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Föderalismus und Subsidiarität. Betrachtungen zu einer deutschen und europäischen Frage | APuZ 45/1991 | bpb.de

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APuZ 45/1991 Westeuropäische Integration und gesamteuropäische Kooperation Ein föderalistisches Europa? Zur Debatte über die Föderalisierung und Regionalisierung der zukünftigen Europäischen Politischen Union Jugend und europäische Integration Einstellungen und Perspektiven Föderalismus und Subsidiarität. Betrachtungen zu einer deutschen und europäischen Frage

Föderalismus und Subsidiarität. Betrachtungen zu einer deutschen und europäischen Frage

Ludger Kühnhardt

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit der deutschen Vereinigung ist ein neues Nachdenken über die Bedeutung des Föderalismus verbunden. Aber auch im Zusammenhang mit der fortschreitenden europäischen Integration ist die Frage nach dem Zusammenhang des Föderalismus, nach seinen Wurzeln, Zielen und Möglichkeiten gestellt. Über die Analyse der aktuellen politischen Probleme und die unterschiedlichen Auffassungen hinaus drängt sich eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip auf. Dieses Strukturprinzip, entstanden im Zusammenhang der katholischen Soziallehre, zeigt Ansätze und Wege für eine Vertiefung und sachgerechte Entwicklung des Föderalismus auf -im deutschen nicht weniger als im europäischen Kontext.

I.

Im Zuge der Einheit Deutschlands ist eine neue föderale Aufbruchsstimmung entstanden. Mit dem Ende der SED-Parteidiktatur ist in Ostdeutschland auch der Stern des staatlichen Zentralismus untergegangen. Schon bald nach Ausbruch der „friedlichen Revolution“ war der Ruf nach einer raschen Wiedereinführung der Länder laut geworden, die durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) zwar 1946 geschaffen worden waren, alsbald aber dem Zentralismus der Einparteiendiktatur und ihres monolithischen Staatsverständnisses weichen mußten: Am 23. Juli 1952 hatte die DDR-Regierung das „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweisen der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik“ erlassen. Hinter dem euphemistischen Titel verbarg sich die Zwangsforderung zur Selbstauflösung. Die Länder mußten Bezirke gründen und diesen ihre Kompetenzen übertragen. De jure wurden die Länder nie aufgelöst, aber in den Verfassungen der DDR von 1968 und 1974 wurden sie schlichtweg nicht mehr erwähnt.

Bei den Diskussionen in Ostdeutschland über die Wiederbelebung der Länder waren im wesentlichen drei Argumentationsebenen maßgeblich, die freilich wechselseitig verwoben wurden:

-die historischen Begründungen verwiesen auf die föderalistischen Traditionen in Deutschland;

-die emotionalen Begründungen sahen die Wiedererrichtung der Länder als Bruch mit der künstlich aufoktroyierten „DDR-Identität“ und als Ausdruck eines freien Heimat-und Nationalgefühls;

-die politischen Begründungen verwiesen auf die gebotene Zerschlagung der SED-Apparate und auf die Funktionen neuer Länder beim Aufbau eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Die friedliche Revolution von 1989 kehrte die Verhältnisse wieder um. Geradezu im klassischen Sinne des Revolutionsbegriffs -der revolvierenden Rückkehr an den Ort ursprünglicher Freiheit -wurde rasch der Ruf nach einer Wiedereinführung der Länder laut.

Am 14. Oktober 1990, zwei Wochen nach Vollzug der staatlichen Einheit Deutschlands, war es soweit: Erstmals fanden wieder freie, allgemeine und gleiche Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen statt. Mit der Bundestagswahl vom Dezember 1990 wurde auch das Abgeordnetenhaus des Landes Berlin neu und frei gewählt. Schon am 9. November 1990 hatten sich die 16 Ministerpräsidenten in Berlin im Rahmen des Bundesrates erstmals seit der gescheiterten Münchner Konferenz vom 6. Juni 1947 wieder zu einer Sitzung treffen können. In den neu-alten Bundesländern ist mit dem Aufbau landespolitischer Strukturen begonnen worden. Damit soll eine neue Legitimation staatlichen Handelns gefunden werden, nicht weniger wie dies nach 1949 im Westen Deutschlands der Fall war. Wilhelm Röpke, skeptisch gegenüber jedem Staatsgebilde, sprach damals von einer „Dezentralisation des Mißtrauens gegenüber der unpersönlichen Kollektivität der natürlichen Stufenfolge von unten nach oben“ 2). Im Laufe der Jahre verbreitete sich in der Bundesrepublik indessen immer stärker ein unitarischer Zug, nicht zuletzt aufgrund des in Artikel 72, des Grundgesetzes angelegten Ziels, demzufolge die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im ganzen Land sichergestellt werden müsse.

