„Ein unbekanntes Land“ -Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden in Ostdeutschland
Roland Habich/DetlefLandua/Wolfgang Seifert/Annette Spellerberg
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden vor allem auf der Grundlage des Wohlfahrtssurvey-Ost, der im Herbst 1990 in der früheren DDR durchgeführt wurde, Basisdaten zum Vergleich der objektiven Lebensbedingungen und des subjektiven Wohlbefindens zwischen Ost-und Westdeutschland präsentiert. Neben dem Wohlfahrtsgefälle zwischen beiden Teilen Deutschlands wird auf Ähnlichkeiten und Unterschiede sowohl in der sozialstrukturellen Gliederung als auch in Lebens-und Familienformen aufmerksam gemacht. Dabei wird illustriert, daß in einem Gesamtbild der Sozialstruktur quantitativ nur wenig Verschiebungen sichtbar werden; vermutete Veränderungen in einzelnen sozialen Lagen sind allerdings mit nicht unerheblichen Konfliktpotentialen verbunden. Ein zentrales Ergebnis im Bereich des subjektiven Wohlbefindens lautet, daß sich nicht nur im Bereich grundlegender Wertorientierungen wesentliche Unterschiede zeigen; vor allem sind unterschiedliche konkrete Ansprüche und Erwartungen im Hinblick auf einzelne Lebensbereiche zu erkennen. Vor dem Hintergrund dieser Differenzen bewerten die Bürger Ostdeutschlands ihre Lebensverhältnisse wesentlich negativer als die westdeutsche Bevölkerung -das Wohlbefinden der ostdeutschen Bevölkerung ist alles in allem auf ähnlich niedrigem Niveau wie das westdeutscher Problemgruppen. Ausgehend von diesen Befunden wird die These vertreten, daß neben der notwendigen Angleichung der objektiven Lebensverhältnisse ein besonderes Augenmerk auf die vermutlich auch weiterhin „anderen“ Einstellungen und Ansprüche zu richten ist.
I. Einleitung
Ende 1989. Pioniergeist kam auf. Auch in der Umfrageforschung. Ein unerforschtes Land. Welch eine Chance -16 Millionen unbefragte Personen. Viele zogen aus, dieses Land zu erforschen: Wie lebt, wie arbeitet, was denkt, was fühlt, was erhofft, befürchtet der dort lebende Mensch? Schnell wurden die zuvor unüberwindbaren Hürden übersprungen, mit ehrbaren Absichten und häufig mangelnder Ausrüstung, getrieben auch in manchmal blind machendem Eifer. Goldgräberstimmung breitete sich aus in der ansonsten als behäbig gescholtenen Profession. Jeder wollte der erste sein, Claims abzustecken, zeigen, was man kann, das zuhausegebliebene Publikum unterrichten
Abbildung 6
Schaubild 4: Lebens- und Familienformen in Ost- und Westdeutschland
Andere -wie wir -mußten zunächst abwarten, planten die Reise, formulierten Anträge für die notwendigen Finanzmittel, fanden landeskundliche Experten, überprüften ihr Werkzeug, stellten sich -so gut es ging -auf das noch unbekannte Land ein. Erste zeitgenössische Reiseberichte aus einheimischer Sicht erschienen, beschrieben die Lage, wurden gelesen, diskutiert und analysiert -viele Fragen blieben offen Wie groß war die Bevölkerung, die es zu untersuchen galt, wie sind die zu finden, die im Namen aller Auskunft geben können? Pläne wurden entworfen, getestet, verworfen. Fragen geprüft, Konzepte und Methoden seit langer Zeit zum ersten Male wieder ihren Grundlagen gegenübergestellt. Werden wir verstanden, wenn wir fragen wie bisher bei uns; verstehen wir die Antworten auf unsere Fragen? Ist Ähnliches vergleichbar; ist Verschiedenes wirklich verschieden
Abbildung 7
Tabelle 2: Ausgewählte objektive Merkmale in unterschiedlichen Lebens-und Familienformen
Expertenrat war nötig, gesucht und gefunden. Routen wurden entworfen und geplant; ein Netz geworfen über das Land, die Ausgangspunkte der Erkundungen festgelegt, landeskundige Erfahrungen genutzt. Die erste derartig vorbereitete Expedition zog im Juni 1990 aus, die Menschen zu fragen, die zweite folgte im Herbst Andere, viele waren uns zuvorgekommen, waren schon vor Ort -oft auch zu früher Zeit am falschen Ort. Diese fanden, was sie zu suchen glaubten: verwirrende Mosaiksteinchen für ein erstes Bild; der Schein war nur schwer vom Sein zu unterscheiden
Abbildung 8
Tabelle 3: Ausgewählte subjektive Merkmale in unterschiedlichen Lebens-und Familienformen
Auch wir haben den Stein der Weisen nicht gefunden, jedoch unser Ziel so gut es ging erreicht: ein umfassendes Bild über die soziale Lage der früheren DDR-Bevölkerung, die Wahrnehmung ihrer eigenen Lebensverhältnisse erfaßt, ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Wünsche und Erwartungen, ihre Beurteilung über das Vergangene und das Kommende dokumentiert. In diesem Aufsatz werden wir empirische Ergebnisse zur sozialen Lage, zu einigen Elementen der Sozialstruktur der früheren DDR und zum subjektiven Wohlbefinden, d. h. zu Ansprüchen, subjektiven Bewertungen der ostdeutschen Bevölkerung -im Ost-West-Vergleich und im zeitlichen Verlauf der letzten sechs Monate im Jahre 1990 -präsentieren. Zugleich sollen einige Thesen und Ideenskizzen über die weitere Entwicklung zur Diskussion gestellt werden.
II. Sozialbenchterstattung und Dauerbeobachtung sozialen Wandels
Abbildung 2
Tabelle 1: Indikatoren zu objektiven Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland
Sozialberichterstattung ist an den Zielen der Dauerbeobachtung des sozialen Wandels und der Wohlfahrtsentwicklung orientiert. Wohlfahrtsentwicklung ist zu beobachten als Entwicklung der objektiven Lebensbedingungen, der subjektiv wahrgenommenen Lebensqualität und des Zusam-menhangs beider. Gute Lebensbedingungen, die auch als gut wahrgenommen werden, ist eine einfache Definition von Wohlfahrt. Gute Lebensbedingungen, positive soziale Zugehörigkeit, erfüllte Selbstverwirklichung ist eine emphatische Bestimmung analog der Formel von Erik Allardt: Having,Loving, Being. Having meint die Realisierung materieller Bedürfnisse und Interessen, Loving zielt auf Bedürfnisse der sozialen Zugehörigkeit und Partizipation ab, mit Being schließlich treten Bedürfnisse der Selbstverwirklichung hinzu
-Aufdeckung von Diskrepanzen und Risiken, Identifizierung gesellschaftspolitischer Problemgruppen; -Einbringen der Perspektive des Bürgers, Wählers, Kunden, Klienten in die gesellschaftspolitische Debatte.
