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Nationalitätenkonflikte im Kaukasus und in Mittelasien | APuZ 52-53/1991 | bpb.de

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APuZ 52-53/1991 Der sowjetische Weg zu Markt und Demokratie Wirtschaftslage und Wirtschaftsreformen in der ehemaligen UdSSR Nationalitätenkonflikte im Kaukasus und in Mittelasien Ethnokratie -ein verhängnisvolles Erbe in der postkommunistischen Welt Daten zur Geographie, Bevölkerung, Politik und Wirtschaft der Republiken der ehemaligen UdSSR Artikel 1

Nationalitätenkonflikte im Kaukasus und in Mittelasien

Nikolaj Nowikow

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Zusammenfassung

Nationalitätenkonflikte werden in Regionen der ehemaligen Sowjetunion immer mehr zu einem destabilisierenden Faktor. Die Russische Föderation ist im bedrohlichen Maße darin verwickelt, was zu kriegsähnlichen Verhältnissen an ihren Südgrenzen führen kann. Potentielle oder bereits akut gewordene Spannungen und Konflikte im Kaukasus und in Mittelasien haben viele Aspekte: ethnische, konfessionelle, territoriale und nationalstaatliche. Diese Konflikte werden nicht immer von aggressivem Nationalismus verursacht. Ihnen liegen im Gegenteil in den meisten Fällen ungelöste soziale, wirtschaftliche, politische und territoriale Probleme zugrunde. Die Versuche nationalstaatlicher Selbstbestimmung einiger Völker führen zum bewaffneten Kampf. Das Streben der Autonomien nach Souveränität ist oft mit Grenzkonflikten verbunden. Im Kaukasus ist die Zahl gegenseitiger Gebietsansprüche bedrohlich hoch, und die mittelasiatische Xenophobie führt zu ethnischen Zusammenstößen und zur Flucht der „Fremden“, vor allem der Slawen, aus den Republiken. Eine mögliche Folge des gegenwärtigen politischen Kampfes in den meisten mittelasiatischen Republiken könnte die Entstehung von islamischen Staaten oder von Militär-und-Polizei-Diktaturen sein, was die gesamte Region weiter destabilisieren würde.

I. Besonderheiten der Regionen und Art der Konflikte

aus dem Russischen: Olga Löwen, Köln Die kaukasische Region (die transkaukasischen sowie die nationalen Autonomen Republiken und Gebiete im Nordkaukasus, die zur Russischen Föderation gehören) macht 3 Prozent des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion aus; die Bevölkerung Kaukasiens beträgt 7, 4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die mittelasiatische Region (Turkmenien, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien) deckt 5, 7 Prozent der Fläche der UdSSR und nur 11, 4 Prozent aller Einwohner des früheren sowjetischen Imperiums 1). Dennoch sind in eben diesen beiden Regionen die meisten nationalen Konfliktherde konzentriert. Nach Angaben einer Gruppe Moskauer Politologen und Soziogeographen, die im März 1991 79 Nationalitätenkonflikte und in dieser Hinsicht hochexplosive Punkte in der UdSSR zählten, befinden sich 46 davon im Kaukasus und in Mittelasien

Die Besonderheit dieser Region besteht vor allem im hohen Bevölkerungsanteil von Muslimen: Im Kaukasus sind es rund 50 Prozent und in Mittelasien mehr als 85 Prozent. Außer den Titularnationen, d. h. jenen Völkern, nach denen die Unionsrepubliken und Autonomien benannt sind -Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Kirgisen, Karakalpaken -, leben in Mittelasien auch andere muslimische Völker -Dunganen, Belutschen, Uiguren, Perser, Turkvölker, Kurden, Tataren, Krimtataren, Baschkiren und Aserbaidschaner. Dasselbe gilt auch für Transkaukasien. In Georgien leben neben christlichen Georgiern Muslime: Abchasier, Adscharen und Osseten, ein zum Teil muslimiÜbersetzung sches Volk. In Aserbaidschan sind nicht nur die Aserbaidschaner Muslime, sondern auch die Talisehen, Kurden, Tataren und einige nordkaukasische Völker -Awaren, Lesgier, Tsachurier. Der Nordkaukasus ist als Gebiet wohl einzigartig auf der ganzen Welt, was die Anzahl der dort auf einer relativ kleinen Fläche lebenden Muslimvölker anbelangt -es sind mindestens 30. Bei einer Gesamtbevölkerung von 53, 7 Mio. Menschen in beiden Regionen, Kaukasus und Mittelasien, gehören 37, 7 Mio. muslimischen -vor allem Turk-, aber auch kaukasischen und persischen -Völkern an. Wenn man die ethnische und religiöse Situation in Mittelasien beschreibt, so sollten dabei die muslimischen Völker Kasachstans, das normalerweise zwar nicht Mittelasien zugerechnet wird, mit ihm im Süden aber geographisch und ethno-historisch untrennbar verbunden ist, nicht fehlen. Dann beläuft sich die Zahl der Muslime des gesamten ausgedehnten Südens der ehemaligen Sowjetunion auf mehr als 46 Mio. Menschen oder mehr als 85 Prozent der muslimischen Gesamtbevölkerung. (Den Rest stellen die muslimischen Völker des Wolgagebiets sowie die kleinen Turkvölker Sibiriens.)

Der hohe Muslimeanteil im Kaukasus und ihre Dominanz unter der Bevölkerung Mittelasiens führten dort zu einem Islamismus supranationaler Natur. In Transkaukasien ist sein Einfluß auf das aserbaidschanische Gebiet beschränkt, denn die Bevölkerung Armeniens ist in ihrer Gesamtheit und in Georgien überwiegend christlich. Aber bereits im Nordkaukasus, in Tschetscheno-Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan, in der Adygejischen Republik, in Karatschaiisch-Tscherkessien wie auch in den mittelasiatischen Republiken dominiert der Islam im Massenbewußtsein wie auch im Alltag der einheimischen Bevölkerung und verträgt sich durchaus mit lokalen Nationalismen. Die integrierende Rolle des Islam in diesen Gebieten ist traditionell wichtig, wenn auch nicht absolut.

In beiden Regionen finden Konflikte statt, die rein ethnischer und konfessioneller Feindschaft entstammen. Aber damit sind dort, wie übrigens auch auf dem gesamten Gebiet der ehemaligen UdSSR, nicht alle nationalen Spannungen erschöpft. Es handelt sich weniger um ethnische und religiöse Idiosynkrasie, die zahlreiche Völker der ehemaligen Sowjetunion in Zusammenstöße treibt, als um reale Interessenwidersprüche. So hatte das Streben der Unionsrepubliken und vieler Autonomien nach Souveränität von Anfang an seinen Ursprung nicht im aufflammenden Nationalismus, sondern in der Erkenntnis, in der verzerrt-zentralistischen Sowjetunion staatlich und wirtschaftlich benachteiligt worden zu sein. Es besteht auch kein Zweifel darüber, daß sich im nationalen Hader die Unzufriedenheit der Menschen durch Not, rechtliche Schutzlosigkeit und soziale Perspektivlosigkeit entlädt. Hinter vielen nationalen Konflikten in Mittelasien stehen rein soziale Probleme. Dies wird besonders deutlich, wenn man den unglaublich niedrigen Lebensstandard in dieser Region bedenkt. Das Pro-Kopf-Nationaleinkommen in Turkmenien, Kirgisien, Usbekistan und Tadschikistan ist zwei-bis dreimal niedriger als in der Russischen Föderation. Schon diese Tatsache an sich war und bleibt der Nährboden für eine feindselige Haltung der mittelasiatischen Völker gegenüber den Slawen, denen sie ihre Not zuschreiben.