Schon 1962 hatte der Staatsrechtler Konrad Hesse den Begriff des „unitarischen Bundesstaates“ geprägt, um damit die Ausdehnung der Bundeskompetenzen zu benennen 3). In den siebziger Jahren deuteten der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf und andere die nach Artikel 91 des Grundgesetzes anschwellenden Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben als „Politikverflechtung“ Der Historiker Thomas Nipperdey kam schließlich zu Beginn der achtziger Jahre in einer Darstellung der geschichtlichen Bedeutung des Föderalismus für die Deutschen zu der nüchternen Bilanz: „Die Bundesrepublik ist seit 1949 unitarischer geworden ... Die Gesetzgebung hat sich immer mehr, und anders als die Verfassungsgeber wohl meinten, auf den Bund verlagert ... Primär wird die Funktionsfähigkeit. Der traditionelle Föderalismus tendiert dahin, sich in einen funktionalen Föderalismus zu verwandeln.“

Kann dieser Entwicklung durch die Erweiterung des Föderalismus im vereinten Deutschland entgegengewirkt werden? Indizien mögen dafür sprechen: So hatten die alten Länder im Westen Deutschlands alsbald -sekundiert von Staatsrechtslehren! -ihre Stimme erhoben, um bei den Staatsverträgen und den anderen Schritten zur Vereinigung Deutschlands mitzureden Der neue, erweiterte Bundesrat hat begonnen, auf seine verfassungsrechtliche Rolle hinzuweisen. Er wird sein Gewicht auf die politische Waagschale zu legen wissen

Zweifellos stellt der zweigliedrige deutsche Bundesstaat nach der Vereinigung mehr dar als eine geographische Erweiterung der alten Bundesrepublik, auch wenn deren Name erhalten bleibt. Probleme sind schon heute beispielsweise im Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich nach Artikel 107 des Grundgesetzes erkennbar. Dabei geht es um den Willen zur und um die Einsicht in die gebotene Solidarität unter den Ländern, ja unter allen Deutschen. Diese Bewährungsprobe ist noch längst nicht bestanden. Entscheidender aber noch könnte sich eine Ambivalenz zwischen dem Föderalismusgedanken und dem Grundgesetzziel der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse auswirken. Der Neuaufbau in den ostdeutschen Bundesländern muß geradezu zwangsläufig zu starken und über einige Jahre anhaltenden Bundesinterventionen führen. Was im Sinne der Unterstützung gemeint ist, kann mit Auswirkungen auf den ostdeutschen Föderalismus verbunden sein, wie dies auch im Westen Deutschlands erfahren wurde: in Richtung einer Fortsetzung des unitarischen Zuges und damit, so paradox es klingen mag, eines schwachen Föderalismus zum Wohle der neuen Länder. Diese werden sich politisch dagegen zur Wehr setzen, aber ihr finanzieller Spielraum wird dem neuen Selbstbewußtsein und Eigenwillen nur in engen Grenzen entsprechen können. Darin zeigt sich, daß der Föderalismus ein historischer, immer wieder Wandlungen unterworfener Begriff ist, der keineswegs eindeutig und statisch über die Zeiten hinweg bestehen kann. Dies bestätigt sich im Blick auf seine ideengeschichtlichen Wurzeln.

II.

Dabei ist die Betrachtung der Antike zunächst weniger klärend und orientierend als dies für andere Topoi der Ideengeschichte -namentlich für den Begriff der Polis und jenen der Demokratie -gelten kann. Etymologisch gibt der lateinisch-römische Begriff „foedus“ die Richtung: Bund, Bündnis. Die im Imperium Romanum als bündnis-fähig anerkannten Stammeseinheiten hießen „foederati“. Umstritten ist unter Althistorikern geblie

ben, ob die griechisch-hellenistische Zeit bereits den Bundesstaat gekannt hat. Was im Blick auf die Antike bleibt, ist aber die Erkenntnis, daß das hündische Prinzip Griechen wie Römern bereits bekannt gewesen ist.

Auf der Suche nach Spuren des Föderalismus im Mittelalter stößt man auf die Kernfrage des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt bei jenen organischen Auffassungen, die das Gemeinwesen insgesamt -von der Familie über die Stände bis hin zum Staat und seinen Institutionen -stufenartig gliederten und im Prinzip bis zum Beweis des Gegenteils den Vorrang der jeweils kleineren Einheit dachten Thomas von Aquin, Dante Alighieri oder Engelbert von Admont (1250-1331) sind zu nennen; mit anderen Denkern des 13. und 14. Jahrhunderts beschrieb Engelbert den Kaiser als zuständig für die Verwirklichung der allgemei-nen Glückseligkeit, die Staaten als verantwortlich für die Erfüllung der Glückserwartungen der einzelnen Völker. Im organischen Denken der Scholastik und der Frührenaissance verbanden sich staatsrechtliche Überlegungen mit der Wiederentdeckung des einzelnen und mit den gesellschaftlichen, ja auch ökonomischen Dimensionen des föderalen Prinzips.

Die alte Schweizer Eidgenossenschaft, der Form nach 1291 als Landfriedensbündnis konstituiert, entsprach eher einer Konföderation des Gewissens, einer zunächst losen Vereinigung unterhalb dessen, was heute als Staatenbund bezeichnet werden würde; der Schweizer Historiker Richard Feller sprach von einem „Bundesverein“ Die Idee des Föderalismus erhielt erst im Gefolge der Föderaltheologie und ihrer Einflüsse im 16. Jahrhundert eine neue, qualitativ bedeutsame Dimension. Im Anschluß an die innerreformatorischen Auseinandersetzungen wurde die Bundesidee in ihrer säkularisierten Form zu einem konstitutiven Teil des politischen Denkens.

