Die mit der Einheit Deutschlands einhergehenden Veränderungen im sozialen System stellen für die älteren Menschen, wie für alle ehemaligen DDR-Bürger, einen Bruch der bisherigen Lebensperspektive dar. Daraus ergeben sich weitgehende Konsequenzen für nahezu alle Lebensbereiche; sie betreffen Erwerbsbiographien, Einkommensverläufe, Familienbeziehungen, Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung u. a. Der Beitrag zeigt anhand sozio-demographischer Trends, ausgewählter Lebensbedingungen und subjektiver Reflexionen, wie sich die soziale Lage älterer Menschen, ihre Wertorientierungen und Lebenszufriedenheiten verändert haben, und daß es auf Jahre hinaus zwei „deutsche Alter“ geben wird. Aus den aktuellen und absehbaren Problemen ergeben sich spezifische Aufgaben für die Altenpolitik in den neuen Ländern; langfristig gesehen sind jedoch strukturelle Reformen im Gesamtdeutschland erforderlich. Die dabei gesammelten Erfahrungen könnten auch für die Anpassung sozialer Sicherungssysteme im Rahmen der Europäischen Union genutzt werden.
I. Konturen des Problems
„In dem einen kleinen Intervall, seit mir der Bart zu sprossen begann und seit er zu ergrauen beginnt, in diesem einen halben Jahrhundert hat sich mehr ereignet an radikalen Verwandlungen und Veränderungen als sonst in zehn Menschengeschlechtern, und jeder von uns fühlt: zu vieles fast! So verschieden ist mein Heute von jedem meiner Gestern, meine Aufstiege und meine Abstürze, daß mich manchmal dünkt, ich hätte nicht bloß eine, sondern mehrere, völlig voneinander verschiedene Existenzen gelebt... Wer immer durch diese Zeit ging oder vielmehr gejagt und gehetzt wurde -wir haben wenig Atempausen gekannt hat mehr Geschichte miterlebt als irgendeiner seiner Ahnen. Auch heute stehen wir abermals an einer Wende, an einem Abschluß und einem neuen Beginn.“ Dieses Schicksal „einer ganzen Generation“, das Stefan Zweig in seinen Erinnerungen „Die Welt von Gestern“ als Europäer Ende der dreißiger Jahre beschrieb, sollte das Schicksal weiterer Generationen werden.
Gemessen an seinen historischen Erfahrungen fand der Zusammenbruch der DDR, die friedliche Vereinigung und der Neubeginn in Gesamt-deutschland unter denkbar günstigen Umständen und Voraussetzungen statt. Die Besonderheit für die Menschen im Osten besteht darin, daß die mit der Einheit Deutschlands einhergehenden Sozialumstellungen für alle gleichbedeutend mit einem Bruch der bisherigen Lebensperspektive sind. Das gesamte Institutionen-und Rechtssystem wurde mit dem staatlichen Vereinigungsprozeß schlagartig ausgewechselt und es begann die Zusammen-führung zweier völlig unterschiedlicher ökonomischer, rechtlicher und sozialer Systeme, die in den zurückliegenden Jahrzehnten zu verschiedenen Lebenslagen sowie Mentalitäten, Wertorientierungen und Verhaltensweisen der Menschen geführt haben. Die neuen rechtlichen und institutioneilen Gegebenheiten konstituieren oder beeinflussen die individuellen Lebensverläufe aller Altersgruppen, Erwerbsbiographien, Einkommensverläufe, Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung u. a. m.
Für viele ältere Menschen, insbesondere im höheren Lebensalter, die nach dem Zweiten Weltkrieg, z. T. nach zwei Weltkriegen, an den Sozialismus als Hoffnung auf das Andere und Bessere geglaubt und unter schwierigsten Bedingungen den Neuanfang begonnen hatten, ist eine Welt zusammengebrochen, entfallen bisherige Leitbilder, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens neu. Zum zweiten Mal in einem Leben gescheitert zu sein -wie es jetzt z. T. die heutige Rentnergeneration erleben muß -ist kaum zu verkraften. „Ich kann doch nicht mein ganzes Leben wegwerfen“, sagte kürzlich Stefan Heym in einem Interview und drückte damit aus, was viele empfinden „Von Richtungs-und Orientierungsverlust sind auch jene betroffen, die sich nicht als Befürworter des Sozialismus verstanden hatten. Zwar stellt sich für sie der Zusammenbruch des alten System als Befreiung, Aufgabe politischer Unmündigkeit, Hoffnung auf ein besseres, weil stärker selbstbestimmtes Leben dar, aber ihre Entwicklungs-und Aufstiegschancen hängen letztlich davon ab, wie schnell sie sich in der freien Marktwirtschaft zurechtfinden, wie sie mit den jeweiligen Bezugs-gruppen im Westen mithalten können. Fehlende Erfahrungen einerseits und erlernte, jetzt nicht selten hinderliche Verhaltensweisen andererseits, erschweren den notwendigen Lernprozeß außerordentlich.“ Vergleicht man die Beninerinnen in den alten und neuen Bundesländern, ihre Lebenslagen, ihre Denk-und Wahrnehmungsstereotypen und Handlungslogiken, ihre Probleme und Hoffnungen, Zuversichten, Ängste und Befürchtungen, so ist absehbar, daß es in Deutschland auf Jahre hinaus zwei „deutsche Alter“ geben wird.
