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Die soziale Einheit gestalten Über die Schwierigkeiten des Aufbaus gesamtdeutscher Gewerkschaften | APuZ 13/1991 | bpb.de

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APuZ 13/1991 Die soziale Einheit gestalten Über die Schwierigkeiten des Aufbaus gesamtdeutscher Gewerkschaften Aktivitäten des BDI in den neuen Bundesländern Mitbestimmung in Europa in den neunziger Jahren. Bestandsaufnahme, Konzepte und Perspektiven Die neuen Gewerkschaftsbewegungen in Mittel-und Osteuropa und ihre Auswirkungen auf die internationale Gewerkschaftsbewegung

Die soziale Einheit gestalten Über die Schwierigkeiten des Aufbaus gesamtdeutscher Gewerkschaften

Peter Seideneck

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Frühjahr 1990 unternahmen einige DDR-Gewerkschafter den Versuch, etwas zu retten, was nicht zu retten war: eigenständige Gewerkschaftsstrukturen in der DDR. Dieser durchaus verständliche Versuch des Neubeginns hatte auch das Ziel, mit eigenen Strukturen den Weg in einheitliche gesamtdeutsche Gewerkschaften zu gehen, „den aufrechten Gang zu bewahren“. Aber nicht nur die Zeit war zu knapp — auch die demokratische Basis war zu dünn. Auch die westdeutschen Gewerkschaften werden sich selbstkritisch mit ihrer Rolle vor der Wende auseinandersetzen müssen. Wie viele andere gesellschaftliche Gruppen unterwarfen auch sie sich einer aus der Entspannungspolitik abgeleiteten Staatsräson. In diesem Zusammenhang führten die sich verbessernden Beziehungen auf staatlicher Ebene zu einer gewissen Vernachlässigung der Beziehungen zu oppositionellen Kräften. In Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse stimmte die hiesige offizielle Politik die Bevölkerung der DDR auf einen schnellen Wandel zum Besseren im Zusammenhang mit der deutschen Einheit ein. Eine rasche Angleichung der Lebensverhältnisse und ein unmittelbarer beschäftigungswirksamer Aufschwung jedoch sind kurzfristig nicht realisierbar. Die daraus entstehenden sozialen Brüche und Widersprüche verlangen konsequente politische Schlußfolgerungen. Der DGB hat ein Sofortprogramm vorgelegt, das der derzeitigen Entwicklung gegensteuem und für die dringend nötigen Investitionen sorgen soll. Die Menschen in der ehemaligen DDR müssen nun lernen, daß soziale Gerechtigkeit kein immanenter Bestandteil der Marktwirtschaft ist, der von oben verordnet werden kann, sondern der „von unten erstritten werden muß“. Der gewerkschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern vollzieht sich Zug um Zug. Die derzeitigen Schätzungen über die gewerkschaftliche Mitgliedschaft in Ostdeutschland liegen zwischen 3 und 3, 5 Millionen. Die wachsenden sozialen Probleme sprechen dafür, daß die Menschen in der ehemaligen DDR in überdurchschnittlichem Umfang Schutz bei den Gewerkschaften suchen werden. Die personalpolitischen Probleme verlangen vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften große Anstrengungen im Bereich von Schulung und Bildung. Ehemalige hauptamtliche FDGB-Funktionäre können nicht übernommen werden. In der Regel stoßen sie auf Ablehnung bei den Arbeitnehmern. So sind die neuen Gewerkschaften auf ein hohes Maß von personalpolitischer Improvisation angewiesen. Im Bereich des Rechtsschutzes, der ebenfalls zu einer der vordringlichsten Aufgaben der neuen Gewerkschaften gehört, zeigt sich ein Gestaltungsproblem, das typisch ist für den Prozeß der Einheit: Der eklatante Mangel an Zeit einerseits und der rapide anwachsende Berg sozialer und arbeitsrechtlicher Probleme andererseits. Beim Aufbau der Gewerkschaften in der ehemaligen DDR ist es von langfristig großer Bedeutung, daß der DGB sich nicht durch die „normative Kraft des Faktischen“ auf die Qualität einer reinen Rechtsschutzversicherungsgemeinschaft abdrängen läßt. Mit der Unbekümmertheit, mit der manche Unternehmen sich in Ostdeutschland ihre Personallisten zusammenstellen, können Gewerkschaften nicht zu Werke gehen. Am Ende werden Menschen in gewerkschaftlichen Funktionen sein, die von den Mitgliedern legitimiert sind. Die bedrohliche Arbeitslosigkeit wirkt sich allerdings kurzfristig nachteilig auf die Bereitschaft zur Beteiligung und zum Engagement in den gewerkschaftlichen Organisationen aus. Jedoch besteht Hoffnung auf eine baldige Änderung: Im Zusammenhang mit den zunehmenden sozialen Spannungen ist ein steigendes Maß an Mobilisierung und der Fähigkeit zur Selbstorganisation zu beobachten. Entscheidend wird sein, ob sich aus der sozialen Protest-bewegung gestaltende Kraft entwickeln läßt, die durch starke Gewerkschaften zum Nutzen der Arbeitnehmer in wirkungsvollen Einfluß auf die Politik umgesetzt werden kann.

„Das Herzstück, gewerkschaftlicher Tätigkeit ist die ideologische Arbeit. . , Aber mit der ideologischen Arbeit ist es so eine Sache. Glaubt man, eine Frage sei geklärt, tritt bereits die nächste auf. Das heißt, in der ideologischen Arbeit gibt es keinen Stillstand, weil sich das Leben vorwärtsbewegt. “ Der damalige FDGB-Vorsitzende Harry Tisch auf der 15. Tagung des FDGB-Bundesvorstandes, 10. Hl. Juni 1976.

I. Die DDR-Gewerkschaften als Sozialversicherungen und Diener von Partei und Staat

Die DDR-Gewerkschaften, zusammengefaßt im FDGB. spielten im Machtgefüge der zentralistisch-bürokratischen Diktatur der Partei stets die ihnen zugedachte Rolle: als instrumentalisierte Massenorganisation der SED. Mit dem Zusammenbruch des Systems — ein Zusammenbruch, der weniger das Ergebnis einer „revolutionären Entwicklung“, sondern eher die unausweichliche Folge des kollabierenden sowjetischen Einflusses in Ost-und Mitteleuropa als Konsequenz der Gorbatschowschen Perestroika war — brach auch ein Gewerkschaftssystem zusammen, zu dessen Aufgaben nicht die unabhängige Interessenvertretung der Arbeitnehmer gehörte. Vielmehr spielte der FDGB die Rolle, die ihm von der leninistisch-stalinistischen Ideologie zugewiesen war: Erfüllungsgehilfe der Partei, „Schule des Sozialismus“ und ideologischer Kontrolleur der „Arbeiterklasse“. Zu seinen Aufgaben gehörte darüber hinaus die soziale und kulturelle Betreuung seiner Mitglieder (bei einer De-facto-Zwangsmitgliedschaft): Er verwaltete die Einheitsgesellschaft „Sozialversicherung“ (SV) und den „Feriendienst“, ein staatlich subventioniertes Monopolunternehmen im Bereich des Sozialtourismus.

