Das Ministerium für Staatssicherheit und die Wahlfälschungen bei den ersten Wahlen in der DDR
Jochen Laufer
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Zusammenfassung
Auf der Grundlage unveröffentlichter Quellen und Berichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), von denen zwei hier zum ersten Mal veröffentlicht werden, wird die Vorbereitung und Durchführung der ersten Wahlen in der DDR untersucht. Dabei kann eindeutig nachgewiesen werden, daß bereits bei diesen ersten Wahlen eine äußerst intensive Wahlfälschung vorgenommen wurde. Diese kann nicht nur als formeller Akt der Fälschung der Ergebnisse verstanden werden — die auch aufgezeigt wird —, sondern muß in dem hier dargestellten Kontext der Repressionsmaßnahmen (Wahlterror), der Druckausübung auf die Wähler durch Regierung, staatliche Stellen und Einrichtungen (Wahlbeeinflussung) gesehen werden. Die Untersuchung verdeutlicht die in der Arbeitsweise des MfS gegebene Kontinuität von den Anfängen der DDR bis zu ihrem Untergang und zeigt, daß die Wahlfälschung ein wesentliches Element im Prozeß der Errichtung und Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft war.
„Die ganze Wahl ist nur ein neuer Weg zur Volksdemokratie und zum Bolschewismus, das dumme Volk und viele SED-Genossen sehen den Wald vor Bäumen nicht. Frieden sagt man und Bolschewismus meint man. Die Wahl ist ein Zeichen, daß man auch Revolutionen mit dem Stimmzettel machen kann . . . Trotzdem habe ich für den Frieden gestimmt, um des lieben Friedens willen.“
I. Die ersten Wahlen in der DDR
Am 15. Oktober 1950 fanden in der neugegründeten DDR zum ersten Mal Wahlen zur Volkskammer, zu den Landtagen, Kreistagen und Gemeinde-vertretungen statt, die mit außerordentlich großem Aufwand auch vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) vorbereitet wurden. Mit diesen Wahlen fand der Prozeß der politischen Umwälzung, der Machtergreifung durch die KPD/SED in der SBZ seinen Abschluß. Durch die Ausschaltung aller oppositionellen Kräfte und deren Kriminalisierung war diesem Prozeß die Tendenz zur Erstarrung und zum Absterben des politischen Lebens immanent. Die Wurzeln des Untergangs der DDR liegen auch in der Durchsetzung des DDR-eigenen Wahlsystems begründet.
Bereits 1974 stellte Karl Wilhelm Fricke völlig zutreffend fest: „Der politische Sündenfall der SED — ihr Verzicht auf ein demokratisches Votum bei der Gründung der DDR — ist zur Erbsünde geworden, die fortzeugend immer neue Konflikte hervorgebracht hat: Opposition und Widerstand gegen den , Aufbau des Sozialismus’, den Aufstand vom 17. Juni 1953, die . Abstimmung mit den Füßen 1 und schließlich die Reaktion darauf, die Sperrmaßnahmen vom 13. August 1961.“ Und — so ließe sich ergänzen — der letzte Wahlbetrug der SED bei den Kommunalwahlen 1989 bereitete den politischen Untergang der DDR vor.
Fällig waren die Wahlen zu den Gemeindevertretungen bereits im Herbst 1948 und die Wahlen zu den Kreis-und Landtagen im Herbst 1949. Die SED wich beiden Wahlen aus. Offensichtlich sollten Wahlen mit selbständigen Listen der Parteien verhindert werden, die 1946 der CDU und Liberal-Demokratische Partei (LDP) gemeinsam in den Landtagen von Brandenburg und Sachsen-Anhalt, in einigen Kreistagen und in vielen Gemeindevertretungen die nominelle Mehrheit der Sitze gebracht hatten Vor der anstehenden Entscheidung der Wähler sollte zunächst der Führungsanspruch der SED gegenüber den Widersachern in der CDU und LDP durchgesetzt werden
Als sich am 7. Oktober 1949 der Deutsche Volksrat auf Initiative der SED zur Volkskammer konstituiert hatte, war deren erste Entschließung, die Landtagspräsidenten aufzufordern, die Landtage zu außerordentlichen Sitzungen einzuberufen, Vertreter für eine Länderkammer zu wählen und die ablaufende Wahlperiode bis zum Herbst 1950 zu verlängern -Damit hatte sich die SED, die mit Unterstützung der Massenorganisationen, der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) und der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) die provisorische Volkskammer beherrschte, eine einjährige Frist geschaffen, ihre eigenen Machtpositionen gegenüber möglichen andersartigen Bekundungen der Wähler zu behaup-ten. Diese Zeit wurde genutzt, um durch massiven Druck auf alle dem entgegenstehenden politischen Kräfte Wahlen auf der Grundlage einer Einheitsliste vorzubereiten.
Die schrittweise Durchsetzung dieses neuen Wahl-modus und dessen rechtliche Fixierung im Wahlgesetz vom 9. August 1950 bildete den konstitutiven Akt der Verfälschung der ersten und aller nachfolgenden Wahlen in der DDR bis zu den Kommunalwahlen 1989. Unter Wahlfälschung kann in der Geschichte der DDR nicht nur der formelle Akt der Fälschung der Wahlergebnisse verstanden werden, wie sie sich schon bei den ersten Wahlen in der DDR anhand der Dokument August 1950 bildete den konstitutiven Akt der Verfälschung der ersten und aller nachfolgenden Wahlen in der DDR bis zu den Kommunalwahlen 1989. Unter Wahlfälschung kann in der Geschichte der DDR nicht nur der formelle Akt der Fälschung der Wahlergebnisse verstanden werden, wie sie sich schon bei den ersten Wahlen in der DDR anhand der Dokumente des MfS exemplarisch nachweisen läßt. Die Wahlfälschung muß vielmehr im Kontext der Repressivmaßnahmen (Wahl-terror), der Druckausübung auf die Wähler durch Regierung, staatliche Stellen und Einrichtungen (Wahlbeeinflussung) sowie den Eingriffen in den Vorgang der Stimmabgabe und Stimmauszählung (Wahlbetrug) gesehen werden. Auch diese Handlungen lassen sich am Beispiel der 1950er Wahl exemplarisch für die nachfolgenden DDR-Wahlen aufzeigen.
II. Die Wahlerfahrungen der SED
Abbildung 2
Tabelle 2: Wahlergebnisse (Wahlbeteiligung in Thüringen, in Prozent) 52)
Tabelle 2: Wahlergebnisse (Wahlbeteiligung in Thüringen, in Prozent) 52)
An die Durchführung der Wahlen mittels einer Einheitsliste wurde bereits im Frühjahr 1946 bei der Vorbereitung der Gemeinde-, Kreis-und Landtagswahlen gedacht. Die am 28. Juni 1946 veröffentlichte Wahlordnung sah die Möglichkeit der Einreichung „einer gemeinsamen Vorschlagsliste durch mehrere Parteien oder antifaschistisch-demokratische Organisationen“ bzw. die Verbindung mehrerer Vorschlagslisten vor 7).
Die Wahlen im Herbst 1946, bei denen eine „gemeinsame Vorschlagsliste“ noch nicht angewandt werden konnte, zeigten offenkundig, daß die allgemeine, freie und geheime Entscheidung der Wähler zwischen mehreren konkurrierenden Parteien ein höchst unsicherer Weg zur dauerhaften Sicherung der Macht für eine Partei — die SED — war. Trotz der Einwilligung in die Durchführung weitgehend freier Wahlen war die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) keineswegs bereit, entscheidende Machtpositionen in ihrer Zone zur Disposition zu stellen. Noch vor den Wahlen 1946 begann sie, die Polizei der Länderhoheit — und damit den zu wählenden Länderparlamenten — zu entziehen. Sie wurde nun der direkt von der SMAD angeleiteten Deutschen Verwaltung des Innern (DVdl) unterstellt 8). Die DVdl, aus der heraus sich das spätere Ministerium für Staatssicherheit entwickelte, sah es als eine ihrer Aufgaben an, künftig für solche Wahlen zu sorgen, die die Macht der SED garantierten.