Wer sich in kürzester Zeit mit einer über Nacht eingeführten neuen Rechts-und Sozialordnung vertraut machen und sich im Wirrwarr neuer Institutionen und Zuständigkeiten zurechtfinden muß, monatelang keine Rente erhalten hat oder zustehende Leistungen wie Sozialhilfe nicht beantragen kann, weil die Vordrucke ausgegangen sind oder eine von den vielen jetzt erforderlichen Unterlagen nicht beizubringen ist, wer es mit überforderten Mitarbeitern zu tun bekommt, die z. T. nicht ausreichend qualifiziert sind wird eher klagen, als über die potentiellen Möglichkeiten und real existierenden Chancen der Demokratie und der erworbenen Freiheiten im vereinten Deutschland nachdenken. Die Sorge um die berufliche Zukunft der Kinder und Enkelkinder, die arbeitslos gewor den sind oder ungewollt als Vorruheständler Altersübergangsgeld in Anspruch nehmen (müssen) oder die sich der Abwanderungsbewegung „Go West“ anschließen, wodurch stabile soziale Beziehungen zwischen den Generationen und Familien abnehmen oder zerbrechen, sind weitere Ursachen für das allseits erfahrbare Klagen-Crescendo.
Um zu verstehen, daß für viele Ältere die Tages-sorgen überwiegen und daß, was die Zukunft anbelangt, Befürchtungen stärker als Hoffnungen ausgeprägt sind, muß berücksichtigt werden, daß sie kaum noch die Möglichkeit der eigenen Einflußnahme auf ihre soziale Lebenslage (private Vorsorge und Vermögensbildung, Erwerbstätigkeit u. a.) haben. Außerdem beurteilen auch die älteren Menschen ihre soziale Lage zunehmend nicht mehr im Vergleich zur Situation vor der Währungsunion, sondern messen diese am aktuellen Lebens-und Leistungsniveau in den alten Bundesländern; aus einem Systemvergleich ist ein regionaler Vergleich geworden.
Insgesamt bietet die Vereinigung Deutschlands als ein beispielloser und exemplarischer Systemwandel einmalige Voraussetzungen dafür, -die Konstituierung neuer wirtschaftlicher und sozialer Strukturen durch die Transformation politischer, wohlfahrtsstaatlicher und intermediärer Institutionen als soziales „Life-Experiment“ zu beobachten, -die Veränderung von Lebenslagen und -weisen zu analysieren und mitzugestalten, und damit zugleich -das theoretische Wissen über die Gestaltbarkeit der Gesellschaft durch sozialpolitische Interventionen und das vorhandene praktische Instrumentarium an der neuen gesamtdeutschen Wirklichkeit auf seine Eignung hin zu überprüfen.
II. Sozio-demographische Trends
Abbildung 19
Tabelle 2: Die Anzahl und die durchschnittliche Höhe der laufenden Renten (Pflichtrente und FZR) *) am 30. Juni 1990, 1. Juli 1990, 1. Januar 1991 und 1. Juli 1991 in der gesetzlichen Rentenversicherung im neuen Bundesgebiet
Tabelle 2: Die Anzahl und die durchschnittliche Höhe der laufenden Renten (Pflichtrente und FZR) *) am 30. Juni 1990, 1. Juli 1990, 1. Januar 1991 und 1. Juli 1991 in der gesetzlichen Rentenversicherung im neuen Bundesgebiet
Die Verschiebung der Altersstruktur, das soge-nannte Altern der Bevölkerung, hat in den neuen Ländern an Dynamik gewonnen. Der Rückgang der Kinder-und (künftigen) Jugendgenerationen hat sich beschleunigt, der Anteil der Bevölkerung im Rentenalter steigt schneller an, als noch vor drei Jahren prognostiziert worden war. Das ist auf den rapide sinkenden Geburtenrückgang und auf die Übersiedlung jüngerer Einwohner in die alten Länder zurückzuführen. Nach Angaben des Stati-stischen Bundesamtes wurden 1991 im Gebiet der ehemaligen DDR rund 107000 Kinder geboren (1989 waren es noch 199000 und 1990 rund 175000). Das bedeutet im Vergleich zu 1990 einen Rückgang um 38, 9 Prozent (0, 3 Prozent im alten Bundesgebiet). Zugleich halbierte sich die Zahl der Eheschließungen in den neuen Bundesländern (-50, 3 Prozent), während in den alten Bundesländern 2, 8 Prozent weniger Paare den Weg zum Standesamt fanden.
Eine von Berliner Medizinstudentinnen erstellte Studie zu den Gründen von Schwangerschaftsabbrüchen verweist auf sozial determinierte Ursachen. Danach entschlossen sich Frauen zum Schwangerschaftsabbruch wegen sozialer Unsicherheit (55 Prozent), wegen unklarer Zukunftsaussichten (49 Prozent), wegen zu hoher finanzieller Belastungen durch ein Kind (48 Prozent), wegen Wohnungsproblemen (37 Prozent) und wegen eigener Arbeitslosigkeit oder der des Partners (15 Prozent) Zugleich hält die massenhafte Abwanderung von Osten nach Westen in Deutschland an. 1991 sind schätzungsweise 250000 Menschen umgezogen, die in ihren heimatlichen Regionen keine Zukunft mehr sahen; innerhalb von nur drei Jahren waren dies rund eine Million. Es gehen die gesündesten, qualifiziertesten, leistungsfähigsten jungen Leute und vor allem Männer, wobei meist die Frau oder Freundin und die Kinder an den neuen Arbeitsort nachgeholt werden *Da sich diese demographischen Prozesse zudem regional sehr differenziert vollziehen, sind Visionen von Landstrichen im Osten ohne junge Menschen, in denen Alte, Kranke und moralisch Gebrochene Zurückbleiben, durchaus realistisch, auch wenn sich die Zahl der Abwanderer auf Grund der begrenzten Aufnahmefähigkeit des Wohnungs-und Arbeitsmarkts in den alten Bundesländern künftig verringern wird.