Voraussetzung für das „reibungslose“ Funktionieren des FDGB war eine Unterwerfung der Einzel-gewerkschaften unter das Dach des Zentralverbandes. Versuche einiger Einzelgewerkschaften, sich in den fünfziger Jahren eine gewisse Autonomie zu sichern, wurden rigoros unterdrückt. Im Gewerkschaftsmodell des bürokratischen Zentralismus hatte ein dezentral angelegter Gewerkschaftsdachverband keinen Platz. Nicht Tarifpolitik war Aufgabe der Gewerkschaften, sondern Unterstützung der staatlichen Planvorgaben auf allen Ebenen, vor allem in den Betrieben.

Die Nichtexistenz einer interessenbezogenen Gewerkschaftspolitik ist eine der vielen Ursachen für den Bankrott des „Realsozialismus“ in politischer, ökonomischer, sozialer und moralischer Hinsicht. Die dauerhafte Reglementierung und Disziplinierung der „Arbeiterklasse“, ihre Unterwerfung unter eine Doktrin. die ihr angeblich Avantgardefunktion und Herrschaft zuschrieb, in Wirklichkeit aber ihre systematische Unterdrückung betrieb, hat verhängnisvolle Folgen für das Bewußtsein und das Selbstbewußtsein der Menschen in der ehemaligen DDR. Diese Folgen dauern an und wirken sich auch als nicht zu unterschätzendes Hindernis bei dem Versuch aus, die Gewerkschaften in der Ex-DDR neu aufzubauen.

Im Frühjahr 1990 unternahmen einige DDR-Gewerkschafter den Versuch, etwas zu retten, was nicht zu retten war: eigenständige Gewerkschaftsstrukturen in der DDR. Dieser durchaus verständliche Versuch des Neubeginns hatte auch das Ziel, mit eigenen Strukturen den Weg in einheitliche gesamtdeutsche Gewerkschaften zu gehen, „den aufrechten Gang zu bewahren“. Aber nicht nur die Zeit war zu knapp — auch die demokratische Basis war zu dünn, um mit dem nötigen Selbstbewußtsein und der erforderlichen Kraft einen tragfähigen Neuanfang zu schaffen. Schon der Versuch der „Selbstreinigung“ und der Klärung mißlang. Nötig wäre ein tiefgreifender Prozeß der Kritik am alten System gewesen. Statt dessen konzentrierten sich die „Erneuerer“ auf Oberflächenerscheinungen wie „Amtsmißbrauch und Korruption“. Dazu wurde im Auftrag des außerordentlichen FDGB-Kongresses ein Untersuchungsausschuß eingesetzt, der auf gut fünf Seiten einen Abschlußbericht vorlegte und nichts weiter zuwege bringen konnte als subjektive Schuldzuweisungen.

Zwei Zitate belegen, welche politische Relevanz dieser gescheiterte Versuch der Aufklärung und Aufarbeitung hatte: „Es gab die Forderung, die Zuschüsse für die verbilligten Präsidiums-Urlaubsreisen zurückzuverlangen. Dafür gibt es keine rechtliche Handhabe. Das Präsidium als ein kollektives Entscheidungsgremium war gemäß damals geltender Satzung befugt, derartige Beschlüsse zu fassen, und somit waren sie juristisch gültig.“ Und weiter heißt es: „An dieser Stelle sei eine Korrektur zum . vorläufigen Bericht 1 angebracht. Es wurde informiert, daß der ehemalige Sekretär Frank Bochow dem Bundesvorstand des FDGB zusätzliche Valuta-Kosten in Höhe von 32 752, — M verursacht habe. Diese Zahl ist falsch. Sie beruht auf einer unkritischen Recherche. Die korrekte Zahl lautet: 6 954, 45 M. Wir bitten an dieser Stelle den Kollegen Bochow nochmals um Entschuldigung. Allerdings sei exemplarisch vermerkt, daß der Untersuchungsausschuß und Kollege Bochow sich nicht einigen konnten, ob die neue ermittelte Summe durch Mißbrauch seines Amtes zustande kam. Der Untersuchungsausschuß besteht nach wie vor auf seiner Meinung.“

Die Hilflosigkeit, aber auch das mangelnde Bewußtsein über die eigentlichen Probleme werden deutlich, wenn es an anderer Stelle des Abschlußberichts heißt: „Das im . vorläufigen Bericht 4 erwähnte Klavier befindet erwähnte Klavier befindet sich wieder beim ursprünglichen Besitzer.“ 3) Und schließlich gibt ein letztes Zitat aus diesem Bericht Aufschluß über die Mentalität derer, die einen eher rührenden Versuch der „Vergangenheitsbewältigung“ unternahmen: „Der Untersuchungsausschuß möchte an dieser Stelle hervorheben, daß es eine vorbehaltlose und enge Zusammenarbeit mit den Damen und Herren der Kriminalpolizei gab. Er gewann den Eindruck, daß seine Anliegen nach Kräften unterstützt wurden.“ 4)

Das Unterfangen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, mußte scheitern — bitter für diejenigen Männer und Frauen, die mit dem alten Apparat und seinen korrupten Herrschaftsstrukturen nichts zu tun hatten und die nun erkennen mußten, daß es keine Chance dafür gab, mit neuem Selbstbewußtsein und neuen, demokratisch legitimierten gewerkschaftlichen Organisationen den Weg in die gewerkschaftliche Einheit zu gehen. Nicht nur die Zeit fehlte, sondern auch die Einsicht in die Tatsache, daß so gut wie nichts von dem, was von der DDR übrig blieb, wirklich reformierbar war. Die alten Strukturen befanden sich im Zustand des Zerfalls und der Agonie, das Neue war noch nicht da. Dieses Dilemma kennzeichnet alle Schwierigkeiten im Prozeß der Einheit, auch bei den Gewerkschaften.

II. FDGB — DGB: Zu lange mit Tisch am Tisch gesessen?

In der Demokratiebewegung der DDR haben Gewerkschaften keine sonderlich auffallende Rolle gespielt. Während es in der SED mit Gewißheit im „deutschen Herbst“ gärte und es sogar zu öffentlichen Protestkundgebungen vor dem ZK-Gebäude kam, herrschte im FDGB und in den Betrieben eine merkwürdige Ruhe. Zwar erhöhte sich mit der Geschwindigkeit der Ereignisse auch die Zahl derer, die am Sturz des Potentaten Harry Tisch mitgewirkt haben wollten — in Wirklichkeit aber fiel er eher wie eine überreife Frucht vom Baum, als daß sein „Sturz“, der eher ein Fall war, Erfolg einer system-kritischen Opposition in den Gewerkschaften gewesen wäre. In diesem Zusammenhang ist es unerläßlich, die Haltung der westdeutschen Politik und der sie prägenden Kräfte gegenüber der Systemopposition in den damaligen „realsozialistischen“ Ländern, vor allem in der DDR, einer kritischen Über-prüfungzu unterziehen; denn die Aufarbeitung der Geschichte der DDR kann nicht darauf verzichten, diesen Aspekt einzubeziehen, der im großen Prozeß der deutschen Einheit von fast allen Beteiligten gern übersehen wird.