Der aus Günzburg stammende Franziskaner Johannes Eberlin, der sich 1521 der reformatorischen Bewegung anschloß, publizierte im gleichen Jahr seinen utopischen Staatsroman „Die 15 Bundesgenossen“, in dem er föderative und subsidiäre Gedanken hinsichtlich der Stellung der Vogteien und Gemeinden aufeinander bezog.

Die entscheidende Systematisierung der Föderalismus-Idee und ihre Verbreitung in Deutschland gelang jedoch Johannes Althusius (1557-1638). In seinem Hauptwerk „Politica methodice digesta“ (1603) entwickelte Althusius ein „System föderativer Auffassungen“ Sein Denken war Ausdruck einer klaren Absage an die konzentrierte, zentralisierte Souveränitätsauffassung, wie sie bei Jean Bodin (De la republique, 1576) ihre ausgeprägteste Formel gefunden hatte. Althusius stellte ihm den Gedanken eines gegliederten Gesellschaftskörpers entgegen, den er als „consociatio“ verstand.

Weiterentwickelt und politisch ausgefeilt wurde die Föderalismus-Idee in der Bundesstaats-Formel des Hannoverschen Geheimen Rates und Vizekanzlers Ludolph Hugo (1630-1704). In seiner „Dissertatio de statu regionum Germaniae" von 1661 führte er den Begriff des zusammengesetzten Bundesstaates ein Föderalismus und der Bundesstaat als sein staatsrechtlicher Anker wurden aufeinander bezogen. Hugo unterschied zwischen Staatenbund und Bundesstaat auf der Grundlage des Vergleiches historischer Erfahrungen -vom Achäischen Bund bis hin zur Struktur der deutschen Territorialstaaten seiner Zeit. Im Staatenbund würden die Mitglieder ihre Souveränität und Unabhängigkeit beibehalten; im Bundesstaat werde die Staatsgewalt zwischen Gesamtstaat und den Einzelstaaten aufgeteilt. Mit Hugos bundesstaatlicher Deutung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Zwischenform zwischen Einzelstaat und Staatenverein wurde die bis dahin gültige Auffassung angegriffen, es könne nur Staaten oder Staatenvereine geben. Hugos Gedanken wurden abgewehrt mit den gängigen Argumenten Jean Bodins oder auch Thomas Hobbes’: Zur Erhaltung des Friedens seien die Souveränität und Einheit der Staatsgewalt unteilbar.

Die Quadratur des Kreises -ein Staat, der in sich mehrere Staaten enthält -gelang theoretisch wie praktisch im Zeichen jenes Pragmatismus, der die amerikanische Ideengeschichte prägt und sich gerade in den USA immer wieder in der konkreten politischen Aufgabe bewährt hat und bewährt. Als freie Menschen waren die Pilgerväter und alle anderen weißen Kolonisten nach Nordamerika gekommen und freie Menschen wollten sie bleiben. Jede Kolonie gab sich ihre eigene Verfassung und lebte aus ihrem eigenen Selbstverständnis. Es war ein Weg der Umwege, bis 1781 endlich die Konföderation der Vereinigten Staaten mit der ersten Konföderationsverfassung auf amerikanischem Boden entstehen konnte. 1787 rief der Kongreß eine Staatenvertretung nach Philadelphia ein, um die Konföderation neu zu organisieren. Ziel war die Durchsetzung einer stärkeren Zentralgewalt mittels einer neuen Verfassung.

Bemerkenswert im Vergleich zwischen der Entstehung des amerikanischen Bundesstaates, des ersten modernen Staatstypus dieser Art, und -um einen großen Sprung zu machen -der Einführung von Ländern auf dem Gebiet der früheren DDR ist, daß die Beziehung von Zentralgewalt und Einzelstaatlichkeit gewissermaßen gegenläufige Wege nahm. Während in den USA Föderalismus hieß, einen Bundesstaat durch Staatenzusammenschluß herzustellen, stand in Ostdeutschland die Zerschlagung des Zentralstaates und die dezentralisierende Rückführung politischer Entscheidungs-macht in die neuzubildenden Strukturen eines rechtsstaatlichen, föderalen Bundesstaates auf der Tagesordnung.

Von zwei so unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Betrachtungswinkeln dennoch zum gleichen Ziel gelangen zu wollen -dies gibt Zeugnis von der inneren Dynamik und Offenheit des Föderalismus-Begriffs. Daß auch im vereinten Deutschland das Ringen zwischen den föderalen und den unitarischen Polen des Bundesstaates anhalten wird, steht nach allen Erfahrungen mit der Bonner Demokratie zu vermuten.

Der Föderalismus-Begriff ist nicht vor grundsätzlichen Problematisierungen gefeit geblieben. Am fundamentalsten war wohl jener Ansatz der Kritik, der Gegensätze, wenn nicht sogar Unvereinbarkeiten zwischen Föderalismus und Demokratie zu konstruieren suchte. Möglich konnte dieser auf den ersten Blick überraschende Vorwurf indessen nur dort werden, wo eine überdehnte Definition beider Begriffe zugrundegelegt wurde: wo der Föderalismus als eine Methode gesehen wurde, den Willen des Volkssouveräns durch die Mitsprache von Einzelgliedern bei der Entscheidungskompetenz des Bundes zu unterlaufen und auszuhöhlen, und wo Demokratie im Sinne der Vorstellungswelt der Französischen Revolution als nationale Demokratie einer „rpublique une et indivisible" aufgefaßt wurde, die keine Gewaltenteilung durch anderweitige, gewissermaßen nachgeordnete Ebenen des Staatsaufbaus dulden könne.

