Der Grundgedanke der Sozialen Marktwirtschaft läßt sich bis zur ökonomischen Klassik zurückverfolgen. Vom Kapitalismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich das nach dem Zweiten Weltkrieg von Müller-Armack und anderen entwickelte Konzept vor allem durch die realistischere Sichtweise der ökonomischen und sozialen Gefahren einer sich selbst überlassenen Wirtschaft. Die Marktwirtschaft enthält bereits von ihrer Grundkonzeption her wichtige soziale Wirkungen. Erst die in diesem System erreichte Effizienz des Wirtschaftens ermöglicht überhaupt Wohlstand und soziale Leistungen im heute in der Bundesrepublik erreichten Ausmaß. Darüber hinaus wirkt sie auf die Minimierung von Marktmacht, die Geltung der Konsumentensouveränität sowie auf die Bewahrung der Geldwertstabilität hin. Als ergänzende soziale Komponenten lassen sich Instrumente und Maßnahmen der sozialen Sicherung, des sozialen Ausgleichs, der Chancengleichheit und des Schutzes von Arbeitnehmern und Konsumenten vor gesundheitlichen Gefahren unterscheiden. Diese Komponenten werden aus den Grundprinzipien von Solidarität und Subsidiarität sowie aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet. Im System der gegliederten Sozialversicherung gilt außerdem das Prinzip der Selbstverwaltung. Als konkrete Gestaltungsformen der sozialen Sicherung treten Versicherung, Versorgung und Fürsorge auf. die je nach Problemlage einzeln oder kombiniert einzusetzen sind. Der Marktwirtschaft am ehesten adäquat ist das Versicherungsprinzip, jedoch kann dieses allein nicht alle auftretenden sozialen Probleme lösen. Beim sozialen Ausgleich ist subjektgebundenen Maßnahmen der Vorzug vor Eingriffen in den Preismechanismus zu geben. Steuerungsdefizite treten zudem durch mangelnde Effizienzanreize sowie durch die Vermischung von Sicherungs- und Verteilungszielen auf. Ebenso wie die Marktwirtschaft der sozialen Ergänzung bedarf, bedarf die Sozialpolitik wettbewerblicher Steuerungselemente.
I. Soziale Marktwirtschaft
Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft geht auf Alfred Müller-Armack zurück -Die Grundidee dieser wirtschaftspolitischen Konzeption läßt sich indessen bis zu John Stuart Mill (1806— 1873) zurückverfolgen der das Gedankengebäude der ökonomischen Klassik nicht nur vollendete, sondern auch bereits durch weitgehende sozialpolitisehe Elemente ergänzte. So trat er bereits für eine (allerdings proportionale) Einkommensteuer sowie für eine radikale Erbschaftssteuer ein und vertrat eine Eigentumskonzeption, „die der heutigen Auffassung, wie sie beispielsweise in der Sozialpflichtigkeit der Eigentümer im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ihren Niederschlag gefunden hat, sehr nahe kommt“ Aber auch Adam Smith (1723— 1790), der Urvater der Nationalökonomie. steht nicht für ein schrankenloses Konzept des laissez faire, für das er oft in Anspruch genommen wird.
Der zynischen Bienenfabel Bernard Mandevilles (1670— 1733) in welcher der wirtschaftliche Niedergang eines Volkes beschrieben wird, das beschloß, tugendhaft zu werden, stand der schottische Professor für Moraltheologie ablehnend gegenüber Und selbst in der Bienenfabel finden sich Hinweise darauf, daß der Eigennutz durch verbindliche Regeln kanalisiert werden muß, wenn er letztlich durch die Kraft der „unsichtbaren Hand“ des Marktes (Smith) dem Gemeinwohl dienen soll:
„Stammt nicht der Wein, der unser Leben erfrischt, aus dürren, krummen Reben?
Stutzt man den Wuchs nicht rigoros verholzt der Weinstock, wuchert bloß. der edle Früchte uns bereitet, wenn man ihn bindet und beschneidet. So kann auch Laster nützlich sein, schränkt das Gesetz es weise ein.“
Tatsächlich lassen sich in der nationalökonomischen Literatur kaum Autoren finden, die einem „Nachtwächterstaat“ (Ferdinand Lassalle, 1825— 1864) das Wort geredet hätten, wenngleich Art und Umfang der für notwendig erachteten staatlichen Einflußnahme auf das Wirtschaftsgeschehen sehr unterschiedlich beurteilt wurden, abhängig natürlich auch von den politischen und ökonomischen Verhältnissen der jeweiligen Zeit. So muß man die aus heutiger Sicht sicher übertriebene Abneigung der ökonomischen Klassik gegen staatliche Eingriffe vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem extrem interventionistischen System des Merkantilismus sehen und manche pointiert liberale Position heutiger Autoren würde ohne die negativen Erfahrungen mit den Auswüchsen des modernen Wohlfahrtsstaates wohl moderater ausgefallen sein.
Um so höher ist die Leistung der Väter der Sozialen Marktwirtschaft einzuschätzen, der zentralistischen Wirtschaftslenkung der Nationalsozialisten bzw.dem Interventionismus der Weimarer Republik keinen radikalen Liberalismus entgegenzusetzen, sondern ein Konzept, welches zwar konsequent auf den Wettbewerb setzt, gleichzeitig aber auch der Gefahr Rechnung zu tragen versucht, daß der Wettbewerb beschränkt bzw. mißbraucht werden oder zu unsozialen Konsequenzen führen könnte. Sie konnten dabei zum einen auf Erfahrungen in der Frühzeit der Industrialisierung zurückgreifen, welche die Notwendigkeit entsprechender Vorkehrungen hinreichend deutlich gemacht hatten. Zum anderen hatten die bis dahin bekannten Experimente mit zentral gelenkten Wirtschaften deren Ineffizienz und Menschenfeindlichkeit gezeigt. Gleichwohl ist es problematisch, die Soziale Marktwirtschaft als „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu bezeichnen: Sie ist kein Kompromiß zwischen diesen beiden — grundsätzlich unvereinbaren — Koordinationsmechanismen, sondern setzt eindeutig auf Wettbewerb und Leistungsanreize als Triebfedern der wirtschaftlichen Entwicklung. Was sie vom Konzept der Klassiker unterscheidet, ist weniger der moralische Anspruch — auch die Vertreter des ökonomischen Liberalismus haben nur das beste für die Menschen gewollt — als vielmehr die realistischere Sichtweise der ökonomischen und sozialen Gefahren in einer sich weitgehend selbst überlassenen Wirtschaft. Indem sie den Schutz des Wettbewerbs vor dem Zugriff nicht nur der Unternehmen und Verbände, sondern auch des Staates zum Programm macht, ist die Soziale Marktwirtschaft sogar konsequenter als der Kapitalismus des 19. und der Staats-kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts und unterscheidet sich hierin auch grundlegend von allen Formen sozialistischer Wirtschaftslenkung.