Andererseits muß dieses Schreckenszenario nicht unbedingt eintreten. Sollte sich der ersehnte Aufschwung mittelfristig einstellen, wer kann ihn bewerkstelligen, wenn die qualifizierten und disponiblen Jungen nicht mehr da sind? Für die heute 50-bis 65jährigen könnte sich dann durchaus noch einmal die Chance bieten, von der überflüssigen, ausgemusterten zur Aufbaugeneration zu mutieren, die gebraucht wird. Hält der seit 1990 zu beobachtende Geburtenrückgang im Osten Deutschlands an, wird der Weg der deutschen Bevölkerung in den neuen Bundesländern etwas schneller in die „ergraute“ Gesellschaft führen; die Gesamttendenz des Alterns der Bevölkerung in Deutschland wird davon jedoch nicht wesentlich beeinflußt. Zwar hat die DDR durch den höheren Anteil jün-gerer Altersgruppen eine „jüngere“ Bevölkerung in die Einheit eingebracht, doch wirkt sich dies in der Gesamtentwicklung nur unerheblich aus, da die Bevölkerung der ehemaligen DDR lediglich ein Fünftel der Bevölkerung des vereinten Deutschlands ausmacht (vgl. Tabelle 1)
III. Zur sozialen Lage älterer Menschen
Abbildung 20
Tabelle 3: Ermöglicht Ihr monatliches Haushaltseinkommen im großen und ganzen die Befriedigung Ihrer Bedürfnisse? (in Prozent) Quelle: Institut für Soziologie und Sozialpolitik (ISS), Datensatz „Frauenreport Brandenburg ’ 91“ (Februar/März
Tabelle 3: Ermöglicht Ihr monatliches Haushaltseinkommen im großen und ganzen die Befriedigung Ihrer Bedürfnisse? (in Prozent) Quelle: Institut für Soziologie und Sozialpolitik (ISS), Datensatz „Frauenreport Brandenburg ’ 91“ (Februar/März
Die Lebenslage bzw. Lebensbedingungen der Menschen in den neuen Ländern sind das Resultat der politischen Verhältnisse der vormaligen DDR und des dort erreichten Produktivitäts-und Effektivitätsniveaus der Wirtschaft, d. h., für die ostdeutsche Bevölkerung war und ist (noch) ein weitgehend nivelliertes Lebensniveau charakteristisch. Gemessen an altbundesdeutschen sozialen Lagen war es deutlich niedriger. Dies läßt sich beispielsweise an den Einkommensverhältnissen (Rentenhöhe, Spareinlagen, Vermögen), an den Wohnverhältnissen (Wohnungsgröße und -ausstattung), an der Qualität der gesundheitlichen Betreuung (Hauskrankenpflege, Versorgung mit Medikamenten und Sachleistungen), aber auch an den Bildungs-, Kultur-und Freizeitangeboten nachweisen. Daher werden sich die Lebensbedingungen, Mentalitäten, Erwartungen, Zufriedenheitsbewertungen und Verhaltensweisen von nahezu drei Millionen Rentnerlnnen Ost noch über einen längerfristigen Zeitraum wesentlich von denen der Rentnergenerationen der alten Bundesländer unterscheiden. Dazu tragen neben den Differenzierungen, die aus dem Ausgangsniveau resultieren, Divergenzen bei, die sich aus den neuen sozialen Bedingungen der Marktwirtschaft sowie aus (sozialpolitischen Entscheidungen ergeben. 1. Einkommen Mit der im Rahmen der Sozialunion am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Rentenniveauanpassung und den Rentenerhöhungen 1991 ist das Renten-einkommen für die Mehrheit der älteren Menschen in den neuen Bundesländern deutlich gestiegen (vgl. Tabelle 2). Durch die Rentenerhöhungen vergrößerte sich aber auch die Differenz im Renteneinkommen zwischen Männern und Frauen von durchschnittlich rund 141 Mark vor der Rentenumstellung auf 285 DM im Juli 1991, wodurch sich die finanzielle Situation der Rentnerinnen weiter verschlechterte. Zudem ist anzumerken, daß in den neuen Ländern allein die Höhe der Renten bestimmend für das materielle Lebensniveau der älteren Menschen ist. Die gegenwärtigen Rentner-und Vorrentnerlnnengenerationen sind nur in geringem Maße Inhaber von zusätzlichen Arbeits-, Lebens-und Krankenversicherungen. Während im früheren Bundesgebiet Rentner-und Pensionärshaushalte 1987 über 30 Mrd. DM an Vermögenseinkommen verfügten konnte in der DDR Vermögen kaum gebildet werden; Aktien, hochverzinsliche Geldanlagen, u. ä. waren dort unbekannt. Die Sparguthaben bei Geld-und Kreditinstituten (189: 9 700 M/Einwohner), die zum Stichtag der Währungsunion etwa ein Viertel des Niveaus in den alten Bundesländern ausmachten, wurden auf 7 850 DM umbewertet, die Guthaben in sparwirksamen Personenversicherungen (1989: 1081 M/Einwohner 9) halbiert. Zusätzliche Mittel für Not-und Wechselfälle des Lebens sind in der Regel nicht vorhanden, d. h., die finanzielle Situation der Altersrentnerlnnen gestattet es kaum, soziale Notlagen längerfristig zu überbrükken. Ferner muß davon ausgegangen werden, daß bei dem hohen Anteil von Arbeitslosen, Vorruheständlern bzw. Beziehern von Altersübergangsgeld die Erwerbstätigkeit im Rentenalter als Quelle für eine Einkommenserhöhung künftig kaum eine Rolle spielen wird. Insgesamt konnten Anfang 1991 in den neuen Bundesländern 45 Prozent der Rentnerhaushalte monatlich weniger als 1000 DM ausgeben, lediglich 1, 5 Prozent der Haushalte verfügten über ein Einkommen von mehr als 3000 DM. Im Westen Deutschlands standen 1990 rund drei Prozent aller Rentnerhaushalte monatlich weniger als 1000 DM zur Verfügung, während 41 Prozent über ein Einkommen von mehr als 3 000 DM verfügten, darunter 17, 3 Prozent über 4000 DM oder mehr Das Durchschnittseinkommen der ostdeutschen Rentnerhaushalte entspricht etwa dem der entsprechenden westdeutschen Haushalte im Jahr 1974, wobei der Rückstand der ostdeutschen Realeinkommen größer ist, als der der Nominaleinkommen; die ostdeutschen Haushalte müssen für ihren Verbrauch -mit Ausnahme der noch subventionierten Mieten, Waren und Dienstleistungen -höhere Preise zahlen, als die westdeutschen Haushalte vor reichlich einem Jahrzehnt Da die subventionierten Preise schrittweise abgebaut werden -so erhöhten sich vom Juli 1990 bis Oktober 1991 die Preise und Tarife für Bildung, Unterhaltung und Freizeit um 31, 4 Prozent, für Wohnungsmieten um 313 Prozent, für Energie (ohne Kraftstoffe) um 227 Prozent, für Verkehr und Nachrichtenübermittlung um 29 Prozent, für die Umlagen für Heizung und Warmwasser um 469 Prozent -, hat sich die effektive Einkommenslage der ostdeutschen Haushalte sogar verschlechtert. Tabelle 3 zeigt, wie im Februar/März 1991 945 von Mitarbeitern des ehemaligen Instituts für Soziologie und Sozialpolitik (ISS) befragte Brandenburgerinnen, darunter 85 Rentnerinnen, ihre Situation reflektierten.
