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Psychosoziale Aspekte im deutschen Einigungsprozeß | APuZ 19/1991 | bpb.de

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APuZ 19/1991 Psychosoziale Aspekte im deutschen Einigungsprozeß Zur moralisch-politischen Erneuerung im Einigungsprozeß. Anregungen aus katholischer Sicht Protestantische Kultur und DDR-Revolution Bürgerbewegungen, politische Kultur und Zivilgesellschaft Das „Immunsystem“ des „real existierenden Sozialismus“

Psychosoziale Aspekte im deutschen Einigungsprozeß

Hans-Joachim Maaz

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der „Stalinismus“ in der DDR war mehr als eine historisch abgeschlossene politische Deformationserscheinung eines durch und durch repressiven Staates. Das autoritäre System bestimmte die gesamte ostdeutsche Alltagskultur und suchte seine Bürger über Manipulation und Entrechtung in der Entmündigung kleinzuhalten. In familiärer und schulischer Erziehung wurden dadurch schwerwiegende und langfristig wirkende psychische Schäden verursacht. Die politische „Wende“ im November 1989 und die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 haben keinen neuen, selbstbestimmten Menschen hervorgebracht. Neben der politischen Unerfahrenheit nach vierzig Jahren Diktatur ist es psychische Unreife, sind es jahrzehntelang gefestigte Persönlichkeitsmerkmale und einstudierte Verhaltensweisen, die ein bewußtes Hineinwachsen der ehemaligen DDR-Bürger in die Demokratie erschweren. Nicht Mündigkeit, sondern Unsicherheit ließen die Menschen nach Hilfe von außen rufen und äußere Wohlstandssymbole als Fetische des Wechsels nahezu kritiklos begrüßen. Voraussetzung einer wirklich revolutionären Überwindung des diktatorischen Systems wäre jedoch eine „innere Demokratisierung“, die als innerseelischer Vorgang mit Verringerung von Verdrängungen, Projektionen und Abspaltungen und als Überwindung autoritär-abhängiger Strukturen im zwischenmenschlichen Zusammenleben zu verstehen ist. Im Vereinigungsprozeß treffen die ostdeutschen psychosozialen Folgezustände auf Verhaltensstrategien der Westdeutschen, die, vom Konkurrenz-und Leistungsdruck der Marktwirtschaft geprägt, ihre gewinnorientierten ökonomischen Interessen kaum hinter politischen Versprechungen und schönfärberischen Formulierungen verbergen können. Die deutsche Vereinigung muß aus psychosozialer Sicht als ein Problem aller Deutschen verstanden werden, nicht nur der Ostdeutschen, denn psychosoziale Störungen sind auch im westlichen Wohlstandsstaat festzustellen. Die Vorzüge des westlichen Systems sind nicht gegen die Nachteile des östlichen in Rechnung zu stellen. Es geht folglich „um die Gesellschaftskonzeption insgesamt“, um eine gründliche gesamtdeutsche Überwindung kollektiver psychosozialer Verdrängungsmechanismen und beidseitiger Systemfehler der Vergangenheit. Vor dem Hintergrund der globalen Probleme ist zu hoffen, daß aus den deutsch-deutschen Annäherungsschwierigkeiten Anstöße zu einer neuen Gesellschaftskonzeption erwachsen.

I.

Der „real existierende Sozialismus“ wurde schon bald nach der „Wende“ im November 1989 als „Stalinismus“ bezeichnet. Darin drückte sich das Bemühen aus, die schwerwiegende Gesellschaftsdeformation in die Vergangenheit zu verbannen (die Stalinismus-Ära sei beendet) und auf wenige Schuldige (die stalinistische Politbürokratie) zu projizieren. Doch dies ist ein psychischer Schutz-und Abwehrmechanismus oder auch nur eine einfache Lüge, die von der Tatsache ablenken will, daß sich den repressiven Einflüssen des Systems kaum einer ohne Schädigung entziehen konnte. Denn „Stalinismus“ bedeutete eine Lebensweise, die nicht nur die Politik beherrschte, sondern alle Bereiche der Gesellschaft beeinflußte und deformierte, bis zur Kultur des alltäglichen Zusammenlebens und bis in die innerseelischen Strukturen hinein. Unter der Schutzbehauptung des „demokratischen Zentralismus“ wurde vor allem durch repressive Macht, Ängstigung, Einschüchterung, Kontrolle und Überwachung ein autoritäres System etabliert, das sich durch Manipulation, Bevormundung und Entmündigung seiner Bürger am Leben erhielt und dabei schwerwiegende psychische Schäden verursacht hat.

Wer im „real existierenden Sozialismus“ überleben wollte, der mußte sich an einengende Normen auf Kosten der eigenen Natürlichkeit, Lebendigkeit und Echtheit anpassen. Permanenter moralischer Druck, unterstützt durch Strafandrohungen und reale Strafen, meist fern von jeder Rechtsstaatlichkeit, haben den meisten Menschen keinen Raum mehr gelassen, die eigene Individualität zu entwikkeln. Sie mußten sich verstellen, anpassen und unterordnen, schließlich auch verdrängen, ausblenden und rationalisieren. Das Individuelle sollte sich dem Kollektiv unterordnen und das Subjektive war gegenüber der Allmacht einer Partei oder einer sogenannten „wissenschaftlichen Objektivität“ überhaupt nicht gefragt. Die meisten Menschen haben sich schließlich angepaßt, um halbwegs in Ruhe gelassen zu werden. So waren alle mehr oder weniger Opfer und haben mit der eigenen Anpassung die Deformierung als Täter fortgetragen. Die Täterschaft, die sich aus der psychischen Fehlentwicklung ergibt, wird oft vergessen und ihre Tragweite meist unterschätzt.

