Wahlen, Wähler und Demokratie in der EG. Die drei Dimensionen des demokratischen Defizits
Karlheinz Reif
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Zusammenfassung
Das magische Datum der Vollendung des Binnenmarktes ist in greifbare Nähe gerückt. Der Anteil derer, die Befürchtungen oder Unsicherheit hegen, steigt. Ein „Mehr an Europa“, das den Durchschnittsbürger betrifft, kündigt sich an. Gleichzeitig und zusätzlich kündigen die Verträge von Maastricht „noch mehr Europa“ an. Solange das bereits erreichte „Ausmaß an Europa“ durch das Wohlwollen des permissive consensus (d. h. die wohlwollende Zustimmung zur Integrationspolitik der politischen Eliten) abdeckbar war, bleib das demokratische Defizit der EG ein Problem der politischen Eliten. Die jüngsten Eurobarometerumfragen zeigen die Möglichkeit auf, daß der permissive consensus nicht weiterbesteht. Wird er nicht durch einen aktiven Konsensus abgelöst, droht dem EG-System eine Legitimitätskrise. Maastricht hat für die politischen Eliten das demokratische Defizit vergrößert. Andererseits gab es jedoch den potentiell zum Abbau des demokratischen Defizits für den einzelnen Bürger wichtigen Schritt einer Beteiligung des Parlaments an der „Regierungsbildung“ im zeitlich unmittelbaren Zusammenhang mit der Europawahl. Dies kann die Ablösung des permissiven Konsenses durch einen aktiven Konsens jedoch nur befördern, wenn die Europawahl genauso eine indirekte Regierungswahl wird, wie Parlamentswahlen in den Mitgliedstaaten es sind. Im Wahlkampf zum Europäischen Parlament als einer Auseinandersetzung über die besseren Konzepte für die Gestaltung der Zukunft der Gemeinschaft und über die besseren Kompetenzen zur Bewältigung der anstehenden Probleme bedarf es einer Konzentration der öffentlichen Debatte auf die Frage „Wer ist der beste Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten?“ verknüpft mit der Frage „Welches ist die beste europäische Partei bzw. Koalition zur parlamentarischen Mehrheitsunterstützung der Kommission?“.
I. Vierzig Jahre demokratisches Defizit
Mit einem neuerdings anstehenden „Mehr an Europa“, das heißt mit der Annäherung an das magische Datum Januar 1993 (Vollendung des einheitlichen europäischen Binnenmarktes) und mit der Einigung über die Verträge von Maastricht, ist (bezeichnenderweise nach deren Unterzeichnung) die öffentliche Debatte über das demokratische Defizit der Europäischen Gemeinschaft wieder aufgeflammt. Es ist nicht auszuschließen, daß sie sich anläßlich der Ratifizierungsverfahren bis auf die Ebene der Bürger ausdehnt. Es ist auch noch nicht ausgemacht, daß „Maastricht“ in jedem Mitgliedsland ratifiziert wird und anschließend tatsächlich in Kraft tritt.
Abbildung 30
Tabelle 6: Einfluß der Europäischen Gemeinschaft auf das persönliche Leben.
Tabelle 6: Einfluß der Europäischen Gemeinschaft auf das persönliche Leben.
Dabei ist diese Debatte so alt wie die Gemeinschaft selbst: vierzig Jahre. Allerdings hat sie sich meist auf einige Segmente der politischen Klasse und der Experten beschränkt. Gleichzeitig wurde von ihren drei Dimensionen oder Ebenen eine einzige deutlich privilegiert: die Ebene der Institutionen. Die Ebene der soziopolitischen Vermittlungsstrukturen (Parteien, Verbände, öffentliche Meinung bzw. veröffentlichte Meinung) fand schon weitaus geringere Aufmerksamkeit. Das demokratische Defizit auf der Ebene der Bürger wurde noch mehr vernachlässigt 1.
