAP, des „Agrarverbanes“, des „Patriotischen Wahlbündnisses“ und der Ungarischen Volkspartei“ sowie in geringerem laße jene 535 064 Wähler, die ihre Stimme in der rsten Runde der USP gegeben hatten. Damit soll ngedeutet werden, daß es zwischen den beiden Vahlgängen eine politisch nicht festgelegte Masse on etwa 1 000 000 Wahlberechtigten gab. Zwar ntschlossen sich viele von ihnen, am 8. April zu lause zu bleiben, aber möglicherweise gaben bis zu 00 000 ihre Stimme ab — und zwar wahrscheinlich ugunsten des „kleineren Übels“, nämlich des JDF, das 1 460 838 Stimmen und damit 240 000 nehr als am März erhielt.
Vie das UDF, die Partei der Kleinlandwirte und die DVP in einer Erklärung nach dem ersten Wahlgang feststellten, waren diese Parteien „natürliche“ Bündnispartner. Das gemeinsame Etikett „christich-national“ paßte auf alle drei und nahm gleichzeitig die gesamte Mitte des ideologischen Spekrums in Beschlag. Der BFD stand daher vor der wenig beneidenswerten Aufgabe, die eigene Identität und die Art seines zerbrechlichen Wahlbündnisses mit dem BJD für die zweite Runde anders als im „christlich-nationalen“ Sinne zu definieren und dennoch für die Wähler attraktiv zu bleiben. In dieser Hinsicht hatte die USP, die sich mit ihrer Rolle als unerwünschter Koalitionspartner der übrigen fünf Parteien mehr oder weniger abgefunden hatte, keine Probleme.
Worin liegen die Ursachen für den Wahlausgang? Das wichtigste Ziel bei der zweiten Wahlrunde war die Errichtung eines neuen politischen Systems. Und genau zu diesem Zeitpunkt kamen die Bündnisstrategien der beiden Parteien und das politische Image ihrer Führer ins Spiel. Während die christlich-nationalen Parteien keine Schwierigkeiten bei der Bestimmung ihrer gemeinsamen ideologischen Identität und bei der Schaffung eines Wahlbündnisses mit austauschbaren Wählerblöcken für die zweite Runde hatten, war das Wahlbündnis zwischen BFD und BJD eine „Vernunftehe“ zweier Parteien, die nicht über transferierbare Wähler-blöcke verfügten. Wie die Ergebnisse des zweiten Wahlgangs zeigen, war es unmöglich, diese Gruppen zu einem vereinigten Wählerblock zusammenzuführen. In den 13 Wahlkreisen, wo eine der beiden Parteien ihren Kandidaten zugunsten der anderen zurückzog, gelang es nur in einem Fall, damit einen Erfolg für den Kandidaten des BJD herbeizuführen. In den übrigen zwölf Wahlkreisen gewann entweder das UDF oder die Partei der Kleinlandwirte 25).
Die spezifischen Resultate der zweiten Wahlrunde weisen darüber hinaus auf drei weitere Aspekte hin: 1. Die Wählerbasis des BFD blieb in beiden Wahlgängen praktisch die gleiche.
2. Im ersten Wahlgang lag das UDF in 79 Wahlkreisen und der BFD in 63 Wahlkreisen an erster Stelle. Zwei Wochen später konnte das UDF seinen Vor-* Sprung deutlich vergrößern, als es insgesamt 114 Einzelmandate errang, während der BFD in 28 Fällen seinen Vorsprung verlor und schließlich in nur 35 Einzelwahlkreisen die Gewinner stellte 3. Zahlreiche Spitzenvertreter der Parteien — und dies insbesondere der beiden liberal-demokratischen — mußten in den Einzelwahlkreis Fällen seinen Vorsprung verlor und schließlich in nur 35 Einzelwahlkreisen die Gewinner stellte 26). 3. Zahlreiche Spitzenvertreter der Parteien — und dies insbesondere der beiden liberal-demokratischen — mußten in den Einzelwahlkreisen beschämende Niederlagen gegen unbekannte oder jüngere Gegenkandidaten hinnehmen 27).
VIII. Die demokratische Herausforderung: Möglichkeiten und Grenzen
Welche politischen Konsequenzen ergeben sich aus den ungarischen Wahlen vom März und April 1990?