Auf der ersten Konferenz der Präsidenten der DVdl mit den Chefs der Polizei der Länder und Provinzen der sowjetischen Besatzungszone am 30. Oktober 1946, auf der die SED-Genossen unter sich waren, erhob der für Personal-und Schulungsfragen zuständige Vizepräsident Erich Mielke die Forderung, in Zukunft für andere Wahlergebnisse zu sorgen: „Genossen, ich möchte anführen, was der Genosse Stalin am 23. Oktober 1946 auf eine Frage des Präsidenten der United Press antwortete. Die Frage lautete: , Haben sie angesichts der Wahlen, welche in den verschiedenen Zonen in diesem Sommer und Herbst abgehalten wurden, das Vertrauen, daß Deutschland sich nach demokratischen Prinzipien entwickelt, durch welche die Hoffnung auf seine Zukunft als friedliche Nation geweckt wird? Stalin antwortete: »Gegenwärtig bin ich davon nicht überzeugt. Ich möchte sagen, daß diese Antwort des Genossen Stalin für uns ein ganzes Programm ist . . . Wir sind verpflichtet, den Hinweis ernst zu nehmen. Es muß alles getan werden, damit die nächste Antwort des Genossen Stalin besser ausfällt.“ 9)
Die erste Möglichkeit, Wahlen auf der Grundlage einer Einheitsliste zu testen, bot die Delegierten-wahl zum 3. Volkskongreß, die das Präsidium des Volksrates am 30. März 1949 für den 15. und 16. Mai 1949 angesetzt hatte Sache der Deutschen Verwaltung des Innern war es Mitte April 1949, eine Verordnung über die Durchführung der Wahl zu erlassen -Die späteren gemeinsamen Wahlaufrufe vorwegnehmend, veröffentlichte das Präsidium des Volksrates zur gleichen Zeit einen Aufruf zur Delegiertenwahl. Erst unmittelbar vor der Wahl wurde bekanntgegeben, daß der Stimmzettel folgenden Wortlaut haben werde: „Ich bin für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag, ich stimme daher für die nachstehende Kandidatenliste zum 3. Volkskongreß.“ Die Wähler hatten bei dieser Vermischung von Plebiszit und Einheitslistenwahl immer noch die Möglichkeit, mit „Ja“ oder mit „Nein“ zu stimmen. Schon bei diesem ersten Vorspiel zu den späteren DDR-Wahlen kam es zur Verletzung des Wahlgeheimnisses und zu Wahlmanipulationen Trotz der „Korrekturen“ brachten die Wahlen 34, 2 Prozent Nein-und 6, 7 Prozent ungültige Stimmen Die SED ging durch ihre Eingriffe in die Stimmauszählung relativ knapp an einer Niederlage vorbei. Das Ergebnis dürfte für die SED-Führung eine traumatische Wirkung gehabt und die Entschlossenheit verstärkt haben, wirklich freie Wahlen vorläufig nicht zuzulassen.
Um die Wahlschlappe zu verbergen, unterließ die dafür zuständige DVdl die Veröffentlichung der vollständigen, nach Wahlkreisen aufgeschlüsselten Wahlergebnisse Nach Meldung des Organs der SMAD „Tägliche Rundschau“ vom 29. Mai 1949 wichen lokale Ergebnisse erheblich vom Zonen-durchschnitt ab: „In Plauen wurden nur 39, 8 Prozent Ja-Stimmen erbracht. Die Kreise und die Kleinstädte, in denen überwiegend Handwerker, kleine Privatunternehmer, Angehörige freier Berufe, Angestellte usw. wohnen, brachten beträchtliche Abweichungen vom Zonendurchschnitt.“ Wenige Wochen später analysierte Walter Ulbricht die Wahlen und kam dabei zu einem partiellen Eingeständnis der Wahlschlappe: „Man kann sagen, daß in den Orten, wo CDU und LDP die Mehrheit besitzen, die höchste Zahl der Nein-Stimmen zu verzeichnen ist, so in der Stadt Plauen 60, 2 Prozent, in Plauen-Land 58, 8 Prozent, im Landkreis Teltow 45, 3 Prozent, im Stadtkreis Apolda 52, 9 Prozent ... Es gibt auch eine Reihe von Orten, wo unsere Partei eine starke Organisation hat und trotzdem das Wahlergebnis schlecht war. So stimmten in Zwickau 46, 8 Prozent mit Nein . . . Im Stadtkreis Gera stimmten 50, 3 Prozent, in Greiz 52, 7 Prozent mit Nein.“
Ein wesentliches Ergebnis der Volkskongreßwahlen war es, daß die 40 Prozent der Wähler, die mit Nein gestimmt hatten oder deren Stimmzettel für ungültig erklärt wurden, ohne politische Vertretung im Volksrat bzw.der provisorischen Volkskammer blieben.
Für das MfS bildete die Auswertung der Volkskongreßwahlen 1949 einen wichtigen Ausgangspunkt für die Vorbereitung von Repressionsmaßnahmen zur Wahl 1950. Der Chef der Verwaltung für Staats-sicherheit im Land Brandenburg, Gotman, wies im September die Leiter seiner Kreisdienststellen an, eine Aufstellung der Kreise anzufertigen, die bei den letzten Wahlen „schlecht gewählt“ haben (vgl. Anlage 2 am Schluß des Aufsatzes). Die Kreis-dienststelle Perleberg konzentrierte sich dementsprechend auf die Gemeinden, „die bei der Volkskongreßwahl 1949 unter 60 Prozent gewählt haben“
III. Die Durchsetzung der Einheitsliste
Obwohl bei den Volkskongreßwahlen die Einheitslistenwahl das erste Mal exerziert worden war, ließ die SED-Führung Hoffnungen auf freie und geheime Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht, d. h. mit getrennten Listen, weiter bestehen. In der vom Volkskongreß am 30. Mai 1949 angenommenen und von der Volkskammer am 7. Oktober 1949 in Kraft gesetzten Verfassung hieß es in Artikel 51: „Die Volkskammer besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes. Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältnis-wahlrechts auf die Dauer von vier Jahren gewählt. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.“
Die SED-Führung äußerte sich bis zum Frühjahr 1950 nicht oder nur verschwommen zum künftigen Wahlverfahren, schloß jedenfalls öffentlich Wahlen nach getrennten Listen noch nicht aus Der Vorsitzende der CDU in der neugegründeten DDR, Otto Nuschke, blieb unwidersprochen, als er am 12. Oktober 1949 erklärte: „Wir haben nie einen Zweifel darüber gelassen, daß eine Einheitsliste für uns nicht in Frage kommt. In einem Jahr wird das gemeinsame Werk in demokratischen Wahlen dem Urteil der Wähler unterbreitet. Das ist die feierliche von allen Parteien zugesagte Absicht (Hervorhebung J. L.) und unsere Mitwirkung garantiert, daß die Zusage gehalten wird.“
Die tatsächliche Absicht der SED, die nächsten Wahlen als Einheitslisten-Wahlen durchzuführen, deutete deren Vorsitzender und Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, in seiner Neujahrsbotschaft vorläufig nur sehr vage an: „Wir werden bei unseren Wahlen im Oktober dafür Sorge tragen, daß durch die Wahlen eine Festigung der Zusammenarbeit aller fortschrittlichen Kräfte in der Nationalen Front herbeigeführt wird.“ Noch undeutlich hatte Pieck damit ein Signal gesetzt, die kommenden Wahlen nach einem neuen Modus durchzufüh-ren. Nach Lage der Dinge konnte das jedoch nur das bereits bei der Volkskongreßwahl erprobte Verfahren der Einheitsliste sein.