II. Soziale Wirkungen der Marktwirtschaft
Abbildung 3
Abbildung 3
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Grundlegend für das Verständnis der Marktwirtschaft ist die Erkenntnis, daß sie bereits von ihrer Grundkonzeption her, d. h. auch ohne sozialpolitische Korrekturen des Staates, wichtige soziale Wirkungen mit sich bringt. In erster Linie ist hier auf die Effizienz des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems zu verweisen: Dynamischer Wettbewerb und leistungsorientierte Entlohnung der Produktionsfaktoren führen dazu, daß die Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft optimal — im Sinne der sich am Markt ergebenden Preissignale — genutzt werden, da jede Art von Verschwendung — wieder im soeben definierten Sinne — sich nachteilig auf die persönliche Einkommenssituation des Verschwenders auswirkt. Die vierzigjährige Erfahrung mit der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik hat gezeigt, daß dadurch ein allgemeines Wohlstandsniveau erreicht werden kann, welches in Systemen staatlicher Wirtschaftslenkung nicht annähernd zu realisieren ist, und daß davon auch die unteren Einkommensschichten in so starkem Maße profitieren, daß schon ihr marktmäßig erzieltes Einkommen weit über dem in anderen Wirtschaftsordnungen erreichbaren Niveau liegt. Darüber hinaus ermöglicht das auf diese Weise erzielte Wirtschaftswachstum zusätzliche Verteilungsspielräume, ohne die eine staatliche Sozial-bzw. Umverteilungspolitik letztlich gar nicht möglich wäre. Dieser Zusammenhang lag auch der klassischen Vorstellung von Sozialpolitik im Sinne von Mill zugrunde: Maximierung des Verteilungsspielraumes durch möglichst unverfälschte Knappheitspreise am Markt und „anschließende“ — im logischen, nicht im zeitlichen Sinne — Korrektur der Verteilungsrelationen durch den Staat Mill sah aber auch schon deutlich die Gefahr, daß eine Überstrapazierung der Umverteilung die Leistungsanreize gefährden und damit auch die Verteilungsmasse reduzieren könnte Damit unterschied er sich grundlegend von Karl Marx (1819— 1883), der die Effizienz des kapitalistischen Systems lediglich zur Vorbereitung des Sozialismus nutzen wollte, um es anschließend abzuschaffen — womit gewissermaßen die Kuh geschlachtet worden wäre, welche die Milch geben sollte.
Die Effizienz des marktwirtschaftlichen Systems bezieht sich, wie erwähnt, auf die sich am Markt ergebenden Preissignale. Darin liegt einerseits eine Einschränkung, andererseits aber auch eine weitere soziale Eigenschaft der Marktwirtschaft. Die Einschränkung liegt darin, daß die Preissignale verfälscht sein können, insbesondere durch externe Effekte (z. B. Umweltkosten), die nicht automatisch in die Kalkulation der privaten Anbieter eingehen und damit der staatlichen Internalisierung bedürfen, etwa im Wege von Umweltabgaben Die soziale Dimension der Orientierung an Marktpreisen liegt im Prinzip der Konsumentensouveränität: Nicht der Staat befindet über die Knappheit bzw. über den Wert der einzelnen Güter, sondern diese ergibt sich in einem anonymen und damit willkürfreien Prozeß am Markt, nämlich aus den Präferenzen der Konsumenten einerseits, den Entlohnungsansprüchen der Produktionsfaktoren andererseits. Damit werden Warteschlangen bzw. bürokratische Zuteilungsverfahren vermieden, allerdings um den Preis, daß die Kaufkraft des einzelnen auch sein Gewicht bei der Abstimmung mit dem „Stimmzettel Geld“ bestimmt. Aber dies ist die unvermeidliche Konsequenz aus der Leistungsanreizfunktion der Einkommen, und sie läßt sich zu-dem im Wege von Maßnahmen der Sekundärverteilung abmildem, ohne daß dabei die effizienzsteigerade Funktion knappheitsbestimmter Preise verloren ginge.
Eng mit diesem Gesichtspunkt verbunden ist eine weitere soziale Eigenschaft der Marktwirtschaft, nämlich die Minimierung von Marktmacht, auch der des Staates. Der einzelne soll nicht von staatlichen Zuteilungen abhängig sein, sondern im Rahmen seines Einkommens und allgemein gültiger Gesetze frei über die Befriedigung seiner Konsumwünsche entscheiden können. Das bezieht sich auch auf das im Ausland verfügbare Warenangebot: Importkontrollen, Devisenbewirtschaftung oder Beschränkungen der Reisefreiheit sind unvereinbar mit der Marktwirtschaft. Im Unterschied zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts werden in der Marktwirtschaft aber auch Vorkehrungen dagegen getroffen, daß das Güterangebot durch private Kartelle oder Monopole beschränkt wird; sichtbarer Ausdruck dieses — nicht immer erfolgreichen — Bemühens ist das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957. Darüber hinaus soll die Zulassung von Privateigentum den einzelnen weniger abhängig von privater oder staatlicher Marktmacht machen und ihm zusätzliche Leistungsanreize verschaffen.
