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Zur moralisch-politischen Erneuerung im Einigungsprozeß. Anregungen aus katholischer Sicht | APuZ 19/1991 | bpb.de

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APuZ 19/1991 Psychosoziale Aspekte im deutschen Einigungsprozeß Zur moralisch-politischen Erneuerung im Einigungsprozeß. Anregungen aus katholischer Sicht Protestantische Kultur und DDR-Revolution Bürgerbewegungen, politische Kultur und Zivilgesellschaft Das „Immunsystem“ des „real existierenden Sozialismus“

Zur moralisch-politischen Erneuerung im Einigungsprozeß. Anregungen aus katholischer Sicht

Gerhard Lange

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der vierzigjährigen leidvollen Erfahrung sowie der Unklarheit über die unmittelbare Zukunftsgestaltung im Osten Deutschlands besteht dringender Bedarf an authentischer Wertorientierung und Sinngebung. Gilt aber die Frage nach Wert und Sinn nur für die Deutschen im Osten, oder stellt sie sich nicht für alle Deutschen neu? Zu den Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus in der DDR gehören nicht nur die materiellen Schäden im Bereich der Städte und Dörfer, der Betriebe und der Umwelt. Schlimmer noch sind die geistigen und seelischen Schäden, die die Menschen davongetragen haben. Sie dürfen bei der Analyse der Ursachen für die derzeitige Konfliktlage nicht außer acht gelassen werden. Die lange entbehrte und nun gegebene „äußere“, politische Freiheit muß durch die den Lebensentwurf und die Gesellschaft gestaltende „innere“ Freiheit, durch Sinnstiftung und Wertbindung fundiert werden. Freiheit wird damit zur Aufgabe, die auch die Grenzerfahrungen einbezieht. Der Kirche und den Christen erwachsen hier konkrete Aufgaben, bei deren Lösung die religiöse Dimension kirchlichen Handelns nicht ausgeklammert bleiben darf. Besondere Bedeutung im Hinblick auf die gegenwärtigen sozialen Probleme kann einer Neubesinnung auf die Prinzipien der Katholischen Soziallehre zukommen, die sich im gesellschaftlichen und politischen Alltag konkretisieren müssen. Doch die aus der neugewonnenen äußeren Freiheit erwachsende Euphorie bedarf auch der Korrektur durch Einsicht in die Grenzen des Menschlichen wie des Technischen, um nicht an einem utopischen Fortschrittsglauben zu scheitern.

Die deutsche Frage hatten die DDR-Oberen als erledigt abgetan. Die Mehrzahl der westdeutschen Politiker hatte ihre Erörterung in der Zeit kurz vor der Wende für nicht opportun gehalten. Dessen ungeachtet erwies sie sich als tatsächlich offen. Die Die deutsche Frage betrifft zwar den nationalstaatlichen Zusammenschluß im europäischen Einigungswerk ebenso wie die Einordnung Deutschlands in übernationale Systeme. Mit noch größerer Dringlichkeit stellt sie sich aber als Frage der Deutschen an sich selbst, als Frage nach der Über-windung der Folgen aus der Teilung Deutschlands in der Gesellschaft und beim einzelnen. Wie sich immer mehr zeigt, gestaltet sich die Antwort schwieriger als weithin gemeint wurde. Denn die eigentliche Problematik besteht in der Verschränkung von Sach-und Beziehungsproblemen, von Sach-und Beziehungskonflikten zwischen den Menschen und zwischen den gesellschaftlichen Gruppen der beiden lange Zeit getrennten Teile Deutschlands.

Von den Zwängen der alten politischen Vorherrschaft weiß man sich „im Osten“ befreit. Der Umgang mit der neu gewonnenen Freiheit erweist sich als schwierig. Erfahrungen mit den sich neu ergebenden Sachzwängen und Probleme bei der Ausgestaltung der eigenen Freiheit machen vielen Menschen zu schaffen. Eine innere Unsicherheit läßt den Menschen nach den Wertmaßstäben fragen, die für seine und seiner Mitbürger Haltung und Verhalten bestimmend sein sollen. Vor dem Hintergrund einer vierzigjährigen leidvollen Erfahrung sowie der Unklarheit über die unmittelbare Zukunftsgestaltung im Osten Deutschlands besteht ein dringendes Bedürfnis nach authentischer Wertorientierung und nach Sinngebung: Kann die „westliche Lebensart“ für die neuen Bundesbürger tatsächlich die erschöpfende Antwort auf ihre Fragen sein?

Spätestens bei dieser pointierten Fragestellung wird das Problem deutlich: Geht es bei der Aus-schnelleHerstellung der staatlichen Einheit Deutschlands war eine gemeinsame Antwort der Deutschen, der Siegermächte und der europäischen Nachbarn auf den Zusammenbruch des SED-Regimes. Ist die deutsche Frage damit erledigt?

I. Wertethische Grundlagen

prägung „neuer“ Wertorientierungen für den einzelnen und die Gesellschaft ausschließlich um die Deutschen aus dem Osten, oder stellt sich diese Frage angesichts der vollen Herstellung der Einheit Deutschlands nicht für alle Deutschen neu? Oder sollte sie sich für den westlichen Teil Deutschlands erübrigen -nicht nur, weil auf diesem Gebiet ohnehin pragmatische Ratlosigkeit herrscht, sondern weil der Weg zur deutschen Einheit durch Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes nur die Angleichung des Ostens an die westlichen Verhältnisse vorsieht?

Die in Gang gekommene Verfassungsdiskussion zeigt, daß es im Hinblick auf Artikel 5 des Einigungsvertrages wohl nicht bei einem „politischen Aggiornamento“ des Grundgesetzes im Sinne einer Aktualisierung bleiben wird. In der Verfassungsdebatte dürften auch die Fragen nach Grundwerten und nach vorgesetzlichem Recht eine Rolle spielen.

Die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Wert-orientierung und Sinnstiftung für die Menschen und die Verhältnisse allein im Osten für notwendig zu halten wäre eine Engführung, die an den sich nach Herstellung der staatlichen Einheit neu stellenden Problemen vorbeiginge. Ein Ausweichen vor dieser neuen deutschen Frage kann die Probleme nicht lösen. Dabei steht außer Zweifel, daß sich die Aufgaben in Ost und West in je verschiedener Weise stellen, daß sie aber einen gemeinsamen, gesamtdeutschen Nenner haben.