Bestimmend für die Art der Beziehungen zu den Regierungen und Gesellschaften des „Realsozialismus“ war eine Staatsräson, die — wie die Entwicklung es bestätigt hat — nicht zu Unrecht von der Formel der Ostpolitik Willy Brandts „Wandel durch Annäherung“ ausging. Die sich verbessernden Beziehungen auf staatlicher Ebene führten jedoch zu einer Vernachlässigung der Beziehungen zu oppositionellen Kräften in diesen Ländern. Offenkundig verleitete die Logik der Entspannungspolitik auch nichtstaatliche Organisationen — politische Parteien, gesellschaftliche Organisationen bis hin zu Jugendverbänden — dazu, oppositionellen Kräften in den Ländern des Ostblocks mit Zurück-haltung, unangebrachter Vorsicht und zuweilen mit Distanz zu begegnen.

Die osteuropäische Demokratiebewegung hatte ihre Schwierigkeiten, die „Solidarität der Demokraten“ erfolgreich einzufordern. Die Entspannungspolitik war nicht sichtbar genug von einer konsequenten Praxis der Unterstützung sich neu bildender demokratischer Bewegungen begleitet. Diese Bewegungen — immerhin Produkte auch der Entspannungspolitik — wurden weithin nicht nur als unbequemer, sondern oftmals auch als störender Faktor empfunden. Besonders die westdeutsche traditionelle Linke hatte Schwierigkeiten im Umgang mit Opposition und Dissidenz im „sozialistischen Lager“. Sie handelte nach dem Motto „Sage mir, wer Dir Beifall zollt und ich sage Dir, wer Du bist“ und muß sich, wenn nicht den Vorwurf der Kumpanei, so doch den der „stillschweigenden Duldung“ gefallen lassen.

Der Dissidenz und der Demokratiebewegung in der DDR standen die westdeutschen Demokraten als Bündnispartner erst zur Verfügung, als klar wurde, wohin die Entwicklung ging: Ersatzlose Streichung der „alten DDR“ und Übertritt in die Bundesrepublik Deutschland. Die Einheit konnte nicht wachsen — sie mußte zusammengeschustert werden. Bei den Demonstrationen in der DDR fand ein „Schichtwechsel“ statt: An die Stelle der Bürgerbewegungen trat die „schweigende Mehrheit“.

Auch die westdeutschen Gewerkschaften werden sich nicht davor drücken können, ihre Haltung gegenüber der demokratischen Opposition in der Zeit vor der „Wende“ selbstkritisch zu überprüfen. Der Jurist Rolf Henrich aus Eisenhüttenstadt brachte es auf den Punkt, als er dem DGB vorwarf, „zu lange mit Tisch am Tisch“ gesessen zu haben. Der Hintergrund der FDGB-DGB-Beziehungen ist der der Ost-und Entspannungspolitik der Bundesrepublik und der „Politik der kleinen Schritte“, die das Leben in der DDR erträglicher machen sollte. Die Gewerkschaften wollten ihren Beitrag dazu leisten und haben so sicherlich manches zuwege gebracht. Im Zuge dieser Politik aber kam der erforderliche grundsätzliche Streit mit der anderen Seite zu kurz. Die Unterstützung der Demokratiebewegung wurde vernachlässigt — erst sehr spät erkannte man die Chancenlosigkeit des Unterfangens, den FDGB zu reformieren.

Die Demokratiebewegung auf die Gewerkschaften in der DDR auszudehnen, das hätte eine prinzipielle und mit langem Atem versehene Unterstützungspolitik der demokratischen Opposition in der DDR verlangt, natürlich auch um den Preis des Konfliktes mit den damaligen staatstragenden Potentialen in der DDR. Eine solche Politik, die keineswegs im Widerspruch zur Entspannungspolitik gestanden, sondern den Grundlagen des KSZE-Prozesses entsprochen hätte, wäre möglicherweise Ermutigung für die Demokratiebewegung in der DDR gewesen, sich stärker um die Arbeiterschaft zu bemühen. Sicherlich hätte eine solche Politik wenigstens des „sowohl als auch“ dazu beigetragen, reformerische und demokratische Tendenzen innerhalb der alten DDR-Gewerkschaften freizusetzen und zu ermutigen. Manche der Probleme, mit denen sich heute die DGB-Gewerkschaften konfrontiert sehen — vor allem können sie sich kaum auf politisch verläßliches Personal aus den FDGB-Gewerkschaften stützen —, wären heute leichter lösbar. So aber artikulierte sich die Opposition in den FDGB-Gewerkschaften erst, als der Zeiger der Uhr die Zwölf bereits überschritten hatte.

Schließlich kann auch nicht unerwähnt bleiben, daß die Menschen, die die Bürgerrechtsbewegung geprägt haben und die auch in Zukunft eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der deutschen Einheit spielen werden, sich nicht unbedingt in der Nähe der neuen Gewerkschaften aufhalten. Sie für die Mitarbeit in den Gewerkschaften zu gewinnen, ihre Distanz zu ihnen zu verkürzen — das verlangt von den Gewerkschaften, die eigene Rolle kritisch auf-zuarbeiten und die Distanz zur Systemopposition zu überwinden.

Die notwendige Aufarbeitung aber darf nicht durch schematische und „kompensatorische“ Personalpolitik ersetzt werden: Auch in der SED gab es viele Menschen, die nicht nur nicht zu den Nutznießern und Privilegierten des Systems gehörten, sondern die zu einem Zeitpunkt, als der Fortgang der Ereignisse noch nicht gewiß war, Anschluß an die demokratische Opposition suchten. Als eigentlicher Maßstab dient dabei den Gewerkschaften als der größten demokratischen Organisation das Mittel der Wahlen zu den eigenen Gremien durch die Mitglieder oder die von ihnen gewählten Vertreter.

III. Die ökonomischen Rahmenbedingungen — das schnelle Ende einer großen Illusion

Der Zusammenbruch der DDR und der damit beginnende Prozeß der Integration der neuen Bundesländer in das Staats-und Gesellschaftssystem der „alten“ Bundesrepublik wurde durch die Schaffung der Währungsunion besiegelt. Zwar ist es heute müßig, darüber zu reflektieren, ob nicht andere, schrittweise Übergänge rationaler und den Interessen der Menschen angemessener gewesen wären, doch ist es unerläßlich, auf einige Probleme hinzuweisen, die noch auf längere Zeit der deutschen Politik als Aufgabe gestellt sein werden.

Das fast grenzenlose Vertrauen, das die meisten Bürger der DDR in die Möglichkeiten der Marktwirtschaft setzten, eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse zu sichern, grenzte schon an Wunderglauben. Doch niemand kann ihnen daraus nachträglich einen Vorwurf machen. Es waren führende Politiker, die in Verkennung der Realitäten und im Hochgefühl der Wahlkämpfe genau das in Aussicht stellten: eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse und einen unmittelbaren, beschäftigungswirksamen wirtschaftlichen Aufschwung. Bundeskanzler Kohl wie auch der damalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere sprachen gar davon, nach der Vereinigung werde es „niemandem schlechter gehen“.