Daß die Republiken ihre staatliche Unabhängigkeit erklärt haben, war in erster Linie das Verdienst der nationalen Bewegungen, an deren äußerster Flanke, auch im Kaukasus und in Mittelasien, aggressiver Nationalismus steht. Dieser operiert mit den Losungen: „Die Republik den Einheimischen!“, „Alle Macht den Einheimischen“, und führt dort, wo sich dies als machbar erweist, eine nationale Minderheiten diskriminierende Politik durch. Schaut man sich jedoch die äußerst lebhafte Szenerie nationaler Konflikte etwas näher an, so ist festzustellen, daß es dem Nationalismus nur dann gelingt, Nationalitäten-konflikte zu entfachen, wenn hierfür politische, wirtschaftliche, institutionelle und nicht nur ideologisch-emotionelle Beweggründe vorliegen. Augenfällig ist dabei außerdem, daß ethnische und religiöse Nähe bzw. Distanz der am Konflikt beteiligten Seiten dann zweitrangig wird und einem unbesonnenen nationalen Egoismus weichen muß. Nationalistische Emotionen sind zwar häufig das Mittel, die Geister zu mobilisieren und anzustacheln, keinesfalls aber die eigentliche Ursache dieser Zusammenstöße.

Eines der Hauptprobleme in den Beziehungen der Völker des ehemaligen sowjetischen Imperiums ist die Frage der Grenzen zwischen ihren national-staatlichen Gebilden. Für die ehemaligen Unionsrepubliken, die ihre Unabhängigkeit bereits erklärt haben, und die danach strebenden Autonomien ist die endgültige Festlegung ihres Territoriums beinahe das vorrangigste Ziel. Recht häufig erweist sich seine Verwirklichung jedoch als viel komplizierter, als ihnen lieb wäre. Man kann konstatieren, daß fast allen bewaffneten Zusammenstößen von Völkern und ethnischen Gruppen in Transkaukasien, im Nordkaukasus und in Mittelasien die Frage „Wem gehört dieses Territorium, dieses Land?“ voranging. Die gegenseitigen Gebietsansprüche der Völker im Kaukasus und Mittelasien reichen zum Teil weit in die Vergangenheit zurück, zum Teil werden sie vom lokalen Nationalismus künstlich aufgebauscht. Größtenteils haben diese Ansprüche aber eine reale Grundlage: Die Völker wollen die Ergebnisse einer bürokratischen, willkürlichen Territorialpolitik der kommunistischen Führung der ehemaligen UdSSR korrigieren.

II. Grenzkonflikte zwischen den Republiken

In Transkaukasien gehört vor allem der armenischaserbaidschanische Streit um das Schicksal von Nagornyj Karabach zu den schwierigen Grenzkonflikten. Die Willkür, mit der zu Beginn der zwanziger Jahre die Grenzziehung zwischen den Republiken erfolgte, erreichte wohl ihren Höhepunkt, als dieses kleine, vorwiegend von Armeniern bewohnte Gebiet Aserbaidschan zugeschlagen wurde. Danach war der historische armenische Landstrich durch einen 8 km breiten Streifen aserbaidschanischen Territoriums von Armenien abgetrennt. Diese Aktion, von Lenin als „Goodwill-Geste“ gegenüber dem revolutionär-demokratischen Regime in der Türkei geplant, hat in unserer Zeit zu einer Tragödie geführt, einem nicht erklärten, aber blutigen Krieg zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Zu seinen Opfern gehören außer den zahlreichen Toten ca. 230000 aserbaidschanische Flüchtlinge aus Armenien und ungefähr ebensoviele armenische Flüchtlinge aus Aserbaidschan. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind wahrscheinlich alle Mittel, diesen Konflikt aus der Welt zu schaffen -von der Stationierung der Unionsarmee in dem von bewaffneten Freischärlern beider Seiten umkämpften Gebiet bis zu Verhandlungen-, erschöpft. Die Initiative des Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, und des Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, im September dieses Jahres, bei der Konfliktregelung zu vermitteln, erbrachte rein gar nichts. Es war von vornherein nicht mit ernsthaften, positiven Resultaten zu rechnen.

Die Armenier wären nur dann zufriedengestellt, wenn das umstrittene Gebiet an Armenien überginge oder ihm zumindest administrativ unterstellt würde; Aserbaidschan hingegen möchte nicht auf einen Teil seines Territoriums verzichten. Es sieht Nagornyj Karabach als ein Problem, das ausschließlich unter seine Jurisdiktion fällt, und „löst“ es durch gewaltsame Vertreibung der Armenier.

Die Bevölkerung der transkaukasischen Republiken hat jedoch noch eine Reihe anderer gegenseitiger Gebietsansprüche. Sie werden in der breiten Öffentlichkeit diskutiert, und einige von ihnen sind in die Programme nationalistischer Bewegungen eingegangen. Die wichtigsten Forderungen sind, den südwestlichen Teil Georgiens (Dschawacheti) an Armenien, den südöstlichen Teil Georgiens an Aserbaidschan und den nordwestlichen Teil Aserbaidschans an Georgien abzutreten. Ob diese Ansprüche sich als Impuls für Konflikte auswirken werden, wird ganz von der Art der künftigen Beziehungen zwischen den drei Staaten Transkaukasiens abhängen. Bislang haben diese Beziehungen noch keine endgültige Gestalt, abgesehen von der offensichtlichen Feindschaft zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie den Schwierigkeiten der demokratisch orientierten Regierung Armeniens, mit dem autoritär-nationalistischen Regime des Präsidenten Georgiens, Swiad Gamsachurdija, zusammenzuarbeiten. Hatten die Bolschewiki seinerzeit im Kaukasus zumindest die Grenzen der Nationalstaaten berücksichtigt, die dort nach der Februarrevolution 1917 entstanden waren und von ihnen zu Beginn der zwanziger Jahre aufgelöst wurden, so war der Sachverhalt in Mittelasien, in Turkestan, ganz anders. Das Territorium und die ethnisch gemischte Bevölkerung dieser Region waren bis zu ihrer schrittweisen Eroberung durch die Rote Armee in supranationale Staaten -das Emirat Buchara, das Khanat Chiwa und das Khanat Kokand -aufgeteilt. Die supranationalen Strukturen dieser Region unangetastet zu lassen, gehörte nicht in die Pläne der Bolschewiki, vor allem weil sie den Panslamismus und Panturkismus als einen möglichen ernsthaften Konkurrenten fürchteten. Darum begann man, nachdem Turkestan Mitte der zwanziger Jahre endgültig unterworfen und administrativ der Russischen Föderation eingegliedert worden war, das Territorium in nationale Republiken aufzuteilen.

Das Resultat einer sich über Jahre hinziehenden und ständig revidierten Aufgliederung Turkestans war die Aufteilung in vier Republiken und Südkasachstan. Diese Aktion ist bis heute die Ursache für Instabilität in der mittelasiatischen Region, denn die Anzahl umstrittener Grenzabschnitte und umstrittener grenznaher Bezirke ist dort bedenklich groß. In einigen Fällen arten die gegenseitigen Gebietsansprüche in blutige Zusammenstöße aus, wie es z. B. im Sommer 1990 zwischen Kirgisen und Usbeken in und um Osch in Kirgisien der Fall war, als sich die Zahl der Toten auf beiden Seiten innerhalb eines Monats auf 320 belief. Aber noch mehr Konflikte dieser Art -bis dahin noch friedlich beigelegt -drohen, jeden Augenblick in offene Auseinandersetzungen umzuschlagen.

