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Politische Einstellungen in Ost-und Westdeutschland seit der Bundestagswahl 1990 | APuZ 19/1992 | bpb.de

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APuZ 19/1992 Politische Einstellungen in Ost-und Westdeutschland seit der Bundestagswahl 1990 Die Wahlchancen von CSU und DSU in den neuen Bundesländern Wahlenthaltung und Wählerprotest im westeuropäischen Vergleich Wahlen, Wähler und Demokratie in der EG. Die drei Dimensionen des demokratischen Defizits

Politische Einstellungen in Ost-und Westdeutschland seit der Bundestagswahl 1990

Matthias Jung/Dieter Roth

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Startbedingungen von Ost-und Westdeutschen führten nach der Bundestagswahl 1990 zu unterschiedlichen Bewertungen beider Bevölkerungsgruppen darüber, welche Themen wichtig waren. Im Westen beherrschte Anfang 1991 der Golfkrieg die politisehe Agenda, bald abgelöst durch die ökonomischen Probleme der deutschen Einheit und -nach der Sommerpause -die Asyl-und Ausländerproblematik. Im Osten dagegen waren ökonomische Probleme von überragender Bedeutung, allen voran die Bewältigung der Arbeitslosigkeit. Zwar zeigte eine Reihe von Stimmungsindikatoren zum Einigungsprozeß im Verlauf des Jahres 1991 eine Verbesserung der Einschätzung der Situation, doch war man im Osten weiterhin sehr unzufrieden darüber, was bisher für die Angleichung der Lebensverhältnisse an die im Westen getan worden war. Im Westen meinte die große Mehrheit, die Unzufriedenheit der Ostdeutschen sei nicht gerechtfertigt. Die Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Situation hatte sich im Osten jedoch verbessert, und der Optimismus für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung war auch 1991 ungebrochen. Die Ausschreitungen rechtsradikaler Randgruppen gegenüber Asylbewerbern und Ausländern im Herbst 1991 führten in beiden Teilen Deutschlands zu einer wachsenden Solidarisierung mit und höheren Akzeptanz von Ausländem. Die Unterstützung für das Recht auf Asyl für Ausländer, die in ihrer Heimat politisch verfolgt werden, war in West und Ost 1991 ungebrochen hoch, obwohl gleichzeitig eine große Mehrheit die Ansicht vertrat, daß die meisten Asylbewerber das deutsche Asylrecht mißbrauchen, weshalb sie mehrheitlich eine Grundgesetzänderung beim Asylrecht forderten. Die politische Hochstimmung für die Unionsparteien hat sich schon kurz nach der Bundestagswahl verflüchtigt, im Osten noch wesentlich stärker als im Westen. Erst im Herbst 1991 konnte die Union wieder an Boden gewinnen. Die SPD gewann zunächst spiegelbildlich, hatte aber im Herbst ihren Vorsprung weitgehend aufgezehrt. Die FDP verlor sowohl im Osten als auch im Westen kontinuierlich. Erholt haben sich hingegen die GRÜNEN/Bündnis 90. Die PDS verlor auch im Osten zunehmend an Bedeutung. Im Gegensatz zu früherem Wählerwechsel, der hauptsächlich innerhalb der politischen Lager erfolgte, fand 1991 der Austausch stärker zwischen CDU und SPD direkt statt. Die sozialstrukturellen Schwerpunkte der beiden großen Parteien haben sich jedoch kaum verändert. Im Osten hat die CDU trotz der insgesamt massiven Stimmungsverschlechterung bei den Arbeitern immer noch eine überproportional hohe Zustimmung in dieser Gruppe. Dies ist auch deshalb erstaunlich, weil im Osten Deutschlands die Gewerkschaften als traditionelle Parteigänger der SPD einen deutlich höheren Organisationsgrad haben als im Westen.

Bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 hatte die seit 1982 regierende Koalition aus CDU/CSU und FDP einen klaren Sieg errungen. Diese Wahl wurde noch deutlich von der zwei Monate vorher erfolgten deutschen Wiedervereinigung beherrscht. Doch schon damals begannen die ökonomischen Folgeprobleme erste Schatten auf den Glanz der neuen deutschen Einheit zu werfen. Der in der Folgezeit zu bewältigende Vollzug der Einheit beider Teile Deutschlands konnte natürlich nicht zu einem völligen Gleichklang der politischen Interessen und Ziele führen. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Startbedingungen in die gemeinsame Staatlichkeit führten dazu, daß aus der Sicht der jeweiligen Bevölkerung sehr unterschiedliche Themenbereiche wichtig wurden.

I. Die wichtigsten politischen Themen

Abbildung 1: Wichtigste Probleme: Prozentanteile aller Befragten (West) Quelle: Politbarometer West; Forschungsgruppe Wahlen

Die Westdeutschen -politisch und wirtschaftlich in die westliche Welt integriert -reagierten in der Agenda der politischen Probleme (vgl. Abbildung 1) sehr deutlich auf außenpolitische Veränderungen. So wurde nach der Bundestagswahl 1990 für kurze Zeit der Golfkrieg wichtigstes Problem. Er absorbierte dabei so viel an politischer Aufmerksamkeit, daß andere Bereiche -deutsche Einheit und ökonomische Probleme -deutlich an Bedeutung verloren. Die Probleme der Einheit traten aber sofort wieder in den Vordergrund, nachdem die militärischen Auseinandersetzungen am Golf beendet waren, und sie blieben für die Westdeutschen bis zum Sommer 1991 sehr wichtig. Nach der Sommerpause trat im Westen Deutschlands ein anderes Thema zunehmend in den Vordergrund: die Asyl-und Ausländerproblematik. Sie verdrängte dort das Thema deutsche Einheit im September und erreichte ihren Bedeutungshöhepunkt im Oktober und November 1991. In dieser Zeit berichteten die Medien ausführlich über spektakuläre Übergriffe von rechtsradikalen Randgruppen gegenüber Asylbewerbern und Ausländern sowohl im Westen als auch im Osten. Diese Übergriffe führten in beiden Teilen Deutschlands zu einer wachsenden Solidarisierung mit Ausländern, ohne daß der politisch rechte Rand davon profitieren konnte.