Die repressiven Normen der Gesellschaft haben nicht nur die Politik beherrscht, sondern sind vor allem auch in der Erziehung, in den Kinderkrippen, Kindergärten und in den Schulen durchgesetzt worden und haben auch in breitem Umfang die familiären Verhältnisse bestimmt. Teils waren die Eltern selbst noch durch die gesellschaftliche Pathologie im Dritten Reich charakterverformt und kannten nur autoritäre Erziehungsstile, andere sahen zum Schutze ihrer Familie und Kinder keinen anderen Weg, als ihren Nachwuchs in die bittere soziale Realität einzufügen -viele Eltern berichteten jedenfalls von ihrer Not, von ihren Kindern Verhaltensweisen abverlangt zu haben, die von der Schule und vom Staat gefordert waren, ohne daß sie diese selbst bejahen konnten. Die Erziehung zur Heuchelei, zur Doppelzüngigkeit und unechten Fassade, zur Unterordnung und Anpassung war jedenfalls die Regel. Uns haben Menschen durchgängig von repressiven Erziehungserfahrungen unter dem Motto berichtet: Du darfst nicht sein und werden, wer du bist, sondern du mußt das werden, was wir von dir erwarten. Alle kannten Anpassungsdruck, vor allem seelischen Druck, aber mitunter auch körperliche Gewalt, womit die Mächtigen ihre Meinung durchgesetzt haben. Es herrschte grundsätzlich die Doktrin: Wir sagen dir, was richtig und falsch ist, was du denken, sagen, fühlen und tun darfst. Dabei spielte die Unterdrückung von Gefühlen eine wesentliche Rolle, die mit dem Zwang zur Selbstbeherrschung, Disziplin und Ordnung verbunden war. Viele Menschen fühlten sich in ihrer Kindheit niemals richtig angenommen und verstanden, sie sahen sich vor allem in ihren psychosozialen Grundbedürfnissen nicht hinreichend befriedigt. Statt dessen wurden sie lediglich zur Erfüllung der Erwartungen des Staates und der Eltern genötigt.

Auf diese Weise wurden Entfremdung und ein chronisches Mangelsyndrom -ein Defizit an Befriedigung von Grundbedürfnissen -erzeugt, das die Menschen labil, selbstunsicher und abhängig machte. Damit fehlte es ihnen an Vertrauen, Gewißheit, innerer Sicherheit und Selbstwertgefühl. Statt dessen blieb ein chronischer Spannungszustand mit latenter Gereiztheit und Unzufriedenheit bestehen, der in den beiden häufigsten Fehlhaltun-gen getilgt werden sollte: Einerseits versuchte man, sich durch Leistung „Liebe“ zu verdienen, wobei Anpassung, Unterordnung, Disziplin und Anstrengung als Tugenden gefeiert wurden, um das innere Elend und Defizit wenigstens in äußeren fragwürdigen Erfolgen mit Karriere, Prämien und Orden zu beschwichtigen. Die andere Variante drückte sich vor allem in Gehemmtheit, Selbst-unsicherheit,Hilflosigkeit und mangelnder Selbstbestimmung aus, die auch in Bequemlichkeit, passivem Widerstand und Versorgungsmentalität kultiviert wurde. Es war dies häufig der stille Protest gegen autoritäre Erziehung und vormundschaftlichen Staat. Die hilflose Flucht nach vorn oder der resignierte Rückzug waren die Reaktionen auf äußere und innere Unfreiheit.

II.

Es war faszinierend mitzuerleben, wie im Herbst 1989 Tausende von Menschen ihre Deformierung, zumindest für kurze Zeit, überwinden konnten. Die allseitige Systemkrise und die anhaltende Fluchtwelle hatten bei vielen Menschen im Schutz-raum der Massen wieder aufrechte Haltung, klare Worte und spontane Emotionen aktiviert, wie sie in solchem Umfang zuvor noch nie erlebt worden waren. Allerdings war die „Revolution“ mit der Grenzöffnung beendet. Seitdem ist die innere Demokratisierung -sowohl im Land als auch in den Seelen -im wesentlichen vorbei. Die ganze gesellschaftliche und individuelle Misere sollte durch die langersehnte äußere Freiheit getilgt werden. Man wich der Auseinandersetzung mit der inneren Problematik aus, indem man auf äußere Veränderungen hoffte: Kauf-und Reiserausch, der Ruf nach der D-Mark und der Glaube an ein eigenes Wirtschaftswunder in der DDR bestimmten die Vorstellungen vieler Menschen. Die Unerfahrenheit, mit demokratischen Verhältnissen umzugehen und psychische Unreife haben die wirkliche Revolution verhindert, so kam es lediglich zu einem Machtwechsel und zu einer „Adoption“ durch die Bundesrepublik.

Bereits in den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 zeichnete sich die Tendenz ab, daß auf äußere Rettung gehofft wurde, statt sich auf die eigene Gesundung zu besinnen. Wir hatten zwar freie Wahlen, aber wir waren noch längst keine freien Menschen. Wie wenig das Ritual „freier demokratischer Wahlen“ allein ausreicht, um wirklich neue Verhältnisse zu schaffen, wurde beschämend deutlich. Die demokratischen Wahlen haben nicht verhindern können, daß Stasi-Mitarbeiter in wichtige Funktionen gewählt wurden, von den politischen Wendehälsen gar nicht erst zu reden.