Im folgendem Beitrag sollen -nach einem kurzen Rückblick auf die vergangenen 40 Jahre demokratisch defizitärer EG -zu jeder dieser drei Dimensionen einige Anmerkungen gemacht werden, vor allem aber zur Vermittlungs-und zur Bürgerebene des demokratischen Defizits. Dies ist keinesfalls nur von akademischem Interesse. Wird doch das Weiterbestehen des bislang auf der Bürgerebene weitgehend vorherrschenden permissive consensus (d. h.der wohlwollenden Zustimmung zur Integrationspolitik der politischen Eliten) immer weniger wahrscheinlich; zwei andere Formen der „Behandlung“ von Europa durch die Bürger beginnen sich abzuzeichnen: eine scharf protestierende Zurückweisung dieses „Mehr an Europa“, ja sogar -das Kind mit dem Badewasser ausschüttend -eine Zurückweisung der bis „vor Maastricht“ beträchtlich gewachsenen acquis communautaires (der schon erreichte Grad an europäischer Integration) oder aber ein nicht mehr zu ignorierendes Einfordern ihrer demokratischen Mitgestaltungsansprüche durch die Bürger selbst.
Unmittelbar nach der Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (Montanunion) wurde parallel zum Vertrag über die „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) von der Parlamentarischen Versammlung der „Montanunion“ ein Vertrag über die „Europäische Politische Gemeinschaft“ (EPG) ausgearbeitet. Er enthielt -auf der Ebene der Verfassungsregelungen -alle Kernelemente einer föderalen Demokratie: die Mitwirkung der Mitgliedstaaten am Entscheidungsprozeß der Gemeinschaft über einen Ministerrat aus Vertretern der nationalen Regierungen; ein diesem Ministerrat gleichberechtigtes, nach einem einheitlichen Wahlverfahren direkt gewähltes Europäisches Parlament, welchem eine europäische Exekutive politisch verantwortlich sein sollte; einen unabhängigen Gerichtshof. Nach der Ratifizierung durch die Parlamente von fünf der sechs Mitgliedstaaten der Montanunion ist die EVG, und mit ihr die EPG, in der französischen Deputiertenkammer im August 1954 gescheitert.
Nach der Übertragung der verteidigungspolitischen Integration auf die NATO blieb die mit den Römischen Verträgen geschaffene „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) im Hinblick auf ihren supranationalen Charakter deutlich hinter der Montanunion und im Hinblick auf den demokratischen Charakter deutlich hinter der EPG zurück.
Ansätze zur Demokratisierung -wie sie der Römische Vertrag mit der Direktwahl der Europäischen Versammlung und mit deren Kompetenz, die Kommission abzuwählen, enthalten hatte -wurden durch die von de Gaulle herbeigeführte De-facto-Verfassungsänderung im „Luxemburger Kompromiß“ von 1966 für mehr als ein weiteres Jahrzehnt hinausgeschoben: die Dominanz der konföderativ-intergouvernementalen Komponente wurde ausgebaut und blieb bis heute erhalten.
Dabei war das Thema einer „Europäischen Politischen Union“ (EPU) mit dem Fouchet-Plan 1962 noch einmal auf die Tagesordnung gekommen, aber an der Ablehnung einer französischen Hegemonie bei gleichzeitiger entscheidender Schwächung der NATO gescheitert. Die Thematik einer „Europäischen Politischen Union“ ist seit damals und bis in die Gegenwart der Regierungskonferenzen und des Vertrages von Maastricht durch eine sprachliche Verwirrung, ein gleichsam systematisches Aneinander-Vorbei-Reden gekennzeichnet: Für die meisten Franzosen (und seit der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs auch für die meisten Briten, jedenfalls die meisten Engländer) ist die EPU primär, wenn nicht ausschließlich, eine Frage gemeinsamer Außenpolitik, nach intergouvemementalem Modus auszuarbeiten und zu praktizieren, d. h. letztendlich ein Mehr an Europäischer Politischer Zusammenarbeit, eine Vertiefung der EPZ Für die meisten Deutschen, und wohl auch Italiener und Belgier, ist eine „Europäische Politische Union“ primär eine Reform der Institutionen, eine Vertiefung der föderativen Komponente der Gemeinschaft und eine Demokratisierung ihres Entscheidungsprozesses.