Abbildung 5: Ausländer in Deutschland: Prozentanteile aller Befragten (West) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer West.

Ende 1991 und zu Beginn des Jahres 1992 wurde das Bild wieder etwas heterogener: Zwar führte noch immer das Thema Ausländer und Asyl die Rangfolge der politisch wichtigsten Fragen an, aber die Bereiche Umweltschutz und Arbeitslosigkeit gewannen wieder an Bedeutung, ebenso Mieten und Wohnungsmarkt und auch Steuern bzw. Steuererhöhungen, die bereits im Frühjahr 1991 ein wichtiges Thema für etwa ein Fünftel der Westdeutschen gewesen waren.

Abbildung 6: Ausländer in Deutschland: Prozentanteile aller Befragten (Ost) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Ost

Die Ostdeutschen hingegen sahen die Problemlage völlig anders: Von überragender Bedeutung waren seit der Bundestagswahl 1990 ökonomische Probleme, allen voran die Bewältigung der Arbeitslosigkeit (vgl. Abbildung 2). Mehr als 60 % der ostdeutschen Bevölkerung nannten im gesamten Jahr 1991 das Thema Arbeitslosigkeit spontan als eines der beiden wichtigsten Themen. Auch der Golfkrieg im Januar und Februar 1991 hatte die Wichtigkeit der Frage der Arbeitsplätze für die Ostdeutschen kaum beeinflussen können. Den Aufschwung und die Belebung der Wirtschaft nannten weitere 20 % über den gesamten Zeitraum. Die Probleme der Einheit und die Angleichung an den westlichen Lebensstandard wurden etwas weniger häufig genannt. Relativ konstant wurden Preise und Löhne ebenfalls von etwa 20 % der Ostdeutschen als wichtigste Probleme angegeben. Mieten und Wohnungsmarkt hatten zwar bis zur Jahres-mitte 1991 an Bedeutung gewonnen, aber insgesamt keineswegs eine so große Wichtigkeit erreicht, wie nach der öffentlichen Debatte zu diesem Thema erwartet werden konnte. Die Probleme des Umweltschutzes, objektiv deutlich größer als im Westen, standen im Bewußtsein der Ostdeutschen weit weniger im Vordergrund als bei Befragten aus den alten Bundesländern. Asyl-und Ausländerprobleme haben im Osten im gesamten Zeitraum eine untergeordnete Rolle gespielt. Selbst im Oktober 1991, als im Westen dieser Problembereich von mehr als 70 % genannt wurde, meinten das nur 20 % der Ostdeutschen.

II. Wirtschaftliche Lage

Abbildung 2: Wichtigste Probleme: Prozentanteile aller Befragten (Ost) Quelle: Politbarometer Ost; Forschungsgruppe Wahlen

Beherrschend für das Denken der Ostdeutschen ist das Streben nach wirtschaftlicher Sicherheit, vor allem nach der Sicherheit des Arbeitsplatzes. Über 60 % der Berufstätigen im Osten hielten zu Beginn des Jahres und im Frühjahr 1991 ihren Arbeitsplatz für gefährdet. Diese Einschätzung verbesserte sich im Verlauf des Jahres etwas. In der zweiten Jahreshälfte waren es etwas mehr als 50 %, die die Gefahr sahen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Im Januar und Februar 1992 gab es -allerdings bei geringfügig sinkenden Zahlen von Berufstätigen -erstmals eine Mehrheit, die ihren Arbeitsplatz als sicher ansah (56 % bzw. 54 %). Im Westen hingegen hielten im gesamten Jahr 1991 mehr als 90 % der Berufstätigen ihren Arbeitsplatz für sicher.

Abbildung 7: Wahlabsicht (West) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer West.

Eine Reihe von Stimmungsindikatoren zum Einigungsprozeß zeigte im Verlauf des Jahres 1991 eine Verbesserung der Einschätzungen der Situation. Während im März 1991, als die Stimmung im Osten einen Tiefpunkt erreicht hatte, noch fast zwei Drittel die Meinung vertraten, „es gehe mit der Vereinigung alles in allem gesehen eher schlechter, als sie gedacht haben“, meinten dies seit Herbst 1991 nur noch etwas über 40 %. Auch in bezug auf ihre persönliche Situation sahen im März 1991 noch 62 % der Ostdeutschen ihre Erwartungen als eher nicht erfüllt an, seit Oktober 1991 gab es immerhin eine knappe Mehrheit im Osten, die ihre Erwartungen an die Vereinigung eher als erfüllt bezeichnete.