Zur Lösung der Sachprobleme werden die Kirchen nur mittelbar beitragen können. Sollten sie aber nicht gerade bei der Lösung der Beziehungsprobie- me einen wirksamen Beitrag leisten können und mehr noch bei der Neuorientierung über die wert-ethischen Grundlagen des Zusammenlebens? In Erinnerung an die konstruktive Rolle der Kirchen am Runden Tisch richten sich in der schwierig gewordenen Lage in den neuen Bundesländern die Erwartungen vieler wieder auf die Kirchen. Sie sollen bei der Verwirklichung besonders zweier Grundwerte helfen: der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit. Werden sie dazu bereit sein, werden sie dies leisten können? Oder war das kurzzeitige Auftreten der Kirchen im Verlauf der Wende und insbesondere in der Öffentlichkeit der Runden Tische zwischen dem 7. Dezember 1989 und dem Tag der ersten freien demokratischen Wahlen in der DDR am 18. März 1990 nur dem Aufleuchten und Verglühen eines kleinen Meteoritenschwarms vergleichbar?

II. Die Ausgangslage im Osten Deutschlands

Wenn man die derzeitige zugespitzte Situation der Menschen in den neuen Bundesländern verstehen will, kann man die Vergangenheit, und mag sie noch so belastet und belastend sein, nicht außer Betracht lassen. Sie ist aufgehobene Vergangenheit im Doppelsinn des Wortes „aufheben“: Sie ist beseitigt und aufbewahrt zugleich, ist überwunden und wirkt doch weiter. Der real existierende Sozialismus in der DDR verwirklichte sich im totalen Staat und produzierte eine Zwangsgesellschaft, wodurch er sich letzten Endes selbst ad absurdum führte. Er hinterließ bei seinem Abgang aus der deutschen Geschichte einerseits ein Vakuum, andererseits aber eine Vielzahl von Deformationen, gemäß seinem Totalitätsanspruch auf nahezu allen Gebieten. Derzeit sind vor allem die materiellen Schäden im Blick: zerfallene Städte und Dörfer, schwere Umweltschäden, abgewirtschaftete Betriebe, ein zusammengebrochenes Fernmeldesystem und vieles andere mehr.

Weniger Beachtung finden die geistigen und seelischen Schäden, die immateriellen Deformationen durch das DDR-Regime, welche die Menschen im Laufe der Jahrzehnte davongetragen haben. Zwar sind die Auswirkungen allenthalben zu spüren; mit der Aufhellung der Ursachen jedoch ist bislang kaum begonnen worden. Und doch dürften, ähnlich wie bei einer medizinischen Therapie, Befund und Diagnose Voraussetzungen für eine ernsthafte Aufarbeitung dieser Hinterlassenschaften sein. Angesichts der Fülle drängender Probleme in den neuen Bundesländern, insbesondere in Verwaltung und Wirtschaft, wird zur Zeit jedoch dem Praktischen in der Politik der Vorrang eingeräumt, so daß für Nachdenken und Gespräch über die Aufgaben neuer gesellschaftlicher und persönlicher Wertorientierung und Sinnstiftung wenig Raum bleibt und es nur zögernd beginnt. 1. Immaterielle Deformationen Nach dem Ende der NS-Herrschaft 1945 war auch bei der Bevölkerung in der Sowjetischen Besatzungszone und im Gebiet der späteren DDR der Wille zur demokratischen Neugestaltung von Staat und Gesellschaft klar gegeben. Er wurde von den Sowjets mit Hilfe deutscher Stalinisten brutal unterdrückt. Die Demokraten hatten die Alternative, sich politisch „gleichschalten“ zu lassen, liquidiert zu werden oder zu fliehen. Bereits damals verließen viele das Land in Richtung Westen. Nur wenige Jahre nach dem Ende der totalitären NS-Herrschaft begann die Nachfolgediktatur im Zeichen des „Sozialismus“.

Die Unterdrückung selbstbestimmten, freien politischen Engagements und der damit einhergehende Zwang zum systemkonformen Mitmachen bewirkten bei vielen Menschen ein Gefühl der Bedrohung nicht nur der eigenen äußeren Sicherheit, sondern in letzter Konsequenz ihrer Eigenidentität als Person. Der Zwang zu Anpassung und die verordnete Übernahme einer Rolle nach dem Willen der Partei (SED) verursachten einen Prozeß der Selbstentfremdung, dem viele durch Ausweichen ins Private zu entgehen suchten. „Privat geht vor Katastrophe“, lautete noch in den letzten Tagen der DDR ein geflügeltes Wort. Solches um sich greifendes Privatisieren führte bei nicht wenigen zur Verweigerungshaltung gegenüber den Gemeinschaftsaufgaben innerhalb der Gesellschaft. Denn wer sollte in einem Boot mitrudern, das „von oben“ in eine Richtung gelenkt wurde, in die kaum jemand ernstlich wollte; verständlich, daß viele nur das taten, was unbedingt notwendig war. Die gesellschaftliche Zwangsintegration machte aus dem Menschen, der doch zutiefst sozial bestimmt ist, ein in der Tendenz a-soziales Wesen.

Der Selbstentfremdung versuchte der einzelne auch dadurch zu entgehen, daß er sich unbewußt oder willentlich ein „Rollenverhalten“ zulegte. Diese Strategie der Identitätsbewahrung konnte jedoch leicht das Gegenteil bewirken und zum Verlust persönlicher Identität und moralischer Integrität führen. Das Vertuschen der nichtkonformen inneren Gesinnung und die äußere Übernah-me der „von oben“ angeordneten oder der selbst-verordneten Rolle brachte die Gefahr mit sich, willfährig für alles zu werden und letztlich die Achtung vor sich selbst zu verlieren. Die Aufspaltung der Wahrheit in persönliche Überzeugung und verordnete Doktrin führte zur inneren Zerrissenheit und zur Gefährdung der Eigenidentität. 2. Ideologische Indoktrination Ein besonderes Problem stellt die ideologische Indoktrination dar, die methodisch und mit deutscher Gründlichkeit betrieben wurde. Hatte man in den Anfangsjahren der sozialistischen Herrschaft getreu der Pawlowschen Lehre vom soge-nannten zweiten Signalsystem gemeint, das gewünschte „Bewußtsein“ durch ständige Wiederholung der ideologischen Lehrsätze erreichen zu können, so mußte man zur Kenntnis nehmen, daß dieser Art von Überzeugungsarbeit kein oder nur wenig Erfolg beschieden war. In der Regel stellte sich bei den Indoktrinierten nur Widerwille ein, keineswegs aber das gewünschte „sozialistische Bewußtsein“. Zur Herausbildung des „neuen“, „sozialistischen“ Menschen und seines Bewußtseins wurde deshalb der Weg einer tiefer ansetzenden und umfassenderen Indoktrination beschritten mit dem Versuch der Veränderung der Sprache, des Wertbewußtseins und selbst der Denkstruktur.