II. Die institutioneile Dimension des demokratischen Defizits
Abbildung 26
Tabelle 2: Für eine Europäischen Regierung, die dem Europa-Parlament gegenüber verantwortlich ist?
Tabelle 2: Für eine Europäischen Regierung, die dem Europa-Parlament gegenüber verantwortlich ist?
Vor der Einführung direkter Wahlen zum Europäischen Parlament wurde häufig die Meinung vertreten, zuerst müsse es europäische Parteien geben. Schon die Ankündigung der Einführung direkter Wahlen hat den Zusammenschluß nationaler Parteien zu transnationalen (Kon-) Föderationen gefördert. Aber die relativ geringen Kompetenzen des Europäischen Parlaments (EP) haben, selbst nach gewissen Kompetenzerweiterungen durch die Einheitliche Europäische Akte, inzwischen zu einer relativen Stagnation dieses Prozesses geführt. Erstaunlicherweise haben weder die de facto Große Koalition zwischen Sozialisten und christdemokratischer Europäischer Volkspartei noch die niedrige Fraktionsdisziplin bei den Abstimmungen im Parlament, z. B. anläßlich der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs für die Europäische Union durch das EP, zu einer nennenswerten Debatte über die beiden grundlegenden Rollenoptionen der Volksvertretung geführt: 1. präsidentielles System (eventuell konkordanzdemokratischer Ausprägung ähnlich der Schweiz mit vollen Legislativ-und Haushaltsrechten aber ohne die Aufgabe, eine Regierung zu tragen, und daher auch ohne intensiven Druck zur Fraktionsdisziplin, oder 2. ein parlamentarisches System mit der parlamentarischen Primäraufgabe, eine Regierung zu tragen, ergo mit hohem Bedarf an Mehrheitsfraktionsdisziplin und recht weitgehender Notwendigkeit, der Regierung in ihren Gesetzgebungs-und Haushaltsinitiativen bei der Auseinandersetzung mit der Opposition und bei der Bemühung um Zustimmung der „Mitgliedstaatenkammer“ zu folgen. Das EP hat sich eindeutig für den (schwierigeren) Weg des parlamentarischen Systems entschieden. Dieses System entspricht nicht nur vollen (wenngleich eventuell relativ rituell wahrgenommenen) Gesetzgebungs-und Haushaltskompetenzen, sondern transnationalen Mehrheitsentscheidungen entlang der Linie Regierungsmehrheit -Opposition. Das impliziert entweder ein intensives Zurückdrängen der Abstimmung nach Nationen oder eine große Regierungs-Krisenanfälligkeit des Systems.
In Vorbereitung auf Maastricht hat das Europäische Parlament -wie die Regierungen Deutschlands, Italiens und Belgiens -auf „Ko-Legislation“ und volles Haushaltsrecht gedrängt. Hiervon konnte kaum etwas durchgesetzt werden; die Vermehrung der Verfahrenstypen parlamentarischer Mitwirkung trägt gewiß nicht zur Transparenz des EG-Systems bei -ein Aspekt, der das demokrati-sehe Defizit nicht nur für die Bürger, sondern auch für viele Nichtspezialisten im Umfeld der EG-Institutionen und in der politischen Klasse der Mitgliedstaaten vergrößert. Die französische Regierung will zwar eine Vertiefung der Gemeinschaft, insbesondere die Währungsunion unter Inkaufnahme der deutschen Bedingungen hinsichtlich der Autonomie der europäischen Zentralbank und der wirtschafts-und finanzpolitischen Kriterien, aber -zusammen mit der britischen Regierung und den Regierungen mehrerer kleinerer Mitgliedstaaten -keine Gleichberechtigung des Parlaments in Gesetzgebung, Außen-und Sicherheitspolitik.