Dies bezieht sich ausdrücklich auch auf das private Eigentum an Produktionsmitteln. Dabei steht weniger die Freiheit des Besitzers dieser Produktionsmittel im Vordergrund als vielmehr die der Arbeitnehmer, denn diese sind weniger abhängig in ihrer Arbeitsplatzwahl, wenn sie sich einer Vielzahl von konkurrierenden Unternehmen gegenübersehen, als wenn der Staat der einzige Anbieter von Arbeitsplätzen wäre. Zusätzlich ist ihnen der Zusammenschluß in Gewerkschaften und die Vereinbarung kollektiver Tarifverträge erlaubt, obwohl dies im Grunde eine Beschränkung des Wettbewerbs bedeutet: Werden marktwidrig überhöhte Löhne oder überzogene Kündigungsschutzvorschriften vereinbart, so profitieren davon die Arbeitsplatzbesitzer auf Kosten der Arbeitsuchenden, für die es dann keine rentablen Arbeitsplätze mehr gibt. Aus der Koalitionsfreiheit der Tarifparteien ergibt sich daher auch eine besondere soziale Verantwortung, was ganz generell für jeden Nutznießer von Wettbewerbsbeschränkungen gilt. Im GWB ist deshalb für marktbeherrschende Unternehmen eine Mißbrauchsaufsicht installiert worden, die allerdings in der Praxis schwer umzusetzen und daher grundsätzlich der Schaffung wettbewerblicher Marktstrukturen unterlegen ist.
Wie in allen anderen Wirtschaftsordnungen, so gibt es auch in der Marktwirtschaft widerstreitende Interessen von Verbrauchern und Anbietern bzw. Arbeitnehmern. So steht z. B. im Streit um das Ladenschlußgesetz das Interesse der Konsumenten an zeitlich flexiblen Einkaufsmöglichkeiten gegen das Interesse der Erwerbstätigen im Einzelhandel, geregelte und im ganzen nicht zu lange Arbeitszeiten zu haben. Umgekehrt sollen z. B. die in der Handwerksordnung festgelegten Qualifikationsanforderungen, etwa für das Führen eines Elektrobetriebes, den Verbraucher vor Gefahren schützen, beschränken dabei aber die Gewerbefreiheit, z. B. im Falle von aus dem Ausland stammenden Anbietern. Im politischen Entscheidungsprozeß werden solche Konflikte meist zugunsten der besser organisierten Gruppe entschieden, und das sind i. d. R. die Anbieter. Es kommt hinzu, daß vermeintliche Verbraucherinteressen oft lediglich zur Durchsetzung von Wettbewerbsbeschränkungen auf der Anbieterseite angeführt werden. Vor allem aber gilt es zu bedenken, daß jeder Anbieter gleichzeitig auch Verbraucher ist, wenngleich auf anderen Märkten, so daß einseitig anbieterfreundliche Regelungen sich letztlich für alle als negativ herausstellen können. Aus diesem Grunde präferieren marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen im Zweifel auch hier die dezentrale Lösung von Konfliktfällen über den Markt: Einzelhandelsgeschäfte mit langen Öffnungszeiten könnten z. B. höhere Preise verlangen, um ihre Angestellten entsprechend zu entschädigen, und an die Stelle verbindlicher Meisterbriefe im Handwerk könnten freiwillige, wenngleich staatlich überwachte Qualifikationsnachweise treten, die dann den Charakter eines Wettbewerbsparameters und nicht mehr den einer Wettbewerbsbeschränkung hätten. Der Markt und nicht mehr die Macht der Verbände würde dann entscheiden, welches Angebot sich letztlich durchsetzt. Wenngleich auch dieser Lösung über Gütesiegel. Qualitätsgemeinschaften und offizielle Berufsbezeichnungen sicherlich Grenzen gesetzt sind, entspricht sie dem marktwirtschaftlichen Grundgedanken sicher eher als bindende staatliche Vorschriften.
Schließlich ist eine wichtige soziale Eigenschaft der Marktwirtschaft auch in der Präferenz für Geldwert-stabilität zu sehen, die dieses Wirtschaftssystem faktisch erzwingt. Zwar läßt sich die Geldversorgung nach überwiegender — wenngleich nicht unbestrittener — Auffassung nicht wettbewerblich organisieren. sondern obliegt dem Staat bzw. vorzugsweise einer unabhängigen und auf die Stabilität der Währung verpflichteten Notenbank, wie dies in der Bundesrepublik der Fall ist. Aber andererseits ist wertstabiles Geld eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren des Preismechanismus, so daß marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen fast ausnahmslos diesem Ziel Priorität im Sinne einer conditio sine qua non für die Erreichung der anderen Ziele des sog. magischen Vierecks — hoher Beschäftigungsstand, angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum sowie außenwirtschaftliches Gleichgewicht — beimessen. Sozialpolitisch bedeutsam ist dies vor allem wegen der negativen Verteilungswirkungen, die mit der Inflation verbunden sind: Sie benachteiligt tendenziell die Bezieher fester Einkommen (insbesondere Rentner und Arbeitnehmer) gegenüber den Beziehern von Residualeinkommen (Gewinnen), und sie führt zur Entwertung von Geldvermögen gegenüber den Sachvermögen, womit ebenfalls vorwiegend die weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten benachteiligt sind, da diese i. d. R. Sparguthaben bilden und nur in begrenztem Ausmaß über Produktivvermögen oder Wohneigentum verfügen. Zudem begünstigt die Inflation die Schuldner (insbesondere den Staat) gegenüber den Gläubigern und läuft damit auch dem sozialpolitischen Anliegen der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand zuwider. Weniger empfindlich erscheinen die Vertreter der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung zunächst, wenn es um die Verletzung des Vollbeschäftigungsziels geht. Zumindest temporäre Unterbeschäftigung im Konjunkturverlauf wird als unvermeidbar angesehen, und ein gesetzlich festgeschriebenes Recht auf Arbeit wird überwiegend abgelehnt. Dahinter steht die Befürchtung, eine staatliche Vollbeschäftigungsgarantie müsse letztlich die Autonomie der Tarifparteien sowie das Recht auf freie Arbeitsplatzwahl gefährden, da sie sonst nicht zu realisieren wäre. Ein einklagbares Recht auf Arbeit müsse schließlich dazu führen, daß ein von Entlassung bedrohter Arbeitnehmer entweder trotz fehlender Einsatzmöglichkeiten weiterbeschäftigt wird oder aber einen staatlich zugewiesenen anderen Arbeitsplatz erhielte; beides wäre mit den der Marktwirtschaft immenenten Erfordernissen marktgesteuerter Produktion und mobiler Produktionsfaktoren unvereinbar. Statt dessen wird versucht, den Konjunkturverlauf möglichst zu verstetigen und im übrigen eine angemessene soziale Absicherung im Wege der Arbeitslosenversicherung zu gewährleisten. Seit Mitte der siebziger Jahre hat zudem die sog. aktive Arbeitsmarktpolitik zunehmendes Gewicht erhalten, die jedoch bereits als umstrittenes Instrument im Rahmen einer Marktwirtschaft gilt