In diesem Sinne geriet der Föderalismus beispielsweise in Carl Schmitts „Verfassungslehre“ von 1929 ins Feuer der Kritik. Dort rief er die „homogene Einheit des Volkes“ an, die in der natürlichen Entwicklung der Demokratie liege und die dem „Schwebezustand des Nebeneinanderbestehens von Bund und politisch-selbständigen Gliedstaaten“ mit dem Recht eines Naturgesetzes zugunsten „einer durchgängigen Einheit“ ein Ende bereiten werde Mit seinem nationalstaatlichen Monismus legte Schmitt nicht nur die Axt an das föderale Prinzip, sondern in der letzten Konsequenz nicht weniger an den gewaltenteiligen Charakter der Demokratie. Sub specie libertatis ergänzen und bereichern sich föderale und demokratische Gedanken wechselseitig. Das Plädoyer für diese Sichtweise muß die machthemmenden Wirkungen und die ordnenden Funktionen des Föderalismus anführen: Im föderalen Bundesstaat Bonner Zu-schnitts werden Opposition und Gewaltenteilung aufgrund der Länderexistenz nicht nur horizontal, sondern über die Mitgestaltungsrechte der Länder im Bundesrat auch vertikal gefördert.

Gewiß zutreffend ist der Einwand, der Föderalismus erhöhe die Komplexität eines politischen Systems. Mit Argumenten gegen seine Wirkweise indessen auf einen demokratieschwächenden oder sogar demokratieunterlaufenden Zug des Föderalismus zu schließen, erscheint wenig überzeugend Friktionen mögen nicht auszuschließen sein. Als Wilhelm Grewe 1948 von „Antinomien des Föderalismus“ sprach, wollte er mit Blick auf die Weimarer Erfahrungen vor der parteipolitischen Instrumentalisierung der Länderbefugnisse zum Schaden der Kompetenzen des Bundes warnen Diese Argumentation ließe sich indessen-zumal vor dem Hintergrund der Erfahrungen von vier Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland -genau umkehren: Die Erweiterung der Mitgestaltungsmöglichkeiten erhöht den Zwang zum Kompromiß zwischen Ländern mit unterschiedlicher parteipolitischer Mehrheit, fördert damit die Anerkennung des politischen Systems an sich und lockert die starre innere Ordnung der Parteien. Sie sehen sich nicht selten den rationalisierenden Wirkungen einer Situation gegenüber, in der ein Denken in Bundes-beziehungsweise Länderkategorien die starre parteipolitische Fixierung zerbrechen läßt. Damit wird die Kompetenz zur Problemlösung gewiß erhöht. In diesem Sinne ist der Föderalismus auch nach der Vereinigung Deutschlands nicht nur verfassungsgewollt, sondern auch politisch unverzichtbar

Das entscheidende Argument für die Nähe von Demokratie und Föderalismus übermittelte dabei weniger die politische Theorie als die lebendige Wirklichkeit: Es konnte kein Zweifel sein, daß in der ehemaligen DDR der Ruf nach Demokratie und jener nach Föderalismus nahezu gleichzeitig erhoben worden sind. Indem Demokratie wie Föderalismus die politischen Teilhabemöglichkeiten fördern, steigern sie die Chancen eines politischen Systems, von der Bevölkerung auch tatsächlich angenommen zu werden. Auf dem Weg zur deutschen Einheit stellte sich der Föderalismus-Gedanke in Ostdeutschland zugleich in den Dienst von Demokratie und Nation.

III.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat betont, daß der Föderalismus „unserem nationalen Bewußtsein seine eigene Qualität und Wärme“ gebe und verwies damit über den verfassungspolitischen und staatsrechtlichen Zusammenhang weit hinaus auf die soziologisch-kulturelle Dimension des Föderalismus-Begriffs: „Er prägt das Lebensgefühl der Menschen in Deutschland. Er ist eine Quelle der Kraft und ein charakteristischer Beitrag der Deutschen in Europa.“ Bereits bei Althusius war angeklungen, daß der Föderalimus als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip ursprünglicher war als in seiner politischen Bedeutung. Als „eine ins Politische vordringende Soziallehre“ muß der Föderalismus aber auch und vor allem zum Subsidiaritätsgedanken in Bezug gesetzt werden.