Abbildung 8: Wahlabsicht (Ost) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Ost

Dies heißt allerdings nicht, daß man im Osten mit dem zufrieden war, was bisher für die Angleichung an die westdeutschen Lebensverhältnisse getan worden war. Relativ konstant sagten seit April 1991 etwa 70 % der Ostdeutschen, daß sie mit dem, was in dieser Hinsicht bisher getan worden war, eher unzufrieden seien. In den Monaten unmittelbar nach der Bundestagswahl 1990 waren es sogar noch etwas mehr (fast 80 %). Adressat war hier die Bundesregierung: Zwischen 75 % und 80 % der Ostdeutschen meinten im ganzen Jahr 1991, daß die Bundesregierung in Bonn für die Angleichung der Lebensverhältnisse nicht genug getan habe; in den ersten drei Monaten des Jahres 1991 waren es sogar über 80 %.

Tabelle 3: Rückerinnerung an die Bundestagswahl 1990 und aktuelle Wahlabsicht (West), in Prozent Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Kumulation Politbarometer-West 1991 (n = 11 268).

Die Westdeutschen sahen das ganz anders: Rund zwei Drittel meinten, die Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit dem, was bisher für die Verbesserung der Lebensverhältnisse getan wurde, sei nicht gerechtfertigt. An dieser Auffassung hat sich das ganze Jahr über kaum etwas geändert. Insofern verwundert es nicht, daß eine deutliche Mehrheit unter den Westdeutschen sagte, was die Bundesregierung in Bonn für die Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten an den Westen tue, sei gerade richtig. Diese Meinung hat sich im Verlauf des letzten Jahres verstärkt. Rückläufig hingegen war die Zahl derjenigen, die sagen, Bonn tue zu-wenig für die Angleichung der Lebensverhältnisse. Eine nicht unerhebliche Zahl von Bürgern (15 % bis 20%) vertrat seit Mitte des Jahres die Meinung, was die Bundesregierung für die Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten an den Westen tue, sei bereits zuviel.

Tabelle 4: Rückerinnerung an die Bundestagswahl 1990 und aktuelle Wahlabsicht (Ost), in Prozent Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Kumulation Politbarometer-Ost 1991 (n = 11 911).

Die Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage im Osten veränderte sich seit der Bundestagswahl sehr stark (vgl. Abbildung 3). Zunächst trat nach der Dezember-Wahl eine Phase deutlicher Ernüchterung über die wirtschaftliche Situation im Osten ein. Innerhalb weniger Monate bis zum März 1991 stieg die Zahl derjenigen, die die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland als schlecht bezeichneten, von 60 % auf über 80 % an. Die Erwartungen bezüglich Ausmaß und Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Aufschwungs waren, gestützt durch die Versprechungen im Wahlkampf, außerordentlich hoch. Nach der Wahl wurden diese Erwartungen mit den Realitäten des Zusammenbruchs großer Teile der Produktion und steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert. Zwar gab es eine Reihe von Stützungsmaßnahmen der Regierung, die auch auf der individuellen Ebene in der Regel gut gegriffen haben, doch war die allgemeine Situation in einem Tief, was auch die Diskussion in der Öffentlichkeit beherrschte.

Tabelle 5: Parteiorientierung von sozialen Gruppen bei der Bundestagswahl 1990 (West), in Prozent Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Wahltagbefragung Bundestagswahl am 2. 12. 1990 (n = 15 760).

In den folgenden Monaten verbesserte sich die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage im Osten kontinuierlich. Der Anteil derjenigen, die die wirtschaftliche Lage als schlecht bezeichneten, ging stetig zurück: Nach der Sommerpause 1991 war eine Einschätzung der Wirtschaftslage entstanden, die etwas besser ausfiel als die bei der Bundestagswahl vom Dezember 1990. Vom Herbst 1991 bis zum Januar 1992 blieb die Einschätzung der Wirtschaftslage auf diesem Niveau konstant und hat sich im Februar 1992 nach Bekanntgabe der Arbeitslosenquoten wieder etwas verschlechtert. Wie stark die veröffentlichte Meinung über das ostdeutsche Wirtschaftsgeschehen die Bewertung durch die Befragten insbesondere in Ostdeutschland beeinflußt, konnte man im Januar und Februar 1992 erkennen: Zum Jahresende 1991 erfolgte, insbesondere durch die Treuhand, eine Reihe von Kündigungen in einer Vielzahl von Betrieben, die den Bestand der sogenannten Null-Kurzarbeiter faktisch halbierte. Dennoch wurde in der Mitte bis Ende Januar durchgeführten Umfrage die allgemeine Wirtschaftslage in Ostdeutschland von den Befragten wesentlich günstiger eingeschätzt als im Dezember. Anfang Februar wurden dann die neuen Arbeitslosenzahlen, bei denen zudem eine andere Form der Berechnung eingeführt wurde, in den Medien bekanntgegeben. Erst danach, in der Umfrage Mitte Februar, wurde die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland von den Befragten wieder negativer beurteilt.

Tabelle 6: Parteiorientierung der Arbeiter (Ost), in Prozent Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Wahltagbefragung Volkskammerwahl am 18. 3. 90 (n = 12 074), Bundestagswahl am 2. 12. 1990 (n = 7 615) und Kumulation Politbarometer-Ost 1991 (n = 11 911).