Die größte Gefahr geht hierbei von Ansprüchen aus, die von der Bevölkerung einer Republik auf ganze, in anderen Republiken liegenden Gebiete und Bezirke erhoben werden. Häufig sind es Ansprüche auf wasserreiche Gegenden, denn in dieser Region herrscht durch das Versiegen des Aral-sees und Bodenübersalzung katastrophaler Wassermangel. Das Serawschan-Tal, sowie Gebiete in Buchara und Samarkand beanspruchen die Tadschiken für sich von Usbekistan, die Turkmenen und Usbeken fordern eine Umverteilung -zu ihren Gunsten -der Gebiete . entlang des Amudarja-Flußlaufs

Wenn auf dem Territorium einer Republik in Mittelasien Titulamationen anderer mittelasiatischer Republiken vorhanden sind, so ist dies allein schon ein untrügliches Zeichen für einen willkürlichen Grenzverlauf zwischen den Republiken. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür sind die Usbeken und Tadschiken. Wie einige Historiker berichten, fanden sich bei der Gründung der Usbekischen SSR im Jahre 1924 ungefähr 2 Mio. Tadschiken -von damals insgesamt 3, 4 Mio. in Mittelasien -innerhalb dieser Grenzen wieder Derzeit leben, laut der letzten Volkszählung von 1989, ca. 1 Mio. Tadschiken in Usbekistan. Die Richtigkeit dieser Zahl ist jedoch fraglich: Es ist bekannt, daß die Volkszähler in Usbekistan angewiesen wurden, die Anzahl von Tadschiken zu verringern, woraufhin Bewohner ganzer tadschikischer Dörfer einfach als Usbeken eingetragen wurden. Nach Angaben tadschikischer Experten gibt es in Usbekistanderzeit mindestens 3 Mio. Tadschiken. Das sind fast genauso viele wie in ihrer eigenen Republik. Die Usbeken wiederum machen 1, 2 Mio. (23, Prozent) der Bevölkerung Tadschikistans aus und stellen dort nach den Tadschiken die zweit-größte Nationalität. Zu der gespannten Beziehung zwischen Usbeken und Tadschiken, die mit dem Gebietsproblem zusammenhängt, kommt noch die kulturelle Verschiedenheit zwischen einem Turkund einem persischen Volk hinzu.

III. Ethnische und nationalstaatliche Konflikte innerhalb der Republiken

1. Armenien und Aserbaidschan Durch die vollständige Vertreibung der Aserbaidschaner aus Armenien ist die ethnische und konfessionelle Situation in dieser Republik nahezu konfliktfrei. Unter den sowjetischen Republiken stand Armenien schon immer an erster Stelle, was die ethnische Homogenität anbelangt: 1979 machten die Armenier 90 Prozent der Bevölkerung aus, 1989 waren es 93 Prozent. Ein im ethnischen und religiösen Sinne fremdes Element der Bevölkerung waren dort -außer den Aserbaidschanern -schon immer die Kurden. Noch im Jahre 1937 wurden einige Zehntausend Kurden aus Armenien und Aserbaidschan nach Mittelasien und Kasachstan deportiert. 1989-1990 waren die Kurden gezwungen, Armenien zu verlassen und nach Aserbaidschan sowie in den Süden der Russischen Föderation zu ziehen. Die ethnischen Kurden, die heute noch in Armenien leben (ca. 50000 Menschen), sind in ihrer Mehrheit Jesiden, die zu einer besonderen, nichtmuslimischen religiösen Gemeinschaft gehören und ihren Unterschied zu muslimischen Kurden stark betonen. Übrigens ist Armenien gegenwärtig die einzige Republik, in der jesidische Kultur nicht diskriminiert wird und eine jesidische Intelligenz entstehen konnte. Die slawische, hauptsächlich russische Minderheit ist in Armenien sehr klein und ruft bei der Bevölkerung anscheinend keine nationalistische Aggressivität hervor.

Komplizierter ist die Lage in Aserbaidschan, obwohl auch dort der Anteil der Titularnation, der Aserbaidschaner, nach offiziellen Angaben mit 83 Prozent recht hoch ist. Die Schwierigkeit liegt darin, daß, von dem Krieg zwischen Aserbaidschanern und Armeniern auf aserbaidschanischem Boden einmal ganz abgesehen, hier einige Völker leben, denen das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung genommen wurde. So haben die Kurden, die der Deportation entgehen konnten bzw. danach in ihre Heimat zurückgekehrt sind, und ihre Nachfahren noch nicht vergessen, daß es in den dreißiger Jahren in Aserbaidschan einen kurdischen Nationalbezirk gab (der später aufgelöst wurde) und Schulen, in denen der Unterricht in Kurdisch abgehalten wurde. Die Talischen, ein Volk persischer Herkunft, wurden dadurch „aserbaidschanisiert“, daß sie bei Volkszählungen in ihrer Mehrheit den Aserbaidschanern zugerechnet wurden. Offiziell ist die Zahl der Talischen 1989 mit 21000 Menschen angegeben worden. Doch nach den Angaben der vor kurzem entstandenen Bewegung der Talischen für nationale Wiedergeburt sind es in Aserbaidschan (sie leben in vier Bezirken) mindestens 1 Mio. Menschen 5). Talischen sind ein Volk mit eigener Sprache und eigener Kultur, gegenwärtig sind sie aber nur eine von den nationalen Minderheiten, die von den Aserbaidschanern assimiliert werden. Da sich die Bewegung der Talischen für nationale Wiedergeburt die Schaffung einer Republik der Talischen zum Ziel gesetzt hat, ist der Konflikt zwischen ihr auf der einen und der Bevölkerung sowie den Macht-organen Aserbaidschans auf der anderen Seite unvermeidlich. Zu den nationalen Minderheiten, die in Aserbaidschan assimiliert werden, gehören ebenfalls Tataren und Türken. Vollkommen vergessen sind auch die Probleme einer kulturellen Existenz der muslimischen Taten, eines kleinen Volkes persischer Herkunft, das im nordöstlichen Teil Aserbaidschans lebt. Es ist relativ einfach vorauszusehen, daß das anwachsende nationale und ethnische Selbstbewußtsein aller dieser Völker eines Tages Spannungen und Konflikte verursachen wird.

In Aserbaidschan leben recht viele Russen (Angaben für Anfang 1989 zufolge waren es rund 400000). Zehntausende von ihnen verließen die Republik nach den blutigen Pogromen an Armeniern in Baku und Sumgait. Das Schicksal der Dagebliebenen ist ungewiß und wird wohl von den Beziehungen, wie sie sich zwischen Aserbaidschan und der Russischen Föderation gestalten werden, abhängen. Und schließlich leben in Aserbaidschan auch noch einige Gruppen der Völker des benachbarten Dagestan -Lesgier, Tsachurier, Awaren (insgesamt 230000 Menschen). Höchstwahrscheinlich wird der aserbaidschanische Nationalismus auch sie aus der Republik treiben, wie es ähnlich schon in Georgien geschieht: In letzter Zeit vertreibt man dort aus dem an Dagestan angrenzenden Bezirk die Awaren. Die Gruppe der sog. Kwareli-Awaren lebte seit über 150 Jahren dort. Jetzt werden sie (ca. 8 000 Menschen) auf Verlangen der Regierung Georgiens, das durch terroristische Aktionen bewaffneter georgischer Freischärler bekräftigt wird, gewaltsam nach Dagestan aus-gesiedelt. 2. Georgien Im heutigen Georgien treten geballt nationalstaatliche und territoriale Konflikte auf, die vom auflodemden ethnischen und konfessionellen Haß zwischen Christen und Muslimen begleitet werden. Da sind vor allem der georgisch-ossetische, der georgisch-abchasische und der georgisch-adscharische Konflikt. Die zwei erstgenannten gleichen sich in der Struktur: Die Osseten und Abchasier leben in autonomen Gebilden innerhalb Georgiens und wollen diese in von Georgien unabhängige Staaten umwandeln, doch die Zentralregierung Georgiens und die georgische Bevölkerung widersetzen sich dem entschieden. Im Herbst 1990 erklärten sich das Südossetische Autonome Gebiet und die Adscharische Autonome Republik, ohne vorher überhaupt irgendwelche Verhandlungen mit der georgischen Regierung zu führen, zu Unionsrepubliken und verkündeten ihre Bereitschaft, der „erneuerten Sowjetunion“ als gleichberechtigte Mitglieder beizutreten. Daraufhin erklärte das georgische Parlament diese Beschlüsse für verfassungswidrig, ja löste sogar das Südossetische Autonome Gebiet als national-administrative Einheit auf. Die Ziele der Adscharen, die in der Adscharischen Autonomen Republik leben, sind bescheidener Natur. Sie wollen lediglich ihre Autonomie erhalten und festigen, da sie, nicht ohne Grund, fürchten, daß der radikal nationalistische Präsident Georgiens, Swiad Gamsachurdija, sie beenden könnte.