Abbildung 12
Schaubild 5: Zufriedenheit mit Lebensbereichen
Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1988 und 1990-Ost.
Schaubild 5: Zufriedenheit mit Lebensbereichen
Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1988 und 1990-Ost.
Das Basiskonzept der empirischen Wohlfahrtsforschung und Sozialberichterstattung soll an dieser Stelle auf die in folgender Übersicht zusammengefaßten Dimensionen reduziert werden, obgleich dies lediglich einen Teilbereich des jeweiligen Frageprogrammes abdeckt Unsere Argumentation in diesem Aufsatz wird sich an den ausgewiesenen Dimensionen orientieren.In dieser Übersicht wird ein relativ einfaches Modell dargestellt, in dem den gegebenen objektiven Lebensbedingungen, den darauf bezogenen Ansprüchen und Erwartungen und schließlich den damit verbundenen individuellen Bewertungen (u. a. im Sinne von Zufriedenheit) eine jeweils eigene und vor allem kombinierte Aussagekraft zur übergreifenden Bewertung der wahrgenommenen Lebensqualität zukommt. Daneben spielen allgemeine Wertorientierungen gerade im Ost-West-Vergleich eine wesentliche Rolle. Im folgenden werden wir zu diesen Dimensionen empirische Befunde präsentieren
Abbildung 13
Tabelle 7: Werteinstellungen und Wichtigkeit von Lebensbereichen
Im Gang unserer Argumentation werden wir zunächst ausgewählte Indikatoren zum Vergleich der objektiven Lebensbedingungen benutzen, um das Wohlfahrtsgefälle zu beschreiben. In einem zweiten Schritt greifen wir dann die Idee auf, anhand sozialstruktureller Kriterien ein Gesamtbild typischer sozialer Lagen im vereinten Deutschland zu präsentieren. Dabei kann zum einen illustriert werden, wie die so konstruierte Sozialstruktur aussehen wird; zum anderen soll gezeigt werden, daß sich hinter vergleichbaren sozialen Lagen erhebliche Unterschiede in den damit verbundenen Lebenschancen verbergen. Ähnlichkeiten und Differenzen werden auch im nächsten Schritt aufgezeigt, indem wir Lebens-und Familienphasen in Ost-und Westdeutschland vergleichen. Dies dient auch der empirischen Bestandsaufnahme, ob sich die oft vermutete andere Lebensplanung im Osten Deutschlands nachvollziehen läßt.
Abbildung 14
Tabelle 8: Vergleich von Arbeitseinstellungen (Angaben in Prozent)
Mit der daran anschließenden Darstellung des unterschiedlichen subjektiven Wohlbefindens wird der Überlegung Rechnung getragen, daß für die Beurteilung des Wohlfahrtsgefälles und der Angleichungschancen individuelle Bewertungen eine wesentliche Rolle spielen -hier erweist sich die Gesamtbevölkerung Ostdeutschlands als „gesamtdeutsche Problemgruppe“.
Abbildung 15
Tabelle 9: Optimismus in einzelnen Lebensbereichen
Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1990-Ost.
Tabelle 9: Optimismus in einzelnen Lebensbereichen
Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1990-Ost.
Individuelle Bewertungen gegebener Lebensverhältnisse werden vor dem Hintergrund spezifischer Ansprüche abgegeben. Daß solche Orientierungen und Ansprüche im Osten nicht nur ein anderes Niveau haben, sondern auch als Ausdruck einer anderen Anspruchshaltung und Mentalität begriffen werden können, steht im Mittelpunkt des nächsten Abschnittes. Diese Beschreibung soll durch eine Zeitperspektive ergänzt werden: Der Blick nach vorn soll auf den doppelten Zukunftshorizont (Helmut Klages) aufmerksam machen; Optimismus und Zukunftsangst sind gleichermaßen Aspekte der weiteren Entwicklung.
Abbildung 16
Schaubild 6: Subjektive Arbeitsmarktchancen bei möglichem Arbeitsplatzverlust "Neue Stelle wäre zu finden“
Datenbasis: Juni -DDR-SOEP, Welle 1; November -Wohlfahrtssurvey 1990-Ost.
Schaubild 6: Subjektive Arbeitsmarktchancen bei möglichem Arbeitsplatzverlust "Neue Stelle wäre zu finden“
Datenbasis: Juni -DDR-SOEP, Welle 1; November -Wohlfahrtssurvey 1990-Ost.
Wir werden dabei argumentieren, daß das Wohlfahrtsgefälle in den objektiven Lebensbedingungen zwischen beiden Teilen Deutschlands im beginnenden Transformationsprozeß von überragender Bedeutung sein wird; in einer mittelfristigen Perspektive könnten allerdings subjektive Komponenten in den Vordergrund treten. Politische Maßnahmen -im Sinne von Ralf Dahrendorf normale Politik im Gegensatz zu Verfassungspolitik -können und werden dazu beitragen, daß sich die Lebensverhältnisse allmählich angleichen. Ob dadurch bereits Potentiale für das „Zusammenwachsen“ gegeben sind, würden wir eher mit Skepsis beurteilen: Wir werden zu zeigen versuchen, daß 40 Jahre DDR-Geschichte nicht nur „andere“ Lebensbedingungen geschaffen haben, sondern daß damit auch „andere“ Werte, Einstellungen, Ansprüche verbunden sind, die sich nicht bruchlos in das westdeutsche Wertesystem transformieren lassen. In dieser subjektiven Dimension könnten spezifische Probleme und Konfliktpotentiale der weiteren Entwicklung liegen.
III. Objektive Lebensbedingungen -ein Überblick
Abbildung 3
Schaubild 1: Anteil erwerbstätiger Ehefrauen in einzelnen Altersgruppen
1. Basisdaten Als ein Resultat der 40 Jahre anhaltenden Teilung der beiden deutschen Staaten verbleibt auch nach der Wiedervereinigung ein hohes Ausmaß an Unkenntnis über die konkreten Lebensumstände im anderen Teil Deutschlands Empirische Befunde über objektive Lebensbedingungen im Osten Deutschlands bewirken allerdings beim Leser oftmals ein unvermeidliches Dejä-vu-Erlebnis, das möglicherweise weniger auf Fakten als auf Vermutungen beruht. Die scheinbar triviale Feststellung, daß die ehemalige DDR eine -verglichen mit der Gesellschaft der Bundesrepublik -andere Gesellschaft war und immer noch ist, muß empirisch belegt werden. Es ist deshalb naheliegend, zunächst anhand einiger ausgewählter Indikatoren die überwiegend unterschiedlichen objektiven Lebensbedingungen in Ost-und Westdeutschland anzusprechen. Wir haben dazu wenige Indikatoren ausgewählt: Zu den für die Lebenschancen zentralen Bereichen Einkommen, Wohnen und Erwerbs-beteiligung, zur Konfessionszugehörigkeit sowie für den Umweltbereich werden einige Basisinformationen dokumentiert.