Die SED-Führung forderte nun ihren Kampfgegen die führenden Persönlichkeiten der CDU, die sich der Macht der SED nicht bedingungslos unterordnen wollten. Als Exempel wurde der zweite Parteivorsitzende und sächsische Landesvorsitzende der CDU, der Theologieprofessor Hugo Hickmann, gewählt. Dieser hatte am 6. Januar 1950 auf einer gemeinsamen Tagung des Landesvorstandes und der Landtagsfraktion vor der „Gefahr einer Gleichschaltung“ der CDU gewarnt und eine Blockpolitik „auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ gefordert. Zugleich sprach sich Hickmann für baldige Wahlen aus. Die absolute Mehrheit der SED in der Volkskammer kennzeichnete er als „nationalen Notstand“
Walter Ulbricht eröffnete daraufhin eine Kampagne gegen Hickmann. Die von ihm geführte SED inszenierte Resolutionen und Kundgebungen, die den Rücktritt Hickmanns forderten Unter diesem künstlich erzeugten Druck mußte Hickmann schließlich Ende Januar 1950 zurücktreten. Der CDU und den übrigen eigenständigen Kräften im „demokratischen Block“ war damit das politische Rückgrat gebrochen, obwohl es noch weitere Auflehnungsversuche gab. Die SED demonstrierte mit der Kampagne gegen Hickmann die bereits erreichte Machtvollkommenheit. Der Weg für die offene Ankündigung der Durchführung der anstehenden Wahlen auf der Grundlage der Einheitsliste war damit offen. Am 28. März stimmte der Block zunächst der Durchführung der Wahl auf der Grundlage eines gemeinsamen Wahlprogramms zu. Daß dieser Entschluß unter dem Primat der unbedingten Machtsicherung von der SED erzwungen
wurde, konnte und wollte die offizielle DDR-Geschichtsschreibung nicht eingestehen
Nach dem Beschluß vom 28. März bedurfte es nur noch eines Schrittes, um die Zustimmung der nichtkommunistischen Parteien zur Aufstellung einer Einheitsliste zu erlangen. Walter Ulbricht gab am 15. Mai 1950 zu verstehen, daß die SED daran nicht rütteln lassen würde: „Die antifaschistisch-demokratischen Parteien und Massenorganisationen . . . haben gemeinsam durch die Bildung der DDR den anglo-amerikanischen Räubern den Weg versperrt zur März bedurfte es nur noch eines Schrittes, um die Zustimmung der nichtkommunistischen Parteien zur Aufstellung einer Einheitsliste zu erlangen. Walter Ulbricht gab am 15. Mai 1950 zu verstehen, daß die SED daran nicht rütteln lassen würde: „Die antifaschistisch-demokratischen Parteien und Massenorganisationen . . . haben gemeinsam durch die Bildung der DDR den anglo-amerikanischen Räubern den Weg versperrt zur Kolonialisierung ganz Deutschlands . . . Daraus ergibt sich, daß die Oktoberwahlen den gemeinsamen Willen aller patriotischen Kräfte zum Ausdruck bringen müssen . . . Deshalb erfordert es das nationale und demokratische Interesse, daß bei den Oktoberwahlen gemeinsame Listen der Nationalen Front des demokratischen Deutschland aufgestellt werden.“ 26)
Befehlsgemäß beschloß der „demokratische Block“ daraufhin am folgenden Tage die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste 27). Während der CDU-Vorsitzende Nuschke diese klare Abkehr von seiner vorhergehenden Position mit dem Anwachsen der von außen drohenden Gefahren zu rechtfertigen suchte 28), herrschte an der Basis sowohl der CDU als auch der LDP noch Monate später starker Widerspruch gegen die Einheitslistenwahl: „Trotzdem der Beschluß der Hauptvorstände der CDU und der LDP, sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Kandidatenliste an den Oktoberwahlen zu beteiligen, von der Mehrheit der Parteimitglieder nicht gebilligt wird, haben wir bisher geschwiegen, weil wir glaubten, daß das Volk ja die Möglichkeit haben würde, sich für oder gegen die gemeinsame Kandidatenliste zu entscheiden . . . Nach unserer Feststellung und aufmerksamen Beobachtung sind wir nun leider zu der Erkenntnis gekommen, daß unsere Annahme ein Trugschluß war.“
Die Sitzverteilung für die Volkskammer und die übrigen „Volksvertretungen“, d. h. die Anzahl der Plätze der beteiligten Parteien und Organisationen auf der Einheitsliste, wurde am 7. Juli bekanntgegeben. Die Aufstellung der Kandidaten blieb den Parteien und Organisationen überlassen, die Bestätigung wurde den jeweiligen Blockausschüssen Vorbehalten, die Überprüfung wurde inszenierten Wählerversammlungen und schließlich dem MfS zugewiesen. Auf diese Weise sicherte sich die SED, die nominell nur 25 Prozent der Sitze der Volkskammer und 20 Prozent der Sitze in den Landtagen beanspruchte, die absolute Mehrheit der Kandidaten, indem sie Mitglieder der SED als Kandidaten für die Massenorganisationen aufstellen ließ (vgl. Tabelle 1).
Alle bis zum Juli getroffenen Entscheidungen zu den anstehenden Wahlen waren von den Vertretern der Parteien und Organisationen im Demokratischen Block an der Volkskammer vorbei, ohne gesetzliche Grundlage und im Widerspruch zu den geltenden Verfassungsbestimmungen (Art. 51) getroffen worden. Erst nachdem durch die Block-beschlüsse vollendete Tatsachen geschaffen worden waren, wurde im Innenministerium ein Wahlgesetz vorbereitet Nach der Bestätigung des Entwurfs im Demokratischen Block wurde die Gesetzesvorlage über den Ministerrat der provisorischen Volkskammer zugeleitet. Hier flackerte Anfang August 1950 der Widerstand der bürgerlichen Parteien noch einmal auf. Der Generalsekretär und Abgeordnete der LDP, Günter Stenzel, sprach sich auf der Sitzung seiner Fraktion gegen die Annahme des Wahlgesetzes aus. Daraufhin wurde er am 8. August, einen Tag vor der Verabschiedung des Gesetzes, vom MfS verhaftet und sowjetischen Organen überstellt. Ein sowjetisches Gericht verurteilte ihn zu 25 Jahren Zwangsarbeit In dieser Atmosphäre des vom MfS geschürten Terrors wurde das Wahlgesetz am 9. August 1950 von der Volkskammer angenommen
Das eigens für die Wahl am 15. Oktober erlassene Gesetz wiederholte die wesentlichen Bestimmungen der Wahlordnung von 1946, fixierte jedoch die gemeinsame Kandidatenliste als Wahlmodus. In der Präambel wurde versucht, den Widerspruch zwischen der Verfassungsbestimmung (Art. 51: Durchführung der Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechtes) und der Einheitslistenwahl aufzuheben, indem den Vereinigungen und Parteien in bezug auf Artikel 13 das „verfassungsmäßige Recht“ zugesprochen wurde, ihre Wahlvorschläge gemeinsam aufzustellen.
Weiter hieß es in der Präambel: „Aus nationaler Verantwortung und zur Sicherung des Aufbauwerkes hat der Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien und Organisationen von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch gemacht und beschlossen, die Wahlen auf der Grundlage eines gemeinsamen Wahlprogramms und gemeinsamer Kandidatenlisten der Nationalen Front des demokratischen Deutschland durchzuführen. Frei von kleinlichem Hader eigensüchtiger Interessengruppen werden die Wahlen am 15. Oktober so zu wahrhaft freien Volkswahlen. Die Wahlberechtigten unserer Republik werden am 15. 10. 1950 zur Stellungnahme zu den Grundfragen der deutschen Nation aufgerufen, für — Sicherung des Friedens, — demokratische Einheit Deutschlands, — Friedensvertrag mit ganz Deutschland und Abzug der Besatzungstruppen, — demokratischen Aufbau einer unabhängigen deutschen Friedenswirtschaft, — Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung aus eigener Kraft, — Ausbau und Festigung der demokratischen Ordnung, Wahrung und Entfaltung der demokratischen Kultur.“
Der Paragraph 36 des Wahlgesetzes reduzierte die Wahlhandlung auf das selbständige (!) Einwerfen des Stimmzettels in die Wahlurne. Der Wahlberechtigte hatte zwar nach dem Gesetz das Recht, Veränderungen auf dem Zettel vorzunehmen, aber diese Veränderungen galten nicht als Wahlhandlung Über die Möglichkeit der Ablehnung der gemeinsamen Kandidatenliste schwiegen sich die Gesetzgeber aus.