So haben also Versuche nationalstaatlicher Selbstbestimmung zweier Völker, der Osseten und der Abchasier, und einer in konfessioneller Hinsicht besonderen Gruppe der Georgier, der Adscharen-die ethnisch Georgier sind, sich auch als Georgier betrachten, allerdings im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit der Georgier Muslime sind -, zu Konflikten geführt. Daß die praktische Umsetzung ihres Rechts auf Selbstbestimmung in einen Konflikt mündete, ist nicht zufällig. In diesem Zusammenhang sollte vor allem der territoriale Aspekt der Frage nicht übersehen werden, und zwar, daß Südossetien und Abchasien damit, daß sie sich zu Unionsrepubliken erklärten, auch ihr souveränes Recht auf das von ihnen bewohnte Gebiet bis zu seiner Ausgliederung aus Georgien deklarieren. Eben dieses souveräne Recht auf das eigene Territorium führen auch die Adscharen in ihren Forderungen an. Sollten aber diese Pläne Wirklichkeit werden, würde Georgien ein recht großes Gebiet (22 Prozent der Gesamtfläche) verlieren, auf das es sowohl historisch wie auch verfassungsmäßig nicht weniger Anspruch hat als die dort gelegenen autonomen Gebilde. Zweifelsohne werden weder die georgische Regierung noch die georgische Bevölkerung, die in dieser Republik 70 Prozent der Einwohner ausmacht, auf diese Forderungeneingehen.

Dabei müssen schon allein wegen der ethnischen Zusammensetzung dieser Autonomien Zweifel an dem Gedanken aufkommen, sie zu Nationalstaaten zu machen. Abchasier stellen ungefähr 17 Prozent der 500000 Einwohner Abchasiens. Die übrigen sind Georgier (ca. 44 Prozent), Russen (ca. 18 Prozent), Armenier (ca. 15 Prozent), Griechen, Ukrainer und andere. Was die Zahl der Adscharen in Adscharien anbetrifft, so bleibt sie ein Rätsel. 1989 waren 80 Prozent der adscharischen Bevölkerung Georgier, aber wieviele von ihnen muslemisehe Adscharen und wieviele christliche Georgier waren, ist nicht bekannt. Die Pläne für einen „Staat der Abchasier“ und einen „Staat der Ad-scharen“ entbehren somit fast ganz der Grundlage. Kollisionen dieser Art -ein territoriales Problem und geringer Anteil der Titularnation an der Gesamtbevölkerung -sind auch für die Situation vieler anderer autonomer Gebiete kennzeichnend. Dies trifft insbesondere auf die Gebiete zu, die zur Russischen Föderation gehören und ihr Recht auf Selbstbestimmung in nationalstaatlicher Hinsicht verwirklichen wollen. Bei all den Unterschieden zu Abchasien und Georgien werden sie wahrscheinlich auf dieselben Schwierigkeiten stoßen, sollten sie zu keinem vernünftigen Kompromiß mit der Regierung der Russischen Föderation bereit sein.

Gegenwärtig jagt die Miliz in Abchasien Demonstrationen für die Unabhängigkeit auseinander, in Adscharien geschehen politische Morde. Hier wie dort formiert sich eine bewaffnete patriotische Untergrundbewegung. In Südossetien findet zwischen bewaffneten Georgiern und Osseten praktisch ein Krieg statt, weil die Osseten sich weigern, die Beschlüsse des georgischen Parlaments auszuführen. In diesem Krieg haben die Georgier -es sind nicht nur ortsansässige, sondern auch jene, die aus anderen Bezirken hierherkommen, um für die „Einheit Georgiens“ zu kämpfen -durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit und bessere Ausrüstung mit Waffen die Oberhand. Sie setzen Artillerie, ja sogar Raketenwaffen ein und vertreiben die Osseten aus ihren Gebieten. Häuser, manchmal sogar ganze ossetische Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht. Allein auf der ossetischen Seite sind 500 Menschen umgekommen und Bewohner von mehr als 80 ossetischen Dörfern mußten ihre Heimat verlassen. Die Osseten werden auch aus anderen Gebieten Georgiens vertrieben, die Zahl der Flüchtlinge unter ihnen hat bereits 100000 erreicht. Zu den dramatischen Folgen des georgisch-ossetischen Konflikts gehört ebenso, daß die Russische Föderation immer mehr darin verwikkelt wird. Da die ossetischen Flüchtlinge in die Nordossetische Autonome Republik strömen, die zur Russischen Föderation gehört, wird somit praktisch die ganze Last ihrer materiellen Unterstützung und Unterbringung der russischen Regierung aufgebürdet. Im Zusammenhang damit hat die Regierung der Russischen Föderation der Regierung Georgiens als derjenigen, die die Flucht der Osseten verschuldet hat, eine Forderung in Höhe von 144 Mio. Rubel überreicht. Gleichzeitig wurde beschlossen, auf Georgien wirtschaftlichen Druck auszuüben, damit die Kampfhandlungen gegen die ossetische Bevölkerung eingestellt werden. Südossetien sieht für sich den Ausweg aus dieser Lage darin, der Russichen Föderation durch eine Vereinigung mit der Nordossetischen Autonomen Republik eingegliedert zu werden. Aber dieser Weg hieße, Südossetien aus Georgien auszugliedem, was, nach dem jetzigen Stand der Dinge, nicht einmal ein Krieg der Russischen Föderation mit Georgien schaffen würde. Ganz zu schweigen davon, daß die Russische Föderation wohl kaum so einen Schritt unternehmen wird, da doch alle seine weitreichenden, katastrophalen Folgen abzusehen sind. Darum ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Ende des georgisch-ossetischen Konflikts noch nicht in Sicht, und Georgien wird in Transkaukasien -neben dem Karabach-Konflikt in Aserbaidschan -offenbar auch weiterhin Schauplatz bewaffneter interethnischer Kämpfe bleiben. 3. Mittelasien In Mittelasien gibt es nur in zwei Republiken autonome Gebiete. Zu Usbekistan gehört die Karakalpakische Autonome Republik mit mehr als 1 Mio. Menschen, von denen rund 30 Prozent dem Turkvolk der Karakalpaken angehören. In Tadschikistan liegt das Gorno-Badachschanische Autonome Gebiet, wo neben Tadschiken einige Dutzend kleiner Pamir-Völker leben. Nach den allemeuesten Meldungen hat sich in Karakalpakien die Bewegung „Chalyk-Mali" formiert, die die Umwandlung der Republik in einen unabhängigen souveränen Staat erreichen will, was zweifellos zu einem Konflikt zwischen den Karakalpaken und der Zentralgewalt führen wird. Auch im Pamir und einigen Gebieten Usbekistans werden bereits Gedanken über nationale Souveränität laut, bislang ist es allerdings noch zu keinen Schritten gekommen, die Konflikte nach sich gezogen hätten.