Trotz der insgesamt nach wie vor eher als schlecht beurteilten gesamtwirtschaftlichen Lage im Osten und einer relativ starken Reaktion der Bevölkerung auf die Veröffentlichung neuer wirtschaftlicher Daten war der Optimismus für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung bei den Ostdeutschen ungebrochen und über den gesamten Zeitraum des Jahres 1991 auch verhältnismäßig konstant. Etwas weniger als die Hälfte erwartete eine Verbesserung der allgemeinen wirtschaftlichen Situation im Osten innerhalb eines Jahres, zwischen 10 % und 15 % erwarteten eine Verschlechterung, der Rest ging davon aus, daß die Lage in diesem Zeitraum unverändert bleibt.

Tabelle 7: Alter und Parteipräferenz (Ost), in Prozent Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Wahltagbefragung Volkskammerwahl am 18. 3. 90 (n = 12 074), Bundestagswahl am 2. 12. 1990 (n = 7 615) und Kumulation Politbarometer-Ost 1991 (n = 11 911).

Viel positiver als die allgemeine Wirtschaftslage wurde während des ganzen Jahres 1991 die eigene Wirtschaftslage beurteilt (vgl. Abbildung 4). Dabei zeigte auch hier der Trend langsam, aber stetig nach oben: Waren es im Januar 1991 noch 27 % der befragten Ostdeutschen, die ihre persönliche wirtschaftliche Lage als gut bezeichneten, so waren es ein Jahr später, im Januar 1992, bereits 36%. Etwas mehr als die Hälfte -daran hat sich während des ganzen Jahres kaum etwas geändert -kennzeichnete ihre eigene wirtschaftliche Situation als „teils gut/teils schlecht“, während der Anteil derjenigen, die ihre persönliche ökonomische Situation als schlecht bezeichneten, von 20 % am Jahresanfang 1991 auf ca. 10 % Anfang 1992 zurückging. Insofern war die Diskrepanz zwischen der Beurteilung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland und der Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage bei den befragten Ostdeut-B sehen deutlich gewachsen: So sagte im Februar 1992 ein Drittel aller befragten Ostdeutschen, daß ihre eigene wirtschaftliche Lage gut sei, aber lediglich 2 % meinten, daß die allgemeine Wirtschaftssituation in Ostdeutschland als gut bezeichnet werden könne. Umgekehrt bewerteten 60 % die allgemeine wirtschaftliche Situation als schlecht, aber nur 12 % kennzeichneten so ihre eigene wirtschaftliche Situation.

Trotz der Enttäuschung der Ostdeutschen über die Entwicklung der ökonomischen Situation wurde einer möglichen SPD-geführten Bundesregierung lediglich im Juni und im September ein Kompetenzvorsprung bei der Lösung der wirtschaftlichen Probleme in Ostdeutschland von den dortigen Befragten zugesprochen. In allen anderen Monats-erhebungen lag die CDU/CSU-geführte Bundesregierung bei der Kompetenzzuschreibung in bezug auf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Osten vor einer möglichen SPD-geführten Bundesregierung. Im Westen wurde den Bonner Regierungsparteien von den Befragten zu jedem Zeitpunkt des vergangenen Jahres eine deutlich größere Kompetenz zugeschrieben als einer SPD-geführten Bundesregierung.

Das hier gezeichnete Bild der Beurteilung der Entwicklung des Einigungsprozesses und der ökonomischen Entwicklung ist eine Gesamtbetrachtung, die Unterschiede in einzelnen sozialen oder demographischen Gruppen vernachlässigt. Solche Unterschiede gibt es insbesondere in den einzelnen Altersgruppen, sozialen Statusgruppen, aber auch regional. Sie können in der Regel mit der unterschiedlichen Lebenssituation der Befragten erklärt werden. Die größten Differenzen bei der Beurteilung der angesprochenen Themen treten allerdings zwischen den einzelnen Parteianhängergruppen auf, wobei grob gesehen die Trennungslinie zwischen Anhängern der Bonner Regierungsparteien und denen der Oppositionsparteien verläuft. Die Prozesse der ökonomischen und sozialen Annäherung der beiden Teile Deutschlands werden in der Regel von Anhängern der Regierungsparteien positiver, weiter fortgeschritten oder zumindest optimistischer gesehen als von Anhängern der nicht in der Bundesregierung vertretenen Parteien. Dies gilt insbesondere für die Beurteilung der ökonomischen Lage, sowohl der allgemeinen als auch der persönlichen.

Trotzdem sind, sieht man einmal von der Einschätzung der Kompetenz zur Lösung der Wirtschafts7 Probleme im Osten ab, die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteianhängergruppen nicht so groß, daß man von einer völlig konträren Beurteilung der Situation in den neuen Bundesländern sprechen müßte. Zumindest gilt dies für die großen Gruppen der Anhänger der Volksparteien, die rein quantitativ den größten Beitrag zu dem dargestellten Stimmungsbild leisten. Als Beispiel wird auf die beiden Stimmungsindikatoren für Ost und West verwiesen (vgl. Tabellen 1 und 2).

III. Ausländer und Asyl

Abbildung 3: Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage im Osten: Prozentanteile aller Befragten (Ost) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Ost.