Die Einflußnahme auf die Sprache vollzog sich vorrangig in der Veränderung der Supposition der Begriffe; d. h.den Worten wurde ein gegenüber ihrer ursprünglichen Bedeutung nach Inhalt und Umfang veränderter Sinn unterlegt. So war beispielsweise nach dem vergeblichen Versuch, den Deutschen in der DDR ein eigenes systemkonformes Staatsbürgerbewußtsein anzuerziehen und sie so zu einer wenigstens partiellen Identifikation zu führen, in der Sportberichterstattung nicht mehr von „DDR-Sportlern“ die Rede, sondern von „den Sportlern unseres Landes“. „Unser Land“ sollte nicht mehr Deutschland sein, sondern synonym gebraucht werden für das Kürzel DDR. Dieser Indoktrinationsversuch über die Sprache hatte teilweise Erfolg. Da er sich fast unmerklich, gleichsam osmotisch vollzog, wurde seine sinn-und damit bewußtseinsverändernde Kraft von den Betroffenen oft nicht wahrgenommen.

Das Wertbewußtsein war in besonderer Weise Gegenstand der ideologischen Indoktrination. Die angestrebten Veränderungen konnten jedoch nur zum Teil verwirklicht werden. Bereits die Unterscheidung zwischen Gut und Böse einzig nach Klasseninteressen (gute Sozialisten und böse Kapitalisten) war zu primitiv, um sich auf Dauer behaupten zu können. Gleiches gilt für die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“, die Walter Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag der SED proklamiert hatte, und manche pseudoreligiöse Wert-vermittlung in Gelöbnisform. Anders sah es aus im wertorientierten Rechtsbewußtsein, beispielsweise bei der Begründung der Menschenrechte nicht von einem personalen, sondern einem kollektivistischen Ansatz her. Der ideologiebedingte Rechts-positivismus hatte das vorgefundene bürgerliche Recht im Interesse des Totalitätsanspruchs des DDR-Staates und seiner „führenden Kraft, der Partei“, in „sozialistisches Recht“ zu transformieren.

Das Denken selbst, d. h. die Denkstruktur, wurde von den Grundsätzen des historischen Materialismus bestimmt: Das materielle Sein ist primär, das Bewußtsein ist sekundär. Konkret bedeutete dies, daß die Partei im behaupteten Wissen um die Gesetze in Natur und Gesellschaft und in deren Anwendung für sich in Anspruch nahm, sicher den Kurs zu bestimmen. Mitverantwortung und Mitbestimmung von einzelnen Bürgern oder Gruppen waren demgemäß nur „berechtigt“, wenn sie den „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ und in diesem Sinne den Erfordernissen entsprachen, d. h.dem Willen der Partei. Diese Denkungsart produzierte bei vielen die verhängnisvolle Einstellung, Opfer der Umstände zu sein, da ja die Verhältnisse sowieso stärker seien und man als einzelner nichts ausrichten könne. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Schicksal führte deshalb nicht zur Anfrage an sich selbst und das eigene engagierte politische Verhalten. Sie führte vielmehr dazu, allein die Umstände schuldig zu sprechen. Dann aber brauchte sich der Betreffende nicht mehr selbst zu hinterfragen, ja er konnte es nicht einmal. Der Mensch, definiert als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ -trivial gesagt: als Produkt der Umwelt -konnte und brauchte sich folglich auch nicht in Eigenverantwortung zu ändern. 3. Idealtypische Überhöhungen In bemerkenswerter Dialektik hat der real existierende Sozialismus im Bewußtsein „seiner Bürger“ idealtypische Vorstellungen von einer „ganz anderen“ als der erfahrenen DDR-Wirklichkeit produziert. Dieses „ganz andere“ machte sich mangels Eigenerfahrung nicht an der Realität fest, sondern an dem Bild, das man sich von den politischen und gesellschaftlichen, aber auch den wirtschaftlichen Verhältnissen in der „BRD“ machte. Dieses eigen-produzierte Bild eines „goldenen“ Westens war erträumtes Gegenbild zu der bitter erfahrenen DDR-Realität. Ein solcher Traum wurde geradezu zu einer politischen Kategorie. Die illusionären Vorstellungen wurden durch die propagandistische Schwarz-Weiß-Malerei der DDR-Agitation verstärkt, die einer differenzierten Betrachtung der westlichen Verhältnisse wenig Raum gab. Der Propaganda gegen die Bundesrepublik wurde nicht geglaubt, sie erwies sich sogar als ausgesprochen kontraproduktiv: man hielt unter Umständen genau das Gegenteil für die Wahrheit.

Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, auch nur annähernd einen Überblick über solche ins Idealtypische überhöhten Vorstellungen über „den Westen“ zu geben, wie sie aus der Negativerfahrung mit dem real existierenden Sozialismus er-wuchsen. Die folgenden Hinweise sind um der Anschaulichkeit willen stark pointiert dargestellt und ließen sich um weitere Beispiele ergänzen. -Dem Diktat der Partei und des Staates stand ein Idealbild des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates gegenüber. Nicht im Blick war die Realität der repräsentativen Demokratie mit ihren Beschwerlichkeiten im politischen Alltag. -Der Parteiphrase „Plane mit, arbeite mit, regiere mit!“ stellte man das Idealbild von Mitwirkung und Mitbestimmung aller in den Kommunen wie in den Betrieben gegenüber und die Befriedigung der Bedürfnisse eines jeden einzelnen. -Die sozialistischen Rechtsverhältnisse wurden als der in Gesetzesform gekleidete Parteiwille erfahren. Kaum zur Kenntnis genommen wurden Diskrepanzen zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit im Westen oder die Schwierigkeit, das eigene Recht auf dem Instanzenweg durchzusetzen. -In der DDR konnte man nur als Mitglied der SED oder wenigstens einer Blockpartei beruflich vorankommen. Im Westen, so glaubte man, spiele ein Parteibuch keine Rolle; denn hier zähle für den Aufstieg in leitende Positionen ausschließlich die Leistung. -Im Osten bestimmte der Volkswirtschaftsplan mit seinen Kennziffern -abgesehen von ideologischen und politischen Komponenten wie „Treue zu unserem Staat“ und Zustimmung zur herrschenden Ideologie -schon den schulischen, erst recht den beruflichen Werdegang.