Die Spannungen und Konflikte in den nationalen Beziehungen in Mittelasien entspringen heute hauptsächlich einem anderen Grund. Das ist die in letzten Jahren zunehmende Xenophobie der autochthonen muslimischen, meistens Turkbevölkerung gegenüber ethnischen und konfessionellen Fremden. Zu ihrem Opfer wurde in erster Linie die slawische Bevölkerung dieser Region: Russen und Ukrainer. Bereits in den achtziger Jahren hat sich ihre Abwanderung aus den mittelasiatischen Republiken abgezeichnet. Dennoch ist der Bevölkerungsanteil der Russen in Kirgisien (21, 5 Prozent) und Kasachstan (37, 8 Prozent) nach wie vor relativ hoch. Mit einem geringeren Prozentanteil sind sie unter den Einwohnern Tadschikistans, Usbekistans und Turkmeniens (zwischen 7, Prozent und 9, 5 Prozent) vertreten. Allerdings werden sie auch dort zum Objekt von Ausschreitungen der einheimischen Bevölkerung. Als Folge davon flüchten die slawischen Einwohner zu Zehntausenden aus Mittelasien. Zum großen Teil sind es qualifizierte Arbeitskräfte und deren Familien. Dieser Prozeß führt zu einer Verarmung der Republiken an Arbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern. So haben allein im letzten Jahr mehr als 30 000 russische Fachleute mit Hochschulbildung, durchschnittlich nicht über 30 Jahre alt (d. h. sie haben der leistungsfähigsten Bevölkerungsschicht angehört), Usbekisatan verlassen 6). In nur zwei Jahren hat die Zahl der slawischen Flüchtlinge aus Usbekistan die 100000-Marke überschritten, in Tadschikistan waren es über 50000 und ungefähr in derselben Größenordnung bewegte sich jeweils die Zahl derer, die Turkmenien und Kirgisien verlassen haben. 1989 lebten aber in Mittelasien (ohne Kasachstan) rund 3, 3 Mio. Russen sowie über 300 000 Ukrainer, so daß das Reservoir an potentiellen slawischen Flüchtlingen dort riesengroß ist.Die mittelasiatische Xenophobie erstreckt sich auf die gesamte „russischsprachige“ Bevölkerung. Mit aller Gewißheit kann man sagen, daß, gäbe es sie nicht, auch der Strom der Deutschen aus den mittelasiatischen Republiken und Kasachstan (nach offiziellen Angaben waren es 1989 1136000 Menschen) in die Bundesrepbulik nicht so groß wäre. Ein Objekt der Xenophobie in Mittelasien sind zudem die unter Stalin dorthin deportierten Völker, dessen ungeachtet, daß einige von ihnen sowohl Turkvölker als auch Muslime sind. Nach den Pogromen an Turko-Mescheten im Fergana-Tal in Usbekistan im Jahre 1989 wurden 100000 von ihnen zu Flüchtlingen. Vor der kriegerischen mittelasiatischen Xenophobie ergreifen auch die früher dorthin deportierten Krimtataren, Kurden und Jesiden die Flucht. In den letzten Jahren zogen auch die Assyrer-Aisoren, die 1950/51 aus Georgien nach Mittelasien deportiert wurden, in den Süden der Russischen Föderation.

Auch die Spannungen zwischen den einzelnen autochthonen Völkern in jeder der mittelasiatischen Republiken nehmen zu, und es kommt zu Zusammenstößen. Nachrichten darüber gelangen selten in die Presse, denn das liegt weder im Interesse der lokalen Machtorgane noch der Zentralgewalt. Die Fakten solcher Ausschreitungen werden größtenteils lediglich in den Protokollen der Miliz festgehalten und figurieren dort neben kriminellen Delikten. Allem Anschein nach werden sie immer mehr zu einem festen Bestandteil der Situation in Mittelasien. Davon zeugt die in den letzten Jahren rapide angewachsene interrepublikanische Migration: Tadschiken aus anderen Republiken ziehen nach Tadschikistan, Turkmenen nach Turkmenien usw. In einigen Republiken hat das zu einer beträchtlichen Schrumpfung der Einwohnerzahl geführt. So hat sich allein in der ersten Jahreshälfte 1991 die Bevölkerung Kirgisiens infolge der Migrationsbewegungen der Kasachen nach Kasachstan, der Usbeken nach Usbekistan und der Russen in die Russische Föderation um 74000 verringert. Dies war der Fall, obgleich im Jahre 1991 dreimal so viele Kirgisen aus anderen mittelasiatischen Republiken nach Kirgisien zogen als im Jahr zuvor

IV. „Pulverfaß“ Nordkaukasus

1. Die Konfliktzone Der Nordkaukasus, so ein Moskauer Journalist in seinem Bericht Mitte Oktober 1991, sei ein „Pulverfaß“ Die „Achillesferse Rußlands“ nannte ihn zum gleichen Zeitpunkt ein anderer Für diese Bezeichnung gibt es trifftige Gründe. Im Frühjahr dieses Jahres hat im Nordkaukasus ein erbitterter politischer und nationaler Kampf begonnen. Er wird von Waffenanhäufung bei der Bevölkerung und Aufstellung bewaffneter Freiwilligentrupps begleitet. Dabei haben sich die Schwierigkeiten der nationalstaatlichen Selbstbestimmung der dort lebenden Völker mit ihren territorialen und ethnischen Konflikten untereinander zu einem festen Knoten verschlungen.

Der Nordkaukasus ist ein Teilgebiet der Russischen Föderativen Republik. Dort befinden sich vier autonome Republiken -die Nordossetische, die Tschetscheno-Inguschische, die Dagestanische, die Kabardino-Balkarische -sowie das Rostower Gebiet, die Region Stawropol und die Region Krasnodar. Zu den letztgenannten gehören zwei autonome Gebiete: das Karatschaiisch-Tscherkessische und das Adygejische. Die heutige Konflikt-zone umfaßt eben diese autonomen Republiken und Gebiete, die an Georgien und Aserbaidschan angrenzen. Territorial gesehen sind es winzige Bestandteile der Russischen Föderation. Ihre Gesamtfläche beträgt nur 0, 7 Prozent von der Fläche der Russischen Föderation, aber in der kaukasischen Region wäre sie eine recht umfangreiche Ergänzung Transkaukasiens, denn sie ist größer als die von Georgien und Armenien zusammen. (Zum Vergleich: die Fläche der nordkaukasischen Autonomien ist fast viermal so groß wie die von Belgien und fast dreimal so groß wie die der Niederlande.)

Bei den in diesen Gebieten lebenden Völkern handelt es sich überwiegend um kaukasische muslimische Völker. Rechnet man die Osseten, die nur zum Teil Christen, sonst aber überwiegend Muslime sind, nicht hinzu, so beträgt die muslimische Bevölkerung im Nordkaukasus ca. 4 Mio. Menschen, wobei der Islam sehr tief verwurzelt ist und sich mit der geschichtlich verbürgten Freiheitsliebe der Völker ebenso vereinbaren läßt wie mit ihrer traditionellen Bereitschaft, beim Austragen von Streitigkeiten zu Waffen zu greifen. In den nord-B kaukasischen Autonomien leben sehr viele Russen, insgesamt mehr als 1, 3 Mio. Menschen. Am schwächsten sind sie im bevölkerungsreichsten Dagestan vertreten -mit 9, 2 Prozent. In den anderen Gebieten ist der Anteil der Russen hoch -von 23, 1 Prozent in Tschetscheno-Inguschetien bis hin zu 68 Prozent in der Adygejischen Republik.