Das Subsidiaritätsprinzip beschreibt die Zuordnung von Einheiten und Tatbeständen des Lebens. Seine lateinische Wurzel „subsiduum“ verweist auf den Gedanken der Hilfestellung, welcher gegenüber kleineren Einheiten zum Tragen kommen soll, um diese lebensfähig zu erhalten und in ihren Möglichkeiten zu stärken. Die neuzeitliche Definition und Deutung des Subsidiaritätsprinzips entstammt der katholischen Soziallehre. Getreu dem sozialphilosophischen Grundsatz, wonach die Gesellschaft für den einzelnen da sei, nicht aber umgekehrt, hatte Papst Johannes XXIII. in seiner Sozialenzyklika „Mater et Magistra“ (1961) auf klassische Weise den personalen Grundgedanken der katholischen Soziallehre formuliert, derzufolge „der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen“ sei Dies folge aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen und aus seiner personalen Verantwortungsfähigkeit gegenüber seinem Schöpfer und seinen Mitmenschen. Mit „Mater et Magistra“ war auch jenes päpstlichen Lehrschreibens gedacht worden, in welchem das Subsidiaritätsprinzip seine prägnanteste neuzeitliche Definition als oberste sozialphilosophische Norm für die Zuordnungsverhältnisse zwisehen Menschen und menschlichen Gemeinschaften erhalten hatte: der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XL aus dem Jahr 1931. Dort hatte der Papst es als konstitutiv bezeichnet, das Gemeinschaftsleben auch unter den Bedingungen der modernen arbeitsteiligen Welt und der Bedrohung des Menschen durch Vermassung und Anonymisierung so zu ordnen, daß der einzelne nicht zum vergemeinschafteten, austauschbaren Wesen werde. Der Papst ging noch einen gewichtigen Schritt weiter: „Wie dasjenige, was der Einzel-mensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.“ Der Staat solle deshalb Angelegenheiten, die der einzelne oder kleinere Einheiten ebensogut zu bewältigen vermögen, diesen überlassen. Dies allein sei Ausdruck der sozial-philosophischen Grundgegebenheiten humanen Zusammenlebens: „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“

Das Subsidiaritätsprinzip konnte verstanden werden als Ausdruck der päpstlichen Sorge vor den sozialen Vermassungsvorgängen seiner Zeit. Es erwies sich als eine vorweggenommene Warnung vor der großen „totalitären Erfahrung“ die bald folgen und Europa im tiefsten Kern erschüttern sollte. Das Subsidiaritätsprinzip war aber nicht weniger und im eigentlichen Sinne ein zeitlos gültig formuliertes sozialphilosophisches Prinzip: Norm und Perspektive innerhalb der naturrechtlich fundierten katholischen Gesellschaftslehre. „Quadragesimo anno“ -zur Erinnerung an die erste große Sozialenzyklika eines Papstes, die 1891 von Leo XIII. vorgelegte „Rerum novarum“, verfaßt -stützte sich auf entschiedene Einflüsse deutscher Jesuiten. Auf Gustav Gundlach geht das Subsidiaritätsprinzip in seiner sozialphilosophischen Begründung zurück, den stärksten Einfluß auf die Komposition von „Quadragesimo anno“ muß man Oswald von Nell-Breuning zusprechen. Der große alte Mann der katholischen Soziallehre, im August 1991 im Alter von 101 Jahren gestorben, hat Zeit seines langen Gelehrtenlebens immer wieder die Interpretation der katholischen Sozial-lehre und darin eingeschlossen das Subsidiaritätsprinzip maßgeblich befördert. In seiner Arbeit „Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität“ unterschied von Nell-Breuning eine affirmative und eine negative Dimension des Subsidiaritätsprinzips: Es fordere den Vorrang der kleineren Einheit, wo immer möglich, und es untersage ihre Zurückdrängung, wo immer unbegründet. In der ihm eigenen Art unternahm Oswald von Nell-Breuning eine subtile definitorische Klärung des Begriffs und seiner Inhaltsmöglichkeiten. Das Subsidiaritätsprinzip entspringe der anthropologischen Erkenntnis, daß jeder menschliche und gesellschaftliche Zusammenschluß letztlich den Menschen zugute kommen solle, die sich zusammengefunden haben. Damit sei eindeutig die Zweckgerichtetheit des subsidiären Prinzips bezeugt: Als Unterscheidungsmerkmal dafür, ob die Tätigkeit einer Gesellschaft bzw. einer menschlichen Verbindung „hilfreicher Beistand für ihre Glieder ist oder die Glieder nur belästigt“ diene das Subsidiaritätsprinzip a priori zur Beurteilung anstehender Maßnahmen im Gefolge des Zusammenlebens. Bereits in der Familie werde einerseits keiner darin überfordert, etwas leisten zu müssen, was seine Kräfte und Möglichkeiten übersteige, erfahre aber andererseits alle denkbare Hilfe, um seine ihm möglichen Leistungen zu erbringen und seine Persönlichkeit bestmöglich zu entfalten -jedenfalls im Idealfall! Die Beurteilung dessen, was der einzelne selbst könne und was ihm von den Eltern abgenommen werde, müsse jeweils im Einzelfall geklärt werden. Die Entscheidung hänge von den anstehenden Tatsachen und den daraus zu folgernden Schlüssen ab. In diesem Sinne sei das Subsidiaritätsprinzip ein formales Kriterium, wirke jedoch als Maßstab der gebotenen, aber auch der zu begrenzenden Hilfestellung in viele Sachbereiche des Lebens zentral ein, wenn man es ernst-nehme. In einem weitergefaßten, auf die Gesamtheit der Gesellschaft bezogenen Sinne bleibt der Grundgedanke gültig: Hilfestellungen zugunsten der Entfaltung aller Beteiligten, um so das Ganze zum Blühen zu bringen. Das Subsidiaritätsprinzip beschreibt den gesellschaftlichen Aufbau im Sinne einer Stufenfolge. Perspektive der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sei daher nicht die Abschaffung des Gemeinwesens -sei es die Familie, sei es der Staat -, sondern ihre Festigung durch Konzentration auf das Wesentliche. In diesem Sinne berühren sich Subsidiaritäts-und Solidaritätsprinzip, die andere konstitutive Norm der katholischen Soziallehre. Man könnte zugespitzt formulieren, daß es um Subsidiarität aus Solidarität geht. Jedenfalls soll mit der Bestimmung der Zuständigkeit im Sinne des Subsidiaritätsprinzips der innere Aufbau der Struktur der Gemeinschaft im Sinne der Solidarität gefördert werden.