Im Westen, so die verbreitete Meinung, könne jeder werden, was er wolle. Es liege einzig an ihm selbst, ob er den Weg schaffe. -Die sozialistische Bürokratie war für die meisten ein Alptraum. Im Westen dagegen gehe es in der Verwaltung problemlos bürgernah zu, vor allem völlig unbürokratisch. -Im sozialistischen Bildungswesen sahen viele ein Instrument zur Erziehung willfähriger und linientreuer Staatsbürger, einen Ort der Zwangsindoktrination. Das westliche Schulsystem dagegen vermittele ideologiefreie, umfassende Bildung. Die Lehrer dort seien durchweg integre Persönlichkeiten. Von verschiedenen Schultypen und Bildungskonzeptionen wußte man nichts. -Der Deutsche im Osten fand sich gewissermaßen auf der Stufe des Sammlers und Jägers vor, wenn er versuchte, für sein Geld ordentliche Ware zu vernünftigen Preisen zu kaufen. Im Westen dagegen biete das Geld die Möglichkeit, nicht nur zu konsumieren, sondern auch „Klassenschranken“ aufzuheben: Der Kunde sei König, sofern er nur Geld habe. Arbeitslosigkeit sei DDR-Propaganda, war die weit verbreitete Meinung. -Presse, Hörfunk und Fernsehen im Osten erfuhr man als von oben manipuliert, zensiert, langweilig, meist voller Propaganda und Lüge.

Die Massenmedien im Westen dagegen, so meinte man, verbreiteten ausschließlich Wahrheit. Die Nachricht als Ware -unbekannt. Tendenziöses -kaum gewußt. -Scheinwahlen im Osten ohne echte Kandidaten mit vorfabrizierten Wahlergebnissen; bei Nicht-teilnahme drohten Nachteile: so die Erfahrung in vier DDR-Jahrzehnten. Im Westen hingegen Wahlen mit Abgeordneten, die allein ihrem Gewissen und dem Wählerwillen verpflichtet seien, und mit Parteien und Politikern, auf deren Versprechungen sicher Verlaß sei. -Im Osten suchte man aus vielerlei Ängsten ins Private zu flüchten, wobei die Angst vor der Staatssicherheit nur ein Element darstellte. Im Westen, so die Vorstellung, gebe es das angst-freie Dasein, wobei die Angstfreiheit als eine gleichsam universale Dimension des eigenen Lebens begriffen wurde.

Auch in solcherweise idealisierenden Vorstellungen liegen Wurzeln für die heute zu beobachtenden Enttäuschungen. Sie könnten jedoch in dem Maße eine positive Deutung erfahren, wie solche Ent-täuschung als Befreiung von einer (Selbst-) Täuschung bewußt wird.

Bei diesen Beispielen handelt es sich um symptomatische Tendenzen, nicht um eine gewisser-maßen uniforme Meinung jedes einzelnen. Sie geben Einblick nicht nur in allgemeine Informationsdefizite, sondern vor allem in das Bedürfnis nach Wertorientierung und Sinnstiftung.

III. Wertorientierung und Sinnstiftung

Auf dem Gebiet von Wertorientierung und Sinn-stiftung kann den Christen und den Kirchen eine besondere Rolle zukommen. Wertfindung muß an Grundwerten orientiert sein, die dem Wesen des Menschen entsprechen, an Grundwerten, die sich nicht durch Satzung postulieren lassen. Sie sind nicht Ergebnis gesellschaftlicher Verständigung, sondern vorgegeben. Diesen Werten kommt individualethische Bedeutung zu, insofern sie für Gewissensentscheidungen maßgeblich sind und das soziale Verhalten des einzelnen fördern. Sie haben aber auch sozialethische Bedeutung, insofern sie als Grundwerte die Struktur der Gesellschaft wesentlich mitbestimmen sollen.

Ist eine solche Grundposition in der Gesellschaft konsensfähig? Wird sie bei Christen außerhalb der katholischen Kirche Zustimmung finden? Auch bei den nichtchristlichen Bürgern? Welches sind überhaupt die Grundwerte? Oder kann auch ohne Grundwerteorientierung die Deformation abgebaut bzw. aufgearbeitet werden, indem der Mensch zu sich selbst befreit wird? Zeigten nicht die beginnende Verfassungsdiskussion und das Ringen um eine Reihe von Gesetzen (Recht auf Arbeit, Gleichstellung von Lebensgemeinschaft und Ehe, Paragraph 218 usw.), wie sehr Grundgesetz bzw. Verfassung, die Rechtsordnung und das einzelne Gesetz abhängig sind von einem Konsens über die Grundwerte, selbst wenn man in deren Interpretation nicht völlig übereinstimmt? Ohne diesen vorgängigen Grundwertekonsens verliert die Verfassung ihre innere Kraft, ist die gesellschaftliche Pluralität in Frage gestellt, weil der innere Bezug zwischen Grundwert und Grundrecht fehlt. Die Folge könnte ein Rechtspositivismus der zu nichts verpflichteten Willkür sein.

Das entstandene Vakuum zu füllen und die Deformationen aufzuarbeiten stellt uns vor Probleme, die zu ihrer Lösung nach einer Grundwerteorientierung für den Menschen und die Gesellschaft unabdingbar verlangen. Eine Verständigung über das Bild des Menschen von sich selbst ist dafür genauso unerläßlich wie für die Aufarbeitung des Beziehungskonflikts zwischen Ost und West. Damit aber zeigt sich wiederum, wie notwendig das Gespräch der Menschen in beiden Teilen Deutschlands über sich selbst ist; das Gespräch miteinander, nicht nur derer im Osten untereinander. Wie halten es die Kirchen damit? Haben sie das Gespräch aufgenommen? Das Gespräch untereinander, in den eigenen Kirchen, und miteinander, zwischen den Kirchen? Oder sind sie noch immer mit Strukturproblemen, Rechtsfragen und den leidigen, wenn auch unumgänglichen Finanzsorgen beschäftigt? 1. Freiheit zu persönlicher Lebensgestaltung Das Ende der politischen Herrschaft der SED und ihres Staates DDR brachte den Menschen die Freiheit von der stalinistischen Diktatur. Im Gegensatz zu der Meinung, die Deutschen in der DDR hätten am 18. März 1990 bloß den wirtschaftlichen Wohlstand gewählt, bleibt festzuhalten, daß sie zwar zwischen den Alternativen von „Kapitalismus“ und „Sozialismus“, von Marktwirtschaft und Planwirtschaft gewählt haben. Die eigentliche Entscheidung jedoch fiel zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen persönlicher und kollektivistischer Lebensgestaltung.