Diese Zahlen sind zu berücksichtigen, will man die Schwierigkeiten der nationalstaatlichen Selbstbestimmung der autochthonen Völker im Nordkaukasus begreifen, denn sie steht im Widerspruch zu den Interessen der russischen Bevölkerung dieses Gebiets. Hinzu kommt ein neuer Umstand, durch den sich die Konflikte dieser Art zuspitzen -die Militarisierung der dort lebenden Kosaken. Es handelt sich um Nachkommen der russischen Eroberer des Nordkaukasus im 19. Jahrhundert. Die Kosaken sind Russen und orthodox. Nach dem Machtantritt haben die Bolschewiki Kosaken als „Klassenfeinde“ massenweise getötet, da die Kosaken eine Hauptkraft der antibolschewistischen Widerstandes waren. In den letzten Jahren erlebt das Kosakentum in vielen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion seine Wiedergeburt. Es entstehen militärisch-territoriale Organisationen des ehemaligen Kosakentums wieder, die auch ihre Wohngebiete zu ihren „eigenen Territorien“ erklären. Dies ist auch im Nordkaukasus der Fall.

Seit dem Frühjahr 1991 gleicht der Nordkaukasus einem brodelnden Kessel. Der offene politische und nationale Kampf begann dort aber erst nach der Niederschlagung des August-Putsches in Moskau. Die Tatsache, daß die Führung der nordkaukasischen Gebiete den Putsch guthieß, ließ die Demokraten und russischen Nationalisten gegen deren Parteispitze auftreten. Zur gleichen Zeit erfaßte auch die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage immer breitere Bevölkerungsschichten. Der Einfluß der muslimischen Geistlichen verstärkte sich, und islamisch orientierte Bewegungen wurden nach jahrzehntelangem Schweigen zur politischen Kraft. Das Präsidium des Obersten Sowjets Kabardino-Balkariens mußte auf Druck der Öffentlichkeit zurücktreten. In Dagestan wurden und werden Demonstrationen und Streiks durchgeführt, die die Auflösung des Obersten Sowjets und den Rücktritt der ganzen Regierung der Republik fordern. 2. Tschetscheno-Inguschetien Mit der allergrößten Schärfe und Entschlossenheit gestaltet sich der politische Kampf in Tschetscheno-Inguschetien. Dort kam es Anfang September 1991 zu einem Volksaufstand: Die Volksmassen jagten den Obersten Sowjet der Republik davon und wiesen seinem Vorsitzenden, einem KPdSU-Funktionär, die Tür. In der Republik entstanden zwei Machtzentren. Das eine ist das eigenmächtig ins Leben gerufene Exekutivkomitee des Gesamt-nationalen Kongresses des Tschetschenischen Volkes, das sich der Unterstützung des Volkes erfreut, das andere ist der Provisorische Oberste Rat der Republik, der von dem alten aufgelösten Obersten Sowjet gebildet wurde. Das Exekutivkomitee des gesamtnationalen Kongresses des Tschetschenischen Volkes ging sofort daran, bewaffnete Freiwilligentrupps aufzustellen und brachte die Macht in der Republik an sich.

Als Antwort darauf erklärte das Präsidium des Obersten Sowjet der Russischen Föderation das Exekutivkomitee bereits im Oktober für verfassungswidrig und begann, Emissäre nach Tschetscheno-Inguschetien zu entsenden, die in der dort entstandenen Situation schlichten sollten. Sowohl das eine als auch das andere wurde in Tschetscheno-Inguschetien als Anzeichen des alten russischen Imperialismus und Einmischung in innere Angelegenheiten einer souveränen Republik gewertet. Der Vorsitzende des Exekutivkomitees, ein Luftwaffengeneral a. D., erklärt die Mobilmachung der gesamten männlichen Bevölkerung der Republik im Alter von 15 bis 55 Jahren, so daß schon im Oktober mehr als 60 000 bewaffnete Gardisten bereitstanden, die Unabhängigkeit Tschetscheno-Inguschetiens zu verteidigen. Auch der Mitte Oktober abgehaltene Kongreß der Muslime im benachbarten Dagestan sagte im Falle eines bewaffnetes Konflikts mit der Russischen Föderation Tschetscheno-Inguschetien seine Unterstützung zu. Auch muslimische Organisationen aus anderen Gebieten des Nordkaukasus versprachen dem Exekutivkomitee Hilfe, sollte es zu einem „Heiligen Krieg“ kommen.

Der Erlaß des Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, mit dem im November der Ausnahmezustand über Tschetscheno-Inguschetien verhängt werden sollte, goß noch mehr Öl ins Feuer. Es steht ganz eindeutig fest, daß jeder, selbst der vorsichtigste Versuch der russischen Regierung, sich gewaltsam in die Situation einzumischen, den ganzen Nordkaukasus in einen Kriegsherd verwandeln würde. Gleichzeitig drängt aber die rapide Verschlechterung der Beziehungen zwischen der kaukasischen und russischen Bevölkerung seit dem Frühjahr dieses Jahres die Vermutung auf, daß der politische Kampf in Tschetscheno-Inguschetien die Flucht von mindestens 200000 Russen -diese Ziffer wird von Amtspersonen genannt -zur Folge haben wird Um den Schutz der russischen Bevölkerung ging es auf der Versammlung russischer Abgeordneter aller Ebenen, die Ende Oktober in der Hauptstadt Tschetscheno-Inguschetiens stattfand und ein Provisorisches Komitee, mit einem Atamanen der ansässigen Kosaken an der Spitze, wählte. Neben diesem letzten Umstand bestimmte auch die Tatsache, daß dieses Komitee dem populären Exekutivkomitee des Gesamtnationalen Kongresses des Tschetschenischen Volkes feindselig gegenübersteht, die negative Haltung der Kaukasier.

Die Clique von KPdSU-Funktionären, die bis dahin in Tschetscheno-Inguschetien regiert hat, wurde abgesetzt, weil man dem Ziel nationaler Staatlichkeit näher kommen wollte. Es sind aber gleich beide Titularnationen der Republik, die Tschetschenen und die Inguschen, die auf einen eigenen Staat prätendieren. Dies zeigt, wie kompliziert und verworren die nationalstaatlichen Probleme im Nordkaukasus sind. Beschlüsse darüber sind schon vorher von Delegiertenversammlungen der beiden Völker gefaßt worden. Ende Oktober fanden Wahlen zum Obersten Sowjet der selbständigen Tschetschenischen Republik und ihres Präsidenten statt, zu dem -ungeachtet aller Proteste seitens Moskaus -der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Gesamtnationalen Kongresses des Tschetschenischen Volkes, Dschachar Dudajew, gewählt wurde. 3. Weitere Spannungen Die Aussicht, daß Tschetscheno-Inguschetien in zwei selbständige Republiken geteilt wird, läßt die alten territorialen Konflikte zwischen Tschetschenen und Inguschen Wiederaufleben; die darauf zurückzuführende Spannung zwischen ihnen nimmt in letzter Zeit zu. Dabei ist das für die Inguschen nicht der einzige territorial strittige Aspekt ihrer nationalstaatlichen Selbstbestimmung. Das Hauptproblem liegt in den Beziehungen zu Nordossetien: Schon seit Jahrzehnten fordern die Inguschen einen Teil dieses Gebiets zurück, der nach ihrer Deportation 1944 Nordossetien eingegliedert wurde. Nachdem Anfang Oktober 1991 der III. Inguschenkongreß diese Forderung in kategorischer Form aufgestellt hat, wurden in Nordossetien bewaffnete Trupps formiert, um einen möglichen Überfall der Inguschen abzuwehren. Die Inguschen ihrerseits haben, um ihren Anspruch zu unterstreichen, die Schaffung einer Nord-Inguschischen Republik in diesem Teil Ossetiens verkündet, ohne jedoch einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf zu haben. Parallel dazu haben die in Inguschetien lebenden Kosaken einen eigenen Bezirk geschaffen und wollen ihre Unabhängigkeit mit Waffengewalt verteidigen. Die Zahl ihrer Zusammenstöße mit den Inguschen nahm daraufhin zu.