Neben den Problemen, die sich als Folge des Einigungsprozesses in Deutschland ergeben haben, war die Ausländer-und Asylproblematik das zweite wichtige Thema in Deutschland im Jahre 1991. Bereits 1989 hatte das Ausländerthema in den alten Bundesländern eine große Rolle gespielt. Damals konnten die Republikaner mit Hilfe dieses Themas bei einer Reihe von Wahlen vielbeachtete Erfolge verzeichnen. Aufgrund der deutschlandpolitischen Entwicklung seit dem Herbst 1989 war das Thema Ausländer und Asyl jedoch wieder in den Hintergrund gedrängt worden, ohne daß die zugrundeliegenden Probleme gelöst worden waren. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, wann dieses Thema wieder auftauchen würde. Während jedoch im Jahre 1989 bei dem Themenkomplex die Aussiedler im Vordergrund standen, waren es 1991 in erster Linie die Asylbewerber und die Neuregelung des Asylrechts. Anders auch als 1989 konnte parallel zum Anstieg der Bedeutung des Ausländer-und Asyl-themas keine steigende Unterstützung für extreme Rechtsparteien festgestellt werden.

Wie in anderen westeuropäischen Demokratien gibt es auch in Deutschland ein Potential für Ausländerfeindlichkeit. Weil diese bei uns aus historischen Gründen jedoch tabuisiert ist, sind die insgesamt schon großen Schwierigkeiten, dieses Potential zu quantifizieren, bei uns sicherlich noch größer als in anderen europäischen Ländern. Um aber zumindest einen Indikator für die Akzeptanz von Ausländern zu haben, stellt die Forschungsgruppe Wahlen seit einiger Zeit die schlichte Frage: „In Deutschland leben viele Ausländer. Finden Sie das in Ordnung, oder finden Sie das nicht in Ordnung?“

Dabei zeigt sich, daß die Veränderung der Einstellung gegenüber Ausländem in Ost-und Westdeutschland zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, als Ausländer, in der Regel Asylbewerber, von Angehörigen extremer Randgruppen angegriffen wurden und Anschläge auf Wohnungen erfolgten (vgl. Abbildungen 5 und 6). Die Reaktion der Bevölkerung in Ost und West war gleichartig, im Westen noch etwas heftiger als im Osten: Die Akzeptanz von Ausländern stieg. Geblieben ist aber trotzdem ein Niveauunterschied bei der Akzeptanz von Ausländern in Ost und West. Der Grund dafür dürfte in erster Linie in der unterschiedlichen wirtschaftlichen Situation liegen: So meinten Anfang des Jahres 1992 drei Viertel der Westdeutschen, daß die deutsche Wirtschaft ausländische Arbeitskräfte braucht, während im Osten lediglich ein Drittel diese Auffassung vertrat. Dennoch sah eine knappe Mehrheit der Deutschen in den in Deutschland lebenden Ausländern eher eine kulturelle Bereicherung als die Gefahr einer Überfremdung. Die Unterstützung für das Recht auf Asyl für Ausländer, die in ihrer Heimat politisch verfolgt werden, die bereits vor den Ausschreitungen auf sehr hohem Niveau in beiden Teilen Deutschlands vorhanden war, stieg danach nochmals auf Werte von nahezu 90 % an. Dies, obwohl gleichzeitig über mehrere Monate hinweg im Osten nahezu 80 % und im Westen zwischen 60 % und 70 % aller Befragten glaubten, daß die meisten Asylbewerber das deutsche Asylrecht mißbrauchen. Es ergibt sich also ein differenziertes Meinungsbild und keine Tendenz, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

In der Asyldebatte wurde bereits zu einem frühen Zeitpunkt aus Unionskreisen eine Änderung bzw. eine Ergänzung des Grundgesetzes vorgeschlagen. Die Diskussion darüber, ob die bestehenden Probleme in Deutschland durch eine Grundgesetzänderung eher gelöst werden könnten, durchzieht das Jahr 1991 mit unterschiedlicher Vehemenz. Da zur Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, die SPD aber ihre Zustimmung bisher verweigert hat, wurden andere Lösungen auf der Länderebene gesucht, ohne daß es zu merkbaren Fortschritten gekommen wäre. Die Union hat ihren Vorschlag, das Grundgesetz zu ändern, jedoch nicht aufgegeben. In der Bevölkerung gab es eine klare Mehrheit für eine Grundgesetzänderung, die zu Beginn des Jahres 1992 weiter zugenommen hat. Sie lag im Osten bereits seit November 1991 leicht über 60 % und wuchs im Februar 1992 auf 73 % an; auch im Westen sprachen sich im Februar 1992 mehr als 60 % für eine Änderung des Grundgesetzes in dieser Frage aus. Dabei waren sich die Anhänger in den verschiedenen Parteilagern weitgehend einig: Entgegen den klaren Positionen der Parteispitze von SPD und FDP fand eine Änderung des Grundgesetzes auch eine Mehrheit bei den FDP-und SPD-Anhängern, im Osten noch sehr viel deutlicher als im Westen. Es gab überhaupt nur noch eine Gruppe, die sich mehrheitlich gegen eine Änderung aussprach: die Anhänger der GRÜNEN im Westen Deutschlands. Alle anderen glaubten eher, die Lösung der Probleme des Mißbrauchs des Asylrechts durch eine Änderung des Grundgesetzes erreichen zu können. Trotzdem konnte die Union aus dieser mehrheitlichen Unterstützung ihrer Position nur einen begrenzten Nutzen ziehen.