Die „Katerstimmung“, die sich heute in Deutschland-Ost breit macht, ist auch das Ergebnis dieses von der Politik verbreiteten grenzenlosen Optimismus. Kritik und Warnung vor Realitätsverlust wurde als Miesmacherei bezeichnet und als Votum gegen die Vereinigung ausgelegt. Der westdeutschen Bevölkerung wurde weisgemacht, die Kosten der Vereinigung ließen sich aus den Ergebnissen des wirtschaftlichen Aufschwungs in Westdeutschland finanzieren. Die Steuern, so hieß es fast schon in Form eidesstattlicher Erklärungen, müßten der deutschen Einheit wegen nicht erhöht werden. Diese Politik war nicht nur unwahrhaftig und leichtfertig, sie hatte auch verheerende psychologische Wirkungen. Die Glaubwürdigkeit der Politiker, die schließlich auch Verantwortung für die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie tragen, sank vor allem bei den zunächst durchaus „leichtgläubigen“ Bürgern im Osten; und die Bürger im Westen wurden nicht darauf eingestellt, daß die Kosten für die Einheit nur durch Beiträge aller aufgebracht werden können. Die Lage, in der sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern am Ende des Winters 1990/91 befindet, ist u. a. durch folgende Erscheinungen gekennzeichnet: 1. Die Arbeitslosigkeit erfährt einen dramatischen Anstiegszuwachs. Ihren vorläufigen, aber keineswegs endgültigen Höhepunkt wird sie Mitte dieses Jahres erreichen, wenn die „Null-Kurzarbeitsvereinbarungen“ auslaufen. Bis zum Ende dieses Jahres muß mit einer Erwerbslosigkeit von drei Millionen Menschen im Ostteil Deutschlands gerechnet werden. 2. Die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte auf den westdeutschen Arbeitsmarkt nimmt zu. Sie wird sich in Abhängigkeit zur Arbeitslosigkeit weiter verstärken. Damit werden die Investitionsstandorte in der ehemaligen DDR nachhaltig geschwächt und eine weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit bei den Menschen bewirkt, die ihr Land nicht verlassen wollen oder aufgrund ihrer Qualifikation keine Chance auf Beschäftigung auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt haben. 3. Die dringend erforderlichen Investitionen in die Verbesserung der Infrastruktur, vor allem im Wohnungs- und Städtebau und im Verkehrsbereich, werden durch die zu erwartenden niedrigeren Steuereinnahmen in den neuen Bundesländern behindert und zeitlich verzögert, so daß mit rechtzeitig greifenden Beschäftigungsimpulsen nicht gerechnet werden kann. 4. Die Stimmung der Menschen beginnt sich zu ändern. Erste Massendemonstrationen gegen Betriebsschließungen in allen neuen Bundesländern weisen darauf hin, daß es im Gefolge der weiter steigenden Massenarbeitslosigkeit zu erheblichen sozialen Konflikten kommen kann, deren Auswirkungen auf Dauer nicht auf den Ostteil der Bundesrepublik beschränkt bleiben werden. Nicht unterschätzt werden darf die Gefahr einer politischen Destabilisierung durch das Aufkommen rechtsradikaler Tendenzen und eine nicht auszuschließende Stärkung links-restaurativer Kräfte vor allem im Umfeld der keineswegs völlig verschwundenen Strukturen des alten Systems.

Den meisten Menschen war offensichtlich nicht klar, daß mit der Verabschiedung des maroden „Realsozialismus“ auch das verschwinden würde, was sie nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den jetzt aufkommenden Problemen für bewahrenswert halten (eine systembedingte soziale Sicherheit, systemabhängige Einrichtungen wie betriebsnahe Kindergärten, eine relative soziale Sicherheit auch für alleinerziehende Mütter oder z. B. gewisse Formen staatlich geförderter [und kontrollierter] Kultureinrichtungen). Ein gewisses „Heimweh“ nach diesen „Errungenschaften“ des verabschiedeten alten Systems kommt natürlich vor allem bei den Menschen auf, denen man nun zumutet, von einem Zehn-Meter-Brett in ein Schwimmbecken springen zu müssen, das nicht, wie vorausgesagt und versprochen, genügend Wasser enthält. Wer die sich nun einstellende Realität in der ehemaligen DDR aus der Nähe zur Kenntnis nimmt, der kommt nicht umhin, festzustellen, daß ohne eine begleitende staatliche Politik die übergangslose Übertragung des marktwirtschaftlichen Systems droht, den Prozeß der Einheit in die fatale Nähe eines „Experiments an lebenden Menschen“ zu rücken.

Wenn man die möglicherweise noch zu optimistischen Prognosen 1 des Sachverständigenrates zugrunde legt, dann droht für 1991 eine Entwicklung, die den Abstand zwischen West und Ost dramatisch vergrößern wird. Im Gutachten heißt es: „In den neuen Bundesländern wird die Produktion dagegen zunächst noch weiter sinken. Im Durchschnitt des Jahres dürfte das Niveau von diesem Jahr kräftig unterschritten werden. Wir sehen uns allerdings außerstande, den Rückgang zu quantifizieren.“ 5) Ganz erstaunlich aber ist es, daß die Sachverständigen offensichtlich keine Schwierigkeiten hatten, eine Prognose zur Arbeitslosigkeit aufzustellen (lediglich plus 1, 15 Mio. für das laufende Jahr). Diese Prognose erscheint so optimistisch, daß der Sachverständigenrat sich nicht wundern muß, wenn er in Verdacht gerät, mit dieser durch nichts begründeten Zahl einen gewissen regierungsamtlichen Optimismus verbreiten zu wollen.

Bedrohlich und in allen Prognosen unumstritten ist die Feststellung, daß „bei den Investitionsplänen (der westdeutschen Unternehmen) bis heute eindeutig der Ausbau von Vertriebseinrichtungen überwiegt“ Hinter dieser Formulierung verbirgt sich der Tatbestand, daß viele westdeutsche Unternehmen die ehemalige DDR als interessantes Absatzgebiet entdeckt haben, das sie aus bereits vorhandenen Produktionskapazitäten im Westen beliefern können, ohne eine einzige Mark in die Erhaltung oder den Aufbau von Produktionen in Ostdeutschland investieren zu müssen.

Ad absurdum führt sich in diesem Zusammenhang das „Soziale“ an der Marktwirtschaft, wenn aufgrund des neuen Marktes in der ehemaligen DDR z. B. ein Fürther Großversandhaus 700 Arbeitsplätze im Mutterhaus „schafft“, die nun weitgehend von Pendlern aus Thüringen eingenommen werden, die dafür wegen der sehr langen Fahrtzeiten einen Arbeitstag von bis zu 20 Stunden in Kauf nehmen. Wenn Menschen solche Arbeitsbedingungen akzeptieren, dann ist das Ausdruck bitterster Not und unmittelbarer existentieller Bedrohung.

Diese Entwicklung trifft auf Menschen, die die Marktwirtschaft insofern für eine moralische Veranstaltung gehalten haben, als ihnen aus Funk und Fernsehen und nicht zuletzt durch Politiker immer wieder das Postulat von der „Sozialen Marktwirtschaft“ entgegenschlug. Nun müssen sie lernen, daß Sozialstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit keine immanenten, selbstverständlichen Bestandteile der Marktwirtschaft sind und auch nicht „von oben“ verordnet werden, sondern von unten erstritten werden müssen.