Aus systematischer Sicht ist die Position überzeugend, die Bundeskanzler Kohl vor Maastricht vertreten hat und die im Bundestag und von der Bundesbank auch nach Maastricht vertreten wird: Eine Währungsunion in einem politischen System ohne ein Parlament mit vollen Mitwirkungsrechten (und Mitverantwortungspflichten) birgt sowohl Effizienz-als auch Legitimitätsrisiken Dies gilt noch stärker auf der Ebene der politischen, ökonomischen und Medieneliten als auf der Ebene des Durchschnittsbürgers, für den die Komplexität der Entscheidungsverfahren und der Entscheidungsmaterien einer modernen industriestaatlichen Demokratie ohnehin nicht direkt durchschaubar ist.
Der Vertrag von Maastricht enthält jedoch einen Kompetenzzuwachs des Parlaments, der für den Abbau des Demokratiedefizits der EG aus der Sicht des einfachen Bürgers von ausschlaggebender Bedeutung sein kann: Die Einsetzung des Kommissionspräsidenten und der Kommission bedürfen der Beteiligung des Parlaments; die Amtszeit der Kommission wird der Wahlperiode des Parlamentes angeglichen.
Es ist jedoch daran zu erinnern, daß Systeme, die das Verbleiben der Regierung im Amt vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig machen, Gefahr laufen, „parlamentaristisch“ zu entarten, wenn weder Regierung (Kommission) noch Staatsoberhaupt (Europäischer Rat) die Möglichkeit haben, im Falle eines Regierungssturzes das Parlament „zurück zu den Wählern“ zu schicken Solange zum Sturz der Kommission nicht die einfaehe, sondern eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, bleibt dieses Risiko gering, kommt jedoch einer Anomalie im parlamentarischen System gleich.
III. Die Rolle des Bürgers in einer demokratischen Union
Abbildung 27
Tabelle 3: Motivationen der Wahlbeteiligung (Mehrfachnennungen möglich)
Tabelle 3: Motivationen der Wahlbeteiligung (Mehrfachnennungen möglich)
Wenngleich es höchst bemerkenswerte Veränderungen in den Meinungen und Einstellungen der EG-Bürger zur europäischen Einigung und zur Europäischen Gemeinschaft über die letzten 20 und insbesondere über die letzten zehn oder fünf Jahre hinweg gegeben hat, bleibt die Charakterisierung ihrer Einstellungen durch Lindberg und Scheingold aus dem Jahre 1970 bis heute die treffendste: ein wohlwollendes „Nun integriert mal schön“ -a permissive Consensus.
Das Prinzip der EG-Mitgliedschaft findet in jedem Mitgliedsland eine große Zustimmung, inzwischen auch in Großbritannien und Dänemark. Der Anteil der Befragten, der die Gegenposition einnimmt, ist fast überall verschwindend gering und erreicht sogar in Großbritannien (15 Prozent) und Dänemark (20 Prozent) seit mehreren Jahren keine dramatische Größenordnung mehr. Auch allgemein formulierte Fragen nach „mehr europäischer Einigung“ oder „einem größeren Tempo der europäischen Einigung“ finden hohe Zustimmung.