Die Fähigkeit zur Lösung des Problems der Asyl-bewerber wurde weder im Osten noch im Westen eindeutig einer Partei zugeschrieben, also auch nicht der Union. In dem Zeitraum, in dem sich insbesondere im Osten die Mehrheiten eindeutig für eine Grundgesetzänderung verstärkt haben, sind die Kompetenzzuschreibungen in dieser Frage für alternative unterschiedliche Regierungen konstant niedrig geblieben (jeweils weniger als 20 %). Eine klare Mehrheit von ca. 60 % sah keinen Unterschied zwischen einer von der Union geführten Bundesregierung und einer SPD-geführten Bundesregierung, wenn es um die Lösung der Asylproblematik geht.

IV. Entwicklung der politischen Stimmung

Abbildung 4: Einschätzung der eigenen Wirtschaftslage: Prozentanteile aller Befragten (Ost) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Ost

Wie hat sich nun angesichts dieser Problemsichten der Befragten in Ost und West die politische Stimmung für die einzelnen Parteien seit der Bundestagswahl 1990 entwickelt? In den Abbildungen 7 und 8 sind jeweils die Antworten auf die Sonntags-frage aus den monatlichen repräsentativen Politbarometer-Untersuchungen in Ost-und Westdeutschland ausgewiesen.

Danach hat sich die politische Hochstimmung für die Unionsparteien schon relativ kurz nach der Bundestagswahl verflüchtigt, im Osten noch wesentlich stärker als im Westen Deutschlands. Dieser Einbruch für die Union im Februar 1991, von dem sie sich erst nach der Sommerpause (und auch dann nur sehr langsam) zu erholen begann, war durch die Anhebung von Abgaben und Steuern ausgelöst worden, die von den meisten Wählern als Bruch eines Wahlversprechens empfunden worden war. In Ostdeutschland kam noch hinzu, daß die Entwicklung der Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage immer ungünstiger verlief. Im März 1991 waren 82 % der Ostdeutschen der Meinung, daß die allgemeine Wirtschaftslage in der ehemaligen DDR schlecht sei. In diesem Monat wollten nur noch 31 % der Ostdeutschen die CDU wählen -gut zehn Prozentpunkte weniger als drei Monate vorher bei der Bundestagswahl. Der fast lineare Abwärtstrend der CDU und die spiegel-bildliche Stimmungsverbesserung für die SPD hielten bis zur Sommerpause an. Danach verringerte sich der Vorsprung der SPD vor der CDU wieder deutlich, wobei auffällt, daß in der Folgezeit ein deutlicher Zusammenhang zwischen einer Verbesserung der Bewertung der aktuellen allgemeinen ökonomischen Situation in Ostdeutschland und einer Stimmungsverbesserung für die CDU besteht. Im Gegensatz dazu gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Situation, die in all diesen Monaten deutlich besser ausfällt als die Beurteilung der allgemeinen Wirtschaftslage, und der Entwicklung der Parteipräferenzen.

Im Laufe des Herbstes, zu einer Zeit also, in der das Asylthema insbesondere in Westdeutschland an Bedeutung gewann und dort die Probleme der deutschen Einheit bei der Wichtigkeitseinstufung durch die Befragten verdrängte, gelang es der Union, wieder Boden gutzumachen. Im Westen schnitt sie sogar für zwei Monate wieder besser ab als die SPD. Im Februar 1992, nach der Entscheidung im Bundesrat zugunsten der Erhöhung der Mehrwertsteuer, fiel sie jedoch auch dort wieder hinter die SPD zurück.

Bei den kleineren Parteien verlief die Entwicklung im Jahre 1991 wesentlich stetiger: Die FDP verlor sowohl im Osten als auch im Westen kontinuierlich und war im Westen Deutschlands zum Jahresanfang 1992 gefährlich nahe an die Fünfprozentgrenze herangekommen. Erholt hingegen erschienen die GRÜNEN bzw. das Bündnis 90 ein Jahr nach ihrem schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl 1990 in beiden Teilen Deutschlands, während die PDS auch im Osten Deutschlands zunehmend an Bedeutung verlor.

Ein ganz anderes Muster als in den vergangenen Jahren wird erkennbar, wenn man den Austausch zwischen den verschiedenen Parteien im Jahre 1991 betrachtet. Dazu dient ein Vergleich zwischen der Rückerinnerung an das Wahlverhalten bei der letzten Bundestagswahl und der aktuellen Wahlabsicht: In den vergangenen Jahren war in Westdeutschland jeweils ein relativ großer Austausch zwischen Unionsparteien und FDP einerseits sowie SPD und GRÜNEN andererseits zu beobachten. Der Wechsel innerhalb der politischen Lager -Regierungsparteien auf der einen Seite und Oppositionsparteien auf der anderen Seite -

war immer größer gewesen als der über die Lager-grenzen hinweg. Noch bei der Bundestagswahl 1990 waren die Verluste der Union an die FDP doppelt so hoch wie die an die SPD. Die FDP wiederum hatte doppelt so hohe Verluste an die Unionsparteien wie an die SPD zu verzeichnen, und von den Wählern der GRÜNEN von 1987 fand sich bei der Bundestagswahl 1990 rund ein Drittel bei der SPD ein. Bei den Sozialdemokraten hielten sich die Verluste an die Union und an die FDP die Waage. Die GRÜNEN konnten damals jedoch nur in einem sehr geringen Umfang SPD-Wähler von 1987 gewinnen -ein wesentlicher Grund für das Scheitern der GRÜNEN im Wahlgebiet West. Fast das gleiche Muster war bei der Bundestagswahl auch im Osten Deutschlands zu beobachten, wenn man die damalige Parteipräferenz mit der Erinnerung an das Wahlverhalten bei der Volkskammerwahl vom März 1990 verglich.