Die gesetzlichen Durchführungsbestimmungen vom 10. und 20. August zielten darauf, das Wahlgesetz noch adäquater für die Herrschaftssicherung der SED auf dem Wege der Wahlfälschung zu machen. So wurde die Übermittlung von Teilergebnissen während der Wahl vorgesehen. Dabei sollte bereits die Wahlbeteiligung sowie die Zahl der gültigen Stimmen ermittelt werden Der vorgesehene Wahlbetrug deutete sich an, indem „die Information von Presse und Rundfunk über das Wahlergebnis“ ausschließlich in die Hände des Wahlleiters der Republik gelegt wurde. Das Wahlrecht für Seeleute und Mitarbeiter des Transportwesens wurde fünf Tage über den Wahltag hinaus bis zum 20. Oktober verlängert
Das Wahlgesetz vom 9. August 1950 markierte den Verfall, den die demokratischen Rechte mit der Errichtung der SED-Herrschaft erlitten hatten. Es war nicht, wie ein Vertreter der alten ostdeutschen DDR-Geschichtsschreibung in gewendeter Sichtweise meint, „die Konstituierung des politischen Systems der DDR“, die die Demokratie „vernachlässigte“ sondern die bewußte Mißachtung der Demokratie durch die SED-Führung, die zur Bedingung für die Konstituierung der DDR wurde.
Nachdem alle wesentlichen Rahmenbedingungen für die Wahlfälschung geschaffen waren, eröffnete die Nationale Front auf ihrem I. Nationalkongreß am 25. und 26. August mit der Verabschiedung des gemeinsamen Wahlprogramms die Wahlkampagne. Erst jetzt begann das MfS, das durch Repressionsmaßnahmen entscheidend dazu beigetragen hatte, den Weg zum Wahlgesetz zu ebnen, sich direkt in die Wahlvorbereitung einzuschalten.
IV. Wahlfälschungen des Ministeriums für Staatssicherheit
Bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen stellte das Ministerium für Staatssicherheit ein Glied des vielschichtigen inneren Sicherheitssystems der DDR dar. Neben dem MfS, dem Ministerium des Innern und den Justizorganen waren faktisch auch alle anderen Staatsinstanzen, Parteien, Organisationen, Gewerkschaften, Betriebs-leitungen der volkseigenen Industrie bis hin zu den Lehrern an den Schulen bei den Vorbereitungen der Wahlen in den „Kampf“ gegen äußere und innere „Feinde“ einbezogen. Das Mißtrauen und die gegenseitige Kontrolle waren allumfassend: „Die gesamte Bevölkerung, alle Ämter und Dienststellen, Organisationen und Arbeitsstätten werden in eine künstliche, beinah hektische Aufregung versetzt. Das kontrolliert sich gegenseitig, keiner weiß im Grunde genommen mehr, wer wen kontrolliert und wer wen beaufsichtigen muß. Zehn verschiedene Stellen tun dasselbe mit dem Resultat, daß sich eines jeden zum Schluß das Gefühl bemächtigt, dieser lauten und gleichzeitig so leeren Bewegung nicht mehr entschlüpfen zu können.“
Was diesem zeitgenössischen Beobachter undurchschaubar erschien, war ein bewußt durch das MfS herbeigeführter Zustand. Die Staatssicherheit wirkte nicht nur als ein Exekutivorgan neben anderen, sondern gleichzeitig als Katalysator, der die übrigen Kräfte des inneren Sicherheitssystems antrieb. Bereits zu diesem Zeitpunkt verfügte das Ministerium über ein weitverzweigtes Netz „Geheimer Informanten“ (Gl) und führte eine systematische Postkontrolle durch
Die Berichte des MfS bestätigen die bereits in der grundlegenden Dokumentation des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen unmittelbar nach der Oktoberwahl 1950 belegten Elemente der Wahlfälschung: — Kandidatenauslese zur Sicherung SED-treuer Kandidaten auf den Einheitslisten der verschiedenen Wahlebenen; — Einschüchterung aller Opponenten durch öffentliche Berichte über Prozesse und Urteile gegen Wahlgegner; — massive Wahlbeeinflussung durch amtliche Stellen und Personen; — Propagierung offener Wahlen; — Manipulationen bei der Beurteilung gültiger bzw. ungültiger Stimmen.
Bei dem Versuch, die bisher aufgefundenen Berichte zu überblicken, zeichnen sich in der Arbeitsweise des MfS deutlich drei Phasen ab: 1. Bis Ende September 1950: konspirative Arbeit des MfS. 2. Von Ende September bis zum Wahltag: offenes Hervortreten des MfS zur direkten Einschüchterung potentieller Wahlgegner durch Vorladungen und „Besuche“. 3. Am und nach dem Wahltag: Rückzug in die konspirative Arbeit.
Den Schwerpunkt der ersten Phase bildete die (Nach-) Kontrolle der Kandidaten, die zuvor schon die „Prüfung“ in den Blockausschüssen und auf öffentlichen Versammlungen durchlaufen hatten. So berichtete die Verwaltung Thüringen am 11. September: „Trotzdem diese Listen schon einige Male umgestellt wurden, befinden sich noch heute Kandidaten unter den vorgeschlagenen, welche unter keinen Umständen als Vertreter des Volkes in eine öffentliche Körperschaft gehören . . . Von Seiten unserer Verwaltung wurde veranlaßt, alle Kandidaten, von der Volkskammer bis zur Gemeindevertretung, zu überprüfen. Desgleichen die Mitglieder der Wahlkommissionen. Staatsfeindliche Elemente sind weder als Kandidaten noch als Mitglieder der Wahlausschüsse zuzulassen. Eine Anzahl reaktio-närer Elemente wurde bereits, wie aus dem Bericht hervorgeht, auf Grund unseres Antrags gestrichen.“
Zur Kontrolle der Wahlvorstände konnte einen Monat später von gleicher Stelle aus berichtet werden: „Bei der Überprüfung der Wahlvorstände im Kreis Erfurt wurde festgestellt, daß die SED 80 Prozent aller Vorstandsmitglieder stellt. Die Wahlvorsteher sind in allen Städten, Stadtbezirken und Landgemeinden Mitglieder der SED.“
Obwohl mit diesen Kontrollen und den daraufhin vorgenommenen Änderungen eine absolute Mehrheit der SED sichergestellt worden war, gab sich das MfS damit nicht zufrieden. Eine Analyse der Verwaltung Sachsen des Ministeriums kam Anfang Oktober zu der Prognose, daß die Wahlbeteiligung lediglich bei 80 Prozent hegen werde und nur mit 70 Prozent Ja-Stimmen zu rechnen sei Diese Einschätzung wurde offensichtlich in der Zentrale des Ministeriums geteilt und die bisherigen Maßnahmen als nicht ausreichend befunden. Das MfS ging nun zur offenen Einschüchterung über. Diese zweite Phase der Tätigkeit des MfS wird hier mit zwei Berichten dokumentiert. Mit einer verblüffenden Offenheit belegen sie die Arbeitsweise des MfS im Zusammenhang mit der Wahlfälschung exemplarisch (vgl. Dokument 1 und 2).