Bereits vor Jahren wurde darauf hingewiesen daß nicht für jeden, der solche Zustimmung äußert, daraus abgeleitet werden kann, daß er oder sie persönlich aktiv für die EG oder für „mehr Europa“ eintritt. Gerade wenn man sich nicht auf die traditionellen Standardindikatoren beschränkt sondern die breite Palette unterschiedlicher Fragestellungen in den Eurobarometerumfragen heranzieht, bestätigt sich immer wieder ein bezeichnendes Muster in den Ergebnissen:
Fragen, die das eigene Land zum Gegenstand der Bewertung oder Beurteilung EG-bezogener Politikaspekte machen, finden in der Regel höhere Zustimmungswerte bzw. Wichtigkeitszuschreibungen als Fragen, die direkt den Befragten als Individuum betreffen. Eine subjektiv unmittelbare Bin-düng an die EG oder „Europa“ haben deutlich weniger Bürger (s. Tab. 1 und 2). Je nach Operationalisierung dieser Dimension in Umfragen sind es im EG-Durchschnitt zwischen 45 und 55 Prozent, bei denen man von einer individuellen Europabindung oder Europaidentifikation sprechen kann. Sobald den Befragten die Möglichkeit gradueller Abstufung gegeben wird, zeigt sich, daß der Anteil mit sehr intensiver Europabindung nur zwischen 12 und 33 Prozent der Befragten Hegt -je nach „Härte“ der Fragestellung. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern oder nach soziodemographischen Gruppen reproduzieren fast immer das hinlänglich bekannte Muster. Die Niederlande, Portugal und Italien liegen an der Spitze, Großbritannien und Dänemark am Ende. Unter Jüngeren, formal besser Gebildeten, Wohlhabenderen, politisch Interessierten und „Meinungsführern“ liegen (EG-) Aufmerksamkeit, Informiertheit, Akzeptanz, Wichtigkeitszuschreibung und eben auch Identifikation bzw. affektive Bindung deutlich (oft sehr deutlich) über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.
Seit der „neuen Dynamik“, die das Binnenmarkt-projekt ausgelöst hat, läßt sich eine Zunahme der „europa-positiven“ Antworten bei den verschiedenen Indikatoren registrieren. Dennoch ändert dies nichts an der Feststellung, daß die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament von Anfang an niedrig war und von Wahl zu Wahl weiter abgenommen hat
Bedenkt man darüber hinaus, daß positive Meinungen und Einstellungen zur EG zwar mit einer höheren Beteiligung an Europawahlen einhergehen, diese aber nicht eigenständig und direkt verursachen dann liegt die Schlußfolgerung nahe, daß auf der Ebene des Durchschnittsbürgers die Bezeichnung „demokratisches Defizit“ noch ein Euphemismus ist.
Der Durchschnittsbürger in der pluralistischen Demokratie ist an Politik nicht oder nur wenig interessiert und auch nicht sehr detailliert informiert. Dies gilt für EG-Politik angesichts der „Ferne“ und der objektiv extrem geringen Transparenz des politischen Systems der Gemeinschaft noch mehr. Dennoch legt dieser Durchschnittsbürger großen Wert auf seine Grundrechte und Freiheiten und auf sein Recht, bei Wahlen, bei denen es tatsächlich „um etwas geht“, mitbestimmen zu können. Letztendlich ist ihm -so kann man vermuten -am wichtigsten, „die Regierung auswechseln zu können“, wenn er nicht oder nicht mehr mit ihr zufrieden ist.
Eine Eurobarometerumfrage Anfang März 1992 bestätigt diese Hypothese für das politische System der EG (und zwar gerade, weil die EG selbst in der Frage überhaupt nicht thematisiert wurde) (Tab. 3). Zwar wird „die Unterstützung der Partei mit dem besten Programm“ am häufigsten als wichtige Wahlbeteiligungsmotivation genannt, aber die Bestätigung bzw. Abwahl der Regierung steht überall an zweiter Stelle Europäische Parteien gibt es noch nicht, jedenfalls nicht für den Durchschnittsbürger. Aus diesem Grund ist die Bindung der Kommissionsbildung an die Zustimmung des Europäischen Parlaments im zeitlichen Zusammenhang mit der Europawahl so bedeutungsvoll für den Abbau des demokratischen Defizits der EG beim Bürger, wenn -aber nur wenn -er auch davon weiß.