III. Ergänzende soziale Komponenten
Abbildung 4
Abbildung 1: Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik
Abbildung 1: Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik
Damit sind bereits ergänzende Komponenten angesprochen, die im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zusätzlich zu ihren immanenten sozialen Vorteilen verankert wurden. Hier sind im wesentlichen vier Problembereiche zu unterscheiden: — Bei der sozialen Sicherung geht es um die Begrenzung bzw. Abdeckung von Risiken, denen der einzelne und seine Angehörigen im Erwerbs-bzw. auch im Privatleben ausgesetzt sind; Beispiele sind Krankheit, Unfall, Erwerbsunfähigkeit und Tod. Dieses Problem kann prinzipiell auch auf rein privatwirtschaftlicher Ebene in Form von Versicherungen bzw. Risikogemeinschaften gelöst werden und hat auch hier seinen historischen Ursprung Dennoch werden die wichtigsten Risiken auf der Grundlage der Sozialgesetzgebung Bismarcks (1815 — 1898) heute überwiegend durch die staatliche Sozialversicherung abgedeckt — Beim sozialen Ausgleich (auch: soziale Gerechtigkeit) steht dagegen die Solidarität mit dem Schwächeren im Vordergrund. Da es hier um Umverteilung über den bloßen Risikoausgleich auf Gegenseitigkeit hinaus geht, ist dieses Anliegen nicht rein privatwirtschaftlich zu bewältigen, wenngleich es mit den freien Wohlfahrtsverbänden (z. B. Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Rotes Kreuz) auch hier privatwirtschaftliche Wurzeln gibt. Die wesentlichen Instrumente liegen heute indessen beim Staat (u. a. Einkommen-und Vermögensteuer, Sozial-transfers, Bereitstellung öffentlicher Güter usw.). — Chancengleichheit und Gleichberechtigung (etwa der Arbeitnehmer im wirtschaftlichen Entscheidungsprozeß) sind sozialpolitische Ziele, die z. B. in der staatlichen Bereitstellung von Bildungseinrichtungen sowie in den Mitbestimmungsregelungen des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 (novelliert in den Jahren 1972 und 1976) sowie im Mitbestimmungsgesetz von 1976 (im Montanbereich bereits 1951) ihren materiellen Ausdruck finden Diese Komponenten stehen allerdings in einem besonderen Spannungsverhältnis zur marktwirtschaft-liehen Grundidee und insbesondere zum Leistungsprinzip. So würde vollständige Chancengleichheit u. a. eine radikale Erbschaftsteuer voraussetzen (ohne daß sie damit schon als gewährleistet gelten könnte), und eine uneingeschränkte paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer dürfte mit dem Eigentumsrecht in Konflikt geraten.
— Schließlich ist noch auf die gesetzlichen Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer und Konsumenten hinzuweisen, die sich u. a. in der Verbraucherschutzgesetzgebung, im Kündigungs-und Mietrechtschutz sowie im Unfallschutz am Arbeitsplatz und in den gesetzlichen Arbeitszeitregelungen konkretisieren. Wie bereits angedeutet, ließe sich manches davon auch wettbewerblich oder durch die Tarifparteien organisieren. Als besonders problematisch gilt, daß in diesen Bereichen die Rechtsnormen in zunehmenden Maße durch gerichtliche Grundsatzentscheidungen statt durch den Gesetzgebergesetzt werden (sog. Richterrecht). Dies verstärkt die Gefahr, daß bei der Einzelfallentscheidung längerfristige Konsequenzen (z. B.des Mieterschutzes auf den Wohnungsbau) zu wenig Beachtung finden und damit langfristig das Gegenteil des Gewollten erreicht wird (z. B. Wohnungsmangel wegen fehlender Rentabilität der Vermietung).
Bei der Gestaltung dieser ergänzenden sozialen Komponenten konnten die Väter der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zum großen Teil an Gesetze und Institutionen anknüpfen, die bereits in der Zeit der industriellen Revolution bzw. in der Weimarer Republik geschaffen, von den Nationalsozialisten jedoch ausgesetzt bzw. gleichgeschaltet worden waren. Das traf vor allem auch auf die Vielzahl von freien Wohlfahrtsverbänden und staatlich installierten Institutionen der Sozialversicherung zu. So beruht das heutige, stark gegliederte System der staatlichen Sozialversicherung noch immer auf der Grundlage der Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911, und auch die Selbstverwaltung dieser Institutionen durch Organe, in denen Arbeitgeber und Versicherte paritätisch vertreten sind, wurde nach ihrer zwischenzeitlichen Ersetzung durch das nationalsozialistische Führerprinzip wieder eingeführt. Neben dem Prinzip der Selbstverwaltung ist die Sozialpolitik in der Marktwirtschaft durch drei weitere, sich teilweise ergänzende, teilweise aber auch konkurrierende Grundprinzipien gekennzeichnet:
— Das Solidaritätsprinzip bezeichnete ursprünglich die gegenseitige Hilfe im Rahmen von — nicht notwendigerweise staatlichen — Solidargemeinschaften nach dem Grundsatz der christlichen Sozial-lehre: „Alle für einen, einer für alle.“ Grundlage solcher Solidargemeinschaften war die Überein-stimmung der Beteiligten in den Lebenslagen (z. B. Knappschaften im Bergbau), in den Lebensanschauungen (z. B. christliche Solidargemeinschaften, Caritas) und/oder in sonstigen Interessenkonvergenzen (Parteien, Gewerkschaften. Genossenschaften). Kennzeichnend für diese Gemeinschaften war deshalb das Prinzip der Freiwilligkeit ihres Zustandekommens ohne staatlichen Zwang. Heute wird — abweichend davon — der Begriff der Solidarität auch zur Rechtfertigung hoheitlicher Zwangsmaßnahmen in Anspruch genommen, z. B. im Falle von steuerlichen Sonderbelastungen („Solidaritätsbeitrag der Besserverdienenden“).