Haushaltseinkommen: Das Haushaltseinkommen pro Kopf zeigt im Ost-West-Vergleich selbstverständlich noch erhebliche Differenzen. Die Bürger der ehemaligen DDR „erreichen“ insgesamt lediglich rund 60 Prozent des Einkommensniveaus eines westdeutschen Haushalts. Für die Versorgungs-klassen der Rentner und Arbeitslosen stellt sich die Einkommenssituation (bis Ende 1990) noch ungünstiger dar. Gleichzeitig ist aber zu berücksichtigen, daß der Anteil der Wohnungsmieten am Haushaltseinkommen im Westen (noch) rund viermal so hoch ist wie im Ostteil Deutschlands. Die absolute Höhe der Einkommen läßt insofern nur eingeschränkte Aussagen über die Bedarfsdekkungsmöglichkeiten der Privathaushalte zu.
Wohnsituation: Erhebliche Unterschiede sind auch bei zentralen Aspekten der Wohnungsversorgung erkennbar Neben dem zunächst vielleicht überraschend hohen, aber im Vergleich zum Westen deutlich geringeren Anteil an Wohnungseigentum in Ostdeutschland beziehen sich diese Unterschiede auch auf die Qualität der Wohnungsausstattung. Die Verbreitung von Bad/Dusche, Innentoilette und insbesondere Zentralheizung weist ein erhebliches Ost-West-Gefälle auf. Weniger als die Hälfte aller Wohnungen (49 %) in der ehemaligen DDR verfügt über alle drei genannten Ausstattungsmerkmale. Trotz der früheren Anstrengun-gen, die sanitär-und heizungstechnische Ausstattung der Wohnungen durch Neubau und Modernisierung zu verbessern, bleibt der bis 1990 erreichte Stand hinter dem Niveau vieler westeuropäischer Staaten zurück. Die Wohnverhältnisse in Westdeutschland haben sich in den letzten Jahrzehnten zwar ständig verbessert, aber nach wie vor gibt es Versorgungsprobleme, die sich in jüngster Zeit sogar wieder verstärkt haben Dennoch lebt die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung in guten Wohnbedingungen.
Erwerbsbeteiligung: Der Arbeitsmarkt der ehemaligen DDR ist durch eine hohe Frauenerwerbsquote gekennzeichnet Fast drei Viertel aller ost-deutschen Frauen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren waren Ende 1990 (noch) erwerbstätig. Diese Quote übersteigt die westdeutsche um mehr als das Doppelte. Auf der Basis der Erwerbsquoten verheirateter Frauen (Schaubild 1) wird deutlich, daß -im Gegensatz zum westlichen Teil der Bundesrepublik -Familienhaushalte mit „Zweit-Verdienern" in der ehemaligen DDR der Regelfall waren und sind. Die erkennbaren Einkommensunterschiede zwischen ost-und westdeutschen Haushalten erhalten durch diesen Tatbestand ein zusätzliches Gewicht. Ob der momentane Freisetzungsprozeß von Frauen weiter anhalten wird, bleibt unklar; aus dieser Gruppe dürfte aber auch der Personalbestand für den sich entwickelnden Dienstleistungsbereich kommen. Wahrscheinlich ist auch, daß die westdeutsche Diskussion um Frauenerwerbstätigkeit, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Erfahrungen der DDR-Frauen intensiviert wird.
Konfessionszugehörigkeit: Auch andere, sozial-strukturell bedeutsame Gesellschaftsbereiche werden durch die Wiedervereinigung substantiell verändert. Nur jeder dritte Ostdeutsche gehört einer Kirche an, im vereinten Deutschland wird deshalb der Anteil der Konfessionslosen von rund acht auf fast 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ansteigen und damit das laizistische Element verstärken
Umwelt: In jedem der von uns abgefragten Umweltbereiche äußerten erheblich mehr Ost-als Westdeutsche, von wahrnehmbaren Umweltbelastungen an ihrem Wohnort „stark“ bzw. „sehr stark“ betroffen zu sein (Schaubild 2). Fast 60 Prozent der Befragten im Osten der Bundesrepublik (Westen: 23%) klagen über die Luftverschmutzung, fast 40 Prozent (Westen: 17 %) kritisieren das Ausmaß der Landschaftszerstörung und jeder Dritte klagt über Lärmbelästigung (28%) und schlechte Wasserqualität (13%). Entgegen der in der Öffentlichkeit stets zitierten Überein-stimmung von ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen in der DDR bestanden gravierende Diskrepanzen zwischen Anspruch und Realität. Die ehemalige Staatsführung der DDR hat dem vereinten Deutschland als Umwelt-Erbe eine schwere ökologische Krise hinterlassen, die zusätzlich zu den weiterhin notwendigen westdeutschen Umweltschutzmaßnahmen Staat und Bürgern gewaltige Leistungen abverlangen wird. 2. Ein Gesamtbild sozialer Lagen im vereinten Deutschland Das wiedervereinigte Deutschland umfaßt nicht nur zwei Gesellschaftssysteme, die sich hinsichtlich vieler objektiver Lebensbedingungen voneinander unterscheiden; auch einzelne Elemente der sozialen Schichtung der „alten“ Bundesrepublik haben sich prägnant verändert. Wir möchten diese Veränderungen im folgenden anschaulich machen, indem wir ein Gesamtbild der Sozialstruktur der „alten“ und „neuen“ Bundesrepublik präsentieren (Schaubild 3). Hierzu wird die erwachsene Bevölkerung der ehemaligen DDR (1990) und der BRD (1988) in einzelne soziale Lagen unterteilt, die durch Erwerbsstatus, Geschlecht, Alter (18 bis 60/über 60 Jahre) und Berufsgruppen bestimmt sind. Bei dieser Darstellungsweise ist zu berücksichtigen, daß die ehemalige DDR mit rund 16 Millionen Einwohnern lediglich knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung Deutschlands ausmacht und augenfällige Veränderungen der gesellschaftlichen Grundstruktur damit schon aus quantitativen Gründen kaum vorherrschend sein können. Mittels der maßstabsgerechten Darstellungsweise erhält man ein plastisches Bild der unterschiedlichen sozialstrukturellen Gliederung in Ost-und Westdeutschland: Die DDR war eine Arbeitsgesellschafi mit einer deutlich höheren Erwerbsquote, insbesdndere der Frauen. Die (größenproportional umgerechneten) Anteile weiblicher Beschäftigter in Ostdeutschland liegen in fast allen Erwerbstätigengruppen deutlich über den Anteilen in Westdeutschland. Umgekehrt zählen die großen westdeutschen Soziallagen mit hohem Frauenanteil (Hausfrauen, noch nie hauptberuflich Erwerbstätige) im Osten zu eher marginalen Randgruppen. Die auch in Westdeutschland relativ kleine Gruppe der Selbständigen erhielt nach der Wiedervereinigung zunächst noch wenig Zustrom aus dem ostdeutschen Erwerbspersonenpotential.