Das ehemalige DDR-System ist nicht im politischen Kampf beseitigt worden, sondern infolge von Mißwirtschaft, Enge, Verlogenheit und zunehmender Unglaubwürdigkeit einfach kollabiert, die wesentlichen tragenden autoritär-repressiven Strukturen der Gesellschaft sind dabei nicht wirklich überwunden worden. Zu einer gesellschaftlichen Demokratisierung kann es meiner Meinung nach nur kommen, wenn sie in den Seelen der Menschen beginnt. Und diesen Prozeß haben wir bisher nicht zustande gebracht, ja geradezu vermieden. Dies hätte nicht nur viel Mühe bedeutet, sondern auch schmerzhafte Auseinandersetzungen und bittere Erkenntnisse, die wir offensichtlich alle vermeiden wollen, indem wir der Illusion folgen, es gäbe einen leichteren erfolgreichen Weg, wenn einfach westliche Verhältnisse übernommen werden.

Demokratie kann aber nicht wie ein Mantel über-gezogen werden, sondern muß in den Köpfen und Herzen wurzeln. Das setzt „Klarheit“ und „Reinheit“ voraus, und die erwerben wir nach 40 Jahren Diktatur eben nicht von einem Tag zum anderen. Dies bleibt für unsere Entwicklung eine schwere Hypothek und wird gefährlich, wenn man auf schnelle Erfolge hofft. Der von den Politikern verkündete Optimismus geht an der Realität vorbei, und viele Menschen reagieren mit neuem Mißtrauen und gereizter Verärgerung, weil ihre reale Situation sich zu einer psychosozialen Krise in ungeahntem Ausmaß ausweitet. Da können auch keine gutgemeinten Beteuerungen helfen, damit hatte bereits die SED die Massen verloren.

III.

Es kann kein Zweifel bestehen, daß die große Mehrheit der Bevölkerung in der ehemaligen DDR eine tiefe Genugtuung darüber empfindet, daß das belastende Unrechtssystem des „real existierenden Sozialismus“ zusammengebrochen ist, und es herrscht auch Freude und Erleichterung, daß wir die deutsche Einheit herstellen konnten. Aber der Vereinigungsprozeß beeinträchtigt die vorhandene Genugtuung und Freude erheblich, immer mehr bestimmen Gereiztheit, Unzufriedenheit und Ängste das soziale Zusammenleben. Die genauere Analyse dieser Stimmungslage läßt erkennen, daß vor allem die Ängste aus verschiedenen Quellen gespeist werden, wobei sich reale Ängste aus sozialen Bedrohungen und aktivierte neurotische Ängste aus der eigenen Lebensgeschichte vermengen.

Die Ängste aus den realen sozialen Bedrohungen lassen sich etwa folgendermaßen aufschlüsseln: -Angst wegen des drohenden oder bereits erfolgten Arbeitsplatzverlustes, -Angst vor Verlust der sozialen Sicherheit (Recht auf Arbeit, hinreichendes Einkommen, soziale Absicherung bei Krankheit, Invalidität und Behinderung, bezahlbare Mieten und Grundnahrungsmittel, Betreuung der Kinder in Kindergarten und Schulhort), -Angst vor drohendem Konkurrenzkampf und notwendiger beruflicher Umschulung, -Angst wegen des zunehmenden Werteverfalls, des Orientierungsverlustes und Autoritätsmangels, -Angst vor steigender Kriminalität, -Angst wegen wachsender sozialer Feindseligkeit (Fremdenhaß, Verschärfung sozialer Gegensätze und aggressiver Auseinandersetzungen mit politischen oder sozialen Rand-gruppen), -Angst wegen bekanntgewordener unfaßbarer ökologischer Katastrophen, -Angst vor Verfolgung wegen Mittäterschaft im stalinistischen Herrschaftssystem, -Angst und Mißtrauen wegen der Folgen der Stasi-Herrschaft (praktisch ist jeder Nachbar verdächtig und erst recht die neuen Politiker), -Angst, neue Zwänge übergestülpt, ein neues Gesellschaftssystem, eine neue Lebensweise oktroyiert zu bekommen.

In all diesen Ängsten drückt sich die angespannte psychosoziale Situation aus. Zum einen schlagen alle verheimlichten, vertuschten, beschönigten und tabuisierten Probleme und Lügen des „real existierenden Sozialismus“ mit voller Wucht ins Bewußtsein der Menschen: Die ständigen Erfolge, die Planübererfüllungen und Produktionssteigerungen erweisen sich als gefälschte Statistiken, als Schlendrian, als Mißwirtschaft, als Zehren von der Substanz und vor allem als gnadenlose Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Umwelt. Die Bauern haben eben nicht nur „Ernteschlachten“ regelmäßig gewonnen, sondern auch den Boden und das Grundwasser unerträglich belastet. Die ehemaligen Tabus der Gesellschaft (Elend, Leiden, Konflikte, Spannungen, Verbrechen, Mißerfolge, Verfall, Korruption, Bedrohung, Gefahr, Schwäche, Tod) werden aufgedeckt -über Wochen und Monate gab es Enthüllungen und Konfrontationen mit bisher vermiedenen Themen. Die Menschen mußten Machtmißbrauch und Korruption der ehemaligen Führung zur Kenntnis nehmen, sie erfuhren von Morden und Vernichtungslagern „stalinistischer“ Herrschaft, es wurde ein unvorstellbares System der Bespitzelung und Denunziation, der Kontrolle und Überwachung offenbar, wir hören von Kindesmißhandlungen, von Mißbrauch der Psychiatrie für politisch Verfolgte, von erbärmlichen Notzuständen in den psychiatrischen Kliniken, in den Alten-und Pflegeheimen und von der unser aller Leben bedrohenden Vergiftung und Verseuchung von Luft, Wasser und Boden.