Wie die Tabellen 3 und 4 ausweisen, hat sich dieses Muster deutlich verändert: Sowohl im Westen als auch im Osten waren die direkten Verluste der Union an die SPD beachtlich und insbesondere deutlich höher als die an die FDP, die wiederum mehr als jeden zehnten Wähler der Bundestagswahl 1990 an die SPD abgeben mußte und damit deutlich mehr als an die Union. Trotz dieses eindeutigen Befundes darf man jedoch nicht vergessen, daß es sich bei den im Jahre 1991 in den Umfragen gemessenen Ergebnissen um Stimmungen handelt, die mehrere Jahre vor der nächsten Bundestagswahl relativ weit vom tatsächlichen Wahl-verhalten entfernt sind.

V. Sozialstrukturelle Schwerpunkte der Parteien

Tabelle 1: Stimmungsindikator Ost (Prozentanteile) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer-Ost Januar 1992.

Welche Auswirkungen haben diese Stimmungsveränderungen auf die sozialstrukturellen Schwerpunkte der Parteien in der Wählerschaft? Die Antworten auf diese Frage interessieren besonders in Ostdeutschland, wo bei der ersten freien Wahl am 18. März 1990 ein für alt-bundesrepublikanische Verhältnisse eher untypisches Wahlergebnis zustande gekommen war: Die CDU war in einem atheistischen, bestenfalls protestantisch geprägten Gebiet außerordentlich erfolgreich gewesen, hatte besonders gut bei den Arbeitern abgeschnitten und kam sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Wählern auf gleichermaßen gute Wahlergebnisse. Die SPD hingegen hatte durchweg sehr schlecht abgeschnitten, ohne daß größere sozialstrukturelle Schwerpunkte erkennbar gewesen wären.

Im Westen Deutschlands hingegen sehen die sozialstrukturellen Schwerpunkte der beiden großen Parteien traditionell ganz anders aus: Die Unionsparteien schneiden dort bei kirchlich gebundenen, katholischen Wählern weit überdurchschnittlich gut ab und erzielen um so bessere Ergebnisse, je älter die Befragten sind. Die SPD hingegen erreicht ihre besten Ergebnisse bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. An dieser milieugeprägten Grundstruktur des bundesrepublikanischen Wahlverhaltens hat sich im Westen Deutschlands auch bei der letzten Bundestagswahl wenig geändert. Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten der Umfang der „reinen Milieus“ in der Bevölkerung kontinuierlich reduziert -beispielsweise sank der Anteil der Katholiken mit einer starken Kirchenbindung von 60 % in den fünfziger Jahren auf mittlerweile rund 30 % aber innerhalb dieser Gruppen ist die traditionelle Parteibindung fast unverändert (vgl. Tabelle 5). Auch die Kumulation der Politbarometer-Umfragen in Westdeutschland aus dem Jahre 1991 zeigt trotz des im Vergleich zur Bundestagswahl deutlich veränderten Stimmungsbildes für die einzelnen Parteien insgesamt keine Veränderungen der jeweiligen sozialstrukturellen Schwerpunkte insbesondere der beiden großen Parteien. Das heißt, die Stimmungsverschlechterungen für die Union bzw. die deutliche Verbesserung für die SPD erfolgte relativ gleichmäßig in den verschiedenen demographischen Untergruppen.

Im Osten Deutschlands fand die CDU von Anfang an bei den Arbeitern größeren Zuspruch als in den meisten anderen Berufsgruppen, nicht zuletzt deshalb, weil die Arbeiter im ehemaligen „Arbeiterund Bauernstaat“ unter den katastrophalen Produktionsbedingungen am meisten zu leiden hatten. Wie die Tabelle 6 zeigt, konnte sich die CDU auch bei den folgenden Wahlen, insbesondere bei der Bundestagswahl, weiterhin auf die Arbeiter Ostdeutschlands stützen. Selbst nach der massiven Stimmungsverschlechterung für die CDU, die unmittelbar nach der Bundestagswahl eintrat, fand die CDU bei den Arbeitern 1991 immer noch eine größere Zustimmung als bei der Bevölkerung insgesamt. Daran haben auch die Massenentlassungen und Betriebsschließungen, die ja in erster Linie die Arbeiter treffen, kaum etwas geändert.

Insofern ist der deutliche Unterschied bei den sozialstrukturellen Schwerpunkten der beiden großen Parteien zwischen Ost-und Westdeutschland weitgehend erhalten geblieben. Dies ist um so erstaunlicher, als im Osten Deutschlands die Gewerkschaften einen deutlich höheren Organisationsgrad haben als in Westdeutschland. Während im Westen lediglich ein gutes Drittel der Befragten angibt, daß sie selbst oder eine andere Person im Haushalt Mitglied in einer Gewerkschaft ist, sind die Gewerkschaften in Ostdeutschland in 45 % aller Haushalte mit mindestens einem Mitglied vertreten. Bemerkenswert an den Ergebnissen der ersten freien Parlamentswahl in der DDR (März 1990) war auch die, verglichen mit dem Westen, relativ geringe Abhängigkeit der Parteipräferenzen vom Alter der Wähler (vgl. Tabelle 7).