Die DDR war eine Arbeitergesellschaft, präziser: eine Facharbeitergesellschafi aber mit einem nicht unerheblichen Leitungsüberbau und zugleich Unternutzung der Fachqualifikationen. Erkennbar sind auch negative Folgen des sozialstrukturellen Transformationsprozesses in der ehemaligen DDR, beispielsweise in Gestalt des überproportionalen Anteils an (überwiegend weiblichen) Arbeitslosen.
Der Vergleich macht deutlich, daß sich die gesellschaftliche Gliederung der „alten“ Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung nur in wenigen Aspekten sichtbar verändert. Zusammenfassend läßt sich die Sozialstruktur Deutschlands Ende 1990 durch eine insgesamt höhere Erwerbsquote, vor allem durch die höhere Frauenerwerbstätigkeit, kennzeichnen. Als weitere neue, substantielle Merkmale sind der höhere Arbeiteranteil und der „Kaderüberhang“ festzuhalten. Sicher sind viele dieser Strukturmerkmale durch den sich beschleunigenden Umstrukturierungsprozeß in Ostdeutschland nicht von dauerhafter Art. Sollte die Transformation überwiegend in westliche Richtung gehen, dann liegen genau hier bereits wirksame und zukünftige Konfliktquellen: Kurzarbeit; Arbeitslosigkeit, insbesondere Frauenarbeitslosigkeit; Dequalifikation von Kadern und Facharbeitern. 3. Lebens-und Familienformen Die Familie ist ein zentraler Lebensbereich; von großer Bedeutung ist sie für die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse. Die Familie kann Spannungsausgleich und ein emotionales Rückzugsfeld gegenüber Ansprüchen von „außerhalb“ bieten. Ehe und Familie leisten somit Beiträge zum subjektiven Wohlbefinden ihrer Mitglieder. Für die Familie läßt sich eine Abfolge typischer Entwicklungsphasen bestimmen: junge Erwachsene in der vorehelichen Phase, die noch bei ihren Elternoder bereits (alleine) in einem eigenen Haushalt leben; junge Verheiratete, die noch keine Kinder haben; Verheiratete mit Kleinkindern, Schulkindern, erwachsenen Kindern; die „nachelterliche Gefährtenschaft“ der Ehepaare, deren Kinder den elterlichen Haushalt verlassen haben; schließlich die Phase, die mit der Verwitwung beginnt. Daneben gibt es andere Lebens-und Familienformen wie Ledige, die mit dem Partner Zusammenleben, und die sogenannten Alleinerziehenden; schließlich noch die Geschiedenen und diejenigen, die ihr Leben lang unverheiratet bleiben. a) Verteilungen von Lebens-und Familienformen Der Vergleich der Verteilungen dieser Lebens-und Familienformen zeigt für Ost-und Westdeutschland erstaunlich viele Parallelen, aber auch kleinere, nennenswerte Unterschiede (Schaubild 4). In Ost-und Westdeutschland stellen Ehe und Familie die vorherrschenden Formen des Zusammenlebens dar. Unterschiede ergeben sich in der Verteilung der Familienformen nicht zuletzt durch das (bislang noch) niedrigere Heiratsalter in der ehemaligen DDR. Dies findet seine Entsprechung in dem geringeren ostdeutschen Anteil an jungen Ledigen ohne Partner und Kinder, die noch bei ihren Eltern wohnen (erste Gruppe), sowie in dem höheren Anteil an älteren Ehepaaren ohne Kinder im Haushalt. Die überproportionalen Anteile an Geschiedenen und Alleinerziehenden im Ostteil Deutschlands verweisen auf eine vergleichsweise hohe Dynamik der DDR-Familienverhältnisse. Dies ist ein bemerkenswerter Befund angesichts der erklärten Ziele der Sozial-und Familienpolitik der DDR, die auf stabile, auf Ehe beruhenden Familien ausgerichtet war b) Objektive Lebensbedingungen Angesichts der ähnlichen Verteilung sollte nicht außer acht gelassen werden, daß jede der angeführten Lebens-und Familienformen mit spezifischen objektiven Lebensbedingungen (Tabelle 2) und subjektiven Befindlichkeiten (Tabelle 3) verknüpft ist. Betrachtet man den durchweg niedrigen Anteil nichterwerbstätiger Frauen in der ehemaligen DDR, so vermittelt sich -zumindest äußerlich -der Eindruck, daß die sozialpolitischen Maßnahmen zur Förderung von Frauen und jungen Familien, vor allem zur Ermöglichung der Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft, sehr erfolgreich waren. Selbst verheiratete Frauen mit Kleinkindern gehen mehrheitlich (62%) einer hauptberuflichen Erwerbstätigkeit nach. Dementsprechend höher als in Westdeutschland ist die durchschnittliche Zahl der erwerbstätigen Personen in den einzelnen Lebens-und Familienformen. Allerdings ermöglicht selbst dieser hohe Anteil an zusätzlichen Einkommensquellen pro Haushalt in der ehemaligen DDR keine Angleichung an die entsprechenden westlichen Einkommensverhältnisse. Vielmehr stellt sich bislang, insbesondere für Familien mit Kleinkindern, das Vorhandensein eines „Zweit-Verdieners“ im Haushalt geradezu als eine ökonomische Notwendigkeit dar. Aus finanzieller Sicht höchst problematisch ist vor allem die Lage der Alleinerziehenden im Ostteil Deutschlands. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen pro Kopf dieser (überwiegend weiblichen und geschiedenen) Personen liegt in der Hierarchie aller Familien-und Lebensformen an letzter Stelle.
Ein erklärtes Ziel des Wohnungsbauprogramms der alten DDR-Führung galt dem Abbau von Disproportionen in den Wohnbedingungen zwischen einzelnen sozialen oder demographischen Gruppen. Statistisch zuverlässige Angaben über Wohnraumversorgung, Wohnungsgröße etc. beispielsweise von Arbeiterhaushalten oder einzelnen Familientypen wurden jedoch nicht veröffentlicht. Die „Fortschritte“ wurden in der politischen Argumentation allein durch die Vergabepraktiken der örtlichen Staatsorgane belegt.