Mit dieser Wahlentscheidung war der Grund gelegt für die Verwirklichung der äußeren Freiheit, wie sie die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung gewährleistet. Offen blieb die Frage nach der inneren Freiheit des Menschen, nach jener selbst-bestimmten Freiheit, die sich verwirklicht in der Bindung an Werte. Hatten die Menschen in der früheren DDR überhaupt noch zu unterscheiden gewußt zwischen innerer und äußerer Freiheit?

Gewiß, die Kirchen hatten dem Menschen einen Freiraum geboten, wo dieser unberührt von Fremdbestimmung oder Verzweckung seine Eigenidentität finden und bewahren konnte. Es war ein kirchlicher Raum, wenn auch nicht unbedingt ein innerkirchlicher; man denke nur an das Engagement so vieler in den Einrichtungen des eigenständigen konfessionellen Gesundheitswesens und in kirchlichen Kindergärten mit durchaus öffentlicher Wirksamkeit. Hier gab es, wenn auch begrenzt, die Möglichkeit, daß der Mensch menschlich leben und seine sozialen Anlagen und Bezüge verwirklichen konnte. In einer auf Totali-tat angelegten Gesellschaft kam dieser Funktion der Kirchen eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Vornehmlich evangelische Kirchen hatten darüber hinaus Menschen -unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit -auch Freiraum für politische Betätigung anzubieten versucht.

Verschiedentlich wurde behauptet, die katholische Kirche in der DDR habe sich in ein Ghetto zurückgezogen, sie habe ein „Sakristeichristentum“ praktiziert, sie sei ein Ofen gewesen, der nur sich selber wärmte. Diese Behauptung ist objektiv falsch. Die Wahrheit ist, daß die katholische Kirche in der DDR für die Menschen so etwas wie eine Oase in der Wüste (des Sozialismus) darstellte, die es ihnen ermöglichte, sich der totalen Inanspruchnahme durch das System wenigstens partiell zu entziehen. Diese Oasenfunktion der katholischen Kirche war jedoch nicht identisch mit einem Einübungsfeld für die Verwirklichung der politischen Demokratie am „Tag X“.

Letztlich mußte die von der Kirche vermittelbare innere Freiheit religiöser Natur sein, d. h. eine Freiheit, die einerseits den Glauben und die Bindung an Gott (religio) voraussetzt und andererseits diese innere Freiheit weitgehend im Gewissens-und Überzeugungsbereich ansiedelt. So wichtig diese Rückbindung an den geglaubten Gott für die Gewinnung innerer Freiheit war (und ist), so war die Kirche doch nicht in der Lage, in signifikanter Weise ein Betätigungsfeld für diese innere Freiheit als Gestaltungsfreiheit im gesellschaftlichen und politischen Raum der DDR zu ermöglichen. Dagegen sprachen neben der jahrzehntelangen Unterdrückung auch die realen Zahlenverhältnisse. Jüngste demoskopische Erhebungen haben ergeben, daß der Anteil der Christen an der rund 16 Millionen zählenden Gesamtbevölkerung bei den evangelischen Kirchen 21 Prozent und bei der katholischen Kirche 3, 6 Prozent beträgt, mithin in den letzten vierzig Jahren ein Rückgang der Zahl der Christen im Osten Deutschlands von 90 Prozent auf 25 Prozent zu verzeichnen ist. 2. Freiheit als Aufgabe Die herrschende Ideologie hatte einen Freiheitsbegriff indoktriniert, der als „Einsicht in die Notwendigkeit“ definiert wurde. Angesichts der immer wieder neu erfahrenen eigenen Ohnmacht schien diesem Verständnis von Freiheit für viele sogar eine gewisse Plausibilität zuzukommen. Jetzt, nach der Wende, bietet sich der neue Freiheitsbegriff erst einmal als „Wahlfreiheit“ an, als Freiheit des Auswählens, beispielsweise auf dem Stimmzettel oder im Warenangebot.

Bereits im Bereich dieser Wahlfreiheit werden für den einzelnen Grenzen sichtbar. Der Traum von der Freiheit als einem Reich der unbegrenzten Möglichkeiten erweist sich als Utopie. Noch schwerer ist die Einsicht zu gewinnen, daß innere Freiheit nicht nur Abgrenzung und Selbstbehauptung gegen äußeren Zwang ist. Freiheit zu begreifen und zu verwirklichen als Gestaltungsfreiheit, also als „Freiheit wozu“, ist offensichtlich noch schwerer. Angesichts der Gegebenheiten und solcher Ratlosigkeit ist wohl mit einem längerfristigen Veränderungsprozeß zu rechnen, der die Gesamt-persönlichkeit erfassen muß. Wer aber jahrzehntelang unter dem Diktat einer verlogenen Ideologie und ihrer pseudowissenschaftlichen Begründung leben mußte und den Gehorsam gegenüber dem Zwang der Verhältnisse als Freiheit begreifen sollte -welch eine innere Wandlung wird nun von ihm verlangt! Mit welchem Einsatz muß er an sich arbeiten, nicht nur um ganz allgemein seine neue Situation zu bewältigen, sondern in „Selbstbildung der eigenen Persönlichkeit“ eine innere Wandlung zu erfahren, was etwas wesentlich anderes ist als die erneute Anpassung nach Art des Wendehalses! (Unberücksichtigt muß hier die Frage bleiben, inwieweit dem Menschen im Westen der Wert innerer Freiheit überhaupt bewußt ist -und bis zu welchem Grad auch er sich den sicherlich anders gearteten Zwängen seiner Welt anzupassen bereit ist.) 3. Grenzerfahrungen Bereitschaft und Wille zu innerer Wandlung sind bei vielen im Osten Deutschlands vorhanden. Was aber, wenn der Mensch in Wahrnehmung seiner Gestaltungsfreiheit und mit dem gut gemeinten Hinweis auf die ihm zugedachte „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu spüren bekommt, daß er wie ehemals nicht zum Zuge kommt, nur eben unter neuen „Nachwende“ -Verhältnissen? Was helfen ihm dann beispielsweise die Prinzipien einer Katholischen Soziallehre, wenn die Initiative, die dem einzelnen oder der Gruppe zukommt, sich nicht frei entfalten kann? Wenn auf dem Weg von unten nach oben die „Basis“ nicht wirklich ernst und in die Pflicht genommen wird, sondern sich ausgegrenzt sieht?

Was bedeutet in dieser Lage das Subsidiaritätsprinzip, das den mündigen selbstverantwortlichen und leistungsbereiten Bürger voraussetzt, wenn dieser nicht sein kann, was er eigentlich sein soll? Wenn er beispielsweise die Fähigkeit entwickeln soll, nicht gleich nach Subventionen des Staates zu rufen, ihm aber durch Kreditverweigerung wegen fehlender „Kreditwürdigkeit“, die nicht von ihm selbst zu verantworten ist, eine Chance zum Start ins Geschäftsleben verwehrt wird?