Dabei kommt den Gewerkschaften eine besondere Verantwortung zu. Die zunehmende Zahl von Massendemonstrationen und erste Betriebsbesetzungen deuten darauf hin. daß die bevorstehenden sozialen Auseinandersetzungen außerordentlich scharf werden können und daß die Gewerkschaften die Aufgabe haben, den Massenprotest so zu organisieren, daß er sich in wirkungsvollen Druck auf die politischen Entscheidungsträger überträgt. Sicherlich werden die Gewerkschaften nicht die Rolle spielen, die ihnen insgeheim mancher zuschreiben mag: die des bloßen Kanalisators von Massenprotesten. Worauf es vor allem ankommt, ist. daß die im Gefolge der brachialen Anpassungskrise — die die neuen Bundesländer nun durchstehen müssen — sich entfaltenden sozialen Bewegungen nicht beim bloßen Protest stehenbleiben, sondern zu einer gestaltenden Kraft werden. Die erstaunliche Wendigkeit vieler verantwortlicher Politiker — zum Beispiel im Zusammenhang mit der Eigentumsfrage durch die nun erhobene Forderung „Entschädigungsanspruch soll Vorrang vor Eigentumsanspruch haben“ — deutet darauf hin. daß die Bau-zeichnung zur Herstellung der Einheit durchaus nachgebessert werden kann. Die Zeit ist knapp — außergewöhnliche Maßnahmen sind gefragt!

Die Bewältigung der anstehenden Probleme verlangt eine enge Zusammenarbeit aller wichtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Dabei geht es nicht um die zeitweise Aufhebung des Interessenunterschiedes zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Eine solche Zielsetzung würde außer acht lassen, daß „normale“ soziale Beziehungen, soziale Konflikte und Konfliktregelungen gerade in der unwägbaren Situation in der Ex-DDR ein wichtiges Element für die Förderung einer wirtschaftlichen und sozialen Dynamik sind. Aber unbestritten ist auch, daß Programme erarbeitet werden müssen, die für alle sozialen Akteure akzeptabel sind und für deren Verwirklichung jeder Handelnde Verantwortung übernehmen muß.

Der DGB hat Anfang diesen Jahres ein „Wirtschafts-und beschäftigungspolitisches Sofortprogramm für die neuen Bundesländer“ vorgelegt, das von folgender Prämisse ausgeht: „Die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern verschlechtert sich von Tag zu Tag auf dramatische Weise. Im Laufe dieses Jahres wird die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter auf 3 bis 4 Millionen Menschen ansteigen. Mehr als jeder dritte ostdeutsche Arbeitnehmer wird arbeitslos sein oder kurzarbeiten. Die Krise in den neuen Bundesländern ist mehr als eine begrenzte regionale Krise. Sie ist der ökonomische Infarkt der ganzen Ex-DDR und bedarf zu ihrer Lösung außergewöhnlich schneller Maßnahmen und die Einbeziehung aller Verbände und Institutionen mit regional-und beschäftigungspolitischer Verantwortung. Ein vergleichbarer Skandal, wie die ursprünglich beabsichtigte Aus-sperrung der Gewerkschaften aus den Gremien der Treuhandanstalt, darf sich nicht wiederholen.“

Der DGB-Vorschlag enthält als wichtigste Maßnahme den Beginn eines Infrastrukturprogramms: ........ muß eine Modernisierung der unzureichenden Infrastruktur als einer der wichtigsten Engpässe für private Investitionen . . . beschleunigt werden“. Es setzt weiterhin auf Dringlichkeitsmaßnahmen in den Bereichen Wohnungsbau und Energie-einsparung. Umwelt-und Energiepolitik. Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik. Stabilisierung von Betrieben in der „Umstellungszeit“ und schlägt eine Reihe von Maßnahmen zur Mobilisierung privater Investitionen vor:

— alsbaldige Rechtsklarheit in Eigentumsfragen („Entschädigung statt Rückübertragung“);

— Sanierung und Erschließung von Gewerbegebieten;

— nur schrittweiser Abbau staatlicher Preissubventionen. um „die Kaufkraft der privaten Haushalte“ nicht zu schwächen.

Den Kern der Finanzierungsvorschläge des DGB bilden eine Erhöhung der Mineralölsteuer, die in Verbindung mit einem bedarfsgerechten Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und damit in einem ökologischen Kontext gesehen wird, eine Ergänzungsabgabe zur Einkommens-und Körperschaftsteuer sowie die Verwendung der zu erwartenden Steuermehreinnahmen.

Der staatlichen Treuhandanstalt ordnet der DGB eine besondere Rolle zu. Die Treuhand soll sich nicht nur auf Verwertung und „Abwicklung“ beschränken, sondern ihre Tätigkeit mit Infrastruktur-und regionalpolitischen Maßnahmen verzahnen. Dazu, so der DGB, ist eine Novellierung des Treuhandgesetzes erforderlich: „Dabei müssen die Schaffung und Sicherung dauerhafter Arbeitsplätze durch Sanierung und sozialverträgliche Privatisierung von Unternehmen als strukturpolitischer Auftrag und sozialstaatliche Zielsetzung der Treuhandanstalt konkretisiert werden.“

IV. Neue Gewerkschaften in der ehemaligen DDR — Aufbau Zug um Zug

Voraussetzung für den Abschluß des Aufbaus von DGB-Strukturen in den neuen Bundesländern ist der Aufbau der sie tragenden Organisationen, der Einzelgewerkschaften. Die Einführung der westdeutschen Gewerkschaften ist auch in formaler Hinsicht ein völliger Bruch mit der alten Praxis. Die früheren FDGB-Gewerkschaften gehörten als Mitglieder dem Dachverband an, an den sie ihre Beiträge abführen mußten. Der Dachverband „alimentierte“ die Einzelgewerkschaften, die nichts anderes als Abteilungen des Dachverbandes waren. Im jetzt eingeführten Gewerkschaftssystem ist es anders: Die Arbeitnehmer werden aufgrund einer freien Entscheidung Mitglied in einer Einzelgewerkschaft, die wiederum als Ganzes Mitglied im Dachverband des DGB ist, an den sie zwölf Prozent der Mitgliedsbeiträge abführt.

Der Einzug der DGB-Gewerkschaften in die fünf neuen Bundesländer lief nicht ohne interne Streitigkeiten ab. So reklamierte die Industriegewerkschaft Bergbau und Energie die Beschäftigten der Energie-und Wasserwirtschaftsunternehmen, die in der DDR in einem Verband zusammengeschlossen waren, für sich. Die ÖTV pochte auf die organisatorische Abgrenzung, so wie sie in der „alten“ Bundesrepublik vereinbart war, und konnte sich dabei auf die DGB-Satzung berufen. In einem Schlichtungsverfahren des DGB-Bundesvorstandes erhielt die ÖTV recht. Wie nun allerdings die Beschäftigten in den umstrittenen Sektoren mit diesem juristisch begründeten Schiedsspruch umgehen, muß abgewartet werden.

Zieht man in Betracht, daß eine mögliche organisationspolitische Reform der DGB-Gewerkschaften, auch im Sinne einer Korrektur der Zuständigkeitsbereiche einzelner Gewerkschaften, nicht nur denkbar ist, sondern von Zeit zu Zeit auch diskutiert wird, dann ist es der Geschwindigkeit des Einigungsprozesses zuzuschreiben, daß die Möglichkeit, dies in einem Zuge mit dem Neuaufbau der Gewerkschaften in der ehemaligen DDR zu tun, nicht genutzt werden konnte. Über Mitgliederzahlen können — gültig für alle Mitgliedsgewerkschaften — derzeit keine wirklich zuverlässigen Angaben gemacht werden. Die derzeitigen Schätzungen bewegen sich zwischen 3 und 3, 5 Millionen, wobei noch keine vollständigen Angaben darüber vorliegen, wie der Stand der Beitragszahlungen ist. Jedoch kann davon ausgegangen werden, daß der Organisationsgrad in Ostdeutschland mindestens den in Westdeutschland erreichen wird. Die wachsenden sozialen Probleme und die auf absehbare Zeit konfliktbeladenen Situationen sprechen dafür, daß die Menschen in der ehemaligen DDR in überdurchschnittlichem Umfang Schutz bei den Gewerkschaften suchen werden. Offen ist andererseits jedoch, wie sich die Arbeitslosen verhalten werden. Eine aktive Arbeit mit den Arbeitslosen gehört sicherlich zu den vordringlichen Aufgaben der neuen Gewerkschaften.