An der Belegungsdichte der Wohnungen kann für die „alte“ Bundesrepublik die in den letzten Jahrzehnten kontinuierliche Verbesserung der Wohnverhältnisse abgelesen werden: 1988 standen jeder Person durchschnittlich fast 1, 7 Wohnräume zur Verfügung; für viele ostdeutsche Familien zeichnet sich hier ein teilweise höchst negatives Bild ab. Obwohl auch in der ehemaligen DDR bestimmte Familien-und Lebensformen mit einer durchaus angemessenen Belegungsdichte ihrer Wohnungen existierten (Ältere, Alleinstehende), entspricht die Belegungsdichte von 1, 37 nur dem Stand der „alten“ Bundesrepublik vor über 20 Jahren in vielen ostdeutschen Familien mit Kindern müssen sich sogar mehrere Angehörige einen Raum ihrer Wohnung teilen. Im Gesamteindruck zeichnet sich damit in Ostdeutschland eine deutliche -der westdeutschen vergleichbare -Differenzierung der Belegungsdichte der Wohnungen einzelner Familien-und Lebensformen ab. Kennzeichen der ostdeutschen Verhältnisse ist auch hier wiederum das durchweg niedrigere Niveau der Lebensbedingungen.c) Subjektives Wohlbefinden Die spezifischen Lebensbedingungen und die Besonderheiten und Belastungen der Umbruchsituation des Jahres 1990 wirken sich -zumindest in Ostdeutschland -auf die subjektive Befindlichkeit der Menschen aus (Tabelle 3). So fühlen sich Alleinerziehende, Geschiedene, ältere Ledige sowie insbesondere ältere Verwitwete in Ost und West oft unglücklich oder einsam. Erwartungsgemäß sind demgegenüber Verheiratete in der Regel nur unterdurchschnittlich von diesen subjektiven Problemlagen betroffen. Im östlichen Teil Deutschlands sind diese Symptome in fast allen Lebens-und Familienformen vergleichsweise häufiger erkennbar. Vor allem in dem hohen Ausmaß gefühlsmäßiger Beeinträchtigungen alleinerziehender, geschiedener und verwitweter Ostdeutscher dürften dabei die -auch im Westen erkennbaren -subjektiven Belastungen dieser Lebensformen und die fehlende Unterstützung familialer Netzwerke im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungen kumulieren.
Die Zufriedenheit mit der Arbeitsteilung im Haushalt erhält als Indikator nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Erwerbsquoten verheirateter Frauen in Ost-und Westdeutschland ihre Brisanz. In beiden Teilen Deutschlands ist die Zufriedenheit mit der haushaltsinternen Arbeitsteilung insgesamt recht hoch, gleichzeitig zeichnet sich dabei aber ein deutliches geschlechtsspezifisches Zufriedenheitsgefälle in West und Ost ab. Frauen bewerten die Arbeitsteilung im Haushalt durchweg schlechter als Männer. Bezüglich der Belastung durch Haushalt und Kinderbetreuung finden Frauen offensichtlich nur bedingt Unterstützung seitens der Männer; nur eine Minderheit der Männer fühlt sich für die Hausarbeit (mit-) verantwortlich. Der Ausbau von Kindertagesstätten in der ehemaligen DDR war, vor allem für Ehefrauen mit Kindern, eine notwendige Maßnahme zur Begrenzung der Mehrfachbelastung von Frauen durch Kinder, Haushalt und Beruf. Einen wesentlichen Wandel der (privaten) Vorstellungen über die innerfamiliale, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung hatten diese sozialpolitisehen Maßnahmen aber nicht zur Folge.
Die Bewertung von Ehe und Partnerschaft kann als ein zentraler Indikator für den Zustand einer Beziehung angesehen werden. Die jeweiligen Zufriedenheitsangaben der Befragten geben damit zugleich auch Aufschluß über den Zustand in einem der wichtigsten privaten Lebensbereiche. Ehe bzw. Partnerschaft werden in Ost-und Westdeutschland insgesamt sehr hoch bewertet. Dennoch variiert das Zufriedenheitsniveau in einzelnen Lebens-und Familienformen und zwischen Männern und Frauen zum Teil erheblich. Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften werden in Ost und West vergleichsweise schlecht bewertet, allerdings ist die Ursache dieses geringen Zufriedenheitsniveaus, zumindest für die „alte“ Bundesrepublik, vor allem in den relativ schlechten Bewertungen von Männern zu suchen. Verheiratete Frauen in Westdeutschland sind mit ihrer Ehe in allen Familienphasen durchschnittlich etwas unzufriedener als die Ehemänner, das jeweilige Zufriedenheitsgefälle ist aber nicht sehr stark ausgeprägt. Die Zufriedenheitsdifferenzen zwischen ostdeutschen Ehepartnern erreichen hingegen teilweise ein bemerkenswertes Ausmaß.
So bewerten beispielsweise in jungen Ehen ohne Kinder Ehemänner ihre Beziehung deutlich schlechter und umgekehrt sind in Ehegemeinschaften mit erwachsenen Kindern Ehefrauen mit ihrer Beziehung im Durchschnitt erheblich unzufriedener als Männer. Das absolute Bewertungsniveau und das bestehende Zufriedenheitsgefälle zwischen Ehepartnern sind allein sicher keine hinreichenden Erklärungen für die relativ hohe Instabilität ostdeutscher Ehen, wohl aber sind sie als Faktoren zur Erklärung der hohen Scheidungsziffer in der ehemaligen DDR mit zu berücksichtigen.