Die Bürger der ehemaligen DDR sind mit Informationen und bitteren Wahrheiten konfrontiert, die einerseits Folge der gesellschaftlichen Fehlentwicklung sind, an der jeder ja irgendwie beteiligt war, und die andererseits durch den Wegfall der Zensur und der Fälschung in der Medienpolitik jetzt ganz real eine übermäßige emotionale und kognitive Verarbeitungsleistung erfordern, die für viele Menschen eine Überforderung darstellt.

Die durch die Politbürokratie verordnete Fehlinformation und Verleugnung im großen Stil korrelierte häufig mit innerseelischen Abwehrmechanismen (vor allem Verdrängung, Verleugnung, Ab-spaltung und Projektion); die vorhandenen eingeschränkten inneren Fähigkeiten der Konfliktverarbeitung sind durch die plötzliche und massive Konfrontation mit der äußeren Wahrheit überlastet und verursachen erheblichen psychosozialen Streß mit der Folge allgemeiner Labilisierung.

Man kann diese psychosoziale Situation zu den „Altlasten“ des Systems zählen. Aber mittlerweile stehen Verstimmungen aus den realen Erfahrungen der „Wende“ -Folgen im Vordergrund. Auf Umstellungsschwierigkeiten waren wohl viele eingestellt, nicht aber auf die „Abwicklungs“ -Praxis. Es ist schon beschämend genug, daß wir unseren „eigenen Dreck vor der Tür“ nicht selber bereinigen konnten, von der Absetzung und Bestrafung der kriminell Schuldigen im ehemaligen Apparat über die Erneuerung von Erziehung und Lehre, der Verhinderung der mafiosen Seilschaften, wenn es um die neuen Einflüsse und Pfründe geht, bis hin zu unserem eigenen gleichgültigen Schlendrian und der geduldeten Schmuddeligkeit in unseren Städten -auch dazu brauchen wir westdeutsche Hilfe.

Eine verbreitete Einstellung bei uns drückte sich in dem Ruf aus: Kommt, helft uns, saniert uns und macht uns wohlhabend! Hier sind in großem Umfang neurotische Störungen aktiviert, praktisch der Wunsch zur Fortführung unserer Abhängigkeit, Unselbständigkeit, zur Pflege von Minderwertigkeitsgefühlen und einer peinlichen Unterwerfungshaltung. Es ist die Fortführung dessen, was wir schon in der frühen Kindheit lernen und unter der Herrschaft der Politbürokratie erfahren mußten. Damit war eine illusionäre Überschätzung und Verkennung des Westens verbunden. Wir haben nur allzugern die positiven, glänzenden Seiten der erfolgreichen westlichen Wirtschaftskultur sehen wollen und hofften, wenn wir nur auch so leben könnten, dann würde alles gut, dann könnten auch unsere inneren Verletzungen ausheilen. Die negativen Seiten, die Härte des Konkurrenzkampfes, die Arbeitslosigkeit, die neue Armut, die Zweidrittelgesellschaft, die ökologische Krise, das Nord-Süd-Gefälle (als Folge einer expansiven Produktions-und Wachstumsideologie) wollten wir nicht wirklich zur Kenntnis nehmen oder haben es als bloße Propaganda der SED schnell abgetan.

Noch weniger haben wir allerdings danach gefragt, wie die Menschen im Westen wirklich leben, ob sie tatsächlich glücklicher und gesünder sind als wir. Wir waren froh und fanden es gerecht, wenn wir beschenkt wurden. Differenzierende Überlegungen werden auch heute kaum angestellt. Freiheit wird nur äußerlich begriffen, Wohlstand wird herbeigesehnt -aber um welchen Preis? Diese Frage wird ausgespart oder verleugnet.

Mit „Abwicklung“ ist ein Geschehen benannt, das praktisch die ganze ehemalige DDR betrifft. Der Beitritt zur Bundesrepublik bedeutet ja nichts anderes, als daß wir damit alle Rechte und Pflichten übernehmen, die aber nicht in uns und mit uns gewachsen sind. Es geht dabei nicht nur um das Erlernen neuer Bedingungen und Regeln, um das Verstehen und Hineinfinden in einen, in seinem Umfang nicht geahnten, bürokratischen Apparat; es geht auch um eine neue Fremdbestimmung mit der altbekannten Verheißung auf baldiges Glück. Selbst wenn sich diese Verheißung erfüllt -allmählich wird zugegeben, daß dies Zeit braucht -, hätten wir damit noch nichts wirklich gewonnen, weil wir nur wieder etwas von außen und oben übernommen hätten, ohne dabei politisch oder psychisch wirklich reifer geworden zu sein. Aber es ist in Wirklichkeit noch schlimmer. Wir drohen zu einem bloßen Absatzmarkt zu werden -wir sind dabei Opfer unserer eigenen irrationalen „Westgeilheit“ (alles aus dem Westen sei besser, so haben wir es immer phantasiert, um uns aus der Misere sozialistischer Mißwirtschaft hinwegzutäuschen), und einer westlichen Wirtschaftsdoktrin, die eben vorrangig gewinnorientiert handelt und sich wenig um die Menschen, ja nicht einmal um die Politik kümmert.