Die Regierungskoalition verfügt über 59 Prozent der Stimmen im Parlament. Unter anderen Gegebenheiten wäre eine einfache Mehrheit völlig ausreichend für die Verwirklichung der alltäglichen gesetzgeberischen Ziele der Regierung. Die vorhandene Regierungsmehrheit erreicht jedoch nicht jene zwei Drittel der Stimmen, die für Verfassungsänderungen sowie für die Änderung von Gesetzen mit „verfassungsähnlichem Charakter“ erforderlich sind. So wäre es z. B. für die Regierung Antall unvorstellbar gewesen, die Wahl des Präsidenten der Republik auf dem Wege einer Volksabstimmung (wie dies nach geltendem Recht vorgesehen ist) zuzulassen. Aufgrund einer Absprache zwischen UDF und BFD wurde daher der Präsident vom Parlament gewählt. In der logischen Fortführung dieser Überlegung lag es, daß sich das Forum schlauerweise mit der Nominierung von Arpäd Göncz vom BFD zum Parlamentspräsidenten und amtierenden Präsidenten Ungarns als Gegenleistung für die Nominierung von György Szabad (UDF) zum Stellvertretenden Parlamentspräsidenten einverstanden erklärte. Gemäß dieser Absprache wurden beide dann auch zum Präsidenten der Republik Ungarn bzw. zum Parlamentspräsidenten gewählt.
Alle Oppositionsparteien haben öffentlich ihre Bereitschaft erklärt, eine konstruktive Rolle zu übernehmen und die Regierung in allen Angelegenheiten zu unterstützen, die „im Interesse Ungarns“ liegen. Um allerdings die Politik der neuen Regierung beeinflussen zu können, müssen die Oppositionsparteien ihre Anhängerschaft zusammenschließen. Während dies den Jungen Demokraten, die vereint aus den Wahlen hervorgingen, zu gelingen scheint, stehen den Aprilwahlverlierern BFD und USP jedoch noch innerparteiliche Streitigkeiten bevor.
Man könnte hieraus folgern, daß es dem parlamentarischen Block aus UDF, Partei der Kleinlandwirte und CDVP leicht fallen müßte, die Opposition in Schach zu halten. Dies muß sich aber keineswegs zwangsläufig ergeben 28). Zunächst einmal sind die 114 Abgeordneten des UDF eine heterogene Gruppe. Die potentiell miteinander in Konflikt stehenden Interessen von städtisch, ländlich, industriell, landwirtschaftlich, national und „europäisch“ orientierten Abgeordneten müssen sich erst noch auf dem Prüfstand stürmischer Haushaltsdebatten über die Mittelzuweisungen für örtliche, regionale und landesweite Zwecke bewähren.
Die Kleinlandwirte sind sich sowohl als Partei als auch als Parlamentsfraktion nach wie vor uneinig über Personalpolitik und Grundsatzfragen und werden für das UDF möglicherweise ein nicht unbedingt zuverlässiger Partner sein. Über den gegenwärtigen Zustand innerhalb der CDVP ist wenig bekannt, jedoch besteht wenig Veranlassung dazu, an der Loyalität der Partei gegenüber der Regierungskoalition zu zweifeln.
Ungarn sieht sich heute einer Reihe von innenpolitischen und außenpolitischen Problemen (besonders wirtschaftlicher Art) gegenüber, bei deren Lösung parteiübergreifende Initiativen erforderlich sind. Daß Ungarn bereit ist, diese Herausforderungen anzunehmen, haben die Ereignisse seit 1988 bewiesen.
Alles in allem haben nach dem Zusammenbruch des Kädär-Regimes sowohl das Volk als auch die reformorientierte Intelligentsia Ungarns die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, demokratische Verhältnisse herzustellen. Es gibt heute eine freige-wählte Regierung unter der Führung fähiger und integrer Politiker, die — ebenso wie die Führung der Opposition im Parlament — entschlossen sind, Ungarn auf den Weg zurück zu einem Europa der Freiheit des Individuums und der politischen Freiheiten zu führen. Dies wird nicht „das Ende der Geschichte“, sondern ein Neubeginn für eine Nation sein, die sowohl auf den Barrikaden von 1956 als auch an den Wahlurnen des Jahres 1990 ihren Anspruch begründet hat, ein souveränes Staatswesen freier Menschen in der Gemeinschaft freier Völker zu bilden.
Rudolf L. Töks, Dr. phil., geb. in Ungarn; Professor für Politikwissenschaft an der University of Connecticut; zuvor Lehrtätigkeit an den Universitäten Wesleyan und Yale. Veröffentlichungen u. a.: The Negotiated Revolution. Economic Reforms, Social Change and Political Succession in Hungary, 1986— 1990 (in Vorbereitung); zahlreiche Beiträge zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der UdSSR, in Osteuropa und Ungarn; Herausgeber der Zeitschrift „Studies in Comparative Communism“.