IV. Subjektives Wohlbefinden
Abbildung 4
Schaubild 2: Umweltbelastungen am Wohnort -(Sehr) starken Grund zur Klage haben bezüglich:
1. Wahrgenommene Lebensqualität Neben objektiven Aspekten wird die Lebensqualität auf der subjektiven Ebene mit Fragen zur Zu-friedenheit, zum Glück, zu Sorgen und zu Anomiesymptomen untersucht. Im Indikator „Zufriedenheit“ drückt sich eine bilanzierende Bewertung der persönlichen Lebensbedingungen vor dem Hintergrund eigener Erwartungen, Hoffnungen und Ansprüche aus. Glück ist ein eher affektiver Zustand, dessen Ausmaß stärker unmittelbar durch positive und negative Erlebnisse beeinflußt wird
Das subjektive Wohlbefinden war in der alten Bundesrepublik über die letzten zehn Jahre hin-weg auf hohem Niveau stabil 1988 lag der Durchschnittswert des Indikators „allgemeine Le-benszufriedenheit“ bei 7, 9. Die Bevölkerung der ehemaligen DDR weist mit einem Mittelwert von 6, 5 ein deutlich niedrigeres Niveau auf. Der Anteil der Unzufriedenen ist dreimal so hoch wie im 1Westen (13% zu 4%). Ähnliche Unterschiede zz eigen sich bei der Einschätzung der emotionalen 1Befindlichkeit (vgl. Tabelle 4). Während im Osten etwa jeder sechste Befragte angab, „sehr oder z] iemlich unglücklich“ zu sein, war es im Westen l. ediglich jeder zwanzigste. Insgesamt weisen diese Ej rgebnisse auf ein im Vergleich zum Westen deutljich geringeres Wohlbefinden in der ehemaligen 1DDR hin. Die Bevölkerung im Osten Deutsch-l 1ands vermittelt in der Selbsteinschätzung ihrer (Lebensumstände ein Bild, das im Westen lediglich bei typischen Problemgruppen (Arbeitslose/alleinlebende, einsame Ältere/dauerhaft gesundheitlich 1Beeinträchtigte) anzutreffen ist. Die vergleichsweise stärkere Beeinträchtigung der Lebensqualität zeigt sich ebenfalls in der Ausprägung von Besorgnis-und Anomiesymptomen (Tabellen 5 und 6). In der ehemaligen DDR sind die Gefühle von Orientierungslosigkeit, Sinnlosigkeit und Einsamkeit sowie Sorgen verbreiteter als im Westen Erwähnt werden sollte jedoch auch, daß sich mehr als ein Drittel der Befragten durch keines der Besorgnissymptome beeinträchtigt fühlt -obgleich dies im Vergleich zum Westen ein relativ geringer Bevölkerungsanteil ist (37 % im Osten, 47 % im Westen). Der tiefgreifende soziale Wandel trifft einzelne Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark, in negativer wie auch in positiver Hinsicht. Vor allem Frauen, Arbeitslose und Befragte mit niedrigerem Bildungsabschluß zeigen sich verunsichert. Ebenso ist davon auszugehen, daß in diesen Angaben unterschiedliche Bewältigungsstrategien und Ressourcen, sich mit den veränderten Lebensverhältnissen zu arrangieren, zum Ausdruck kommen. 2. Zufriedenheit nach Lebensbereichen In den Wohlfahrtssurveys wird die Frage nach der Zufriedenheit nicht nur als zusammenfassende Bewertung der allgemeinen Lebensbedingungen verwendet, sondern auch für die Beurteilung einzelner Lebensbereiche, wie Familie, Arbeitsplatz, Haushaltseinkommen, Gesundheit, politische Beteiligung, öffentliche Sicherheit oder Umweltschutz. In beiden Teilen Deutschlands stehen die privaten Bereiche Familie, Ehe/Partnerschaft und Arbeitsteilung im Haushalt an der Spitze einer Rangfolge der Zufriedenheiten, während die öffentlichen Bereiche Umweltschutz und öffentliche Sicherheit mit hoher Unzufriedenheit bewertet werden. Diese Problemfelder werden in Ostdeutschland erst seit der Wiedervereinigung deutlich wahrgenommen: Probleme des Umweltschutzes wurden vorher eher verharmlost; eine unklare Rechtslage, mangelnde Autoritäten ebenso wie Meldungen über steigende Gewalttätigkeiten führten zum Vertrauensschwund in die öffentliche Sicherheit. Ein großer Problemdruck besteht aber nicht nur in diesen öffentlichen Belangen, sondern wird auch bei den privaten materiellen Lebensbedingungen wahrgenommen: beim Haushaltseinkommen, bei der Wohnung, beim Lebensstandard und bei der sozialen Sicherheit.
Bemerkenswert ist, daß hinsichtlich der materiellen Lebensbedingungen die Unzufriedenheit in Ostdeutschland noch zunimmt, wie der Vergleich zwischen den Angaben im Sozio-ökonomischen Panel (Juni 1990) und im Wohlfahrtssurvey-Ost (November 1990) zeigen. Die Tendenzen sind trotz des kurzen Zeitraumes klar erkennbar: Die Zufriedenheit mit dem Einkommen sank im Durchschnitt von 5, 5 auf 4, 7; mit der Arbeit von 7, 2 auf 6, 7; mit der Wohnung von 6, 9 auf 6, 5 und im Umweltbereich von 3, 1 auf 2, 2. Da noch nicht abzusehen ist, wann die Talsohle im Osten durchschritten sein wird, dürfte diese massive Unzufriedenheit weiter fortbestehen oder sich sogar noch verstärken. 3. Einstellungen und Wertorientierungen Der Unzufriedenheit in einzelnen Lebensbereichen sollte vor allem Beachtung geschenkt wer-den, weil diese das subjektive Wohlbefinden stark beeinflussen. Werden die Wichtigkeitseinschätzungen im Sinne von Ansprüchen an einzelne Lebensbereiche interpretiert, so zeigt sich zunächst eine höhere Anspruchshaltung bei der ostdeutschen Bevölkerung. Die Rangfolge der Wichtigkeiten weist jedoch in den alten und neuen Ländern eine erstaunliche Ähnlichkeit auf: Die privaten Bereiche Familie und Gesundheit liegen vorne, während der Glaube und der politische Einfluß für das individuelle Wohlergehen relativ bedeutungslos sind. Auch der öffentliche Bereich Umweltschutz wird als sehr wichtig erachtet. Die hohe Sensibilisierung und der große Problemdruck dürften diese hohen Bedeutungszumessungen erklären. Angesichts des früheren Stellenwertes derErwerbsarbeit, der aktuellen ökonomischen Krise und der Arbeitsplatzunsicherheiten in den neuen Ländern ist es wenig überraschend, daß vor allem Arbeit, Einkommen und beruflicher Erfolg in der ostdeutschen Bevölkerung als wesentlich bedeutender eingestuft werden als im Westen.
Im Zuge der Umstrukturierungen in der ehemaligen DDR ist die Bedeutsamkeit einzelner Lebensbereiche sogar noch gestiegen: Die Arbeit hielten im Juni 1990 45 Prozent der Befragten für sehr wichtig, während es im November 60 Prozent waren; den Freundeskreis erachteten in der ersten Erhebung (Sozio-ökonomisches Panel) 25 Prozent für sehr wichtig, in der zweiten stieg der Anteil auf 42 Prozent. Anhand dieser Ausprägungen kann die in der Literatur häufig konstatierte Orientierung auf Privatsphäre und Arbeitswelt auf repräsentativer Basis empirisch gestützt werden.