Was in der „Marktwirtschaft“ mit dem „sozialen Netz“ mühsam erkämpft wurde, und auch nicht aus bloßer Menschenliebe zustande kam, entlarvt sich bei uns noch einmal als nacktes kapitalistisches Profitstreben. Die sozialen Leistungsverpflichtungen, die Preise und Mieten steigen inzwischen unaufhörlich bei gleichzeitig wachsender Arbeitslosigkeit und geringen Lohn-und Gehaltssteigerungen. Mit welcher Gewinnsucht die Unkenntnis, geringe Erfahrung und Bedürftigkeit der ostdeutschen Menschen von unseriösen Händlern, aber auch von Banken und Versicherungen ausgenutzt werden, spottet jeder Beteuerung des wohlwollenden Interesses an unserer Zukunft und des Verständnisses für unsere Bedürfnisse. Mittlerweile kann fast jeder ehemalige DDR-Bürger sein Leid klagen über Übervorteilung, Betrug, gewinnträchtig aufschwatzende Suggestionen mit voreiligen Fehlentscheidungen. Zwischen politischen Versprechungen und Vereinbarungen und der nackten Wirklichkeit der ökonomischen Interessen besteht eben wie eh und je ein riesiger Unterschied.

Viele Menschen haben im vergangenen Jahr auch Angst vor Freiheit und Veränderung empfunden. Diese Problematik wurde bisher kaum berücksichtigt. Die neuen Verhältnisse nötigen zu Entwicklung, Auseinandersetzung und Neuorientierung. Aber genau das wurde bei uns bisher nicht gefördert, sondern stets unterdrückt, ja sogar bestraft, wenn jemand von sich aus initiativ und kreativ werden wollte, ohne dafür eine Anweisung von oben zu haben. Dieser Wandel in den geforderten Einstellungen verursacht massive Verunsicherungen. Äußere Freiheiten bringen eben nicht gleich innere Freiheit mit sich. Eigenschaften wie Eigenständigkeit und Selbstbestimmung müssen erst mühsam erarbeitet werden. Alte Gewohnheiten sind in der Regel tief verankert und können nicht einfach abgelegt werden. Wer dies vorgibt, der wendet sich nur an seiner Oberfläche. Er legt sich eine neue Maske zu, bleibt aber im Innersten seiner Vergangenheit« verhaftet, dann werden sich früher oder später die alten Strukturen wieder durchsetzen. Das war in meiner Arbeit die bitterste Erfahrung, daß wir zwar eine antifaschistische Propaganda und Staatsdoktrin hatten, aber dies noch längst nicht faschistische Charakterstrukturen auflösen konnte. Jetzt muß befürchtet werden, daß demokratisches Gebaren noch längst nicht eine demokratische Gesinnung oder gar Handlungskompetenz bedeutet. Politische und ökonomische Veränderungen allein schaffen noch keine grundlegend neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, dazu sind psychische Prozesse erforderlich, die Einsicht in Fehlentwicklung und Schuld ermöglichen, eine emotionale Verarbeitung erlauben und neues Verhalten einüben lassen.

IV.

Es ist die Frage, ob psychotherapeutische Erfahrungen und Deutungen für politische Prozesse ernstzunehmende Beiträge liefern können. Manche Kollegen leugnen eine politische Dimension ihrer therapeutischen Arbeit, die sich lediglich auf innerseelische Konflikte zu beziehen hätte, sie warnen vor einem möglichen Mißbrauch der Psychotherapie für politische Einflußnahme. Dies war in der ehemaligen DDR ein besonders „heißes Eisen“. Natürlich hatte das Staatssystem großes Interesse daran, auch die Psychotherapie in den Dienst der Anpassung, der konfliktdämpfenden Beruhigung der Menschen zu stellen und zur Orientierung auf die Normen der Gesellschaft zu mißbrauchen. Dies erklärt die fast vollständige Verdrängung der Psychoanalyse mit ihrem kritisch-emanzipatorischen Potential und auch die Abschottung gegen die modernen Methoden der humanistischen Psychologie, die ja Individuation, persönliches Wachstum, Reifung und Bewußtseinserweiterung befördern wollen, was vom totalitären SED-Regime bereits als subversiv und staatsgefährdend eingeschätzt wurde. Dagegen waren Methoden gefordert und erlaubt, die der Entspannung, Entängstigung, Dämpfung und Konfliktverdrängung dienten. Vor allem wurde die Medizin gefördert, die willfährig beruhigende Medikamente verordnete, um das vorhandene psychosoziale Konfliktpotential chemisch zu dämpfen.

Unter den Psychotherapeuten gab es natürlich heftige Auseinandersetzungen, die zwar überwiegend fach-und methodenbezogen ausgetragen wurden, aber eindeutig vor diesem politischen Hintergrund gesehen werden müssen. Die psychoanalytischen und tiefenpsychologisch fundierten Methoden konnten sich trotz aller Widerstände in der Praxis entwickeln, auch hier war es vor allem die akademisch etablierte Psychologie und Medizin, die diesen Prozeß nur allzugern behindert hätte und mit Diffamierungen nicht sparte. So waren die meisten praktisch tätigen Psychotherapeuten im ständigen Konflikt zwischen ihrem Wunsch und Auftrag nach gediegener und seriöser Arbeit mit den offiziellen Erwartungen.