Der DGB unterhielt ab März 1990 in Ost-Berlin ein Verbindungsbüro, dessen vorrangige Aufgabe es war, den Sprecherrat des Bundes Freier Gewerkschaften in der DDR (der am Ende zum Scheitern verurteilte Versuch, mit starken Einzelgewerkschaften die alten FDGB-Strukturen zu überwinden) zu beraten und Kontakte zur Regierung der DDR, zur Volkskammer und zu weiteren Institutionen der ehemaligen DDR zu halten. Das Verbindungsbüro wurde Ende des Jahres 1990 aufgelöst, denn die ihm gestellten Aufgaben waren mit der Auflösung des FDGB und der DDR hinfällig geworden.

Zur Begleitung des Aufbaus von DGB-Strukturen wurde in Ost-Berlin mit Sitz im alten Gewerkschaftshaus an der Ost-Berliner Wallstraße eine Außenstelle des DGB-Bundesvorstandes eingerichtet, die ihre Entsprechung in Regionalbüros in den neuen Landeshauptstädten der östlichen Bundesländer, in Schwerin, Magdeburg, Erfurt und Dresden hat. Für Brandenburg wurde eine auch aus regional-und strukturpolitischen Gründen sinnvolle Abweichung beschlossen: Für den zukünftigen DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg liegt die koordinierende Funktion beim jetzigen Landesbezirk Berlin.

Insgesamt unterhält der DGB derzeit 35 Büros in der DDR, deren Aufgabe der Aufbau zukünftiger Strukturen ist. Wenn auch Abweichungen von der bisherigen Planung durchaus noch möglich sind, ist davon auszugehen, daß der DGB in den neuen Bundesländern ca. 35 DGB-Kreise errichten wird und daß im Prinzip die territoriale Neugliederung der ehemaligen DDR Grundlage für die DGB-B Strukturen sein wird. Der DGB bemüht sich dabei darum, die neuen Strukturen technisch auf einen möglichst hohen Stand zu bringen, was erhebliche Anstrengungen bei der Schulung vor allem des Verwaltungspersonals voraussetzt.

Keineswegs leicht gestaltet sich die Suche nach eigenem Personal. Kurz vor der Einheit hatte der DGB gerade eine Organisationsreform eingeleitet, die u. a. die Zusammenlegung von DGB-Kreisen in Westdeutschland und die „Straffung“ des Personal-bestandes vorsah. Vor allem die Aufwendungen für Personalkosten waren in ein Mißverhältnis zu den zur Verfügung stehenden Sachmitteln geraten. Die neuen Anforderungen trafen also eine Organisation, die keineswegs aus dem „Vollen“ schöpfen konnte.

Für die ersten Schritte des Neuaufbaus ist erfahrenes Personal aus den westlichen Bundesländern unverzichtbar. Gleichzeitig aber blieb klar, wie wichtig für die Durchsetzung der neuen Gewerkschaften die Identifikation der Mitglieder mit ihren Gewerkschaften sein würde. Das bedeutet auch die sorgfältige Suche nach geeignetem Personal aus dem Gebiet der ehemaligen DDR. Ohne große Anstrengungen im Bereich von Schulung und Bildung ist diese Aufgabe nicht zu lösen. Aus dem Stand also konnten für die Übernahme organisationspolitischer Aufgaben Ortskräfte nicht eingestellt werden. Ehemalige hauptamtliche FDGB-Funktionäre wurden nicht übernommen. In der Regel treffen sie auf Ablehnung bei den Arbeitnehmern, und die Art von Erfahrungen, die sie in ihrer Tätigkeit beim FDGB sammelten, entsprechen keineswegs den Erfahrungen, die nun gefragt sind. So müssen die Gewerkschaften also das Kunststück fertigbringen, weitgehend mit Westpersonal die erste Phase des Aufbaus, der in die Zeit einer tiefgehenden und folgenreichen Anpassungskrise fällt, mit einem hohen Maß an personalpolitischer Improvisation zu überbrücken.

Aber auch die aus dem Westen entsandten Gewerkschaftssekretärinnen und Gewerkschaftssekretäre konnten nicht aus dem Stand an die Arbeit gehen. Sie trafen auf eine ihnen reichlich fremde Umgebung, auf eine ihnen nicht vertraute Mentalität und auf infrastruktureile Bedingungen, die weder dem entsprachen, was sie gewohnt waren noch dem, was erforderlich war. Vermeintlich banale Alltags-schwierigkeiten begleiteten den Start: erhebliche Schwierigkeiten im Telefon-und Briefverkehr, teilweise desolate Arbeitsbedingungen, träge und teilweise nicht funktionsfähige Dienstleistungssysteme, Probleme bei der Beschaffung von Wohnraum. Am schwersten aber wog die hohe Erwartungshaltung dem DGB und seinen Gewerkschaften gegenüber — eine Erwartung, die auch bei höchstem Einsatz und bei bestem Willen nicht erfüllt werden konnte.

Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften unterhalten ihre Büros, von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen, in ehemaligen Gewerkschaftshäusem. Natürlich sind die Nutzungsmöglichkeiten in diesen Häusern eine entscheidende Voraussetzung für den Aufbau der gewerkschaftlichen Organisation. In diesem Zusammenhang erhebt der WestBerliner Historiker Hans Hermann Hertle den Vorwurf, der DGB strecke seinen langen Arm auf das Vermögen des ehemaligen FDGB aus Das von Hertle unterbreitete Material erhärtet diesen Vorwurf nicht. In diesem Punkt muß sich Hertle den Verdacht der Legendenbildung gefallen lassen: Der DGB erhebt Rechtsanspruch auf das Vermögen, das seinen Vorgängerorganisationen, vor allem dem ADGB und dem DGB, vor 1933 gehörte und das von den Nazis enteignet worden war. Diesen Rechtsanspruch hat der DGB den zuständigen Stellen gegenüber geltend gemacht. Darüber hinaus erhebt er keinerlei Ansprüche, schon gar nicht auf Gebäude, die vom FDGB errichtet und auf die eine oder andere Weise finanziert worden sind. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, daß die vom DGB zu Recht beanspruchten Gewerkschaftshäuser sich in einem so desolaten Zustand befinden, daß erhebliche Investitionen erforderlich sind, um sie überhaupt wieder funktionsfähig zu machen.