— Das Subsidiaritätsprinzip besagt im Kern, daß die Regelung sozialer Probleme grundsätzlich auf der niedrigsten möglichen Ebene erfolgen soll, d. h. Selbsthilfe geht vor Fremdhilfe, die Familie rangiert vor den freien Wohlfahrtsverbänden und diese wiederum haben Vorrang vor dem Staat. Das Subsidiaritätsprinzip gliedert also das Solidaritätsprinzip in seiner konkreten Ausgestaltung; es wurde ebenfalls vor allem von der christlichen Soziallehre vertreten (Enzyklika Quadragesimo Anno von 1931). Neben der Begrenzung der staatlichen Macht wird es insbesondere mit der Freiheit und Verantwortung der Bürger für sich selbst und andere sowie — auf der pragmatischen Ebene — mit der größeren Problemnähe und dem daraus resultierenden Informationsvorsprung der unteren Handlungsebenen begründet. So ist z. B. die Zuständigkeit der Kommunen statt übergeordneter Gebietskörperschaften für die Sozialhilfe auf dieses Prinzip zurückzuführen, denn gerade in diesem Bereich gibt es erhebliche Ermessens-und Gestaltungsspielräume. — Das Sozialstaatsprinzip schließlich kennzeichnet das Recht und die Verpflichtung des staatlichen Souveräns, durch Akte hoheitlicher Gewaltausübung unmittelbar gestaltend auf die sozialen Belange der Bevölkerung Einfluß zu nehmen. Je nachdem, in welcher Form dies geschieht, kann das Sozialstaatsprinzip im Konflikt mit den zuvor genannten Prinzipien stehen oder aber diese unterstützen: Ersteres ist z. B. in der gesetzlichen Rentenversicherung der Fall, da diese für breite Bevölkerungskreise obligatorische Einheitsversicherung nur wenig Raum für privatwirtschaftlich organisierte Sicherungsgemeinschaften läßt Harmonie zwischen dem Sozialstaatsprinzip und den Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität besteht dagegen dort, wo der Staat Hilfe zur Selbsthilfe gewährt (z. B. durch die steuerliche Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen) oder freie Wohlfahrtsverbände direkt unterstützt. Von marktwirtschaftlich orientierten Sozialpolitikern werden meist Lösungen bevorzugt, bei denen der Staat zwar eine Pflichtversicherung in bestimmter Höhe grundsätzlich vorschreibt, die Wahl des Versicherungsträgers aber dem einzelnen überläßt. Damit wird einerseits eine obligatorische Mindestsicherung jedes einzelnen erreicht, gleichzeitig aber Wettbewerb zwischen den Versicherungen ermöglicht
Das Verhältnis der einzelnen Grundprinzipien zueinander ist in Abbildung 1 in stark vereinfachter Darstellung skizziert. Die Zuständigkeit des einzelnen bzw.der verschiedenen Solidargemeinschaften hängt insbesondere vom Grad der Absicherung ab, die erzielt werden soll: Während der Staat vor allem für die Sicherung eines Mindestlebensstandards (etwa im Wege der Sozialhilfe, vorzugsweise jedoch im Wege einer Versicherungspflicht) zuständig ist, rückt bei zunehmenden Ansprüchen an das Sicherungsniveau die freiwillige Vorsorge bzw. die Zuständigkeit spezieller Solidargemeinschaften in den Vordergrund. Beispielsweise können bestimmte Grundbedürfnisse eines mittellosen Menschen, der zum Pflegefall geworden ist, nach Art und Umfang als sicher gelten und daher unbedenklich als staatliche Regelleistung gewährt werden. Es gibt aber darüber hinaus spezielle Lebenslagen, deren finanzielle Erfordernisse nur im Einzelfall zu definieren sind und deren Bewältigung daher besser in den Händen problemnäherer Institutionen (Kommunen, Verbände, Familie) aufgehoben ist. Für die Absicherung eines darüber hinausgehenden Niveaus ist schließlich im Regelfall persönliche Vorsorge zu treffen.
IV. Gestaltungsformen der sozialen Sicherung
Abbildung 5
Abbildung 2: Magisches Dreieck der Sozialpolitik
Abbildung 2: Magisches Dreieck der Sozialpolitik
Die Komplexität der verschiedenen sozialpolitischen Problemfelder und die Vielfältigkeit der jeweils individuellen Umstände verbieten es, Sozialpolitik nach einem einheitlichen Schema zu organisieren. Gerade in diesem sensiblen Bereich, in dem es einerseits um dreistellige Milliardenbeträge, andererseits aber eben auch um die Bewältigung individueller Notlagen geht, tun sich ausdifferenzierte
Seibsteuerungsmechanismen in der Praxis jedoch meistens schwer. Viele theoretisch überzeugende Lösungen scheitern z. B. in der Praxis daran, daß die Probleme, die sie bewältigen sollen. Ergebnis langjähriger Fehlentwicklungen und Versäumnisse sind, die nicht mehr revidiert werden können. Das gilt z. B. für den Vorschlag, die Rentenversicherung vom Umlageverfahren wieder auf das Kapitaldeckungsverfahren umzustellen, denn dies würde aufgrund der im Umlageverfahren inzwischen aufgelaufenen Rentenansprüche bedeuten, daß über viele Jahrzehnte hinweg zwei Rentensysteme zugleich finanziert werden müßten Aus einem ähnlichen Grund kann eine Pflichtversicherung für den Pflegefall nur langfristig zur Lösung dieses Problems beitragen, denn für einen Großteil der in Zukunft davon Betroffenen käme sie viel zu spät: Die Prämien wären für ältere Menschen kaum aufzubringen, insbesondere nicht für Frauen (aufgrund deren relativ hoher Lebenserwartung).