Eine Wiederholungsuntersuchung im September/Oktober 1991, also zu einem Zeitpunkt, als die Höhe der neuen Mieten und Betriebskosten bereits bekannt war, ließ die Zahl derjenigen, die ihr Haushaltseinkommen als nicht ausreichend empfanden, weiter ansteigen; bei den 50-bis 59jübrigen und den über 70jährigen Frauen war es jede zweite. Inwieweit die Renten, die etwa die Hälfte der vergleichbaren Renten in den alten Bundesländern ausmachen (auch unter Berücksichtigung des Wohngeldes), künftig ausreichen werden, um unabhängig und in einem angemessenen Wohnraum lebend soziale Kontakte knüpfen bzw. aufrechterhalten zu können sowie Altersarmut zu verhindern, bleibt abzuwarten.
Das „Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten-und Unfallversicherung“ (Rentenüberleitungsgesetz/RÜG) wird dazu nur bedingt beitragen. Einerseits enthält es eine Reihe von äußerst positiven und fairen Regelungen, wie die faktische Mindestsicherung von 600 DM für Renten in den neuen Bundesländern, die beispielhaft für alle Länder wirken könnte, den Vertrauens-und Bestandsschutz sowie die Weitergewährung des Sozialzuschlags als Mindestsicherung bis Ende 1996 oder die Anwendung des Hinterbliebenenrechts. Dadurch werden etwa 25 Prozent der Rentnerinnen künftig eine höhere Rente bekommen und rund 150000 Frauen einen neuen Anspruch auf Witwenrente erhalten. Andererseits benachteiligt die nunmehr auch für den Osten geltende „lineare Beziehung zwischen der Zahl der Versicherungsjahre, der relativen Höhe des Ein-kommens und der sich daraus ergebenen Renten-höhe“ vor allem jene, die auf ihren Rentenanspruch keinen oder nur noch einen geringen Einfluß nehmen können. Das betrifft aktuell die Altrentnerlnnen und künftig z. B. die 1, 2 Millionen Arbeitslosen (April 1992), deren Durchschnittseinkommen 1991 etwa 730 DM betrug die rund 466000 Kurzarbeiter und die 780000 Personen, die (ebenfalls im April 1992) Vorruhestandsregelungen in Anspruch nehmen (mußten). Nach dem Wegfall des sogenannten Vertrauensschutzes wird den Frauen nur noch alternativ die Kindererziehungszeit oder die Berufstätigkeit angerechnet werden. Dadurch wird sich die bereits heute beträchtliche Differenz zwischen Frauen-und Männerrenten weiter erhöhen und die Altersarmut für viele Frauen vorprogrammiert.
Durch den Artikel 3 des RÜG wurde eine Art politisches Strafrecht in die Rentenversicherung eingeführt, mit dem „staats-oder systemnahe“ Personen, vor allem höhere/leitende Funktionäre getroffen werden sollen. Da nach dem Willen des Gesetzgebers eine Funktion dann als leitend gilt, wenn das Arbeitseinkommen das l, 4fache des jeweiligen Durchschnittseinkommens übersteigt, werden dadurch aber z. B. auch Angehörige der Intelligenz betroffen, die der SED und dem Regime ablehnend und kritisch gegenüberstanden. So paradox es erscheinen mag: würde Robert Havemann heute noch leben, hätte er ebenfalls mit einer Kürzung seiner Rentenbezüge bzw. vorerst zumindest nicht mit einer Erhöhung zu rechnen.