Dies war für viele auch ein moralisches Problem, wenn sie notwendige Therapieziele wie Offenheit, Ehrlichkeit, Selbstbewußtsein, Eigenständigkeit und Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung beförderten -Ziele, die zur Überwindung unbewußter seelischer Konflikte als Ursache vielfacher Erkrankungen erforderlich sind -und zugleich wußten, daß solche Veränderungen dem Patienten zwar mehr Wohlbefinden und Gesundheit bringen konnten, aber zugleich seine soziale Situation in der repressiven Gesellschaft belasteten und gefährdeten. Patienten konnten also in der Therapie etwas lernen, wofür sie im politischen Alltag später angefeindet wurden. Wir Therapeuten waren ständig in Gefahr, den Patienten zuviel zuzumuten (und damit eigene subversive Wünsche über die Patienten auszutragen) oder die Patienten zur Anpassung an die bestehenden abnormen Verhältnisse suggestiv und manipulativ zu bewegen (um unsere eigene feige Anpassung nicht in Frage zu stellen). Auf der Grundlage dieser Erfahrungen war unsere Arbeit stets von politischer Brisanz, ohne daß politische Themen ausdrücklich behandelt werden mußten.

Individuelle Gesundheit förderte Bewußtheit und ein Verhalten, das den gesellschaftlichen Normen des „real existierenden Sozialismus“ widersprach. Die abverlangte Anpassung an das Gesellschaftssystem war zwangsläufig mit krankheitswertigen Einengungen, Gehemmtheiten und Charakterverbiegungen verbunden. Die Psychotherapiepatienten dürfen in diesem Zusammenhang als diejenigen verstanden werden, die den Unterwerfungsund Entfremdungsprozeß krisenhaft verarbeiteten und mit Symptomen reagierten, während andere die erzwungene Störung gegen Dritte austrugen -wobei der „Dritte“ jeder abhängige Nächste sein konnte. In manchen Fällen wurde die nicht wahr-genommene Störung auch so gegen die eigene Person gerichtet, daß dies erst in späteren psychosozialen Erkrankungen erkennbar wurde oder mit einer deutlichen Einbuße an Vitalität und Lebensfreude bezahlt werden mußte.

In meinen Publikationen nach der „Wende“ war ich bemüht aufzuzeigen, daß „Stalinismus“ die Lebensform eines ganzen Volkes war und niemand von den psychosozialen Folgen der Repression verschont bleiben konnte. Man kann und muß zwar Unterschiede machen zwischen strafrechtlich relevanten Folgen, moralischem Versagen und einfacher menschlicher Schwäche, aber selbst solche bedeutenden Unterschiede können nicht über unser aller Betroffenheit hinwegtäuschen. Darauf hat die aufmerksame Öffentlichkeit mit der Frage reagiert, ob nach meiner Auffassung ein ganzes Volk therapiert werden müsse. Mit dieser Fragestellung sehe ich eine Gefahr verbunden: Es könnte die Ernsthaftigkeit des notwendigen Nachdenkens mit dem Hinweis auf eine möglicherweise übertriebene, verallgemeinernde und unrealistische Deutung in Frage gestellt und die psychosoziale Dimension dieser Prozesse diffamiert werden. Ich sehe darin auch Abwehrvorgänge gegen eine mögliche und sehr wahrscheinliche Betroffenheit. Leider sind psychische Fehlentwicklungen im subjektiven Empfinden des einzelnen das kleinere Übel im Vergleich zur anstrengenden und schmerzlichen Arbeit des Wahmehmens, Erinnerns und Veränderns. Die Einsicht in eine abgewehrte innerseelische Problematik löst stets Angst, Wut, Scham und Trauer aus über angetanes Leid, über Einengungen und Verbiegungen, über Verluste und vertane Lebensmöglichkeiten.

Nur aus dieser Tatsache wird für mich verständlich, weshalb wir Menschen am selbstzerstörerischen Verhalten trotz besseren Wissens, trotz vorhandener Einsicht in die Schädlichkeit festhalten. Dies gilt für Individuen wie für ganze Gesellschaften, wenn man beispielsweise betrachtet, wie die Industrienationen auf die ökologische Katastrophe zusteuem, obwohl alle alarmierenden Daten längst bekannt sind. Das Gefühlsverbot spielt dabei eine große Rolle. Wir haben Gefühle nicht zulassen und differenziert ausdrücken lernen dürfen, sondern wir wurden in der Regel bestraft und verhöhnt, wenn wir Wut oder Schmerz zeigten. Die kollektiven Bemühungen der Leidensverdrängung geben indirekte Hinweise, wie sehr Leid und Not in jedem von uns stecken. Würden wir uns dem äußeren Leiden öffnen (die Umweltzerstörung, die Vergiftung, die Armut wirklich fühlen), würden wir auch unser eigenes inneres Leiden wieder spüren müssen. Deshalb bleiben wir lieber verschlossen, gehen auf Distanz und bemühen uns höchstens um symptomatische Maßnahmen der „Bekämpfung“, ohne wirklich etwas zu verändern.