Dementsprechend wird die konkrete Ausgestaltung der sozialen Komponente in der Marktwirtschaft immer auf ein Neben-und Miteinander verschiedener Instrumente angewiesen sein, die je nach Problemlage zu wählen sind. Dabei empfiehlt es sich jedoch, sowohl auf der logischen als auch auf der operativen Ebene zwischen dem Anliegen der sozialen Sicherung einerseits und dem des sozialen Ausgleichs andererseits zu trennen.
Hinsichtlich der sozialen Sicherung sind die drei Gestaltungsmöglichkeiten Versicherung, Versorgung und Fürsorge zu unterscheiden:
— Grundlage der Versicherung ist die Mitgliedschaft sowie die Gewährung von beitragsäquivalenten Leistungen unter Einschluß des Risikoausgleichs. Auf die Leistungen besteht bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ein Rechtsanspruch sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach. Eine Bedürftigkeitsprüfung erfolgt nicht; die Verweigerung bzw. Minderung der Versicherungsleistungen kann allenfalls dann erfolgen, wenn der Versicherungsfall grob fahrlässig oder mutwillig herbeigeführt worden ist. Kennzeichnend für das Versicherungsprinzip ist ferner die Möglichkeit, innerhalb bestimmter Grenzen den Umfang der Risikoabsicherung selbst zu wählen und gegebenenfalls einen Selbstbeteiligungsvorbehalt zu vereinbaren, beides natürlich mit entsprechenden Konsequenzen für die Prämienhöhe. Während letzteres bei privaten Anbietern (z. B. Lebensversicherungen, private Krankenversicherungen) durchaus üblich ist, sind entsprechende Elemente in der gesetzlichen Sozialversicherung bisher nur ansatzweise eingeführt worden.
— Grundlage des Versorgungsprinzips ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (z. B. Beamte) und/oder die Erbringung bestimmter (nichtgeldlicher) Vorleistungen (z. B. Kriegsteilnehmer); es kommt vor allem im staatlichen Bereich zur Anwendung. Die Leistungen werden nicht aus Beiträgen, sondern i. d. R. aus allgemeinen Haushalts-mitteln finanziert, und die Bemessung der Leistungen setzt nicht allein am Umfang etwaiger erbrachter Vorleistungen an, sondern auch an persönlichen Merkmalen wie Alter, Familienstand etc. Es besteht ein Rechtsanspruch sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach ohne Prüfung der individuellen Bedürftigkeit.
— Das Fürsorgeprinzip schließlich setzt weder finanzielle noch sonstige Vorleistungen für den Leistungsbezug voraus, sondern orientiert sich allein an der Bedürftigkeit. Ein Rechtsanspruch besteht meist gar nicht oder nur dem Grunde nach, d. h. über den Umfang der Leistungen entscheidet z. B. im Falle der Sozialhilfe letztlich der zuständige Sachbearbeiter, wenngleich natürlich im Rahmen entsprechender Richtlinien. Bei der Prüfung der Bedürftigkeit wird i. d. R. auch das Vermögen des Betreffenden sowie seiner engeren Familienangehörigen berücksichtigt und gegebenenfalls sein Einsatz vor dem Erhalt staatlicher Leistungen gefordert.
Jedes dieser drei Gestaltungsprinzipien hat spezifische Vor-und Nachteile. Dem marktwirtschaftlichen System am ehesten adäquat ist das Versicherungsprinzip: Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung ist hier ebenso gewahrt wie die Möglichkeit des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Anbietern von Versicherungsleistungen, und die Leistungen haben keinen Almosencharakter, sondern sind selbst erworbene Ansprüche, deren Umfang (und Kosten) weitgehend selbst bestimmt werden können.
Der Vorteil des Versorgungsprinzips ist dagegen vor allem darin zu sehen, daß es auch nach Eintritt des Risikofalles noch installiert werden kann, z. B. im Fall der Kriegsopferversorgung. Außerdem ist es relativ einfach zu handhaben, da keine Prämien erhoben und keine versicherungsmathematischen Berechnungen angestellt werden müssen. Dafür besteht hier die Gefahr der Überversorgung sowie eines Übergewichts leistungsfeindlicher Elemente in der Gestaltung, da mit den allgemeinen Haushaltsmitteln eine kaum versiegende Finanzierungsquelle zur Verfügung steht. So sind Beamte im Alter i. d. R. weitaus besser abgesichert als vergleichbare Angestellte in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Das Fürsorgeprinzip schließlich ist das am flexibelsten einsetzbare Instrument, gleichzeitig aber auch das leistungsfeindlichste, da hier keinerlei Vorleistungen des Bezugsberechtigten vorausgesetzt werden. Andererseits haben die Leistungen hier starken Almosencharakter, und die Bedürftigkeitsprüfung birgt ebenso wie der Zugriff auf das Vermögen des Leistungsempfängers die Gefahr von Behördenwillkür ebenso wie die Möglichkeit unangemessener Härten. Dieses Prinzip — etwa in Gestalt der Sozialhilfe — eignet sich daher vor allem für jene Fälle, die von den anderen Maschen des sozialen Netzes nicht aufgefangen werden.
Die richtige Auswahl bzw. Kombination der drei sozialpolitischen Gestaltungsprinzipien läßt sich auch anhand des in Abbildung 2 dargestellten „magischen Dreiecks“ der Sozialpolitik veranschaulichen. Die dort dargestellten drei Ziele lassen sich im allgemeinen nicht gleichzeitig realisieren: Wenn man etwa die verbleibenden Risiken und Kosten für den einzelnen sehr gering wählt, gleichzeitig aber Mißbrauch und Mitnahmeeffekte vermeiden will, so braucht man eine sehr starke und ins einzelne gehende bürokratische Kontrolle der Leistungsgewährung. Will man dies vermeiden, also z. B. die Regelsätze in der Sozialhilfe zu Lasten der Kann-Leistungen ausweiten, so muß man entweder erhöhten Mißbrauch einkalkulieren oder das Leistungsniveau so wählen, daß genügend private Anreize bestehen, möglichst wieder ein marktmäßiges Einkommen zu erzielen. Ähnliche Zielkonflikte bestehen im Gesundheitswesen und bei der Arbeitslosenunterstützung. Die Kunst der Sozialpolitik besteht darin, die Zielkonflikte durch geschickte Kombination und Ausgestaltung der einzelnen Sicherungsinstrumente möglichst gering zu halten.