Ende September verständigte sich das MfS mit dem die formelle Verantwortung für die Vorbereitung und Durchführung tragenden Ministerium des Innern über den Stand der Wahlvorbereitungen. Beide Ministerien kamen zu dem Schluß, daß die öffentliche Stimmabgabe zu propagieren sei. Den Schwerpunkt der Wahldurchführung sahen sie in der Stimmauszählung und stellten dabei schon Überlegungen zu deren Manipulation an: „Es kommt darauf an, den Wahlvorstand in seiner Zahl möglichst gering zu halten, damit bei der Aus-zählung der Stimmen alle Mitglieder des Wahlvorstandes beschäftigt werden. Dadurch ist der Vorsteher in der Lage, ohne große Diskussion die Zählung der abgegebenen Stimmen durchzuführen. Bei der Auszählung der Stimmen, die öffentlich geschieht, muß durch die Partei ein Masseneinsatz erfolgen, so daß möglichst viele Genossen anwesend sind, um eventuelle Diskussionen über die Gültigkeit der Stimmzettel auf ein Minimum herabzudrükken.“
Wahrscheinlich in Zusammenarbeit mit dem MfS gab der Wahlleiter der DDR, der Staatssekretär im Innenministerium Warnke, eine „streng vertrauliche“ Wahlinstruktion heraus, die Richtlinien für die Auswertung der Stimmzettel bei der Auszählung gab: . 4. Gültig sind alle Stimmzettel mit Ausnahme derjenigen, die vollständig zerrissen sind oder Aufschriften enthalten, die sich gegen die Bestimmungen der Verfassung richten (Schimpfworte).“ 5. Stimmzettel mit Aufschriften, welche Vorschläge, kritische Bemerkungen oder Forderungen des Wählers zum Ausdruck bringen oder auf denen einzelne Kandidaten durchgestrichen sind, gelten als gültige Stimmzettel für die Kandidatenliste der Nationalen Front. Wenn hinter oder vor einem Namen das Wort „Nein“ geschrieben steht, so bezieht sich diese Ablehnung nur auf den oder die betreffenden Kandidaten und nicht auf die ganze Liste. Der Zettel ist also gültig. 6. Stimmzettel, wo älle Kandidaten durchgestrichen sind, oder wo der Wähler durch seine Aufschrift zum Ausdruck gebracht hat, daß er gegen die Kandidaten der Nationalen Front stimmt, zählen als Gegenstimmen.
Die gesamte Wahlvorbereitung lag — abgesichert durch das MfS — fest in den Händen der SED. Von einer freien und gleichberechtigten Beteiligung der übrigen Parteien konnte keine Rede sein Noch am 6. Oktober wiesen Mitglieder der CDU und LDP auf die Chancenungleichheit hin und forderten, sämtliche Kandidaten der beiden Parteien von den Einheitslisten zu Steichen: „Die ganze Welt weiß inzwischen, und wir, die wir unmittelbaren Einblick in die vorbereitenden Maßnahmen bekommen haben, können nur bestätigen, daß die Voraussetzungen für eine wirklich freie und geheime Wahl nicht im geringsten Umfange gegeben sind . . . Die gesamte Wahlvorbereitung liegt in den Händen von sogenannten Instrukteuren und damit der SED . . . Nach unseren einwandfreien Feststellungen und Beobachtungen steht fest, daß die Wahlen am 15. Oktober nur ein gemeines Betrugsmanöver sind, das mit dem Ansehen beider Parteien nicht vereinbar ist . . . (Die) Konsequenzen können nur darin bestehen, daß die Parteileitungen der CDU und LDP unverzüglich sämtliche Kandidaten in allen Gemeindevertretungen, Kreis-tagen, Landtagen und der Volkskammer zurückziehen.“
Diese Forderung war 1950 bereits völlig aussichtslos. In den Fällen, wo einzelne Mitglieder der bürgerlichen Parteien sich aktiv zu verweigern suchten, schaltete sich sofort das MfS ein. So berichtete die Kreisdienststelle Templin über eine „besonders starke gegnerische Tätigkeit“ in Lychen. Hier hatte der Ortsgruppenvorsitzende Stoldte im August 1950 die 80 Mitglieder zählende Parteigruppe der LDP aufgelöst, um eine Beteiligung an den Wahlen zu verhindern. „Da diese Stadt als Kurort bürgerlich ist, mußte man annehmen, daß durch diesen Schritt des Stoldte ungefähr 50 Prozent der Wähler abfallen konnten. Durch V-Personen und Zusammenarbeit der örtlichen Organe konnte festgestellt werden, daß weder der Ausschuß der Nationalen Front noch der Block oder andere Personen in der Lage waren, die Partei neu zu gründen. Auch der Vertreter Ingo von Körber erreichte kein Ergebnis. In den letzten zwei Wochen vor der Wahl wurde Stoldte vom Dienststellenleiter zur Verwaltung für Staatssicherheit geladen und erschien auch zwei Tage später. Ihm wurde der Standpunkt richtig klar gemacht. Er wurde noch ein zweites Mal geladen und verpflichtet, die Gründung einer LDP zu veranlassen, selbst keine Funktion zu übernehmen, jedoch seine Bereitschaft zur Teilnahme an der Volkswahl zu erklären. Auch die neue Parteileitung der LDP hätte noch vor der Wahl in einer öffentlichen Versammlung zum Wahlprogramm der Nationalen Front Stellung zu nehmen. Stoldte bestellte einen Vertreter vom Kreis und vom Landesverband und führte drei Tage vor der Wahl die Gründungsversammlung durch. Andere Funktionäre wurden gefunden und übernahmen die Führung. Ein V-Mann wurde vorher aus den ehemaligen Funktionären der LDP geworben. Das Ergebnis dieser Aktion war ein fast lOOprozentiger Erfolg.“
Auch wenn solche Fälle aktiver Verweigerung die Ausnahme blieben, bestätigen andere Berichte des MfS die Zurückhaltung von Mitgliedern der CDU und LDP. „Die Mitarbeit der bürgerlichen Parteien ist nicht stärker sondern schwächer geworden“, mußte die Verwaltung Sachsen-Anhalt Ende September feststellen Bereits bei der Kontrolle der Wahlvorstände hatte das MfS V-Leute in diese eingeschleust bzw. angeworben: „Im Zuge der Wahlvorbereitung wurden im Kreisgebiet 177 Wahlbezirke aufgestellt. In jedem Wahlausschuß wurde ein V-Mann geschaffen. Es handelte sich hierbei um den Wahlleiter oder um den Schriftführer, je nach Brauchbarkeit der Person. Diese V-Leute wurden ausnahmslos schriftlich verpflichtet. ”
Mit Hilfe dieser V-Leute lenkte und kontrollierte das MfS in der dritten Phase seiner Tätigkeit am Wahltage u. a.den Einsatz der offiziellen „Schlepperdienste“, die durch Aufsuchen der Wähler, die ihre Stimme noch nicht abgegeben hatten, die Wahlbeteiligung steigern sollten. Zu diesem Zweck wurden auch Blanko-Wahlscheine benutzt. Dadurch kam es zuweilen zu einer über hundertprozentigen Wahlbeteiligung, die das MfS zu nachträglichen Korrekturen „zwang“: „Bei Überprüfung der Protokolle der örtlichen Wahlvorstände in der Kreisverwaltung (für Staatssicherheit) hat sich zum Teil eine Wahlbeteiligung von bis zu 115 Prozent ergeben. Der Landrat brachte zum Ausdruck, daß es sich um Rechenfehler handelt bzw. Stimmzettel durcheinander geworfen oder doppelt gezählt wurden. Die Korrektur wurde ohne Hinzuziehung der örtlichen Wahlvorstände in der Form vorgenommen, daß die Prozente über 100 Prozent von ungültigen bzw. Gegenstimmen abgezogen wurden, und sich dadurch die neuen Zahlen ergeben haben . . . Anstelle von 86 ungültigen Stimmen sind jetzt 46 ungültige Stimmen und anstelle von 76 Stimmen gegen die Kandidaten der Nationalen Front sind jetzt 17 Stimmen dem Landeswahlleiter mitgeteilt worden ... Es muß hierbei darauf hingewiesen werden, daß bei Veröffentlichung der neuen Zahlen die Möglichkeit besteht, daß die bei der Aus-zählung festgestellten Stimmergebnisse zusammengetragen werden und sich dadurch eine Differenz wie angegeben ergibt.“