Und was bedeutet das Gemeinwohlprinzip, demgemäß dem Staat die autoritative Kompetenz zukommt, Interessen und Aktivitäten zum Wohl aller zu koordinieren, wenn dieser Staat sich sehr schwer tut, gegenüber dem „Recht des Stärkeren“ die Belange der Schwachen wahrzunehmen, die über kein Leistungs-und darum auch über kein Leistungsverweigerungspotential verfügen?

Was soll man davon halten, wenn dieser Staat sich in materieller und finanzieller Hinsicht durchaus als fürsorglicher Sozialstaat erweist, aber zur Befriedigung eines so wesentlichen Grundbedürfnisses wie dem nach sinnvoller Arbeit über die Bereitstellung finanzieller Mittel hinaus wenig beizutragen vermag? 4. Das Prinzipielle reicht nicht aus Diese Hinweise lassen erkennen, wie schwierig sich der Beitrag der Kirche auf dem Feld der Wertorientierung und Sinnstiftung gestaltet, wenn er nicht im Prinzipiellen steckenbleiben, sondern konkret werden soll. Im Bereich der Prinzipien Katholischer Soziallehre scheint vieles klar und vielleicht sogar -wenigstens teilweise -annehmbar zu sein. Dennoch muß auch darüber im Interesse eines großen gesellschaftlichen Konsenses gesprochen werden, mit den einzelnen wie mit den Gruppierungen: den Arbeitnehmern, Arbeitgebern, Gewerkschaften, Parteien usw. Und nicht zuletzt muß über sozial-und individualethische Fragen auch zwischen den Kirchen und ihren Fachexperten ein Dialog in großer Offenheit geführt werden. Das im Bereich der Ökumene gewachsene Vertrauen sollte verhindern, daß auf diesem Gebiet im Interesse vermeintlicher ökumenischer Harmonie kontroverse Themen ausgeklammert werden. Über die Grundprinzipien hinaus sind aber auch Konzepte erforderlich, welche die Grundwerte in ordnungspolitisch annehmbare Strukturen umzusetzen versuchen. Hier ist umfangreiche und mühselige Kleinarbeit zu leisten. Angesichts der Pluralität in der Gesellschaft verfügt wohl niemand mehr über den Entwurf, der für alle annehmbar wäre. Man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen: So wichtig kirchliche Aufklärungsarbeit in den neuen Bundesländern ist, z. B. durch Darlegung der Katholischen Soziallehre auf Veranstaltungen, es besteht die Gefahr, daß die Referate unbeschadet ihres wertvollen Gehalts letztlich „zum Zwecke des Vergessens“ gedruckt werden. Und so wichtig das Engagement von Sozialethikern ist, wichtiger noch ist es, die Grundprinzipien -die der Katholischen Soziallehre wie die Grundwerte insgesamt -in das politische Alltagsgeschäft einzubringen und auf diesem Weg in die Strukturen der Gesellschaft und des Staates.

IV. Die Katholiken in den neuen Bundesländern

Die Pastoralsynode der katholischen Kirche in der DDR, die Mitte der siebziger Jahre in Dresden stattfand, wollte der Erneuerung der Kirche im Geist des II. Vatikanischen Konzils dienen. Konkret hieße das nach Antworten auf die Frage suchen, wie der katholische Christ in der DDR •seinen Glauben leben kann und wie dieser Glaube situationsgerecht akzentuiert werden muß. Bei allem Bemühen der Synodalen ist festzustellen, daß über die Erarbeitung guter Texte hinaus zunächst wenig Wirkung von dieser Synode ausging.

Von der Öffentlichkeit wegen der weitgehenden „medienpolitischen Abstinenz“ der katholischen Kirche kaum bemerkt, hatte man sich dann in der ersten Hälfte der achtziger Jahre erneut auf die Unverzichtbarkeit eines eigenständigen politischen und gesellschaftlichen Engagements der katholischen Christen besonnen. Zuerst stand der Einsatz des einzelnen im Vordergrund. Hier war die Frage, wie weit jemand „mitmachen“ konnte, ohne seinem Gewissen untreu zu werden: wie weit also jemand, vom Glauben und der sittlichen Botschaft des Neuen Testaments motiviert, sich auf eine Mitarbeit in Staat und Gesellschaft einlassen konnte. Generelle Antworten gab es nicht. Es galt das eigene Gewissen zu bilden und zu einer differenzierten Beurteilung und Gewissensentscheidung zu kommen.

Daraus ergab sich auch die Frage, ob und wie weit sich katholische Christen gemeinsam, also „organisiert“, den „weltlichen“ Aufgaben zuwenden könnten. Gewisse Veränderungen in der staatlichen Kirchenpolitik schienen dies zu ermöglichen. So fand im Jahre 1985 in Berlin ein katholischer Jugendkongreß mit 1000 Delegierten statt, auf dem einerseits alle die Jugendlichen interessierenden Themen aus Kirche und Gesellschaft offen zur Sprache kamen, die Öffentlichkeit aber strikt aus-geschlossen war. Dem 1987 in Dresden stattfindenden Katholikentreffen mit mehr als 100000 Teilnehmern ging ein Delegiertentreffen mit 3000 Vertretern aus allen katholischen Kirchengemeinden in der DDR voraus. In Themengruppen wurden auch hier neben religiösen und kirchlichen nahezu alle für die frühere DDR gesellschaftlich und politisch relevanten Fragen behandelt, welche die Menschen in der DDR angesichts der Unfähigkeit des Regimes, vernünftige Lösungen anzubieten, beschäftigten. Ohne Zweifel wurde hier eine für damalige Verhältnisse beträchtliche politische Bildungsarbeit initiiert, die in den Gemeinden hier und da eine Fortsetzung fand und die im gesellschaftlichen Aufbruch 1989 teilweise wirksam wurde.

Leider blieb der Wunsch vieler Teilnehmer unerfüllt, die in Dresden begonnene Arbeit anschließend in offenen, DDR-weiten Foren unter dem gegen staatlichen Zugriff schützenden Dach der Bischöfe und doch ohne deren unmittelbare Zuständigkeit -eben als echte Laieninitiativen -fortzuführen. Die Bischöfe beschlossen zwar die Weiterarbeit, allerdings nur innerhalb der einzelnen Jurisdiktionsbezirke und unter der Verantwortung der Seelsorgeämter. Durch diesen Umstand ist mit dem Blick auf die Wende für die Bildung einer DDR-weiten, an das Kleine Katholikentreffen in Dresden anknüpfenden katholischen Laieninitiative eine bedauerliche Verzögerung eingetreten, was sich angesichts des stürmischen Verlaufs der politischen Entwicklung in der DDR ab Herbst 1989 äußerst nachteilig auswirkte.