Mit seinem nationalstaatlichen System fühlt sich der Bürger vertraut, weil soziopolitische Vermittlungsstrukturen die objektive Komplexität des politischen Prozesses reduzieren. Parteien und ihre Spitzenpolitiker stellen über ihre Organisation, über die für den einzelnen Bürger relevanten Interessenverbände und deren Stellungnahmen zu Parteiprogrammen und -führungspersonen -vor allem über die Massenmedien -die Überschaubarkeit politischer Strukturen her. Dies erlaubt es dem Durchschnittsbürger, am Wahltag Stellung zu beziehen, sofern ihm das, worum es bei der jeweiligen Wahl geht, wichtig genug erscheint.
Die Mechanismen dieser Komplexitätsreduktion sind im politischen System der EG unterentwikkelt. Der Bürger hat keine Wahl, im wortwörtlichen Sinne. Er kann EG-Politik ausschließlich als Dauerverhandlung seiner nationalen Regierung mit anderen nationalen Regierungen begreifen, auch wenn dies trotz der Dominanz intergouveme-mentaler Entscheidungsmechanismen die EG-Realität längst nicht mehr hinreichend beschreibt.
Solange das bisher erreichte „Ausmaß an Europa“ durch das Wohlwollen des permissive consensus abdeckbar war, blieb das demokratische Defizit der EG ein Problem der politischen Eliten. Die jüngsten EG-weiten Umfragen (Eurobarometer) zeigen die Möglichkeit auf, daß der permissive consensus nicht weiterbesteht. Wird er nicht durch einen aktiven Konsensus abgelöst, droht dem EG-System eine Legitimitätskrise.
Das magische Datum der Vollendung des Binnenmarktes (1. Januar 1993) ist in greifbare Nähe gerückt. Der Anteil der hoffnungsvoll in diese Zukunft Schauenden sinkt. Der Anteil derer, die Befürchtungen oder Unsicherheit hegen, steigt (Tab. 4). Ein „Mehr an Europa“, das den Durchschnittsbürger betrifft, kündigt sich an. Gleichzeitig und zusätzlich kündigen die Verträge von Maastricht „noch mehr Europa“ an, das den Durchschnittsbürger noch unmittelbarer betreffen wird. 85 Prozent der Befragten halten EG-Angelegenheiten inzwischen für wichtig (bis sehr wichtig) für die Zukunft ihres Landes und seiner Bürger (Tab. 5). Nur 22 Prozent meinten im Oktober 1991, EG-Politik habe keinen Einfluß auf ihr persönliches Leben. Immerhin 51 Prozent sehen einen positiven Einfluß -aber das sind vier Prozentpunkte weniger als im März 1991 im EG-Durchschnitt; dieser Rückgang beträgt neun Prozentpunkte in den Niederlanden, sieben in Belgien und sechs in Westdeutschland. Noch sehen lediglich 14 Prozent im EG-Durchschnitt einen negativen Einfluß, aber der Anstieg beträgt drei Prozentpunkte (in Holland sieben), und die Unsicherheit („weiß nicht“) nimmt zu (Tab. 6).
Die Debatten über die Ratifizierung der Verträge von „Maastricht“ durch die nationalen Parlamente (und durch ein Referendum in Dänemark sowie in Irland) werden zeigen, inwieweit ein Ende des permissive consensus schon erreicht ist, ob eine intensive Debatte diese Ratifizierungsprozeduren begleitet, und ob das geplante „Mehr an Europa“ die (über Umfragen ermittelte) Zustimmung der Bürger findet oder nicht.
In den meisten Ländern sind jedoch öffentliche Debatten, die bis zum Durchschnittsbürger vordrangen, kaum geführt worden, und bei Ratifizierungen kann es keine Änderungen mehr geben. Es besteht daher das Risiko, daß viele Bürger den Eindruck bekommen, weder „direkt in Brüssel“ noch innerhalb des nationalen Systems demokratischen Einfluß auf die EG zu haben, sich also des demokratischen Defizits bewußt werden.
Es könnte sehr wohl sein, daß dieses Problem in Großbritannien und Dänemark, wo die Öffentlichkeit -einschließlich-der nationalen Parlamente -traditionell größeren Anteil an dem nimmt, was auf EG-Ebene geschieht, geringer ist.