Im Bereich des sozialen Ausgleichs lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Ansatzpunkte unterscheiden, nämlich objekt-und subjektgebundene Umverteilungsmaßnahmen: — Beispiele für objektgebundene Transfers sind Sozialtarife im öffentlichen Nahverkehr, staatlich gebundene oder subventionierte Mieten im Wohnungsbau. kostenlose Bereitstellung von Bildungseinrichtungen usw. Der Vorteil wird darin gesehen, daß diese Transfers zweckgebunden erfolgen und somit neben dem reinen Umverteilungsziel auch ein staatliches Lenkungspotential hinsichtlich der privaten Konsumwünsche erschließen. Dem steht als wesentlicher Nachteil gegenüber, daß die wahren Kosten dieser Güter nicht mehr sichtbar werden und so eine Tendenz zur Ineffizienz auf der Anbieterseite, zur Anspruchsmentalität auf der Nachfragerseite entsteht. Die Folgen sind Warteschlangen (etwa im sozialen Wohnungsbau) und/oder ausufernde Kosten für den Steuerzahler (etwa im öffentlichen Nahverkehr). Außerdem ist kaum zu vermeiden, daß die Sozialtarife auch Nicht-Bedürftigen zugutekommen und damit weitere Mittel verschwendet werden — warum soll z. B.der siebzig-jährige Millionär mit dem Seniorenpaß zum halben Fahrpreis Bahn fahren und sein Sohn auf Staatskosten studieren dürfen? — Die subjektgebundene Verteilungspolitik ist vor allem im System der progressiven Einkommenbesteuerung verwirklicht, ergänzt durch personenbezogene Transfers wie Mindestrenten, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfeleistungen und (mit Einschränkung) Wohngeld Konsequente Vertreter dieses Prinzips denken sogar daran, es ausschließlich über das Steuersystem zu verwirklichen, indem die Vielzahl von Transferzahlungen weitgehend in Form einer „negativen Einkommensteuer“ bei voller Verwendungsfreiheit für den einzelnen zusammengefaßt werden. Dies entspräche nicht nur dem Prinzip der Konsumentensouveränität, sondern würde auch die von subventionierten Preisen ausgehenden Anreize zur Verschwendung bei Anbietern und Nachfragern beseitigen. In jedem Fall sind subjektgebundene Transfers gezielter zugunsten der wirklich Bedürftigen einsetzbar und erhö-hen die Transparenz des Umverteilungssystems. Der staatliche Lenkungsanspruch hinsichtlich der Einkommenverwendung muß insoweit allerdings preisgegeben werden: Wenn sich der Begünstigte z. B. Heber ein Auto kauft, statt in eine bessere Wohnung zu ziehen, so wäre dies als Ausdruck seiner persönlichen Präferenzen hinzunehmen
Besonders problematisch sind Regelungen, bei denen die Ziele der sozialen Sicherung mit Umverteilungszielen kombiniert werden, und dies womöglich auch noch im Wege Objekt-statt subjektbezogener Sozialpolitik. Dies ist beispielsweise im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) der Fall: Hier sind nicht nur die Beiträge nach Einkommen (und die Selbstbeteiligung zusätzlich nach Familienstand) statt nach Risikoäquivalenz gestaffelt, auch der Leistungsbezug (etwa bei Medikamenten) ist je nach der persönlichen Bedürftigkeit unentgeltlich oder kostenpflichtig. Solche Mischsysteme weisen gravierende Mängel auf:
Erstens ist Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern praktisch nicht möglich; z. B. wären Krankenkassen mit einer günstigen Einkommen-struktur ihrer Mitglieder dabei immer im Vorteil, auch wenn sie nicht effizienter arbeiten. Dadurch werden staatlich reglementierte Beiträge und Ausgleichszahlungen notwendig, die aber wiederum den Leistungswettbewerb verhindern.
Zweitens treten zwangsläufig Ungerechtigkeiten auf; z. B. können sich Bezieher hoher Einkommen der Umverteilung im System der GKV durch Abwanderung in die private Krankenversicherung entziehen. Wenig sinnvoll erscheint es auch, daß z. B.
Junggesellen die kostenlose Mitversicherung von Familienangehörigen anderer GKV-Mitglieder mitfinanzieren, obwohl diese vielleicht sogar ein höheres Einkommen erzielen.
Schließlich leidet auch die Transparenz der staatlichen Umverteilung, und es treten im Ergebnis sogar widersinnige Belastungseffekte ein. So kann eine Lohnerhöhung dazu führen, daß das verfügbare Nettoeinkommen des Begünstigten sinkt, weil er aufgrund des höheren Bruttoeinkommens z. B. Ansprüche auf Wohnbeihilfen verliert und/oder eine höhere Selbstbeteiligung in der Krankenversicherung auferlegt bekommt. Zudem führt die mehrmalige Überprüfung des Einkommens durch Finanzamt, Krankenkasse, Wohngeldbehörde etc. zu unnötigen Kosten — auch auf Seiten der Begünstigten, die permanent Anträge ausfüllen und Belege vorlegen müssen.
Es gibt somit gewichtige Gründe für eine organisatorische Trennung der beiden Hauptanliegen der Sozialpolitik, soziale Sicherung auf der einen und sozialer Ausgleich auf der anderen Seite: Das Ausgleichsziel könnte weitgehend dem Finanzamt übertragen werden, während die Absicherung von sozialen Risiken weitgehend über konkurrierende — möglichst private — Versicherungsgesellschaften zu erfolgen hätte; dem Staat käme dabei vorwiegend die Aufgabe zu, darauf zu achten, daß auch jedermann eine entsprechende Mindestsicherung erwirbt, und ihn notfalls dabei im Wege der Hilfe zur Selbsthilfe zu unterstützen. Auch wenn sich nicht alle sozialen Probleme auf diese Weise lösen lassen, so wäre dies doch der einer Marktwirtschaft am ehesten adäquate Weg.