Territoriale Ansprüche und Konflikte begleiten auch andere Proklamationen nationalstaatlicher Souveränität. Nachdem sich das Karatschaiisch-Tscherkessische Autonome Gebiet zur autonomen Republik erklärt hat, haben die dort lebenden Kosaken auf dem Territorium der Republik eigenmächtig eine Kosaken-Republik ins Leben gerufen. Nach der Gründung eines weiteren Bezirks der Kosaken in der Region Stawropol befindet sich jetzt sogar die Hauptstadt Karatschaiisch-Tscherkessiens auf dem Kosaken-Territorium. Der Ende September abgehaltene Lesgier-Kongreß (sie sind eines der Völker Dagestans) faßte den Beschluß, einen selbständigen Staat der Lesgier zu schaffen, und forderte daraufhin, die Grenzen zwischen Aserbaidschan und Dagestan zugunsten des letzteren zu revidieren. Ihren eigenen Staat wollen auch solche Völker Dagestans wie Kumücken und Nogaier gründen, was angesichts von zu wenig urbarem Land bei gleichzeitig hohen Geburtenraten unvermeidlich zu einem territorialen Zwist mit den Nachbarvölkern führen wird.

Neben Tschetscheno-Inguschetien gibt es im Nord-kaukasus auch noch andere autonome Gebiete mit zwei Titularnationen: Kabardino-Balkarien und Karatschaiisch-Tscherkessien. Diesen künstlich geschaffenen Gebilden, Produkten der imperialistisch-bürokratischen Phantasie der Stalin-Ära, droht der Zerfall, der ebenfalls von gegenseitigen territorialen Ansprüchen der dort lebenden Völker begleitet würde. Um das Ausmaß potentieller Konflikte im Nordkaukasus richtig abschätzen zu können, muß man allen dort kursierenden Plänen zu seiner Neugliederung Beachtung schenken: von der Forderung, ein einheitliches Tscherkessien zu schaffen, wozu Teilgebiete von Karatschaiisch-Tscherkessien und Kabardino-Balkarien, die Adygejische Republik sowie die Küstengebiete der Region Krasnodar zu vereinigen wären, bis hin zum Projekt der Wiedererstehung der Republik der Bergvölker, die in den zwanziger Jahren existiert hatte, wozu Tschetscheno-Inguschetien, Nordosse-B tien sowie Teile von Kabardino-Balkarien und Karatschaiisch-Tscherkessien gehören würden

In den letzten sechs Monaten haben sich auch andere Konflikte zugespitzt, ähnlich wie im ossetisch-inguschischen Fall, Folgen der Deportationen der nordkaukasischen Völker 1943/44. So fordern Tschetschenen-Akkiner (die Tschetschenen Dagestans), daß die Laken und Awaren aus dem Gebiet, das Akkinern damals fortgenommen wurde, ausgesiedelt werden. Dabei gerät -nach dem Prinzip der Kettenreaktion -noch ein Volk Dagestans, die Kumücken, in diesen Konflikt hinein. In ähnlicher Weise sind in die Streitigkeiten um die Nutzung der Nogaier Steppen (4, 5 Mio. ha dürre-und frostbeständiges Weideland) einige Völker Dagestans (Awaren und Nogaier), Georgier ebenso wie Kalmücken und Russen gleichzeitig verwickelt.

V, Perspektiven des politischen Kampfes

Insgesamt gibt es zwischen den ehemaligen Unionsrepubliken der ehemaligen Sowjetunion 23 Grenzen, und es sind nur drei Grenzen, an denen es keine potentiellen oder akut gewordenen Spannungen gibt: zwischen Litauen und Lettland, Lettland und Weißrußland, Weißrußland und der Russischen Föderation Für Mittelasien und den Kaukasus könnten zusätzlich zu den geschilderten Spannungen innenpolitische Auseinandersetzungen zu einem ernsthaften Instabilitätsfaktor werden. Nur in zweien von ihnen (in Armenien, sowie in Kirgisien) hat sich die innenpolitische Lage mehr oder weniger normalisiert. In beiden Fällen ist dies vor allem auf die demokratische Art der Führung, des Präsidenten Ter-Petrossjan in Armenien und des Präsidenten Askar Akajew in Kirgisien, zurückzuführen.

Im Gegensatz dazu findet in Georgien, Aserbaidschan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenien ein erbitterter politischer Kampf statt. Georgien ist hierbei ein Sonderfall, denn die Demokraten dort haben eine geschlossene Front gegen das autoritäre, zugleich aber antikommunistische Regime gebildet, das der aggressive Nationalist Swiad Gamsachurdija errichtet hat. In Aserbaidschan und den mittelasiatischen Republiken mit Ausnahme Kirgisiens strebt die Opposition danach, die Kommunisten-Clique zu stürzen, die trotz der Jahre der Gorbatschowschen Perestroika und trotz der Auflösung der KPdSU in der restlichen ehemaligen Sowjetunion weiterexistiert. Die kommunistischen Parteien einiger dieser Republiken wurden lediglich umbenannt. So heißt z. B. die kommunistische Partei in Usbekistan nun Volks-demokratische Partei. In Tadschikistan hieß sie eine kurze Zeit Sozialistische Partei, dann mußte der Oberste Sowjet der Republik, unter dem Druck von Demokraten, islamischen Organisationen, wochenlangen Demonstrationen, Streiks und Hungerstreiks Anfang Oktober doch den Beschluß zu ihrer Auflösung verabschieden. Nur, heißt das tatsächlich, daß es sie nun nicht mehr gibt?

Man sollte bedenken, daß die kommunistischen Parteien in Aserbaidschan und den mittelasiatischen Republiken niemals Bündnisse von sozialistisch und kommunistisch orientierten Gleichgesinnten waren, wie auch schon lange nicht mehr in den anderen Republiken. Wurde in der ehemaligen Sowjetunion die KPdSU-Mitgliedschaft allmählich zu einer Art Eintrittskarte für die unterste Schicht der Elite, so hatte sie in der mittelasiatischen Region, größtenteils auch im Kaukasus, ausschließlich diese Funktion. Zum Hauptmechanismus der Elitebildung wurde dort die Konkurrenz zwischen den einzelnen Gebietsclans jeder Republik. Das ist ein Phänomen, das vom Standpunkt politischer Demokratie nur sehr schwer nachzuvollziehen ist, stellt es doch eher eine Mischung aus mafiaähnlichen und halbfeudalen Machtstrukturen dar. Diese Clans agieren sowohl in Aserbaidschan als auch in den mittelasiatischen Republiken (mit Ausnahme Kirgisiens) und halten, vor allem mittels des Parteiapparats, die Macht in ihrer Hand. Vorrangig ihnen und den von ihnen errichteten halbparteilichen-halbfeudalen, ihrem Wesen nach autoritären Ordnungen hat die Oppositon in diesen Republiken den Kampf angesagt. Um so mehr, als die in der Partei mafiaähnlich organisierte Clan-Oligarchie stets eine betont laizistische und islamfeindliche Politik betrieben hat.

Obgleich die mittelasiatischen „Kommunisten“ sich demonstrativ an die muslimischen Riten (außer dem Gebet) und Feste hielten, und in den Ruhestand getretene Parteifunktionäre gewöhnlich in den Moscheen um die Vergebung ihrer Sünden beten, wurden die muslimischen Geistlichen ebenso wie die muslimischen Organisationen von der realen Macht ganz ferngehalten. Darüber hinaus wurde jede Politisierung des Islam bis in die jüngste Zeit hinein genauso streng bestraft, wie demokratisches politisches Dissidententum.