2. Wohnbedingungen älterer Menschen
Das Wohnen gewinnt im Alter eine besondere Bedeutung. Die tägliche Aufenthaltszeit in der Wohnung erhöht sich und ein Großteil der Lebensäußerungen, aber auch Betreuung und Pflege werden in diesem Bereich vollzogen. Die Wohnverhältnisse entscheiden bei nachlassender Gesundheit mit darüber, ob die älteren Menschen weiterhin selbständig ihren Haushalt führen können oder ob und welche Formen der sozialen bzw. pflegerischen Betreuung in Anspruch genommen werden müssen. Wohnzufriedenheit im Alter wird weniger durch die Größe der Wohnung als vielmehr durch Wohnkomfort und Ausstattung bestimmt. Um die im Osten so notwendigen Reparaturen, Sanierungs-und Modernisierungsarbeiten bezahlen zu können, ist es erforderlich, die Mieten zu erhöhen. Sie werden jetzt erhöht. Hingegen lassen Sanierung und Modernisierung auf sich warten und sind für die älteren Menschen vielleicht nicht mehr erlebbar. Dabei ist die Verbesserung der Wohnsituation eine wichtige und drängende Aufgabe der Altenhilfe; zwei Drittel der Rentnerwohnungen in den neuen Ländern sind alles andere als altengerecht: Rund 600000 Rentnerhaushalte leben hier in Wohnungen ohne Bad und Innen-WC, 1, 9 Mio. (36 Prozent) in modern ausgestatteten Wohnungen
In der ehemaligen DDR sind daher viele jüngere, lebensaktive Rentnerlnnen aufgrund schlechter Wohnverhältnisse in die Feierabend-und Pflegeheime gezogen, zumal dort das Leben billiger, weil hoch subventioniert, als im eigenen Haushalt war. Die Kosten betrugen bis Juni 1990 monatlich 105 M (Feierabendheimplatz) bzw. 120 M (Pflegeheimplatz). Von Juli bis Dezember 1990 waren 300 DM bzw. 335 DM zu bezahlen, in den folgenden sechs Monaten -je nach neuem Bundesland -zwischen 364 DM und 395 DM. Seit Juli 1991 kostet ein Platz 1800 DM im Monat, und es werden -wie im Westen, wo die Pflegesätze noch höher sind -das Vermögen der Heimbewohner sowie unterhaltspflichtige Angehörige zur Finanzierung herangezogen. Das heißt, in einem guten Jahr stiegen die monatlichen Heimkosten um das 15-bis 17fache. Dabei sind die Heime vielerorts weder attraktiver noch Betreuung oder Pflege besser geworden. Berücksichtigt man Renteneinkommen und Sparguthaben der Heimbewohnerinnen in den neuen Ländern, muß davon ausgegangen werden, daß binnen Jahresfrist nahezu alle Sozialhilfe beantragen müssen.
Zur Verbesserung der Situation haben die Politiker jedoch deutliche Zeichen gesetzt: -Im Haushaltsjahr 1990 wurden im Rahmen des Soforthilfeprogramms der Bundesregierung für das Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern rund 150 Mio. DM für Altenhilfeeinrichtungen bereitgestellt, davon 20 Mio. DM für die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege zum Aufbau ambulanter Dienste. -Das Ministerium für Familie und Senioren hat in seinem ersten Haushaltsplan 40 Mio. DM für Soforthilfeprojekte in den neuen Ländern zur Verfügung gestellt, die für Investitionen in Alten-und Behindertenheimen sowie für den Aufbau von Sozialstationen benutzt werden sollen. Für diesen Zweck können auch die Mittel des Kommunalinvestitionsprogramms im Rahmen des Gemeinschaftswerks „Aufschwung Ost“ genutzt werden, wobei die Auswahl der Investitionen den Gemeinden/Kreisen obliegt. Allerdings erfolgte die Inanspruchnahme der Mittel in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Obwohl den Kommunen empfohlen wurde, die Gelder bevorzugt für Einrichtungen der Altenbetreuung einzusetzen, kamen sie ihrer Verantwortung für das soziale Netz nur sehr schleppend nach; von den Mitteln des Programms „Aufschwung Ost“ sind im ersten Jahr nur fünf bis acht Prozent in Alteneinrichtungen geflossen. 3. Verjüngung des Alters und Vorverlegung der Berufsaustrittszeit Die Verjüngung des Alters im Sinne einer Vorverlagerung der nach traditionellen Vorstellungen eher für das Alter typischen Situationen und Problemlagen (früherer Eintritt in die Phase der nach-elterlichen Gefährtenschaft und Vorverlegung des Berufsaustrittsalters) trat in der ehemaligen DDR nahezu ausschließlich in Form des früheren Abschlusses der Familienphase auf. Typisch war, daß ca. 90 Prozent aller Frauen zumindest ein Kind zur Welt brachten, in den letzten Jahren zunehmend bevor sie das 25. Lebensjahr vollendet hatten, und daß lediglich neun Prozent aller Frauen im Alter von über 30 Jahren (weitere) Kinder bekamen. Dieser frühe Geburtengipfel war darauf zurückzuführen, daß wesentliche soziale Aktivitäten wie Berufsausbildung, Einstieg in den Erwerbsprozeß, Haushalts-und Familiengründung nicht zeitlich nacheinander, sondern nebeneinander vollzogen wurden. DDR-Bürgerinnen gingen unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen in ihrer eigenen Lebensplanung tatsächlich vom gesellschaftlich propagierten Modell der Vereinbarkeit von Beruf, Partner-und Elternschaft aus Dadurch waren die Großeltern mehrheitlich erst zwischen 40 und 50 Jahre alt, erwerbstätig und kümmerten sich gleichermaßen um Kinder, Enkelkinder, die eigenen Eltern und z. T. Großeltern.
Eine Vorverlegung der durchschnittlichen Berufsaustrittszeit (Amtsdeutsch: „Entberuflichung des Alters“) brachte erst die sich mit der Währungsund Wirtschaftsunion und dem osteuropäischen Zusammenbruch beschleunigende Talfahrt der Wirtschaft. So entstand im Februar 1990 die erste Vorruhestandsregelung der DDR als eine spezifische Form der Arbeitslosenunterstützung. Danach erhielten die Betroffenen zunächst 70 Prozent desNettogehaltes und durften Nebenverdienste bis 400 Mark haben. Auf der Grundlage des Einigungsvertrages trat an diese Stelle das Altersübergangsgeld. Es wird ab 55 Jahre bis zum frühestmöglichen Bezug der Altersrente gezahlt und beträgt 65 Prozent des Nettogehaltes, wobei 120 DM pro Monat hinzuverdient werden dürfen. Im März 1992 nahmen ca. 779000 Männer und Frauen die Vorruhestandsregelung in Anspruch, über eine viertel Million mehr als im Juli 1991.