Für das MfS lassen sich derartige Eingriffe nur auf der Ebene der Kreisdienststellen nachweisen. Die Staatssicherheit war aber offensichtlich nicht die einzige Instanz, die Fälschungen vornahm bzw. veranlaßte. Der letztendliche Betrug wurde auf der zentralen Ebene vorgenommen. Das ergibt sich aus der Differenz zwischen der nach der Schließung der Wahllokale gemeldeten Wahlbeteiligung und den schließlich vom Wahlleiter bekanntgegebenen Zahlen (vgl. Tabelle 2):
Die Meldungen der Landesbehörde der Volkspolizei werden erhärtet durch die Abschlußberichte der Kreisleitungen der SED, deren Zusammenfassung ebenfalls dem MfS vorlag: „Alle Kreisberichte zeigen, daß es durch den verstärkten Einsatz des Schlepperdienstes gelungen ist, die Wahlbeteiligung in fast ausschließlich allen Kreisen auf 90 bis 95 Prozent zu steigern.“
Mit der Fälschung der Wahlergebnisse war der letzte Schritt des Wahlbetrugs vollzogen. Das MfS wertete die Wahlen als einen Erfolg seiner Arbeit und postulierte für die Zukunft, „reicher an Erfahrung an die Aufgaben heranzugehen, die uns von der Partei gestellt werden“
Die Untersuchung der ersten Wahlen in der DDR verdeutlicht die Labilität der politischen Konstituierung des „ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates“. Die Errichtung dieses Staates konnte sich nicht auf die freie Willensäußerung seiner Bürger gründen. In bewußtem Gegensatz zur westlichen Geschichtsschreibung übernahmen DDR-Historiker die Interpretation der SED-Führung und verdeckten damit die Problematik der DDR-Gründung. „Mit diesem Wahlergebnis bekannte sich das Volk der DDR zur Arbeiter-und Bauern-macht.“ Unter den spezifischen Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegsperiode war die DDR das Ergebnis der mit allen Mitteln vorgenommenen Verteidigung der seit 1945 durch die KPD/SED in der Sowjetischen Besatzungszone übernommenen Machtpositionen — sowohl gegenüber großen Teilen der eigenen Bevölkerung wie auch gegenüber der gegenläufigen Entwicklung in den Westzonen. Die von der SED-Führung unter Einschaltung des MfS langfristig vorbereitete Wahlfälschung ist ein deutliches Indiz dafür, daß die DDR keineswegs die unvermeidliche Folge der Weststaatsgründung war, auch wenn sie vielen Zeitgenossen als solche erschien. Unvermeidlich wurde sie erst durch die von der SED-Führung nach innen und der UdSSR nach außen betriebenen Machtpolitik. Die Gründung der DDR war damit weniger ein Produkt des Kalten Krieges als vielmehr ein aktives Element desselben.
Die Wahlfälschungen waren ein Bestandteil der von der SED vorangetriebenen Revolution, die insofern auch mit dem Stimmzettel „gemacht“ wurde.
Dokument 1 Wahlbeeinflussung und Wahlfälschung in Sachsen-Anhalt
(Ministerium für Staatssicherheit) (Verwaltung Land Sachsen-Anhalt) Thümler V. P. Insp. Halle a. d. Saale 17. 10. 1950
Bericht über Durchführungsmaßnahmen zur Vorbereitung der Wahlen In Sachsen-Anhalt wurde nach Absprache mit unseren Fr. (eunden) festgelegt, das Ansprechen der Kreisstellen, welche besonders schwache und reaktionäre Zusammensetzung haben, besonders wo CDU und LDP Bürgermeister oder Landräte führten.
Zu diesen wurde festgestellt, aus dem im Laufe des Jahres angefallenen Unterlagen sowie aus den Instruktionsberichten der Partei, welche Gemeinden in jedem Kreis da besonders in Frage kamen. Von den 34 Kreisen wurden solcher Art 23 Stück angesprochen. Ich wählte dazu das Beispiel von Bin (?) mit einigen besonderen Hinweisen, nach
In diesem Prozeß der Errichtung der SED-Herrschaft — und darüber hinaus in der weiteren Entwicklung der DDR — nahm der von der SED kontrollierte Staatssicherheitsdienst eine zentrale Rolle ein. Das MfS und die DDR bedingten sich gegenseitig. Ohne die Tätigkeit der ostdeutschen Sicherheitsorgane, die in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen sowjetischen Stellen in Deutschland reale und vermeintliche Gegner der angestrebten sozialistischen Entwicklung unterdrückten, wäre die Bildung der DDR nicht möglich gewesen. Mit der Gründung der DDR hatten sich diese Sicherheitsorgane zugleich ihre eigene Existenzgrundlage gesichert. Bei dem von den Mitarbeitern des MfS verinnerlichten Auftrag, der Sicherung der DDR gegen alle äußeren und inneren Feinde, handelte es sich somit auch — bewußt oder unbewußt — um die Sicherung ihrer eigenen Existenz. dem ich festgestellt hatte, daß die zu besuchenden Personen einen hinreichend großen Einfluß auf einen bestimmten Personenkreis hatten, gab ich gleichzeitig den Rat, später nochmals vorzusprechen, ebenfalls den Einzel-oder Gruppenposten der V. (olks) P. (olizei) des Dorfes durch geschicktes Ansprechen auf die besuchten Personen aufmerksam zu machen, so daß unsere Mitarbeiter gestützt auf die Wahrnehmungen der V. P. und ihrer sonstigen Auskunftspersonen bei dem zweiten Besuche entschiedener Auftreten konnten, es wurden solcher Art 124 Personern angesprochen.
Darunter ca. 20 Bürgermeister, 18 Pfarrer, 42 CDU und LDP Vorsitzende und Gutsbesitzer, ebenfalls eine Reihe Umsiedler, welche in einigen Gemeinden, wo starke Umsiedlergruppen untergebracht sind, eine Rolle spielten, dann noch Frauen und Betriebsleiter einiger Privatunternehmen. Nach allen mir zugegangenen Berichten sowie aus den Feststellungen anläßlich des Wahlaktes steht fest, daß in allen Fällen das Ansprechen zum Erfolg geführt hat mit einigen Ausnahmen in bezug auf die Pfarrer, wo nicht in allen Punkten Erfolg erzielt wurde, in bezug auf die Person des Pfarrers aber doch erreicht wurde, daß er seine Gläubigen nicht von der Wahl abgehalten hat. Weiter wurde festgelegt, nach Absprache mit dem Innenminister Hegen Chefinspektor Weikert und mir, daß bei einem ungünstigen Wahlergebnis wir eine Veränderung des Abstimmungsergebnisses vornehmen, das heißt bei der Stelle zu korrigieren, wo die Zusammenzählung erfolgt, dieses wurde verabredet in der Form, daß theoretisch alles besprochen wurde unter meiner Leitung, Hegen war einverstanden, und so wurden alle Vorbereitungen dazu getroffen.
In der Zeit vom 7. 10. — 12. 10. führte ich die Besprechungen unter vier Augen mit den Dienststellenleitern durch, Magdeburg, Genthin, Stendal, Osterburg, Salzwedel, Gardelegen, Haldersleben, Wolmirstedt, Werniggerode, Eisleben, Quedlinburg, Liebenwerda, Harzburg, Torgau, Weißenfels, Merseburg, Bitterfeld, Wanzleben, Wittenberg, Sangershausen, Schönebeck, Bernburg und ... (?). Ich verpflichtete unsere Leute zum Schweigen und nur persönlich das Ansprechen durchzuführen. Am Sonnabend erhielt ich Bescheid, daß in den Kreisen die Absprachen durchgeführt waren.