Der öffentliche Aufruf zum bewußten politischen Engagement der Laien erfolgte in dem am 19. Dezember 1989 beschlossenen gemeinsamen Hirtenbrief der Berliner Bischofskonferenz zum Thema: „Der Wandel in Staat und Gesellschaft und unser kirchlicher Auftrag“. Eine Kernaussage dieses Bischofsschreibens lautete: „Es sind die gleichen Grundsätze, die unser bisheriges und jetziges Verhalten bestimmen. Seinerzeit ließen sie uns gegenüber dem Machtanspruch des sozialistischen Staates unter Führung der SED eine klare Haltung der Verweigerung einnehmen und die Beziehungen auf unbedingt notwendige Sachgespräche beschränken. Heute ist angesichts einer Entwicklung, die auf ein sich demokratisch öffnendes Gemein-I hingeht, eine engagierte Mitwirkung von uns allen gefordert.“ Mit diesem Aufruf zum Engagement und mit der Übernahme von politischer Verantwortung in den verschiedenen Ebenen durch Katholiken waren erste Schritte getan.

V. Die konkreten Aufgaben der Kirche

Bleibt die Frage, ob sich für die Kirche Aufgaben ergeben, die über das Bewußtmachen von Problemen, über ihren unverzichtbaren Beitrag zur Grundwertediskussion und über das konkrete Engagement katholischer Christen in gesellschaftlichen und politischen Bereichen hinausgehen.

Da ist zuerst der Katalog möglicher Aufgaben zu nennen, wie er in den Ergebnissen der „Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR“ vorliegt, die am 30. April 1989 ihre Arbeit beendete und die Ergebnisse den 16 beteiligten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften übergab. Wäre es nicht an der Zeit, sich darauf zu besinnen und eine Beziehung zwischen diesen Texten und den in der „Stuttgarter Erklärung“ vom 22. Oktober 1988 vorliegenden Ergebnissen des „Ökumenischen Forums für Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung“ der Kirchen in der „alten“ Bundesrepublik herzustellen?

Eine solche „synoptische“ Arbeit wäre auch insofern sinnvoll, als die in der DDR entstandenen Texte sich auf die Situation in der damaligen DDR bezogen und auf eine Veränderung der bestehenden sozialistischen Verhältnisse abzielten, ohne das sozialistische Grundmodell selbst in Frage zu stellen. So hatte die „Theologische Grundlegung“ davon gesprochen, „der in der DDR existierende Sozialismus (bedürfe) einer Umgestaltung“ und die „öffentliche, wahrhaftige und rechtzeitige Bearbeitung“ der inneren Konflikte in der DDR „könnte gerade die Suchbewegung nach einer Umgestaltung des Sozialismus unter den Bedingungen unseres Landes (d. i.der DDR) fördern“. Auch ein solcher Text sollte mit Blick auf die Arbeit der Kirchen im zugrunde gegangenen DDR-Sozialismus neu auf seinen Gehalt befragt werden. Das gleiche gilt für den „Brief aus Lehnin“ der evangelischen Bischöfe in der DDR vom 15. Februar 1968, in dem es hieß: „Als Bürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen.“ Solche „Grundsatzerklärungen“ sollten bewußt gemacht und aufgearbeitet werden, um ein solides Fundament für Neues, Gemeinsames schaffen zu können. Der wichtigste Beitrag jedoch könnte von den einzelnen glaubenden Christen selbst kommen. Denn Werte und Sinn, so sehr sie auch der gedanklichen, geistigen Durchdringung bedürfen, erschließen sich immer noch am überzeugendsten durch das gelebte Beispiel. Darum werden die Kirchen sich zuerst ihren eigenen Gliedern zuzuwenden haben, und Geistliche und Laien werden gemeinsam nach Wegen der Umsetzung des eigenen Wertekatalogs, nicht zuletzt der Katholischen Soziallehre, im Einflußbereich eigener Verantwortung suchen müssen. Sie selbst müssen Subjekte ihres Handels werden und sich nicht als den Verhältnissen ausgeliefert betrachten.

Zwischen den Ortskirchen in der ehemaligen DDR und denen in der früheren Bundesrepublik muß das Gespräch über Zukunft und Hoffnung in Gang kommen, nicht nur zwischen Bischöfen. Im Osten tut man sich beispielsweise mit den vielen kirchlichen Verbänden und Gruppierungen, die -aus dem Westen kommend -in den neuen Bundesländern Fuß fassen wollen, sehr schwer. Man befürchtet, daß die kleinen Diasporagemeinden mit ihrem lebensgemeinschaftlichen Zusammenhalt in eine Existenzkrise geraten könnten, wenn sich eine vielfältige Verbandsstruktur der einzelnen Gemeindeglieder „bemächtigt“. Andererseits muß man sehen, daß die Auflösung der DDR-Gesellschaft als Zwangsgemeinschaft ein Vakuum für die Sozialisation hinterläßt. Gerade in einem vielgestaltigen, den Einzelinteressen entsprechenden Verbands-und Vereinswesen könnte der einzelne die erforderliche Einbindung und einen Halt erfahren.

VI. Die religiöse Dimension kirchlichen Handelns

Die religiöse Dimension kirchlichen Handelns ist bei den bisherigen Überlegungen kaum in den Blick gekommen. Darf sich aber das Wirken der Kirchen auf ihre horizontale Dimension, ihre „gesellschaftliche Nützlichkeit“, reduzieren, wie es in der „sozialistischen Vergangenheit“ gewünscht wurde? Der von manchen und besonders im Westen erwartete religiöse Aufbruch ist ausgeblieben. Nach der Euphorie der Friedensgebete müssen sich heute die Kirchen -die evangelischen noch mehr als die katholische -mit dem Phänomen der leerer als vor der Wende gewordenen Gotteshäuser auseinandersetzen. Vom missionarischen Charakter der Kirche ist derzeit wenig zu spüren. Zwar klingt im katholischen Raum das Wort des Papstes von der dringend notwendigen Neuevangelisierung hier und da auf. Doch wo es konkret wird und über den Appell hinausgehen soll, breitet sich Ratlosigkeit aus. „Missionieren“ klingt in den Ohren vieler außerhalb wie innerhalb der Kirche nach „indoktrinieren“ und kommt deshalb nicht in Frage. Das Naheliegende aber wird, wie so oft, übersehen: denn den Raum für den religiösen Beitrag der Kirche bietet die von den Menschen erfahrene Wirklichkeit. Sie bedarf der Deutung -einer Deutung, die ohne eine religiöse Perspektive fragwürdig wird. Dabei wird es nicht so sehr um „Bekehrung“ gehen, sondern um Einsicht in die Wirklichkeit aus der Perspektive des Glaubenden.