Anzumerken ist, daß es auch in der ehemaligen DDR einen Trend der rückläufigen Erwerbstätigkeit im Rentenalter gab. 1989 arbeiteten 10, 5 Prozent aller Altersrentnerlnnen, gegenüber 1 Prozent 1975 und 22, 7 Prozent im Jahr 1972. Der Unterschied zur Bundesrepublik bestand jedoch vor allem darin, daß die Berufsaufgabe nahezu ausschließlich aus privaten Motiven heraus erfolgte (gesundheitliche Gründe, Haushalt, Partnerschaft, Freizeitinteressen) und nicht auf arbeitsmarktbedingte und wirtschaftsstrukturelle Trends, betriebliche Interessen, Modemisierungsstrategien u. ä. zurückzuführen war 18. Trotz dieses Rückgangs waren Ende der achtziger Jahre in der DDR weit mehr Rentenbezieherlnnen als in den alten Bundesländern erwerbstätig, wobei sich die Berufstätigkeit auf die ersten fünf Jahre des Rentenalters konzentrierte; rund 40 Prozent der Frauen im Alter von 60 bis 65 Jahren und rund 30 Prozent der Männer in den Altersgruppen 65 bis 70 waren erwerbstätig Dem stehen in der früheren Bundesrepublik 25 Prozent Haupterwerbstätige im Alter von 60 bis 64 Jahren, fünf Prozent der 65-bis 69jährigen und ein Prozent der über 70jährigen gegenüber
Neben dem Wunsch, das Renteneinkommen aufzubessern, waren in der DDR vor allem die Befriedigung in der Arbeit, das Gefühl der Nützlichkeit und des Gebrauchtwerdens sowie die sozialen und kommunikativen Beziehungen im Arbeitsprozeß die Hauptmotive, um im Rentenalter weiter zu arbeiten. Arbeit nahm im Leben des einzelnen einen zentralen Stellenwert ein und wurde von den Älteren vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung als besonders wichtiger Wert betrachtet Die hohe Unzufriedenheit, die aus dem Verlust des Arbeitsplatzes bzw.der fehlenden Möglichkeit weiterer Erwerbstätigkeit bei den über 55jährigen resultiert, kann nur vor dem Hintergrund einer um Arbeit zentrierten Lebenswelt erklärt werden und einer Lebensplanung, in der Arbeitslosigkeit faktisch nicht vorkam.
Eine bedeutsame Rolle spielt aber auch der Wegfall von sozialen Funktionen und Versorgungsaufgaben, die von Betrieben, Genossenschaften, Institutionen u. a. wahrgenommen wurden und für die es nach dem Zusammenbruch oder der Abwicklung (noch) keine Entsprechungen gibt. So wurde die medizinische Betreuung, die Renovierung von Wohnungen, die Teilnahme am Betriebs-essen, die Versorgung mit Urlaubsplätzen und prophylaktischen Kuren von den Betrieben auch für die ehemaligen älteren Mitarbeiterinnen gewährleistet; Sportvereine, Kulturgruppen, Chöre u. a. waren an Betriebe gekoppelt, mitunter dominierten Großbetriebe das gesamte kommunale Leben der Region. 4. Familienbeziehungen und Erwartungshaltungen gegenüber Familie und Staat Die Wandlungen in den Lebensmodellen von Familien (mehr Zweit-und Drittehen, Zunahme der Lebensgemeinschaften, Ein-Eltern-Familien, Abnahme der verheirateten Bevölkerung zugunsten der Ledigen und Geschiedenen), die Abwanderung der jüngeren Bevölkerung in die alten Bundesländer u. a. m.determinieren neue Formen des Miteinanders der Generationen und Familien. Die Strukturveränderungen des Zusammenlebens führen zu Wandlungen im Verhältnis zwischen den Generationen im Familienverband und möglicherweise dazu, daß vermehrt familiäre Leistungen auf außerfamiliäre Betreuungsformen einschließlich intermediärer Organisationen übertragen werden müssen.
Derzeitig haben die älteren Menschen gegenüber ihrer Familie nach wie vor eine große Erwartungshaltung bei gegebenenfalls notwendig werdender Hilfeleistung und Unterstützung. Sofern sie in materielle Not gerieten, würden sich, nach der o. g. Untersuchung des ISS, 80 Prozent an ihre Kinder wenden, an zweiter Stelle folgen andere Verwandte. Erst dann würde man an das Sozialamt herantreten, an Freunde und Bekannte, kaum an kirchliche Sozialdienste, an freie Wohlfahrtsverbände oder Selbsthilfegruppen. Gewiß werden Jahre vergehen, bis die in den alten Ländern in Jahrzehnten herausgebildete wohlfahrtsstaatliche bzw. Verbandsstruktur von den Menschen im Osten Deutschlands angenommen und verinnerlicht wird.
Aufgrund der anderen historischen Entwicklung und sozialen Erfahrung erwarten die ehemaligen DDR-Bürgerinnen vor allem auch Hilfe und Unterstützung vom Staat (vgl. Tabelle 4). Es wird deutlich, daß insbesondere die Älteren von der Verantwortung des Staates für die soziale Sicherheit ausgehen; drei Viertel der über 60jübrigen sind der Meinung, daß dem Bürger zuviel eigene Verantwortung zugemutet wird, 40 Prozent der über 60jährigen finden das derzeitige System der sozialen Sicherheit im großen und ganzen richtig. Die relativ häufig gewählte Antwort „ich weiß nicht“ und der verhältnismäßig hohe Anteil derjenigen, die nicht alle Fragen beantwortet haben, verweist darauf, daß zwei Jahre nach der Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion noch große Unsicherheiten bei der Beurteilung des neuen sozialen Sicherungssystems existieren (vgl. Tabelle 4).