Am 13. 10. sowie am 14. 10. fand dann nochmals die genaue Absprache mit Innenminister Hegen statt, wobei genau alles festgelegt wurde. Wir hatten vorgesehen, daß die jeweils als schwache und schlechte Kreise bekannt waren, zu je drei Kreisen in einem Zimmer des Innenministeriums zusammenzulegen, so daß ungefähr sechs Zimmer zusammenkamen, besetzt mit unseren Leuten, dazu im Rechenzimmer zwei Leute mit der elektrischen Rechenmaschine, welche die Endresultate der Kreise zusammenrechnet, dieses auch unsere Leute, dann zwei Verbindungsleute sowie der Leiter der Abteilung VI als direkter Verantwortlicher mit dem Innenminister, so daß wir immer die Möglichkeit hatten, ohne Wissen der Zähler in den einzelnen Empfangszimmern das Endresultat zu korrigieren. Unsere Leute welche den Empfang leiteten, konnten nie die Gesamtkontrolle haben, da die Meldungen sofort weitergeben wurden und bei der Rechenmaschine in den Gesamtzahlen mit untergingen. So daß faktisch nur der Leiter Hoske, Hegen und allenfalls die Verbindungsleute zu den Zimmern eine genaue Kontrolle hatten.
Außerdem waren alle Zähler und Aufnehmer verpflichtet über die Ergebnisse zu schweigen.
Außer diesen Maßnahmen hatten wir in dem gesamten Gebiet von Sachsen-Anhalt über 70 Prozent der Wahlvorstände als Gewährsleute und 28 Prozent als V. L. (Vertrauens-Leute, J. L.), so daß auch hier in letzter Minute noch eine Möglichkeit der Hilfe bestand, in bezug auf die Protokolle und Berichte. Auf Grund der guten Beteiligung bei der Wahl waren die letzteren Maßnahmen nicht notwendig, aber es wäre durchgeführt worden, wenn das Resultat ein schwaches gewesen wäre.
Einige Schwächen hatten sich herausgestellt, indem die Instruktion in bezug (auf die) gültigen und ungültigen Stimmen zu stur gehandhabt wurden, wo(bei) in den meisten Fällen unsere Leute Schuld tragen, welche sich an die Anweisung hielten, daß alle Stimmzettel als gültig zu erklären sind, wo nur die leichteste Möglichkeit dafür vorhanden war, das heißt alle rechneten mit einer schlechten oder nur knappen Zahl der Zustimmung und hatten vergessen, daß die Wahlbeteiligung und das offene Abstimmen, welches in fast allen Gemeinden durchgeführt wurde, eine andere Situation schuf. Hier zeigte es sich wieder, daß wir unsere Agitation und den Einsatz der Instrukteure sowie Aufklärungsgruppen unterschätzt hatten, nicht zuletzt die Reden und Kundgebungen, die durchgeführt wurden, sondern auch die merkliche Besserung der Lebenshaltung hat diesen Umschwung mitbewirkt.
Bis zum 17. 10. 50, 24. 00 Uhr waren insgesamt 724 Berichte von den V. L. und Gewährsleuten angefallen, weitere kommen noch am 18. und 19. 10. dazu, da es nicht möglich war, in der Zeit von Sonntag bis Dienstag die große Zahl der Verpflichteten zu treffen. Über die Schwächen und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit der V. P. und Kripo liegen einige beachtliche Vorkommnisse vor, welche ich aber nochmals überprüfen müßte, nicht ausgeschlossen ist, daß unsere Leute eine Teilschuld mittragen, da sie immer noch nicht begriffen haben, daß man nicht so sehr die Dienststelle in den Vordergrund stellt, sondern es auf eine gute Zusammenarbeit auf der Basis der Vertrauensleute innerhalb der V. P. und der eigenen Qualität im Umgang mit den Leitern der V. P. Dienststellen ankommt. In den meisten Kreisen ist die Zusammenarbeit gut, wo wir einen Teil Leute von V. P. K. A. (Volkspolizeikreisamt) in unseren Dienststellen haben, die am Ort geblieben sind, macht sich ein Gegeneinanderarbeiten bemerkbar.
Ein krasser Fall von Unverständnis kam zum Beispiel in Bernburg vor. Dort forderte der Leiter der Abteilung K (Kriminalpolizei), daß die in seinem Kreisgebiet befindlichen Wahlleiter ihm stündlich Bericht zugeben haben über den Stand der Wahl, was mit dem Hinweis abgelehnt wurde, daß die Anordnung des Innenministers eine andere Form vorsieht. Worauf der Leiter K sehr ausfallend wurde, so daß unser Leiter ihn zurecht weisen mußte, da erklärte der Leiter K, was sich die Staatssicherheit bloß einbildet, da hat ja die S. K. K. der Stasi eine schöne Sache angedreht, das sie über der V. P.des Kreises steht, so und ähnlich liegen noch einige Beispiele vor. Thümler
Dokument 2 Wahlbeeinflussung und Wahlfälschung in Brandenburg
(Ministerium für Staatssicherheit) (Verwaltung Land Brandenburg) Potsdam, d. 17. 10. 1950 Bericht Betr. Sonderauftrag zu den Wahlen Auf Grund des Auftrags wurden vom 29. 9. bis 4. 10. mit 24 Dienststellenleitern persönliche Aussprachen gehalten, in denen folgende Aufträge gegeben wurden:
1. Eine Aufstellung zu machen über die Gemeinden des Kreises, die bei den vergangenen Wahlen schlecht gewählt haben und die als reaktionäre bekannt sind.
2. Die Bürgermeister aufzusuchen, sie über die persönlichen Verhältnisse der Gemeinde zu befragen und dabei zu erklären, daß der St. (aats) S. (icherheit) das Bestehen einer reaktionären feindlichen Gruppe bekannt ist. Dem Bürgermeister dann wissen zu lassen, daß... (?), um die Gemeinde vor den Wahlen nicht zu beunruhigen, man sich nach der Wahl über eventl. Festnahmen klar werden wird.
3. Ähnlich mit dem Leiter der Ortsgruppe der SED zu sprechen. Aber dabei erreichen, daß die Partei beginnt den Reaktionären einen offenen Kampf anzusagen.
4. Aus der Unterhaltung mit dem Bürgermeister und Leiter der Partei sollte wenigstens eine Person bekannt werden, die sich durch reaktionäre Auffassungen bemerkbar gemacht hat. Diese Person sollte dann ca. 2 Tage danach durch einen VP-Angehörigen zum nächsten VP-Revier oder zur Dienststelle der St(aats) Si(cherheit) geladen werden.
5. Privatbesitzer, die eine Anzahl Arbeiter beschäftigen, sollten auf die Dienststelle geladen werden und dort soll ihnen erklärt werden, daß Beschwerden aus den Kreisen ihrer Arbeiter gekommen sind, weil sie von ihren Unternehmern im antidemokratischen Sinne beeinflußt werden. 6. VEB-(und) MAS(Maschinenausleih-Station) -Leiter sollten aufgesucht werden und in einer Rücksprache sollte den Leitern der Auftrag gegeben werden, sich stärker für die fortschrittliche politische Entwicklung ihrer Arbeiter und Angestellten einzusetzen. Die Betriebsleiter sollten angehalten werden, sich individuell mit rückschrittlichen Arbeitern und Angestellten zu beschäftigen. 7. Die Dienststellenleiter wurden angewiesen, in den reakt. (ionären) Gemeinden in den Wahlvorständen die V-Leute selber zu werben, um einen persönlichen Eindruck über ihre Zuverlässigkeit zu bekommen.