Durch die Unabhängigkeitserklärungen der Republiken haben die Clan-Oberen den nationalen Bewegungen ihr wichtigstes Schlagwort und ihren wichtigsten Trumpf genommen. Zu fragen ist daraufhin nach den künftigen Zielen der Opposition. Geht es darum, den durch und durch korrumpierten autokratischen Clans die Macht zu entreißen? Durch welche politischen und Staatsstrukturen sollen sie jedoch ersetzt werden? Eine politische Demokratie westlicher Prägung ist der mittelasiatischen Bevölkerung unverständlich und fremd, insbesondere der Dorfbevölkerung, für die der örtliche Mulla die größte Autorität ist und deren Prozentanteil in den Republiken außerordentlich hoch ist: in Usbekistan sind es 60, in Turkmenien 55, in Tadschikistan 67, 4 Prozent. Zum Vergleich: in der Russischen Föderation beträgt der Anteil der Dorfbevölkerung 26, 4, in der Ukraine 33, in Armenien 32 und in Lettland 29 Prozent. Außerdem gab es weder in den mittelasiatischen Republiken noch in Aserbaidschan -im Unterschied z. B. zu Georgien und Armenien -in den Jahren zuvor größere demokratisch orientierte Dissidentengruppen oder -bewegungen. Heute sind es immer noch wenige, und sie sind nicht groß. Hinzu kommt, daß sich nach dem Erlangen der Unabhängigkeit von Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Aserbaidschan die Programme der Demokraten und Nationaldemokraten dort zwangsläufig verwischt haben. Das Schlagwort, das sie jetzt verwenden, heißt „wahre Unabhängigkeit“, d. h. Unabhängigkeit, die das Vertreiben der Clan-Herrschaft beinhaltet.

Eine eindeutige, zukunftsorientierte und für aserbaidschanische wie mittelasiatische Massen zugleich auch akzeptable Aussage erhält dieses Schlagwort nur dann, wenn es mit den Zielen des Islam verknüpft wird. Es ist kein Zufall, daß die wenigen Organisationen rein demokratischer Ausrichtung, die es dort gibt, jetzt entschlossen die Vereinigung mit oppositionellen islamischen Bewegungen betreiben: Als Plattform des oppositionellen Lagers dient mittlerweile hauptsächlich die politische Doktrin des Islam. Das trifft auf die Volksfront und den Parteienblock „Unabhängiges Aserbaidschan“ in Aserbaidschan zu, aber auch auf die Volksbewegung „Rastoches“ und die Islamische Partei in Tadschikistan, auf die Bewegungen „Birlik" und „Erk“ in Usbekistan sowie die Bewegung „Agsybirlik" in Turkmenien. In all diesen Republiken hat die im vergangenen Jahr gegründete Unionsweite Islamische Partei der Wiedergeburt erheblich an Einfluß gewonnen.

Die zahlreichen Nuancen und Unterschiede in den Zielsetzungen dieser Parteien und Bewegungen, in ihren Plänen hinsichtlich neuer sozialer und politischer Strukturen in den Republiken, bedürfen einer gesonderten Betrachtung. Es ist jedoch recht einfach festzustellen, daß ihre Programme bei allen Unterschieden auf den Vorstellungen der muslimischen Gleichheit, der muslimischen Gerechtigkeit und des muslimischen Staates fußen -von einigen fundamentalistisch, von anderen als eine Kompromißform (Orientierung auf die Türkei) aufgefaßt. Jedenfalls versteht man darunter immer, daß die muslimische Geistlichkeit zu einer politischen Kraft und in die Machtstrukturen einbezogen wird.

All dies sind der muslimischen Bevölkerung Mittelasiens und Aserbaidschans verständliche Orientierungspunkte. Ihnen vertraut sie. Sollte die dortige Opposition an die Macht gelangen -die Clan-Herrschaft ist zweifelsohne zum Untergang verurteilt -, so wird sie diesen Sieg nur mit Losungen des Islam erringen können. Sollten jedoch die Clan-Oberen besonders lange und beharrlich Widerstand leisten, so ist es sehr wahrscheinlich, daß die Ereignisse eine Entwicklung analog zum Volksaufstand in Tschetscheno-Inguschetien nehmen. Dort, in der Tschetschenischen Republik, steuere politisch alles auf ein Imamat hin, stellte ein Beobachter fest

Ist denn die Wahrscheinlichkeit dessen, daß in einigen mittelasiatischen Republiken infolge des politischen Kampfes muslimische Republiken nach Muster des Irans entstehen oder die Clan-Herrschaftsstrukturen sich zu Polizei-und Militär-Diktaturen wie in Bagdad oder Damaskus wandeln, tatsächlich so gering? Diese Möglichkeit wird wohl niemand ganz von der Hand weisen können. Die Folgen einer solchen Entwicklung wären für die ganze Region verheerend. In diesem Fall wären, von Millionen slawischer und anderer Flüchtlinge ganz zu schweigen, ausbrechende national-territoriale Konflikte und wahrscheinlich auch bewaffnete Zusammenstöße zu erwarten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die demographischen Angaben in diesem Beitrag sind folgenden Quellen entnommen: Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1989 g., in: Vestnik statistiki, (1990) 3-5, 10-12, (1991) 1, 4, 5; Itogi vsesojuznoj perepisi naselenija 1989 g., Moskau 1990; Dolja korennogo i russkogo naselenija v avtonomnych obljastjach i avtonomnych okrugach RSFSR, in: Argumenty i fakty, (1991) 13, S. 1; Cislennost'i sostav naselenija SSSR. Po dannym vsesojuznoj perepisi naselenija v 1979 g., Moskau 1984. Die Angaben über die Größe der Territorien erfolgen nach: Narodnoe chozjajstvo SSSR v. 1985 g., Moskau 1986.

  2. Vgl. O. B. Glezer u. a., Sub“ jekty federacii. Kakimi im byt’?, in: Polis, (1991) 4, S. 149.

  3. Vgl. O. B. Gleseru. a. (Anm. 2).

  4. Vgl. N. B. Chotamov, Ne izvraat’ leninskuju nacional’nuju politiku, in: Voprosy istorii, (1989) 5, S. 33.

  5. Vgl. Aleksandr San’ko, Oni poka ee govorjat na svoem jazyke, in: Nezavisimaja gazeta vom 1. Oktober 1991, S. 3.

  6. Timur Pulatov, Dogonim i peregonim Angolu! Iz respublik Srednej Azii ueziajut spezialisty, in: Moskovskie novosti vom 14. Oktober 1990, S. 7.

  7. Ottok naselenija iz Kirgizstana prodoiüaetsja, in: RFE/RL Research Institute. Soviet Media News Budget, 6. September 1991.

  8. A. Kazichanov, Sevemyi Kavkaz pocho na boku s porochom, in: Izvestija vom 11. Oktober 1991, S. 1.

  9. Aleksandr Mineev, Achillesova pjata Rossii, in: Moskovskie novosti vom 20. Oktober 1991, S. 8.

  10. Vgl. Obstanovka v Ce& no-Inguäetii, in: RFE/RL Research Institute (Hrsg.), USSR Today. Soviet Media News and Features Digest, 10. September 1991.

  11. Vgl. O. B. Glezer u. a. (Anm. 2).

  12. Vgl. Ol’ga Glezer u. a., Samaja politiceskaja karta SSSR, in: Moskovskie novosti vom 17. März 1991, S. 9.

  13. Vgl. A. Mineev (Anm. 9).

Weitere Inhalte

Nikolaj Nowikow, Dr. phil., geb. 1933; 1981-1986 Lehr-und Forschungstätigkeit am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; zur Zeit freiberuflicher Wissenschaftler und Journalist in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Die Soziologie in Rußland, Wiesbaden 1988; Entwicklungen im offiziellen außenpolitischen Denken in der Sowjetunion. Der Wandel einer Ideologie im Überblick, München 1989; Wieviele Völker wurden in der Sowjetunion deportiert?, in: Kontinent. Ost-West-Forum, (1991) 4.