IV. Vermittlungsstrukturen und -prozesse
Abbildung 28
Tabelle 4: Europäischer Binnenmarkt 1992: Hoffnung oder Befürchtungen?
Tabelle 4: Europäischer Binnenmarkt 1992: Hoffnung oder Befürchtungen?
Maastricht hat für die politischen Eliten das demokratische Defizit eher noch vergrößert: Dem Europäischen Parlament wurde die Gleichberechtigung mit dem Ministerrat verweigert. Die Inflation der Anzahl verschiedener Entscheidungsverfahren hat die Transparenz verringert. Der Ministerrat verB handelt nach wie vor unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Neben einigen Erweiterungen der Mitwirkungskompetenzen des Parlaments gab es jedoch den potentiell zum Abbau des demokratischen Defizits für den einzelnen Bürger wichtigen Schritt einer Beteiligung des Parlaments an der „Regierungsbildung“ im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Europawahl.
Dies kann die Ablösung des permissiven Konsenses durch einen aktiven Konsens jedoch nur dann befördern, wenn die Europawahl genauso eine indirekte Regierungswahl wird, wie es Parlamentswahlen in den Mitgliedstaaten sind. Im Wahlkampf zum Europäischen Parlament als einer Auseinandersetzung über die besseren Konzepte für die Gestaltung der Zukunft der Gemeinschaft und über die besseren Kompetenzen zur Bewältigung der anstehenden Probleme bedarf es einer Konzentration der öffentlichen Debatte auf die Frage „Wer ist der beste Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten?“, verknüpft mit der Frage „Welches ist die beste europäische Partei bzw. Koalition zur parlamentarischen Mehrheitsunterstützung der Kommission?“
Das in Ansätzen vorhandene EG-Parteiensystem muß als transnationales konsolidiert und sichtbar gemacht werden. Dies erfordert eine sehr viel breitere Berücksichtigung der EG-Politik in den nationalen Parteiorganisationen. Es erfordert darüber hinaus eine stärkere nationale Personalisierung der EG-Politik (Kommissionsmitglieder, Mitglieder des Europäischen Parlaments) und eine transnationale Personalisierung der EG-Politik durch grenzüberschreitende Sichtbarkeit der Spitzenpolitiker in den supranationalen Institutionen Kommission und Parlament (Fraktionsvorsitzende, Ausschußvorsitzende etc.).
Gleichzeitig bedarf es einer stärkeren Berücksichtigung der EG-Politik in den Massenmedien: Sowohl in der Redaktionsorganisation als auch in der Sendezeit bzw. hinsichtlich Ressortumfang und Ressortplazierung der Printmedien. EG-Innenpolitik muß von der Außenpolitik getrennt sein und gleichviel Gewicht haben wie nationale Innenpolitik. Die system-normative Formulierung der hier aufgezählten Voraussetzungen der Organisation von Vermittlungsprozessen impliziert in der Tat einen voluntaristischen Ansatz. Dennoch ist der wachsende „Druck aus Europa“ hinsichtlich gemeinschaftlicher Regelungen, jedenfalls Regelungsabsichten, als wichtiger „objektiver“ Faktor zur Ermöglichung der als notwendig erachteten Reformen anzusehen. Die jetzt schon vorhandene Repräsentation sektoraler und territorialer Interessen im „Lobby-Ring“ um die Gemeinschaftsinstitutionen in Brüssel belegt die Bedeutung dieses Faktors. Es geht in der Tat um eine gleichzeitige „Entnationalisierung“ des Europäischen Parlaments und „Europäisierung“ der nationalen Parlamente (etwa nach dänischem oder britischem Modell) zur Demokratisierung der EG bzw.der Europäischen Union. Es geht nicht um die „Konsolidierung eines Staatenbundes“ (Lepsius) sondern um die „Voll-endung eines Bundesstaates“ (Hallstein) Andererseits geht es um einen dualistischen (bzw. „echten“) Föderalismus und nicht um einen als dezentralisiert verkappten Einheitsstaat
V. Nationalitätenstaat oder multinationaler Bundesstaat?
Abbildung 29
Tabelle 5: Die Wichtigkeit von EG-Angelegenheiten.