Zwar hat bei der Volkskammerwahl die CDU bei den über 40jährigen etwas besser abgeschnitten als bei den unter 40jährigen wie auch umgekehrt das Bündnis 90 und die GRÜNEN bei den jüngeren Wählern etwas bessere Ergebnisse erzielten als bei den älteren, aber die Unterschiede zwischen der jüngsten Altersgruppe und der ältesten betrugen bei der CDU nur vier sowie bei Bündnis 90 und GRÜNEN nur sechs Prozentpunkte. Im Westen sind bei der Union und bei den GRÜNEN jeweils eher 15 Prozentpunkte üblich. Bei SPD und FDP hingegen sind auch in Westdeutschland nicht so große altersbedingte Unterschiede des Abschneidens dieser beiden Parteien die Regel.

Wie Tabelle 7 zeigt, haben sich bereits bei der Bundestagswahl 1990 auch im Osten gewisse altersbedingte Strukturveränderungen bei CDU und Bündnis 90/GRÜNEN ergeben, wobei die CDU bei den über 59jährigen überdurchschnittlich zulegen konnte, ohne daß sie bei den Jüngeren nennenswerte Einbußen hatte. Bündnis 90/GRÜNE wiederum konnten bei den unter 40jährigen deutlich zulegen, ohne bei den Älteren zu verlieren.

Die Entwicklung im Jahre 1991 hat trotz der deutlichen Veränderung der absoluten Höhe der Stimmenanteile der Parteien an den Schwerpunkten der einzelnen Parteien im Hinblick auf das Alter wenig geändert. Während sich die Stimmenanteile von SPD und FDP relativ gleichmäßig auf die einzel-B nen Altersgruppen verteilen, hat sich die altersmäßige Ausdifferenzierung bei der CDU und bei Bündnis 90/GRÜNE weiter leicht in Richtung auf das von der alten Bundesrepublik bekannte Muster fortentwickelt, ohne jedoch die dortigen Unterschiede in voller Höhe zu erreichen.

Der wichtigste Faktor für das Abschneiden der Union in Westdeutschland, nämlich die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, spielt in Ostdeutschland keine besonders große Rolle, da dort die Katholiken mit rund 6 % bei 33 % Protestanten und 60 % Konfessionslosen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Dennoch findet sich das aus dem Westen bekannte Muster auch in Ostdeutschland: Während die CDU im Jahresdurchschnitt 1991 in Ostdeutschland insgesamt auf 33 % bei der Wahlabsicht kommt, wird sie von den dortigen Katholiken von 51 % präferiert, bei den Protestanten kommt sie auf 43 % und bei den Konfessionslosen lediglich auf 24 %. Ähnliche Werte ergaben sich bereits bei der Volkskammerwahl 1990: insgesamt 41%, Katholiken 66%, Protestanten 54 %, Konfessionslose 30 %.

VI. Starke Meinungsänderungen

Tabelle 2: Stimmungsindikator West (Prozentanteile) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer-West Januar 1992.

Umfragen nach der ersten freien Wahl in der DDR zeigten bereits 1990 eine hohe Flexibilität der Ostdeutschen in bezug auf die Parteienpräferenz und eine starke Orientierung an ökonomischen Sachfragen. Beides ist nicht verwunderlich, denn es konnte ja keine besonderen Bindungen der Wähler im Osten an bestimmte Parteien geben, die im Westen die Stabilität des Wahlverhaltens weitgehend begründet. Nach der erreichten Freiheit war das nächste Ziel der Ostdeutschen die Verbesserung der materiellen Verhältnisse. Das Jahr nach der Vereinigung und der ersten gesamtdeutschen Wahl verdeutlicht diese Grundhaltung im Osten eindrucksvoll: In den Medien thematisierte ökonomische Schwierigkeiten finden ihren unmittelbaren Niederschlag bei der jeweils geäußerten Wahlabsicht. Dennoch gibt es auch Hinweise, daß sich die Parteienstruktur des Ostens weiter an die des Westens annähert. Die Prinzipien und die Funktionsweisen der Demokratie werden akzeptiert, auch wenn der Prozeß der Angleichung vielen Ostdeutschen noch nicht schnell genug geht.

Im Westen verläuft die Entwicklung für die Parteien zwar in die gleiche Richtung wie im Osten, aber deutlich moderater. Bemerkenswert ist, daß sich in der Vergangenheit die Stimmung für die Regierungsparteien nach gewonnenen Wahlen noch nie so früh verschlechtert hat wie dieses Mal. Es gab aber auch noch nie so einschneidende Maßnahmen einer Regierung nach einer Wahl. Zwar waren die Steuererhöhungen durch weltpolitische Ereignisse und vor allem durch die in ihren Ausmaßen nur schwer kalkulierbaren ökonomischen Folgen des Einigungsprozesses bedingt, aber Wähler reagieren nun mal nach ihren eigenen Interessen. Besonders stark reagieren sie dann, wenn sie aus wahltaktischen Motiven auf die anstehenden Probleme nicht ausreichend aufmerksam gemacht worden sind.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Matthias Jung, Dipl. -Volkswirt, geb. 1956; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Wahlen e. V., Mannheim; seit 1991 Mitglied des Vorstands. Veröffentlichungen zur Wahlforschung, Methoden der Umfrageforschung und zur Militärsoziologie. Dieter Roth, Dr. phil., geb. 1938; Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen e. V., Mannheim; Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themenbereichen empirische Elitenforschung, Wahlsoziologie, speziell Ökonomie und Wahlverhalten, Jungwähler, Republikaner.