In einer politischen Wendung stellte Oswald von Nell-Breuning den Bezug zwischen Subsidiaritätsprinzip und der Idee des Föderalismus her. Die Mehrstufigkeit der staatlichen Ordnung spiegele den doppelten Gedanken wider, den er für das Subsidiaritätsprinzip als konstitutiv angesehen hatte: einerseits die Sicherung echter Selbstverwaltung kleinerer Einheiten, andererseits ihre Verbindung mit den übergeordneten Einheiten im Sinne einer Stufenfolge. In einem weitgefaßten, nicht die konkreten staatsrechtlichen Implikationen des Föderalismus berührenden Sinne, könne man den Föderalismus als „die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips im staatlichen Leben“ verstehen -Föderalismus also als angewandtes Subsidiaritätsprinzip. Der Föderalismus sei im Subsidiaritätsprinzip enthalten, beide seien aber nicht identisch, da der Föderalismus in seiner staatsrechtlichen Konkretion nicht zwingenderweise die einzige Form der Ordnung eines Staates sei, die dem Subsidiaritätsprinzip entspreche. Auch einstufige Staaten könnten subsidiär geordnet sein Die enge Berührung beider Prinzipien -dem Föderalismus als verfassungspolitische Konkretion einer Struktur von Aufgaben und dem Subsidiaritätsprinzip als Strukturprinzip zur Beurteilung der Zuordnung von Aufgaben -läßt davon sprechen, daß sie sich begünstigen, ohne deckungsgleich zu sein.

Für Oswald von Nell-Breuning reichte die Wirkung des föderalen Gedankens über die innere Ordnung Deutschlands hinaus in den europäischen Raum hinein. Auch für die Ordnung Europas gelte, daß „das, was nur von einer übergeordneten europäischen Instanz geleistet werden kann, in die Hände einer solchen gelegt werde“ Dies ent-spreche dem subsidiären Gedanken und dem Föderalismus-Konzept nicht weniger, wie es auch gelte, beide Prinzipien nach unten durchgreifen zu lassen.

In einem „Europa der Europäer“, „einigermaßen vergleichbar mit anderen politischen Großgebilden kontinentalen Ausmaßes“ dürfe die Zentralisierung von Aufgaben nicht dort ansetzen, wo die unteren Einheiten -zu denken ist an die traditionellen Nationalstaaten nicht weniger als an Regionen, Provinzen, Bundesländer und Gemeinden bzw. Städte -ebensogute Leistungen erbringen können. Wohl aber gehe es um eine Zusammenfassung der europäischen Souveränitätsebene, dort, wo dies unabdingbar sei: „Die Souveränität -nach der überkommenen Vorstellung eine einschichtige Ebene -zieht sich wie ein Faltenbalg (Harmonika) auseinander, in beide Richtungen, sowohl nach oben als auch bis ganz nach unten“

Mit diesem Bild ist eine ebenso grundsätzliche wie weitschichtige Perspektive für den europäischen Einigungsprozeß gewiesen. Auch wenn die Erfahrungen des deutschen Föderalismus nur in den wenigsten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft auf korrespondierende Strukturen stoßen mögen: Hinsichtlich der weiteren Entwicklung der europäischen Integration weist der föderale Gedanke im Sinne seiner Deutung im Licht des Subsidiaritätsprinzips eine vorausschauende und der Vielfalt der Europäer entsprechende Perspektive. Der Gedanke eines föderalen Aufbaus der Europäischen Gemeinschaft gewinnt durch das Subsidiaritätsprinzip seine sozialethische Tiefe und Einbettung. Maßgeblich wird die Verwirklichung dieser Denkansätze bei der Umsetzung der Verfassungsgrundlagen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Weg zu einer wahrhaften Politischen Union

IV.

Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 haben sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft auf das Ziel einer Politischen Union eingeschworen. Wenngleich bis zur vollständigen Konkretion dieses großen Zieles noch ein weiter Weg zurückzulegen ist, so ist doch eine Richtung gewiesen, die in der Konsequenz der Römischen Verträge von 1957 angelegt ist. Mit ihnen war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet worden „in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen“ Das Ziel weist über eine Freihandelszone und einen losen konföderativen Zusammenschluß in die Richtung einer bundesstaatlichen Struktur, die im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die möglichen Entscheidungsprozesse auf der zentralen Ebene der EG strafft und den Erfordernissen anpaßt. Die Europäische Gemeinschaft hat im Zuge dieses Prozesses damit begonnen, zu einer Föderation eigenen „Typus einer rechtsverbindlichen, handlungsfähigen übernationalen Institution“ heranzuwachsen