5. Institutioneile Aspekte des Transformationsprozesses
Das soziale Versorgungssystem der ehemaligen DDR wurde im Zuge des staatlichen Vereinigungsprozesses fast vollständig aufgelöst, der Insti-tutionalisierungsprozeß des neuen Systems ist -unter maßgeblicher Beteiligung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege -in vollem Gange.
Trotz personeller Unterstützung durch westdeutsche Kommunen, Weiterbildungsmaßnahmen (z. B. durch den Verein für öffentliche und private Fürsorge) und trotz des Organisationsexports durch die Wohlfahrtsverbände bleibt noch ein langer Weg, bis in den neuen Ländern die institutioneilen Voraussetzungen sozialer Sicherheit, insbesondere ein effektiver und leistungsfähiger öffentlicher Dienst, existieren werden. Die derzeitige Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß es den für die Altenbetreuung zuständigen Verwaltungen im Osten Deutschlands trotz hohen Engagements der Mitarbeiter an qualifiziertem Personal, mitunter an Geld, vielfach aber an dem „Know-how“, dieses im Interesse der Bürger in betreuungswirksame Leistungen umzusetzen, mangelt. Die kommunalen Sozialverwaltungen befinden sich z. T. immer noch im Aufbau, wobei die vorhandenen Mitarbeiter vor allem zur Durchführung des Bundessozialhilfegesetzes eingesetzt werden. Zugleich sind sie durch den inneradministrativen Aufbau und die Qualifizierungsprozesse gebunden. Die Dynamik des sozialen Wandels bringt es mit sich, daß keine hinreichende Weiterbildung, sondern daß vielfach nur Kurzeinführungen in relevante Sozialgesetze stattfinden.
Informations-und Beratungsangebote sind vielerorts nur in Form von Informationsschriften über soziale Leistungen, Zuständigkeiten, Dienste und Einrichtungen vorhanden, die zudem nicht immer flächendeckend verteilt werden. Diese Art von Information und Beratung erweist sich als unzureichend, da sie die alten und insbesondere pflegebedürftigen Menschen, die an ihre Wohnung gebunden sind, oftmals nicht erreichen und eine den individuellen Problemkonstellationen angemessene soziale Beratung nicht ersetzen können Die Mehrheit der Bevölkerung in den neuen Ländern ist über die gesetzlichen Bestimmungen für die Gewährung unterschiedlicher Sozialleistungen unvollkommen, lückenhaft und völlig unzureichend informiert. Die erforderlichen Behördenwege, die Vorschriften der Antragstellung werden von den meisten als zu bürokratisch, zu kompliziert, zu schwerfällig, auch als demütigend (25 Prozent) beurteilt. Nur in jedem vierten Haushalt existieren entsprechende Kenntnisse, die von den Betreffenden selbst als ausreichend empfunden werden
Ein Prüfstein für die Effektivität der neuen Institutionen und Ämter sowie für die erreichte Bürger-nähe ist der Wegfall der ehemaligen Pflegegelder zum Jahresende 1991. Über 505000 bisherige Bezieher von Pflegegeldem, Sonderpflegegeld und Blindengeld mußten die Leistungen neu beantragen, da am 1. Januar 1992 ein Trägerwechsel stattfand. Da zugleich auch die Kriterien, die im Osten bisher für den Erhalt dieser Gelder galten, wegfallen, sind neue Wege, Konsultationen und Antrags-gesuche erforderlich.
Eine nachweisliche quantitative und qualitative Angebotsverbesserung in der Betreuung bringen die rund 850 Sozialstationen, die in den vergangenen Monaten durch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in den neuen Ländern eingerichtet worden sind und deren Zahl noch in diesem Jahr auf etwa 1000 ansteigen wird. Durch diese Einrichtungen könnte die ambulante Versorgung bereits annähernd so dicht wie in den alten Ländern sein. Auch die technische Ausstattung vieler Sozialstationen ist mittlerweile gut. Im vergangenen Herbst wurden die letzten 40 von 240 Ambulanzwagen aus der Herrhausen-Stiftung übergeben Mit der bis Ende 1992 verlängerten Sonderregelung bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) können Projekte in Altenpflege-und Behinderteneinrichtungen sowie Sozialstationen personell und technisch besser ausgestattet werden. Überlegenswert ist jedoch, wie der Wegfall von ehemals DDR-typischen Betreuungsformen (z. B. Spezialambulanzen bzw. Abteilungen in Polikliniken für die Dispensairebetreuung von Diabetikern), für die es (bis dato) keine Entsprechung gibt, kompensiert werden kann.
Zur besseren Integration und Betreuung älterer Menschen tragen ferner private Investoren, Senioren-Organisationen und Selbsthilfegruppen bei; Organisationsformen, die es in der ehemaligen DDR nicht gab.