Tabelle 5: Die Wichtigkeit von EG-Angelegenheiten.
Das auch „nach Maastricht“ noch lange vorhandene -weil im Vertragswerk von Maastricht erneut festgeschriebene -große Übergewicht der nationalen Mitgliedstaaten muß durch Binnengrenzen überschreitende Allianzen soziopolitischer Vermittlungsstrukturen ausbalanciert werden. Eines der/für die Bewußtseinsbildung der Durchschnittsbürger am besten geeigneten Medien ist das Amt des („indirekt-direkt“) demokratisch zu wählenden Kommissionspräsidenten Er (oder sie) ist für die übergroße Mehrzahl der Gemeinschaftsbürger Ausländer und muß dennoch glaubhaft den Mehrheitswillen der Wähler der gesamten Europäischen Union repräsentieren.
Immerhin ist fast die Hälfte (und in Großbritannien und anderen Mitgliedstaaten mit elektoralen und/oder parlamentarischen Minderheitsregierungen, wie etwa Dänemark oder Frankreich, mehr als die Hälfte) der Gemeinschaftsbürger über ihre nationale Regierung nicht in den Willensprozeß auf Unionsebene einbezogen -es sei denn über die von ihnen gewählten Abgeordneten im Europäischen Parlament und deren Fraktions-bzw. Koalitions-oder Oppositionskollegen aus anderen Mitgliedstaaten. Die nationalen Regierungen können zwar den Anspruch erheben, „das nationale Interesse“ zu vertreten, aber der nationale Oppositionsbürger mag die Dinge mit Recht anders wahrnehmen: als Repräsentation von Teilinteressen, die nicht die seinen sind.
Die sehr viel größere Dichte der soziopolitischen Infrastruktur der Mitgliedstaaten, das in den meisten von ihnen sehr deutlich ausgeprägte Bewußtsein nationaler Identität und die Sicherung und Förderung der nationalen Sprachen und Kulturen (auch durch die Europäische Union) lassen Ungleichgewichtssorgen sehr viel mehr als Befürchtung einer Fortdauer der weder effizienten noch demokratischen Dominanz nationaler Ministerialbürokratien gerechtfertigt erscheinen denn als Ängste vor einem „verkappten Einheitsstaat Europa“.
Es ist Lepsius zuzustimmen, daß es nicht um die Schaffung einer neuen „Nation Europa“ geht. Dies kann sich bestenfalls nach mehreren Generationen überhaupt erst als Frage stellen. Aber ohne einen multinationalen Staat gleichgewichtig föderativer Organisationsform sind die europäischen Nationen mindestens so sehr gefährdet wie bei einem Verzicht auf die „Vollendung des Bundesstaates“. Das Schicksal der griechischen Stadtstaaten nach dem Ansturm des römischen Imperiums ist in einer Welt, die sich gerade anschickt, unipolar zu werden, immer noch nachdenkenswerte Mahnung -und gewiß ein „Rationalitätskriterium“ (Lepsius) nicht zu vernachlässigender Art.
Karlheinz Reif, Dr. phil. habil., geb. 1943; Habilitation für Politikwissenschaft 1983 (Univ. Mannheim); 1983-1986 Gast-bzw. Zeit-Professor an den Universitäten Edinburgh, EHI Florenz, Duisburg und Bamberg; seit 1986 Leiter des „Eurobarometer“ der EG-Kommission, Brüssel. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Ten European Elections, Aldershot 1985; (Hrsg. zus. mit R. Inglehart) EUROBAROMETER -The Dynamics of European Public Opinion, Houndmills-London 1991; zahlreiche Beiträge zur Vergleichenden Politikwissenschaft, insbes. zur Interaktion von Institutionen, Parteien und Wahlen in Frankreich, Deutschland und der EG.
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