Zwei Dimensionen verdienen es, bei den Überlegungen um die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft während der neunziger Jahre besonders beachtet und gefördert zu werden. Zum einen geht es darum, die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsbildungsprozesse zu erhöhen. Dies bedeutet, daß zwischen den Gemeinschaftsinstitutionen -der Kommission, dem Ministerrat, dem Parlament und dem Gerichtshof -ein System funktionaler und funktionierender checks and balances ausgebaut werden muß. Darin eingeschlossen bedarf es vor allem einer Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, das den Namen einer wahren Legislative verdient. Damit wird der Idee der Volkssouveränität und dem Grundprinzip der repräsentativen Demokratie entsprochen, die in den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft bestehen, aber auf der EG-Ebene noch in vielerlei Hinsicht zu wünschen übrig lassen. Die Stärkung der Rechte des Parlaments aber bedeutet ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die repräsentativ vermittelte Stärkung des authentischen Willens aller Gemeinschaftsbürger; sekundiert werden sollte dieser Prozeß durch die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft und durch den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Menschenrechtskonvention des Europarates von 1952, dem weitestentwickelten Grundrechtsschutzinstrumentarium der Welt.

Zum anderen geht es im Prozeß der subsidiär ausgerichteten Schaffung einer föderalen Politischen Union um eine immer weiter voranschreitende Zusammenfassung von Souveränitätsrech43 ten. Viele der Aufgaben, die am Ausgang des 20. Jahrhunderts Europa gestellt sind, lassen sich per Definitionen nicht mehr im Rahmen eines einzelnen Nationalstaates lösen. Überkommene Vorstellungen einer staatlichen Souveränität sind durch die faktische Entwicklung der Welt durchlöchert worden. Transnationale ökonomische Verflechtungen, die Globalisierung der Finanzmärkte, die Herausforderungen im Bereich des Umweltschutzes und der Einwanderungs-bzw. Asylrechts-politik oder die zunehmende Friedensaufgabe, die einem sich vereinigenden Europa freiheitlicher Demokratien zuwächst, zwingen zu einer supranationalen Erneuerung von Souveränitätsrechten, die dem Einzelstaat längst abhanden gekommen sind. „Die westeuropäische Integration ist nichts anderes als der Versuch, die ausgewanderten Aufgaben wieder einzufangen und politisch gestaltbar zu machen -also ein Versuch, Souveränität auf einer anderen Ebene wiederherzustellen.“ Entgegen der zuweilen -und nicht nur in Großbritannien -geäußerten Befürchtung, die weitere europäische Integration führe zu einem ungebührlichen nationalstaatlichen Souveränitätsverlust, geht es tatsächlich um eine Stärkung der Handlungsspielräume für die Europäische Gemeinschaft als Konsequenz aus den gewandelten Bedingungen und Themen der politischen Tagesordnung. Ein weiterer Ausbau eines föderalen Europa entspräche damit den Kriterien des Subsidiaritätsprinzips.

Diese Entwicklung wird zwingend den Bereich einer vergemeinschafteten Außen-und Sicherheitspolitik miteinbeziehen müssen. Die klassische Formel von Carl Schmitt, Souverän sei, wer über den Ausnahmezustand verfügen könne, wird im Laufe der nächsten Jahre von der Europäischen Gemeinschaft bewiesen werden müssen. Gewarnt wird zu Recht vor dem Rückfall in ein kollektives Sicherheitssystem analog zu den Erfahrungen des Völkerbundes und eines Denkens in den Kategorien einer Politik der balance of power. „Auf dem Programm steht es vielmehr, einen gemeinsamen europäischen Rechtsraum zu schaffen, der uns vor Rückfällen schützt und Krisen zu steuern in der Lage ist. Daher brauchen wir für unsere Sicherheit ein verbindliches und institutionalisiertes Netz von Regeln.“ Um die Bewältigung dieser zentralen Aufgabe wird die Europäische Gemeinschaft nicht herumkommen, wenn sie innerhalb der neunziger Jahre ihren Charakter als föderative politische Union vertiefen und verstetigen will. 1783 sah die amerikanische Konföderation sich an einer Weggabelung; der Unabhängigkeitskrieg war gewonnen, aber der Frieden drohte verloren zu gehen, wenn es nicht gelungen wäre, eine Vertiefung der staatlichen Integration zu erreichen, wenn aus der Konföderation nicht eine Föderation geworden wäre. Dieser Prozeß gelang und schuf jene machtvollen, selbstgewissen Vereinigten Staaten von Amerika, die die Welt in den kommenden zwei Jahrhunderten in Erstaunen setzen sollten. Ihr Aufstieg zur Weltmacht im 20. Jahrhundert war auf das engste verbunden mit der Selbstentmachtung und Selbstzerstörung Europas in zwei Weltkriegen, gefolgt von der ideologischen und militärisch-strategischen Spaltung des Kontinents. Am Ende des 20. Jahrhunderts, am Ende der Ost-West-Konfrontation beginnt Europa sich wieder zu finden und einer Renaissance zuzustreben. Stabilster Faktor ist dabei die Europäische Gemeinschaft geworden, die eine überragende magnetische Anziehungskraft auch auf die neuerstehenden Demokratien Mittel-und Osteuropas ausübt. Während die EG sich für Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei öffnen muß, wird sie zunächst darin gefordert bleiben, die Vertiefung des bisher Erreichten zu meistern, die föderale Politische Union auszubauen. Nicht unähnlich den Erfahrungen in Nordamerika im späten 18. Jahrhundert geht es darum, nach dem „gewonnenen Kalten Krieg“ auch die neubegonnene Epoche zu „gewinnen“: durch den nicht mehr umkehrbaren Weg zu einer europäischen Föderation. Ob diese eines Tages als „Vereinigte Staaten von Europa“ in die Geschichte eingehen mag, wird sich zeigen. Am Ende des 20. Jahrhunderts aber liegt es in den Händen der Europäer, diesem Ziel beharrlich zu-zuarbeiten. Mit Victor Hugo gilt es zu konstatieren, daß es nur eine Sache gibt, die stärker ist als Armeen: eine Idee, deren Zeit zur Erfüllung gekommen ist.