Die unterschiedlich geprägten Werthaltungen in beiden Landesteilen Deutschlands sind auch an den Meinungen zum Schwangerschaftsabbruch und zur Sterbehilfe ablesbar. Die Abtreibung wurde in der DDR nicht im Kontext genereller Werte, religiöser Grundüberzeugungen und gesellschaftlicher Leitlinien diskutiert. Die Haltung zum Schwangerschaftsabbruch im Osten fällt wohl aus diesem Grund wesentlich liberaler aus. Die Frage der Sterbehilfe scheint insgesamt weniger symbolisch geprägt. Im allgemeinen wird eine aktive Verkürzung des Lebens abgelehnt. Die unbedingte Verlängerung des Lebens Todkranker wird im Osten häufiger befürwortet. Den Hintergrund für die geringere Zustimmung im Westen bildet vermutlich die Debatte um die sogenannte „Gerätemedizin“, d. h. um das Verhältnis von technischen Möglichkeiten und ethischen Grundfragen der Behandlung von Kranken. Wir gehen davon aus, daß dieses Thema aufgrund der unterschiedlichen ärztlichen Versorgungsstrukturen und -möglichkeiten in der ehemaligen DDR weniger umstritten war.
Für die alte Bundesrepublik haben sich die Werte und Einstellungen in der Nachkriegsperiode zugunsten von Genuß, Ökologie, Mitbestimmungsund Gerechtigkeitswerten sowie persönlicher Selbstbestimmungs-und Entfaltungsmöglichkeiten gewandelt So stieg auch der Anteil der Bundesbürger, für die Arbeit und Freizeit gleichermaßen wichtig sind. Die Befragten im Osten dokumentieren eine deutlich ausgeprägtere Arbeitsorientierung, die im Vergleich zum Westen als „traditio-nellere" Wertorientierung interpretiert werden kann. Dieses Ergebnis ist insofern nicht überraschend, als die Betonung „immaterieller“ Werte eine ausreichende materielle Sicherheit voraussetzt, die zur Zeit in der ehemaligen DDR weniger gegeben ist. Außerdem muß auch hier die ideologische Prämisse in der früheren DDR, Arbeit zum „ersten Lebensbedürfnis“ zu entwickeln, als entscheidender gesellschaftlicher Hintergrund für den hohen Stellenwert der Arbeit berücksichtigt werden.Im Westen zeigt der Vergleich zwischen Männern und Frauen, daß die Arbeitsorientierung bei beiden Geschlechtern gleich stark verbreitet ist und die Unterschiede bei der mehr oder weniger ausgeprägten Freizeitorientierung hervortreten. Im Osten fällt der hohe Anteil arbeitsorientierter Männer besonders auf. Bemerkenswert ist ferner, daß auch der Anteil der arbeitsorientierten Frauen die westdeutschen Werte deutlich übersteigt. Trotz ihrer Zuständigkeit für Haushalt und Familie und der damit verbundenen Doppelbelastung bringen die ostdeutschen Frauen ihre Verbundenheit mit der Erwerbssphäre deutlich zum Ausdruck. Nach Alter differenziert zeigt sich die erwartete Verteilung, nach der jüngere Gruppen eher als ältere den neuen Werten zustimmen. Im Osten gleicht sich die jüngste Altersgruppe den Werten im Westen an. In den mittleren Kohorten aus der ehemaligen DDR dominiert hingegen -anders als im Westen -die Arbeitsorientierung.
Mit diesen Befunden korrespondieren unterschiedliche Wichtigkeitseinschätzungen von Arbeitsaspekten. Während die eher „klassischen“ Aspekte -Arbeitsplatzsicherheit, Verdienstmöglichkeiten, Prestige -von den Erwerbstätigen im Osten deutlich häufiger als „sehr wichtig“ eingestuft werden, sind dies im Westen die „moderneren“ Akzentsetzungen -Abwechslung bei der Tätigkeit, selbständige Gestaltung der Arbeit, Aufstiegschancen. Die Karrierechancen weisen wegen der Bezüge zur Selbstentfaltung und -Verwirklichung in das Spektrum sogenannter postmaterialistischer Einstellungen wie auch in Richtung materialistischer Aspekte. Überragende Bedeutung kommt darüber hinaus in den neuen Ländern der Arbeitsplatzsicherheit zu, die auch im Westen einen vergleichsweise hohen Stellenwert hat. Angesichts steigender Arbeitslosigkeit und hoher Arbeitsorientierung ist es nicht verwunderlich, daß Frauen ein noch größeres Gewicht auf die Sicherheit des Arbeitsplatzes legen als Männer. Bemerkenswert ist ferner, daß den Frauen in der ehemaligen DDR die selbständige Gestaltung der Arbeit ähnlich wichtig ist wie den Männern äus dem Westen, während die männlichen Befragten aus der DDR den gleichen, niedrigeren Durchschnittswert wie die Frauen aus dem Westen erreichen. Die Frage, ob aus diesen Daten auf eine ausgeprägtere „modernere“ Arbeitseinstellung bei den weiblichen Erwerbstätigen in Ostdeutschland geschlossen werden kann, muß offen bleiben. Im Osten variieren die Arbeitswerte ferner undeutlicher und uneinheitlicher mit dem Alter als im Westen; ebenso sind hier Tendenzen in Richtung moderner Orientierungen unter den Jüngeren weniger klar herauszulesen.
V. Perspektiven der zukünftigen Entwicklung
Abbildung 5
Schaubild 3: Soziale Lagen in Ost- und Westdeutschland
1. Optimismus -Pessimismus Angesichts der vielfältigen Probleme des Umgestaltungsprozesses in der ehemaligen DDR, die zum Teil in massiver Unzufriedenheit ihren Ausdruck finden, überrascht der feststellbare weitverbreitete Optimismus. Die allgemeine persönliche Zukunft wird insgesamt optimistisch beurteilt. Diese positive Einschätzung relativiert sich, wenn konkreter nach einzelnen Lebensbereichen gefragt wird. Bei den „Kosten des Lebensunterhalts“ und den „Möglichkeiten, politischen Einfluß zu nehmen“ überwiegen pessimistische Äußerungen. So rechnen z. B. drei von vier ehemaligen DDR-Bürgern mit einer positiven Einkommensentwicklung in den nächsten zwei bis drei Jahren, und weit mehr sind zuversichtlich, mit der veränderten Lebenssituation zurechtzukommen. Sogar die „Umweltsituation am Wohnort“ wird (eher) optimistisch gesehen, obwohl gleichzeitig eine große Unzufriedenheit mit den derzeitigen Verhältnissen artikuliert wird. Diese Diskrepanz läßt vermuten, daß viele Ostdeutsche erwarten, konkrete Maßnahmen würden die Lebensverhältnisse verbessern.