Es geht auch um Aufweis und Sinnerhellung von „Grenzen“. Denn gerade die Grenzerfahrungen angesichts der eigenen Erwartungen sind es, welche in der Gegenwart die Primärursachen für Frustrationen und einen gewissen Hang zum Radikalismus sind. Viele Menschen stehen jetzt einsam in sich selbst, haben in nichts anderem mehr Halt. Das aber ist ein Standort zwischen grenzenlosem Optimismus und bodenloser Angst. Die Zukunft scheint keine andere Voraussetzung mehr zu haben als die, die der Mensch in sich selber trägt. Und in seine Erwartung eines grandiosen, wenn auch mit Anstrengung verbundenen Aufstiegs, bricht der ihm unmenschlich scheinende Widersinn ein, der sich für viele mit Begriffen wie Abwicklung, Arbeitslosigkeit, ungeklärte Eigentumsfragen verbindet. Der derzeit erlebbare Zusammenbruch auf so vielen Gebieten, läßt die bittere Erkenntnis wachsen, daß der Mensch mit seiner Freiheit doch nicht alles leisten kann. Ob in ihm die Erkenntnis wächst, daß er einen Halt braucht, eine Ordnung, Orientierung, die mehr ist als die Freiheit zu sich selbst?

Ist die derzeitige Situation in den neuen Bundesländern also nichts anderes als eine langwierige Anpassungsphase? Könnte nicht ein Hintergrund der sein, daß sich der Geist des Fortschritts -nicht zu verwechseln mit dem „fortschrittlichen Geist“ des ehemaligen „real existierenden Sozialismus“ -in einer Krise befindet, die sich nun mitten in Deutschland und nicht mehr allein in der Zweiten, Dritten und Vierten Welt zeigt? Der Geist des Fortschritts, der gerade im Westen Deutschlands eine Intensität ohnegleichen erlebt hat: gelangt er jetzt nicht an seine Grenzen? -An Grenzen des Miteinanders: Es wird eine Frage der Zeit sein, bis ein Kommunikationsnetz installiert ist, das alles und alle umspannt.

Die neue Freiheit setzt sich unter Kommunikationszwang, aber unter diesem Zwang wächst die Einsamkeit. Je mehr die Menschen miteinander zu tun bekommen, desto mehr bleiben sie allein. Macht es nicht gerade einen wesentlichen Teil des sich zuspitzenden Konflikts aus, daß man trotz aller technischen Möglichkeiten von Kommunikation einander nicht (mehr) versteht? -An Grenzen der Natur und der Technik: Es ist schon zu einem Allgemeinplatz geworden, daß Vorräte und Lebensräume sich nicht beliebig vermehren lassen, man denke nur an Energie und Wohnraum für alle. Nicht alles technisch Mögliche ist auch praktisch machbar. Und je mehr wir „machen“ desto mehr, so scheint es, verbauen wir unseren Kindern den Lebensraum. Wo die Freiheit ihren eigenen mächtigen Willen hat, da ist nicht überall ein Weg.

-An Grenzen des Menschlichen: Was hat sich in der Vergangenheit nicht alles an Willkür, Gewalt und Grausamkeit ereignet! Und jetzt lassen Rücksichtslosigkeit, skrupellose Geschäftemacherei, Ausnutzen von Notlagen in ihrer neuen, freiheitlichen Gesellschaft die Menschen im Osten von neuem erschrecken. Die Grenzen des Menschlichen tun sich aber auch dort auf, wo der ehrliche Wille zu helfen da ist, die Hilfe sich aber nur auf die Bereitstellung finanzieller Mittel und das Angebot eigener praktikabler Problemlösungen beschränkt und nicht auf die tatsächliche, d. h. auch die seelische Lage der Menschen einzugehen vermag.

Käme es nicht darauf an, daß die Kirchen die Grenzen jener Freiheit aufzeigen, die alles kann und macht und hat -die aber gerade deshalb leer und einsam bleibt? Und käme es nicht darauf an, jene „andere“ Freiheit aufzuzeigen, die aufbricht im Gespräch, in der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du (was etwas anderes ist als die zwischen „Ossi“ und „Wessi“), im Geben und Nehmen, im Schenken und Beschenktwerden?

Wertorientierung und Sinnstiftung als Beitrag der Kirchen und der Christen -müßten sie nicht so aussehen: nicht rücksichtslose Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung, nicht zuerst Verteidigung der eigenen Ansprüche und Interessen, sondern selbstloser Einsatz für den bzw. die anderen? Jesu Gebot, daß wir einander lieben, wie er uns geliebt hat, ist nach christlicher Überzeugung notwendig zum Leben und Überleben. Ohne diese Haltung ist eine Zukunft in Menschlichkeit fraglich. Ohne daß wir uns bescheiden -ob wir nun von „alternativem Lebensstil“ reden oder nicht -, ohne Verzicht, der auch ja sagt zu Grenzen, überwinden wir diese Grenzen nicht. „Die Teilung durch Teilen überwinden“ darf keine Phrase bleiben. Ohne daß Menschen lernen, das Ich klein und das Du groß zu schreiben, ohne daß sie -auch unter Opfern -die unsichtbare Mauer durchstoßen, die immer noch trennt, sind diese Grenzen nicht zu überwinden. Das Miteinander kann nur in dem Maß glücken, wie alle immer neu bereit sind, aufeinander zuzugehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Gerhard Lange, geb. 1933; katholischer Priester, Ordinariatsrat im Bischöflichen Ordinariat Berlin (bisheriger Ostteil); Leiter der Arbeitsstelle für Zeitgeschichte im Bistum Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Der schwierige Weg vom DDR-Sozialismus in die Demokratie, Köln 1990; Der Einfluß der Perestroika auf die Kirche, Leuven 1990; Aufsätze zu den Themen: Verhältnis katholischer Glaube -SED-Ideologie, „Freie Deutsche Jugend (FDJ)“, Jugendweihe, „Berliner Konferenz europäischer Katholiken“, Freidenkerverband, Katholische Kirche in Litauen.