Zum 1. Dezember 1990 bestellte der DGB-Bundesausschuß für die neuen Bundesländer Beauftragte, die bis zur Entscheidung über die zukünftigen territorialen Strukturen gewerkschaftspolitische Sprecher gegenüber den neuen Landesregierungen sind und den Aufbau der Strukturen in den neuen Ländern verantwortlich koordinieren. Dieser Schritt war vor allem auch deshalb erforderlich, weil die Gewerkschaften nicht bis zum endgültigen Aufbau der gemeinsamen DGB-Strukturen warten können, um gebündelt die Interessen der Arbeitnehmer den neuen politischen Gremien gegenüber zu vertreten: in der Regional-, Struktur-und Wirtschaftspolitik, der regionalen Treuhand gegenüber, in der Bildungs-und Ausbildungspolitik, bei der Entwicklung von Beschäftigungs-und Qualifikationsgesellschaften, in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Bildung und Ausbildung sowie in der Kultur-und Medienpolitik.

Die Präsenz der neuen Gewerkschaften in der ehemaligen DDR ist in dieser Phase des Neuaufbaus von besonderem Gewicht, weil es gerade jetzt einen dramatischen Bedarf an einer wirkungsvollen, unabhängigen und glaubwürdigen Interessenvertretung gibt. Von der Erfüllung dieser Aufgabe hängt viel ab. nicht zuletzt auch der Erfolg des keineswegs risikofreien Unternehmens „deutsche Einheit“, das ohne die glaubwürdige Aussicht auf absehbare gleiche Lebens-und Arbeitsbedingungen nicht realisierbar ist.

V. Der Rechtsschutz als eine vordringliche gewerkschaftliche Aufgabe

Die Mitglieder in einer Gewerkschaft des DGB haben einen in den Satzungen festgelegten Anspruch auf die Gewährung von Rechtsschutz. Dieser Anspruch bezieht sich auf die Rechtsauskünfte und Rechtshilfe (Prozeßhilfe. Anfertigung von Schriftsätzen usw.) und erstreckt sich auf alle Fragen aus dem Arbeits-oder Dienstverhältnis des Mitglieds, aus der Sozialversicherung, auf Versorgungs-und Sozialhilfesachen sowie auf Lohnsteuer-fragen. Die unmittelbare Einführung des westdeutschen Arbeitsrechts auf das Gebiet der ehemaligen DDR stellte den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften vor eine Reihe schwer lösbarer Probleme: — Während im früheren Bundesgebiet die gesamte Arbeits-und Sozialrechtspflege auf etwa 120 Gerichtsorte konzentriert ist, sind in den neuen Bundesländern nach wie vor die Kreisgerichte auch für das Arbeits-und Sozialrecht zuständig. Die Gesamtzahl dieser Gerichte beträgt 240, so daß jede Rechtsstelle des DGB eine Vielzahl von räumlich weit auseinanderliegenden Gerichten zu betreuen hat.

— Mit dem neuen Arbeitsrecht vertrautes Fachpersonal war in den neuen Bundesländern so gut wie nicht zu finden. So mußte im wesentlichen auf den Personalbestand des DGB zurückgegriffen und Rechtsschutzpersonal (mehrheitlich für eine begrenzte Zeit auf freiwilliger Grundlage) nach Ostdeutschland versetzt werden. Ende Januar 1990 waren 75 hauptamtliche Rechtsschutzsekretäre in den neu aufgebauten Büros tätig.

— Zugweise wird derzeit zur Ausbildung geeignetes Personal in Ostdeutschland angeworben, das parallel zur Rechtsschutztätigkeit eine Praxisausbildung erfährt (im „Tandem“ mit versierten westdeutschen Kollegen) und in das westdeutsche Arbeitsrecht in speziellen Lehrgängen eingeführt wird. Auf Personal aus den ehemaligen DDR-Gewerkschaften kann dabei aus politischen und fachlichen Gründen in der Regel nicht zurückgegriffen werden, so daß ein personeller Neuanfang unumgänglich ist. — Ein erhebliches und für die nächste Zeit dauerhaftes Problem für den gewerkschaftlichen Rechtsschutz ist dabei der nur zugweise überwindbare personelle Engpaß und die sprunghaft ansteigende Zahl von Rechtsschutzsuchenden (vor allem im Zusammenhang mit Entlassungen). Der zeitweise faktisch „arbeitsrechtsfreie Raum“ und ein gewisser „Stillstand der Rechtspflege“ im Zusammenhang mit der Ablösung des alten Rechts führte des weiteren zu einer nicht gerade kleinen Zahl von Rechtsstreitigkeiten besonderer Art.

Grundsätzlich zeigt sich beim Aufbau des Rechtsschutzes ein Gestaltungsproblem, das für den Prozeß der Herstellung der Einheit insgesamt typisch ist: der Mangel an Zeit, der für den Aufbau neuer Strukturen zur Verfügung steht, und der rapide größer werdende Berg von Problemen.

Der Rechtsschutz ist nur eine der zentralen Aufgaben des DGB. Beim Aufbau des DGB in der ehemaligen DDR ist es für die zukünftige Entwicklung des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften deshalb von Bedeutung, daß er sich nicht durch „die normative Kraft des Faktischen“ auf die Qualität einer reinen „Rechtsschutzversicherungsgemeinschaft“ abdrängen läßt.

VI. Über die Befindlichkeit der Menschen

Die Phase der Ernüchterung nach der Anfangs-euphorie über die deutsche Einheit droht lang zu werden. In allen Lebensbereichen wird sichtbar, welche Schwierigkeiten sich im Umgang miteinander nach Jahrzehnten systematischer Trennung und Auseinanderentwicklung auftun. Vor allem für die Gewerkschaften, die Organisationen sind, die sich nicht einfach am Reißbrett entwerfen lassen, sondern die von der Zustimmung und der Mitwirkung der Menschen abhängig sind, ergeben sich Barrieren, die den gewerkschaftlichen Neuaufbau — und das ist mehr als die Ausdehnung westdeutscher Gewerkschaftsstrukturen auf den Ostteil der Bundesrepublik — komplizieren.

Die „alten Kader“ der ehemaligen DDR-Gewerkschaften fallen als „gewerkschaftliche Personalreserve“ weitgehend aus. Sie sind weithin so diskreditiert wie die Organisationen, für die sie gearbeitet haben. Ausnahmen bekräftigen da die Regel. Bis hin in die betrieblichen Strukturen (Betriebsgewerkschaftsleitungen) war klar:

Die Gewerkschaften hatten den Auftrag der Disziplinierung der Beschäftigten im Sinne der Partei. Auch die FDGB-Strukturen hingen quasi halbamtlich am Tropf der allgegenwärtigen Staatssicherheit. Führende FDGB-Funktionäre waren bis hinunter auf die lokale Ebene mit den Strukturen des Staats-und Parteiapparates aufs engste verbunden. Sie in den DGB zu übernehmen, hätte bedeutet, den gewerkschaftlichen Neuanfang mit einer schweren Hypothek zu belasten.

Die Suche nach haupt-und ehrenamtlichen Mitarbeitern für den DGB ist andererseits aber eine der wichtigsten Aufgaben, denn auf Dauer werden sich die Menschen in der ehemaligen DDR nicht mit Organisationen anfreunden können, an deren Schalthebeln samt und sonders Westdeutsche sitzen. wobei unbestritten ist. daß für die Aufbauphase die Mitwirkung erfahrener Gewerkschafter aus Westdeutschland auf allen Ebenen unverzichtbar bleibt. Eines der schwierigsten Momente bei der Auswahl geeigneter Menschen ist dabei die persönliche „Gewissenserforschung“. Auf der einen Seite des Tisches sitzen diejenigen, die durch eine gewisse „geopolitische Gnade“ am Ende des Krieges auf der Westseite der Elbe lebten oder dort geboren wurden — auf der anderen Seite des Tisches diejenigen, die unter den Bedingungen des Systems östlich der Elbe Zugeständnisse gemacht und sich Anpassungen unterworfen haben, die dem Gegenüber in dieser Form erspart geblieben waren. Da hat das Recht auf politische Ausforschung seine Grenzen, denn es besteht die Gefahr, Befragungen in Inquisitionen zu pervertieren, und da werden oft hohe Rösser gesattelt, die besser im Stall geblieben wären.