Dabei wird sich der dynamische Charakter des Föderalismus, eingebettet in das Subsidiaritätsprinzip, zu bewähren haben. Je neu wird in einzelnen Feldern der Politik zwischen den Mitglieds-staaten der Europäischen Gemeinschaft um die konkrete Struktur und Ausformung der Verhältnisse des Ganzen zu seinen Teilen gerungen werden. Dies ist nur natürlich in einer offenen Gesellschaft wie der europäischen. Philosophisch gesehen mag es dabei um die Beziehung von Einheit und Vielfalt gehen, anthropologisch darum, das Streben des Menschen nach Freiheit und seinen nicht minder angelegten Hang zur Einheit in Harmonie zu bringen. Politisch handelt es sich darum, immer wieder aufs Neue eine Gleichgewichtslage, eine Kompetenzbalance zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten -und den Regionen bzw. Ländern und Provinzen in ihnen -zu finden. Integration und Autonomie zu verbinden, einen subsidiären Föderalismus zu schaffen, der Frieden und Freiheit für alle sichert, die daran teilhaben -selten bietet die Geschichte so offen die Möglichkeit und so deutlich den Auftrag, Ideen konkret umzusetzen, wie dies am Ende des 20. Jahrhunderts im Horizont der Zukunft Europas und der deutschen Vereinigung sichtbar geworden ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt/M. 1969.

  2. Zit. bei Ernst Deuerlein, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips, München 1972, S. 246.

  3. Vgl. Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962.

  4. Vgl. Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung -Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg 1976.

  5. Thomas Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 101 ff.

  6. Vgl. Walter Schmitt Glaeser, Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands, Berlin 1990.

  7. Vgl. das Plädoyer von Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV., Karlsruhe 1990, S. 688ff.

  8. Vgl. E. Deuerlein (Anm. 2), S. 22ff.

  9. Vgl. ebd., S. 30.

  10. Vgl. ebd., S. 35; Johannes Althusius, Politica methodice digesta, deutsche Teilübersetzung in: Erik Wolf, Quellen-buch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt/M. 1949, S. 102ff.

  11. Vgl. E. Deuerlein (Anm. 2), S. 39ff.

  12. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 19543, S. 388.

  13. Vgl. Josef Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 115 (1990) 2, S. 248ff.

  14. Wilhelm Grewe, Antinomien des Föderalismus, in: Recht der Zeit, (1948) 3, S. 3ff. Vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in: Festschrift für Fritz Schäfer, Opladen 1980, S. 182 ff.

  15. So W. Schmitt Glaeser (Anm. 6), S. 49.

  16. Richard von Weizsäcker, Rede bei der Verleihung der Berliner Ehrenbürgerwürde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Juni 1990, S. 10.

  17. Heinrich Oberreuter, Föderalismus, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 2, Freiburg 19867, S. 632; vgl. auch Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, Berlin 1968.

  18. Johannes XXIII., Mater et magistra (1961), in: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, Kevelaer 19763, S. 259.

  19. Pius XI., Quadragesimo anno (1931), zit. ebd., S. 121.

  20. Ebd.

  21. Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die totalitäre Erfahrung, München 1987.

  22. Oswald von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität (1968), Neuauflage Freiburg 1990.

  23. Ebd., S. 81.

  24. Ebd., S. 132.

  25. Vgl. ebd., S. 133.

  26. Ebd., S. 132.

  27. Ebd., S. 145.

  28. Ebd., S. 144.

  29. Vgl. Werner Weidenfeld u. a., Wie Europa verfaßt sein soll. Vorschläge zur institutionellen Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, Gütersloh 1990.

  30. EWG-Vertrag. Grundlage der Europäischen Gemeinschaft, bearbeitet und eingeleitet von Thomas Läufer, Bonn 1989, S. 16.

  31. Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Rede zur Eröffnung des Akademischen Jahres des Europa-Kollegs Brügge, in: Bulletin der Bundesregierung, Nr. 114, vom 27. September 1990, S. 1195.

  32. Werner Weidenfeld, Wer sind wir? Überlegungen zur Identität Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Dezember 1989, S. 14.

  33. Bundespräsident R. v. Weizsäcker (Anm. 31), S. 1197.

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Ludger Kühnhardt, Dr. phil. habil., geb. 1958; Professor für wissenschaftliche Politik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; seit 1990 Gastprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u. a.: Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, Bonn 19912; (zus. mit Hans-Gert Pöttering) Europas vereinigte Staaten. Annäherungen an Werte und Ziele, Zürich 1991; Wege in die Demokratie. Beiträge aus der Politischen Wissenschaft, Jena 1991 (i. E.).