V. Fehlentwicklungen und Steuerungsdefizite
Abbildung 6
Tabelle: Sozialpolitische Kennziffern für die Bundesrepublik Deutschland
Tabelle: Sozialpolitische Kennziffern für die Bundesrepublik Deutschland
Die soziale Komponente in der Marktwirtschaft hat, gemessen an der sog. Sozialleistungsquote (d. i.der gesamte Sozialaufwand, in Beziehung gesetzt zum Bruttosozialprodukt), seit den sechziger Jahren stark an Gewicht gewonnen und betrug 1990 ca. 30 Prozent Herausragenden Anteil daran haben die Bereiche Alterssicherung und Gesundheitswesen; sie lassen auch in der Zukunft überdurchschnittliche Steigerungsraten erwarten, vor allem wegen der steigenden Alterslast der Bevölkerung. Ein überproportionaler Kostenanstieg im Sozialbereich ist nicht per se als bedenklich zu werten; soweit er Ausdruck entsprechender Präferenzänderungen der Bevölkerung ist, ist er ebenso zu akzeptieren wie die gestiegene Nachfrage nach einem beliebigen anderen Gut. Darum ist es auch fragwürdig. z. B.den Anstieg der Gesundheitsausgaben an die Entwicklung der sog. Grundlohnsumme zu binden, wie dies im Rahmen der Kostendämpfungspolitik seit Mitte der siebziger Jahre versucht wird
Anders liegt der Fall jedoch, wenn der Kostenanstieg auf Fehlsteuerungen der Nachfrage und man-gelnde Effizienzanreize bei den Anbietern von Sozialleistungen zurückzuführen ist. Daß dies in der Bundesrepublik der Fall ist, dafür gibt es gut begründete Argumente
— Auf der Anbieterseite mangelt es an Wettbewerb und damit an Effizienzanreizen, z. B. im Gesundheits-und Bildungswesen. Vor allem aufgrund der Verbindung mit verteilungspolitischen Zielen sind diese Bereiche überwiegend als staatliches Handeln organisiert, in denen Verwaltungs-und Zuteilungsdenken dominiert statt Kostenbewußtsein und Nachfrageorientierung der Leistungen. — Die Nachfragerseite ist ebenfalls durch fehlendes Kostenbewußtsein und daraus resultierende Anspruchsmentalität gekennzeichnet. Da die Kosten der sozialen Leistungen überwiegend anonym, nämlich von der Gemeinschaft der Beitrags-bzw. Steuerzahler getragen werden, hat der einzelne kaum Anreize, seine Nachfrage nach sozialen Leistungen zu begrenzen. Die Vorstellung, die Kosten würden von anderen getragen, wird durch die eingebauten Umverteilungselemente noch verstärkt, erweist sich aber als Illusion, da die teilweise explosionsartig gestiegenen Kosten — etwa im Gesundheitswesen — letztlich zu starken Beitragsanhebungen für alle Versicherten geführt haben (vgl. die Tabelle).
Besonders bedenklich sind die „wachstumsmindernden Rückkoppelungseffekte“ (Klemmer), die sich aus diesen Fehlsteuerungen ergeben haben: Steigende Kosten führen zu steigenden Steuer-und Abgabenlasten, diese wiederum fördern das Bestreben, möglichst viel von der eigenen Beitragslast über die vermehrte Inanspruchnahme von Leistungen wieder „hereinzuholen“. Überdies mindert die steigende Abgabenlast die Leistungsanreize und fördert die Tendenz zur sog. Schattenwirtschaft, d. h. zur Hinterziehung von Steuern und Sozialabgaben. Dies wiederum gefährdet das Wirtschaftswachstum und damit die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems.
Die Wirtschaftspolitik hat auf diese Entwicklungstendenzen seit Mitte der siebziger Jahre vor allem mit Maßnahmen zur sog. Kostendämpfung reagiert. Diesen blieb ein nachhaltiger Erfolg jedoch versagt, weil sie nicht an den Ursachen der Probleme — den falschen Anreizen für Anbieter und Nachfrager — ansetzten. Es wurde gewissermaßen versucht, einzelne Kostenventile zu verschließen, ohne daß der Überdruck im System damit beseitigt worden wäre. Inzwischen sind allerdings erste Schritte in diese Richtung getan worden, vor allem mit dem Gesundheitsreformgesetz von 1988, wel-ches neben vielen fragwürdigen Komponenten erstmals eine spürbare Selbstbeteiligung der Versicherten an den von ihnen verursachten Kosten gebracht hat. Ob sich die seitdem erreichte Senkung der Krankenkassenbeiträge als dauerhafter Erfolg erweisen wird, bleibt abzuwarten.
VI. Fazit
Die inzwischen über vierzigjährige Erfahrung mit der Sozialen Marktwirtschaft hat die Überlegenheit dieser Konzeption gegenüber allen in der Realität vorhandenen Alternativen eindrucksvoll bestätigt. Dies bezieht sich nicht nur auf die Effizienz des Systems, sondern auch auf seine soziale Komponente; so hatte 1988 selbst ein Arbeitslosenhaushalt in der Bundesrepublik mit knapp 1 100 DM pro Haushaltmitglied noch ein höheres verfügbares (Netto-) Einkommen als ein Durchschnittshaushalt in der DDR (813 Mark) Die im Zuge des Vereinigungsprozesses gewonnenen Erkenntnisse haben zudem die Vorteile deutlich gemacht, welche die Marktwirtschaft auch in Bereichen wie dem Wohnungswesen hat. in denen ihr vielfach Versagen nachgesagt wird. Wenn dennoch Steuerungsdefizite in diesem wie auch in anderen sozialrelevanten Bereichen zu beobachten sind, so hat dies seine Ursache vielfach darin, daß zu wenig Gebrauch von wettbewerblichen Elementen in der Sozialpolitik gemacht wird. Insofern besteht eine wechselseitige Komplementarität zwischen Marktwirtschaft und Sozialpolitik.
Ulrich van Suntum, Dr. rer. oec., geb. 1954; ordentlicher Professor und Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik und Konjunkturforschung an der Universität Witten/Herdecke; 1985— 1990 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum; 1987/88 Generalsekretär des Sachverständigen-rates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Veröffentlichungen u. a.: Regionalpolitik in der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1981; Konsumentenrente und Verkehrssektor, Berlin 1986; Verkehrspolitik, München 1986; (Mithrsg.) Grundlagen und Erneuerung der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1988.
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