V.

Anhand der Wende-und Vereinigungspolitik läßt sich dieser kollektive Verdrängungsmechanismus zur Zeit in Deutschland unmittelbar beobachten. Dabei spielen die Ost-und Westdeutschen zwei Rollen in demselben Drama, sie stellen nur zwei unterschiedliche Seiten der gleichen Medaille dar. Wir wollen keine wirkliche Einsicht in unsere Betroffenheit und Schuld, in unsere Einengungen und Verbiegungen, sondern wir wollen „schnelle Erlösung“. Der Abwehrcharakter unseres Verhaltens wird zum Beispiel im Autokaufrausch deutlich: Wir wollen die besseren und stärkeren Autos und haben weder die Straßen, die Parkplätze noch wirklich das Geld dazu, das wir jetzt für wichtigere Dinge dringend brauchen würden. Wir meinen die Freiheit zu wählen und bleiben im Stau stecken. Das Auto scheint uns wichtiger als unsere Zukunft und erst recht bedeutsamer als die Art und Weise unseres Zusammenlebens.

Die schnelle Vereinigung, das Bemühen, die Vergangenheit zu verdrängen (z. B. das Gerede über eine Generalamnestie und die Verleugnung der millionenfach zerstörten und belasteten menschlichen Beziehungen, wie sie durch die Stasi-Akten deutlich werden könnten, die Aufwertung einer Blockpartei zur Machtpartei) sind nur einige Indiien, wie stark das Bedürfnis sein muß, uns schnell in eine neue Sicherheit zu flüchten. Dies wurde vor allem auch von westlicher Seite gefördert und damit eine eigenständige, allmählich reifende Entwicklung bei uns verhindert. Zur Entschuldigung wurden ökonomische Zwänge, die realpolitische Lage und der Wunsch der Menschen nach schneller Vereinigung angegeben, aber es sollte wohl auch die endgültige Überlegenheit der westlichen Kultur und Lebensweise demonstriert und gesichert und damit jede mögliche kritische Anfrage für lange Zeit verdrängt werden. Vor allem die „Linken“ im Westen sind enttäuscht, daß wir ihre revolutionären Hoffnungen nicht umgesetzt haben und daß aufgrund unserer mangelnden politischen Kultur ein erheblicher Rückschlag in ganz Deutschland geschieht. Die gemeinsame deutsche Vergangenheit hatte im Nationalsozialismus ihre bisher schlimmste gesellschaftliche Fehlentwicklung. Daran war der größte Teil des deutschen Volkes nicht nur als Opfer beteiligt. Daher muß man auch nach der Bewältigung dieser massenhaften Abnormität fragen. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bot die Spaltung Deutschlands die Möglichkeit, eine wirkliche Vergangenheitsbewältigung zu vermeiden. Die Amerikaner verpflichteten die Westdeutschen zur parlamentarischen Demokratie und eröffneten ihnen die Chance zum „Wirtschaftswunder“, die Russen zwangen die Ostdeutschen zum Aufbau des Sozialismus und unter eine ideologische Vorherrschaft -beide Seiten waren nicht nur mit der Gestaltung der Gegenwart voll beschäftigt, so daß die Vergangenheit sofort verblassen konnte, sie wurden auch zur gegenseitigen Feindschaft und zu wechselseitigen Vorurteilen erzogen. Mit den neuen äußeren Feindbildern konnte das latente Böse in den einzelnen Menschen unter Kontrolle gebracht und nach außen abgelenkt werden. Zu diesen wechselseitigen Projektionen gesellten sich alsbald auch Chancen zur Abspaltung: Wir konnten unser inneres Elend, unsere Einengung, die Feigheit und den Opportunismus mit den Verhältnissen entschuldigen und unsere nicht gelebte Freiheit über die Mauer schieben. Die Westbürger brauchten dagegen ihre innere Armut, ihre Kleinheit und Schwäche nicht auf sich selbst beziehen, weil sie diese Eigenschaften als Merkmale der Ostdeutschen delegieren konnten.

So haben wir gegenseitig dazu beigetragen die Last unserer Vergangenheit zu verschleiern. Im Westen wurden unliebsame Kritiker bedroht: Dann geh doch rüber in den Osten! Bei uns wurden Dissidenten zu „vom Imperialismus gesteuerten Klassen-feinden“ erklärt oder in den Westen „ausgebürgert“. So ermöglichte die Existenz zweier deutscher Staaten beiden Systemen eine Herrschaftsstabilisierung zur Verhinderung grundlegender kritischer Anfragen an die Gesellschaftskonzeption und die Vergangenheitsbewältigung.