Andererseits: Mit der Unbekümmertheit, mit der manche Unternehmen sich in Ostdeutschland ihre Personallisten zusammenstellen, können Gewerkschaften nicht zu Werke gehen. Am Ende werden Menschen in gewerkschaftlichen Funktionen sein, die von den Mitgliedern legitimiert sind. In der Zeit bis dahin — für die DGB-Strukturen wird der Aufbau der Grundstrukturen (DGB-Kreise und Landesbezirke) Mitte nächsten Jahres abgeschlossen sein — muß die gewerkschaftliche Personalpolitik behutsam und vorsichtig geführt werden, denn gravierende Fehler in der Personalpolitik können den Vertrauensvorschuß, den die Menschen in den neuen Bundesländern den für sie neuen Gewerkschaften entgegenbringen, schnell wieder abbauen.

Die sehr viele Menschen bedrohende Arbeitslosigkeit wirkt sich nachteilig auf die Beteiligung und das Engagement in den gewerkschaftlichen Strukturen aus. Was die Betriebsräte angeht, so hat sich die Lage langsam konsolidiert. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß viele Arbeitnehmer sich in ihrem Engagement zurückhalten, nicht zuletzt aus Angst vor einem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Darüber hinaus ist die Neigung, sich in den selbstverwalteten Einrichtungen (Beisitzer an den Arbeitsgerichten oder in den selbstverwalteten Gremien der Sozialversicherung) zu beteiligen, sehr gering. Diese aus Westdeutschland importierten Strukturen werden oft als „übergestülpt“ und fremd betrachtet, deren Sinn sich den Menschen noch weithin verschließt. Im Zusammenhang mit den zunehmenden sozialen Spannungen jedoch, die sich derzeit noch in friedlichen Massendemonstrationen ausdrücken, ist ein steigendes Maß an Mobilisierung und der Fähigkeit zur Selbstorganisation zu beobachten. Das wird sich auch in den Aktiva der gewerkschaftlichen Arbeit niederschlagen. Entscheidend wird sein, ob sich aus der zweifellos bevorstehenden sozialen Protestbewegung gestaltende Kraft entwickeln läßt, die durch starke Gewerkschaften zum Nutzen der Arbeitnehmer in wirkungsvolle Einflüsse auf die Politik umgesetzt werden kann.

Es ist derzeit sehr in Mode, die „Befindlichkeit“ der Menschen in der ehemaligen DDR in den Mittelpunkt der Erörterungen über die Entwicklung in Deutschland zu rücken. Sicher macht es sehr viel mehr Sinn, sich mit den real vorhandenen Verhältnissen zu befassen und auf ihre Verbesserung hinzuwirken, doch müssen dabei auch einige spezifische „Mentalitäten“, die typisch für viele Menschen in Ostdeutschland sind, in Rechnung gestellt werden.

Der Ostberliner Psychologe'Wolfgang Nitsche, ein Mann aus der Bürgerbewegung, hat sich in einem Thesenpapier für den DGB-Bundesvorstand zu einigen Aspekten dazu geäußert: „Die Anpassung der DDR-Bürger an das herrschende System war zugleich eine Anpassung an die Rückständigkeit dieses Systems. In dem Sinne, in dem in der BRD nicht nur Maschinen, Infrastruktur etc., sondern eben auch die Menschen moderner sind, in dem Sinne sind in der DDR nicht nur Maschinen, Infrastruktur etc., sondern auch die Menschen rückständiger. Diese Rückständigkeit des DDR-Bürgers ist ein komplexer Sachverhalt, ein kulturelles Phänomen, das einem (als BRD-Bürger) natürlich nicht bei jedem, aber doch bei vielen DDR-Bürgern auffallen wird. Dieses Phänomen macht die Verständigung und Zusammenarbeit von BRD-und DDR-Bürgern oft schwierig, manchmal sogar unmöglich. Dem BRD-Bürger stellt es sich als Mangel an sozialer und/oder fachlicher Kompetenz, als befremdliche Denk-oder Verhaltensweise dar, der DDR-Bürger empfindet diese kulturelle Konfrontation als Entwertung seines Wissens und seiner Erfahrungen, seiner Denk-und Verhaltensweisen.“

Der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz hat zum gleichen Thema eine sehr pointierte und provozierende Theorie aufgestellt. Nach seiner Ansicht sind die Ostdeutschen autoritätsabhängig und gefühlsgehemmt, was auf „verdrängte massive Aggressivität“ zurückzuführen sei, die sich hinter einer sozialen Fassade von Wohlanständigkeit, Disziplin und Ordnung verberge. Maaz schreibt: „Der real existierende Sozialismus war die Lebensweise eines ganzen Volkes, die als großes tragisches Szenario in verschiedenen Rollen aufgeführt wurde: die-kriminellen Machthaber, die erfolgssüchtigen Karrieristen, die gehemmten und angepaßten Mitläufer, die von einer Illusion zur anderen jagenden Flüchtlinge, die sich im Protest verzehrenden Oppositionellen und die abgehobenen Utopisten. Alle gehörten zusammen, stützten und bedingten sich gegenseitig, verkörperten abgespaltene Teile des Ganzen, und keiner konnte ohne den anderen leben. Die Entfremdung, Spaltung und Blockierung haben die selbstorganisierende Ganzheit zerstört und den fließenden Wechsel in verschiedenen Rollen einer Solidargemeinschaft unmöglich werden lassen.“

Dieses gnadenlose Psychogramm enthält Beschreibungen, die auch auf die westdeutsche Gesellschaft zutreffen könnten. Insofern wäre ein gemeinsamer Therapieversuch so ganz falsch nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses über Amtsmißbrauch und Korruption (im Auftrage des FDGB).

  2. Ebenda.

  3. Ebenda.

  4. Sachverständigengutachten 1990/91.

  5. Ebenda.

  6. Wirtschafts-und beschäftigungspolitisches Sofortprogramm für die neuen Bundesländer (Informationen zur Wirtschafts-und Strukturpolitik des DGB-Bundesvorstandes. 6. 2. 1991).

  7. Ebenda.

  8. Vgl. Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung. Nr. 45/Januar 1991.

  9. Manuskript, vorgelegt zur Klausurtagung des DGB-Bundesvorstandes am 22. Januar 1991.

  10. Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau — Ein Psychogramm der DDR. Berlin 1990. S. 133.

Weitere Inhalte

Peter Seideneck, geb. 1941; Referatsleiter für europäische Gewerkschaftspolitik beim Bundesvorstand des DGB. Düsseldorf. Von September 1990 bis Ende Februar 1991 Leiter der Außenstelle des DGB-Bundesvorstandes in Berlin (Ost). Veröffentlichungen zu europapolitischen und deutschlandpolitischen Themen in verschiedenen gewerkschaftlichen Publikationen des In-und Auslandes.