Die Tätigkeit der Dienststellenleiter wurde in der darauffolgenden Zeit von mir kontrolliert. Die Dienststellenleiter waren von aller anderen Arbeit freigestellt.
Bis zum 14. 10. wurde folgende Arbeit durchgeführt: 366 Bürgermeister wurden aufgesucht, 298 Leiter der Ortsgruppen der SED wurden aufgesucht, 209 Reaktionäre wurden auf die Dienststellen oder VP-Reviere geladen, 50 Besitzer von Privatunternehmen wurden aufgesucht oder geladen, 86 V(olks) E(igene) -Betriebe wurden angelaufen (diese Zahl liegt aber viel höher, weil die Operativ-Arbeiter entsprechenden Auftrag hatten).
Von den 209 Reaktionären haben sich 9 abgesetzt, vier vor der Rücksprache und drei danach.
Am 12. 10. wurden die neun zuverlässigsten und intelligentesten Genossen der Verwaltung zusammengerufen und auf alle Kreise als Instrukteure verteilt.
Sie wurden über die Aufgaben, die den 19 Dienststellenleitern gestellt worden waren, informiert und erhielten den Auftrag, die Tätigkeit zu kontrollieren und wenn notwendig, selber einzugreifen. Dieser Einsatz war für die Erfüllung der Aufgaben sehr förderlich und ermöglichte, daß auch in den Kreisen, wo die Leiter nicht informiert waren, die Schwerpunkte bearbeitet wurden.
Am 14. 10 um 21. 00 Uhr wurden die neun Instrukteure zur Verwaltung gerufen und erhielten folgende Instruktion: 1. Die Dienststellenleiter der ihnen zugewiesenen Kreise werden beauftragt, am 15. die Wahlbeteiligung sehr aufmerksam zu verfolgen, um rechtzeitig die Schwerpunkte zu erkennen. 2. Die Instrukteure müssen in den Nachmittags-stunden die Kreise klar überblicken können, um für die Schwerpunkte folgende Anweisung zu geben:
a) verstärkte Tätigkeit durch Einsatz von Wahl-schleppern und, wo damit nichts mehr zu erreichen ist, sofortige Aufnahme der Verbindung mit den Wahlvorständen (V-Leute in den Wahlvorständen), und sie zu veranlassen, fliegende Wahlurnen in Aktion treten zu lassen, um angeblich vergessene Kranke und Invaliden in der Wohnung aufzusuchen. Dabei aber alle Wahlsäumigen aufzusuchen. Wo die Wohnung nicht geöffnet wird oder wo die Wahl abgelehnt wird, sollen die V-Personen die Stimmzettel in die Urnen werfen. b) Wo alles versagt, sollen, wenn es für das allgemeine Wahlergebnis unbedingt erforderlich ist, Veränderungen an den Wahlprotokollen vorgenommen (werden) und zwar auf dem Wege vom Wahllokal zur Wahlleitung.
Diese Maßnahmen sind nirgend realisiert worden. Die Instrukteure hatten es in den meisten Fällen nicht einmal nötig, die Dienststellenleiter zu informieren, weil in den Kreisen in den frühen Nachmittagsstunden die Wahlbeteiligung klar war. Lediglich in Belzig und Cottbus wurde je ein V-Mann eingeweiht.
Die Durchführung dieses Sonderauftrages hat zweifellos bedeutend zu dem Wahlergebnis beigetragen. Einige Dienststellenleiter sind am Wahltage Gemeinden, in denen die Wahlbeteiligung stockte, angelaufen und haben die Bürgermeister zur Verantwortung gezogen. Der Erfolg war, daß in kurzer Zeit die Wahlbeteiligung sprunghaft anstieg. Dies war besonders in den Kreisen Westprignitz, Niederbarnim, Teltow und Nauen der Fall.
Das Anlaufen der Bürgermeister und Leiter der Ortsgruppen vom 1. 10. bis 15. 10. zeigte aber noch einige wesentliche Momente:
1. Die Bürgermeister und Parteileiter sind in vielen Fällen veraltert und haben keine politische und klassenmäßige Bindung zur Partei. Sie stehen stark unter dem Einfluß reaktionärer Kreise. 2. Sie verkörpern auf der anderen Seite, besonders die Bürgermeister, eine sehr starke Autorität. Ihr Verhalten und ihr Wort ist maßgebend im Ort und wird von fast allen Schichten befolgt. 3. Sind die Bürgermeister wertvolle Informationsquellen. Wobei es aber ratsamer erscheint, sie offen anzusprechen und von ihnen zu fordern, als sie zu V-Leuten zu machen. Sie brauchen offiziellen Druck.
Die Bedeutung der Bürgermeister ist in der Vergangenheit von hier nicht genügend erkannt worden. Einige Beispiele über die Auswirkung der Vorladung von reaktionären Elementen auf die Dienststelle der Verw. (altung) f. (ür) St. (aat’s) Si. (cherheit): 1. Frau Schenke Vorsitzende der Ortsgr(uppe) der CDU in Beetz, Kreis Ost-Havelland, hatte die CDU-Funktionäre abgehalten, an der Blockarbeit teilzunehmen, ferner war sie gegen die Wahl. Frau Sch. hat in den letzten Tagen aktiv an den Wahlarbeiten teilgenommen und war am 15. eine der ersten Wähler. 2. Der Bauer Krüger in Bugk, Kreis Fürstenwalde, hatte erklärt, daß nach den Wahlen alle Wirtschaften enteignet werden, die mit der Soll-Erfüllung im Rückstand sind. Er hatte in der letzten Wahlversammlung die Gemeinde aufgefordert, sich... (?) an der Wahl zu beteiligen. 3. Der Besitzer einer Maschinenreparaturwerkstatt in Perleberg ist gegen die Wahl aufgetreten. Er ist Mitglied der CDU und von seinen 34 Angestellten sind 18 CDU Mitglied. Am Tage nach der Rücksprache nahm die Belegschaft eine Entschließung an, sich (zu) 100 Prozent an der Wahl zu beteiligen. Ein entsprechendes Transparent wurde ausgehängt. 4. Im Dorf... (?) erklärte der Bauer Dommescheck, daß nach der Wahl Verschiedene abgeholt werden würden. In einer Dorfversammlung gab er dazu eine Erklärung ab und hat in den Tagen vor der Wahl gut gearbeitet. 5. In Lychen, Kreis Templin, hat der ehemalige Vorsitzende der LDP Stoldte die gesamte LDP zerschlagen. Er hat den Rat erhalten die LDP wieder ins Leben zu rufen und einen Aufruf zur Wahlbeteiligung und für die Nationale Front herauszugeben. Dies tat er und hat aktiv für die Wahl gearbeitet. 6. Der Vorsitzende der NDPD von Kummersdorf, Luther, hetzte gegen die SED u(nd) gegen die Wahl. Am nächsten Tag berief er eine Mitgliederversammlung ein und bewirkte eine aktive Teilnahme an den Wahlarbeiten. 7. Der Bauunternehmer Lau in Mahlow war reaktionäres LDP-Mitglied. Er klärte in (einer) Belegschaftsversammlung seine Arbeiter und Angestellten auf und ermutigte sie, für die Kandidaten der Nationalen Front zu stimmen. Potsdam, den 17. 10. 50 Gotmann
Jochen Laufer, Dr. phil., geb. 1956 in Berlin; 1978— 1983 Studium der Geschichte in Berlin; seit 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Geschichte (jetzt: Institut für deutsche Geschichte), Bereich DDR-Geschichte. Forschungsgebiete: Nachkriegsentwicklung, Alliierter Kontrollrat, Reparationen. Dazu einzelne Veröffentlichungen 1990. Seit Juni 1990 Mitarbeit in der Arbeitsgruppe zur Aufdekkung der Strukturen und der Arbeitsweise des MfS.
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