In meinem Buch „Der Gefühlsstau“ (Berlin 1990) habe ich für die DDR-Verhältnisse ein Mangelsyndrom aufgrund ungenügender Befriedigung wesentlicher psychosozialer Grundbedürfnisse und einen Gefühlsstau als Folge der gefühlshemmenden und lustfeindlichen Erziehung ausführlich beschrieben. Ich gehe aber von der Hypothese aus, daß wir Deutschen durch ein gemeinsames psychosoziales Grundleiden verbunden sind, das in den beiden deutschen Staaten nur zwei unterschiedliche Ausprägungen der Folgen gesellschaftlicher Fehlentwicklung oder unterschiedliche Kompensationen dafür gefunden hat. Wenn wir Ostdeutschen verständlicherweise mehr mit Gehemmtheit und Depressionen auf die umfassende Unterdrükkung reagiert haben, so mußten die Westdeutschen mehr Lockerheit, Gewandtheit und Tüchtigkeit zeigen, um in der Marktwirtschaft erfolgreich zu sein, gleichgültig, wie es um ihre psychische Situation wirklich bestellt war. Zumindest sind die gesundheitlichen und psychosozialen Belastungen (Erkrankungen, Sucht, Suizide, Scheidungen und Beziehungskonflikte) trotz größeren Wohlstandes und äußerer Freiheit im Westen in keiner Weise geringer als im Osten. Und wer möchte leugnen, daß die gesellschaftlich bedingte Art des Zusammenlebens als eine wesentliche Grundlage für solche Störungen anzusehen ist. Wir stoßen dabei auf ein Problem, das heute alle Industrieländer betrifft und in Deutschland nur aktuell und spezifisch auf-scheint.

Es geht letztlich um die Gesellschaftskonzeption insgesamt, daher sollten wir uns im deutschen Vereinigungsprozeß die Frage stellen, wie wir überhaupt leben wollen, welche Werte und Ziele unser Leben bestimmen sollen. Die Beantwortung dieser Frage ist bisher grundsätzlich vermieden worden. Statt dessen wird als ganz selbstverständlich angesehen, daß nach dem Sieg der „sozialen Marktwirtschaft“ über die „sozialistische Planwirtschaft“ auch alles andere aus dem Westen übernommen werden sollte. Es steht überhaupt nicht zur Debatte, ob wir in wesentlichen Lebensbereichen vielleicht anders leben möchten. Entweder-oder, alles oder nichts ist die Devise, die -wie wir längst wissen -natürlichen Verhältnissen und Prozessen widerspricht.

Unsere östlichen ökologischen Katastrophen täuschen darüber hinweg, daß die Ideologie vom ständigen Wachstum und Fortschritt, vom steigenden Wohlstand eine expansive Wirtschaftspolitik bedingt, die ursächlich die ökologische Krise hervorgerufen hat und beschleunigt. Hinter den deutsch-deutschen Fragen können sich daher die wirklichen Probleme der globalen Bedrohung des menschlichen Überlebens verbergen. Aus der Psychotherapie wissen wir, daß Menschen erst dann zur bitteren Einsicht und zum schmerzlichen Durcharbeiten ihrer Fehlhaltungen und zur anstrengenden Veränderung bereit sind, wenn es ihnen wirklich schlecht geht, wenn sie in einer tiefen Krise sind. Davon schien im Herbst 1989 etwas auf, ging aber bald -mit der Maueröffnung -wieder verloren, die eine Ersatzbefriedigung nach außen eröffnete wo ein innerer Reinigungsprozeß dringend nötig gewesen wäre.

Die deutsche Vereinigung im Prozeß einer Ost-West-Versöhnung ist bisher nur ein oberflächlicher Prozeß geblieben, aus Sachzwängen abgerungen, aber die innere Mangelsituation, der Gefühlsstau und die unterschiedlichen Abwehr-und Kompensationsmechanismen sind noch längst nicht bewältigt. Aus dieser Perspektive sind dem deutschen Vereinigungsprozeß Reibungen zu wünschen, die sich aus dem Aufeinanderprall unterschiedlicher sozialer Erfahrungen und Einstellungen ergeben. Aber der notwendige Konflikt wird im Moment leider durch ein arrogant-kolonialisierendes Verhalten, das sich über uns ergießt, einfach erdrückt -mit der fadenscheinigen Verheißung auf baldigen Erfolg, wenn wir nur gehorsam folgen und lernen würden.

Diese Art der „Konfliktlösung“ verursacht neue Verletzungen und Schädigungen, und autoritäre Strukturen gestalten sich jetzt zwischen den reicheren Westdeutschen und den erneut abhängigen Ostdeutschen aus. Nicht nur, daß psychosoziale Reifeschritte damit auf beiden Seiten verhindert werden; nein, es wird die Gefahr von chaotischen und gewalttätigen Zuständen heraufbeschworen.

Die Schwierigkeiten, die wir im gegenseitigen Verstehen und Akzeptieren zwischen Ost-und Westdeutschen empfinden, wenn auch nicht so gern eingestehen wollen, sind vor allem Ausdruck des Zusammentreffens von psychosozialen Fehlentwicklungen auf beiden Seiten. Gegen die vorherrschende Tendenz, wir hätten im Osten nur das „siegreiche“ westliche System zu übernehmen, brauchen wir eine breite öffentliche Diskussion und Auseinandersetzung, um für das vereinte Deutschland nach einer neuen gesellschaftlichen Konzeption zu suchen, mit der wir gesünder leben und unseren Kindern und Enkeln eine Chance zum Überleben bleibt. Darüber sollten wir reden und streiten und Entscheidungen herbeiführen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans-Joachim Maaz, Dr. med., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapie, geb. 1943; Studium der Medizin in Halle; seit 1980 Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle; Vorsitzender der nach der „Wende“ gegründeten „Akademie für psychodynamische Therapie und Tiefenpsychologie“. Veröffentlichungen u. a.: Der Gefühlsstau -ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990; Die psychischen Folgen des Stalinismus, in: Psychomed, 2 (1990); (zus. mit Lucas Moeller) Die Einheit beginnt zu zweit. Ein deutsch-deutsches Zwiegespräch, Berlin (i. E. September 1991).