Für die Einschätzungen der näheren Zukunft untersuchen wir hier drei Bevölkerungsgruppen, die von dem Transformationsprozeß in jeweils besonderer Weise betroffen sind. Unerwartet ausgeprägt ist dabei der Optimismus der Arbeitslosen, die die Entwicklung in einzelnen Bereichen positiver be-urteilen als Rentner und Erwerbstätige. Während letztere sich verhalten optimistisch zeigen und überwiegend die Kategorie „eher optimistisch“ wählen, entscheiden sich Arbeitslose überdurchschnittlich oft für die Kategorie „optimistisch“. So sind beispielsweise 42 Prozent der Arbeitslosen „optimistisch“ im Hinblick auf die Entwicklung des Einkommens, während es im Durchschnitt nur 32 Prozent aller Befragten sind. Gerade die Betonung materieller Bereiche deutet auf einen Zweck-optimismus hin. Die optimistischen Zukunftserwartungen der Arbeitslosen stehen in einem deutlichen Gegensatz zu den wahrgenommenen Arbeitsmarktchancen der Erwerbstätigen -es scheint, daß Arbeitslose ihre Lage als temporär ansehen. Im Vergleich zu den Arbeitslosen äußern sich Rentner „eher pessimistisch“; dies vor allem bei der Entwicklung des Lebensunterhalts, aber auch bei der Einkommens-und der sozialen Entwicklung. Ein großer Teil der Rentner scheint demnach eine Erhöhung der Kosten des Lebensunterhalts zu befürchten, ohne daß dies durch eine entsprechende Anpassung der Renten kompensiert würde. Erwerbstätige blicken zwar insgesamt relativ optimistisch in die Zukunft, zugleich fürchtet aber die Hälfte der Erwerbstätigen um ihren Arbeitsplatz.
Mit diesen Negativeinschätzungen korrespondieren, gemäß der tatsächlichen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die subjektiven Arbeitsmarktchancen, d. h. im Falle eines Arbeitsplatzverlustes eine neue Stelle finden zu können. Zwischen Juni und November 1990 zeigt sich dabei eine höhere Risikowahrnehmung. Diese Einschätzung teilen jedoch nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen: Insbesondere von jüngeren und weiblichen Befragten werden die Arbeitsmarktchancen relativ konstant beurteilt.
Generell sind die optimistischen Zukunftserwartungen Ausdruck der Hoffnung auf eine rasche Verbesserung der Lebensverhältnisse. Offensichtlich herrscht das Empfinden vor, daß man sich in einer Talsohle befindet und eine gewisse Durststrecke zu durchlaufen habe. Wenn es allerdings zu keinen sichtbaren Verbesserungen in absehbarer Zeit kommt, besteht die Gefahr, daß diese Stimmung in Resignation umschlägt. 2. Wie kann es weitergehen?
Zum Abschluß wollen wir auf mögliche Entwicklungstendenzen aufmerksam machen. Dafür grei-fen wir auf das Konzept von Allardt zur Beschreibung sozialen Wandels zurück. Danach sind drei Aspekte zu unterscheiden: die Verbesserung der Versorgungslage der Bevölkerung; die Verringerung von Ungleichheit; die Vermeidung von Ungerechtigkeiten und die Verwirklichung gleicher Zugangschancen. Unter der Prämisse der Einbindung in das westliche Muster läßt hier die Entwicklung in Ostdeutschland erwarten, daß nach der weiteren Erhöhung der Versorgungslagen auch eine Erhöhung der sozialen Ungleichheit und eine Verringerung bisher bestehender Chancengleichheiten (positiv formuliert: eine verstärkte soziale Differenzierung) eintreten. Wir gehen somit davon aus, daß in der näheren Zukunft mindestens zwei, in ihrer wohlfahrtsstaatlichen Zielrichtung gegenläufige Prozesse gleichzeitig stattfinden werden.
Zentral für die weitere Entwicklung dürfte dabei sein, daß -überspitzt formuliert -die Gesamtbevölkerung im Osten Deutschlands in praktisch allen sozialen Lagen, in allen gemessenen objektiven Lebensbedingungen und in allen gemessenen Dimensionen subjektiven Wohlbefindens die „Unterschicht“ im vereinten Deutschland bildet. Dies wird sich, wenn entsprechende politische Maßnahmen greifen, ändern; eine vom Westen deutlich verschiedene Entwicklung im Wertebereich kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Anhand der Kategorisierung Allardts (Having, Loving, Being) vermuten wir entscheidende Unterschiede im Modernisierungsprozeß im Osten Deutschlands gegenüber der westdeutschen Entwicklung. Unsere These lautet, daß in Westdeutschland vermutlich stärker als bisher Lebensstilelemente auch sozialstrukturell prägend werden (being), in der früheren DDRjedoch die Entwicklung in umgekehrter Richtung verläuft: weg von being über loving zurück zu having. Stärker werdende Ansprüche und Orientierungen im Bereich des materiellen Wohlstands machen dabei auf einen umfassenden, gesellschaftlichen Nachholprozeß aufmerksam. Dieser ist jedoch mit dem Versuch verbunden, bestimmte Elemente der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt aufrechtzuerhalten, unter Ausschluß und Abbau bisher aufgebauter Lebensstilaspekte.
Über den Umweg der Verbesserung der Wohlstandspositionen könnte hier ein Angleichungsprozeß stattfinden, der allerdings Konfliktpotentiale in der Gesamtgesellschaft freisetzen könnte: Erhebliche Bevölkerungsteile, zudem regional konzentriert, könnten Gefahr laufen, gesamtgesellschaftlich marginalisiert und ausgegrenzt zu werden. Dies nicht nur im Hinblick auf objektive Lebensbedingungen, sondern gerade im Hinblick auf signifikant andere Ansprüche und Einstellungen. Ob diese -pointiert formuliert -„rückwärts gerichtete Modernisierung“ einem „Modernisierungsschock“ (Hettlage) gleichkommt, eben weil der Weg zur Einheit auf Modernisierungs-Umwegen zurückgelegt werden muß, ist nicht auszuschließen. Die dadurch entstehenden Probleme könnten im beginnenden Transformationsprozeß zu einem nicht unbedeutenden Risiko für die Integration führen.
Roland Habich, Dipl. -Soz., geb. 1953; Koordinator der Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) für Sozialforschung (Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Zapf). -Zahir. Veröffentlichungen in der Wohlfahrts-und Sozialstrukturforschung, zuletzt: (mit H. -H. Noll) Individuelle Wohlfahrt. Vertikale Ungleichheit oder horizontale Disparitäten?, in: Soziale Welt, Sonderband 7, 1990. Detlef Landua, Dipl. -Soz., geb. 1959; Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sozial-berichterstattung des WZB. -Zahlreiche Veröffentlichungen zur Wohlfahrtsforschung, zuletzt: Möglichkeiten längsschnittorientierter und kontextbezogener Auswertungsverfahren für die Analyse subjektiver Einstellungsdaten, in: PVS, (1991) 1. Wolfgang Seifert, Dipl. -Soz., geb. 1959; Doktorand in der Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung des WZB. Arbeitsschwerpunkt: soziale Lage von Gastarbeitern in Westdeutschland. Annette Spellerberg, Dipl. -Soz., geb. 1960; Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung des WZB. -Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit A. Klocke) Aus zweiter Hand. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über den Second-Hand-Markt Berlins, 1990.
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