IV. Subjektive Reflexionen des Systemwandels
Abbildung 21
Tabelle 4: Meinungen über die Zuständigkeit/Verantwortlichkeit für die soziale Absicherung Quelle: ISS, Datensatz "Frauenreport Brandenburg ´91" (September/Oktober 1991)
Tabelle 4: Meinungen über die Zuständigkeit/Verantwortlichkeit für die soziale Absicherung Quelle: ISS, Datensatz "Frauenreport Brandenburg ´91" (September/Oktober 1991)
Die für die ostdeutschen Bürgerinnen neuen bzw. anderen sozialen Problemlagen finden ihren Niederschlag in den subjektiven Bewertungen und reflektieren sich auch in Haltungen, Hoffnungen, Sorgen und Ängsten. So ist es nicht verwunderlich, daß das Niveau der Zufriedenheitsbewertungen einzelner Lebensbereiche oder des Lebens im allgemeinen in Ostdeutschland „in geradezu dramatischem Ausmaß in einem negativen Sinne beeindruckend ist. Die Bewertungen der neuen Bundesbürgerinnen liegen nicht nur in praktisch allen Bereichen unter dem westlichen Niveau. Eine sozialstrukturelle, differenzierte Betrachtung einzel-ner Soziallagen zeigt vielmehr, daß im Osten die Werte selbst hochrangiger Berufsgruppen im Westen lediglich von typischen Problemgruppen, wie den Arbeitslosen, erreicht werden und Veränderungen innerhalb eines Jahres deuten sogar in Richtung noch zunehmender Unzufriedenheiten.“ Vergleicht man die Altersstruktur der Lebensunzufriedenen anhand der beiden empirischen Studien „Leben DDR ’ 90“ und „Leben Ostdeutschland ’ 91“ (vgl. Tabelle 5), so zeigt sich sehr deutlich, wer die „Verlierer“ der Einheit sind Es sind die Älteren, die sehr stark von der Arbeitslosigkeit betroffen sind und durch die Vorruhestandsregelungen nicht mehr aktiv an der Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens teilhaben können. Dies wirkt sich auf die Hoffnungen und Befürchtungen aus, wobei die in ihrer Dynamik und ihrem Um fang einmalige Veränderung der äußeren Lebens-umstände neue Denk-und Verhaltensmuster der älteren Menschen hervorbringt. Statt „Orientierungslosigkeit“, „Enttäuschung“ und „Resignation“ ist ein zunehmend realistischer Anpassungsprozeß der Ostdeutschen an die gesamtdeutsche soziale Wirklichkeit zu konstatieren (vgl. Tabelle 6). Auf Grund der eigenen sozialen Erfahrung relativieren sich für die neuen Bundesbürgerinnen sowohl Hoffnungen als auch Befürchtungen. Nach ihren Sorgen und Ängsten befragt, dominieren bei den über 60jährigen Ängste vor Aggressivität, Gewalt und Kriminalität sowie -zweitens -vor Rechtsradikalismus; Ängste, die in der Vergangenheit nicht auftraten. An dritter Stelle steht die Angst, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, gefolgt von den Ängsten vor Preiserhöhungen und vor Verschlechterung der weltpolitischen Lage, von Sorge um die finanziellen Verhältnisse, Mieterhöhungen/Wohnungsräumung sowie -bei den über 70jährigen Frauen -von der Angst vor dem Alleinsein, vor der Einsamkeit. Keine Sorgen und Probleme haben nur rund sechs Prozent der Rentnerlnnen. Vergleicht man dieses Ergebnis mit Befragungsergebnissen des Instituts für Soziologie und Sozialpo-litik 1987/1988 so hat sich die Zahl derjenigen, die Sorgen und Probleme haben, seitdem verfünffacht. Hervorhebenswert ist aber, daß die Lebensorientierungen der älteren Menschen nicht auf die unmittelbaren Bedürfnisse (Gesundheit, Sicherheit vor Kriminalität/Gewalt, soziale Sicherheit, gute Wohnbedingungen, Einkommen u. a.) beschränkt bleiben, sondern sich auch auf andere Bereiche (Demokratie/Mitbestimmung, Umwelt u. a.) erstrecken. So vertreten beispielsweise zwei Drittel der älteren Frauen die Auffassung, daß die Durchsetzung weiblicher Interessen, notwendig ist. Nahezu jede zehnte Frau über 60 wäre ferner bereit, in einer entsprechenden Organisation mitzuarbeiten, wenn man an sie herantreten würde. Unter gewissen Bedingungen würden weitere 24 Prozent der 60-bis 64jährigen, 21 Prozent der über 65-bis 69jährigen und 22 Prozent der über 70jährigen mitarbeiten.
V. Resümee und künftige Aufgaben
Abbildung 22
Tabelle 5: Lebenszufriedenheit nach Altersgruppen (in Prozent) Quelle: ISS, Datensatz "Frauenreport Brandenburg ´91"
Tabelle 5: Lebenszufriedenheit nach Altersgruppen (in Prozent) Quelle: ISS, Datensatz "Frauenreport Brandenburg ´91"
1. Zwei Jahre Sozialunion belegen, daß durch die Auflösung des ehemals zentralistischen Versorgungs-und Betreuungssystems der DDR und die Einführung der rechtlichen Regelungen und institutionellen Formen des (alt-) bundesdeutschen Versorgungsmodells vielfältige Möglichkeiten und Bedingungen zur Verbesserung der Lebenslagen älterer Menschen und für die eigenverantwortliche Gestaltung ihres Lebens geschaffen worden sind. Dabei zeigt sich, daß einzelne Elemente der sozialen Lage -z. B. die Wohnverhältnisse (Verbesserung der Wohnungsausstattung und des Wohnkomforts), die gesundheitliche und soziale Betreuung (Beseitigung von Versorgungsdefiziten) sowie die kulturellen und politischen Verhältnisse-durch sozialpolitische Interventionen (Soforthilfeprogramme, personelle Unterstützung durch westdeutsche Kommunen, Wohlfahrtsverbände, Seniorenorganisationen, Kultur-und Bildungsträger, Einführung bisher unbekannter Formen selbstbestimmter und selbstverwalteter Dienste, künstlerisch-kultureller Angebote und Formen der demokratischen Mitbestimmung und politischer Interessenvertretung) u. a. verhältnismäßig schnell angeglichen werden können.
In den vergangenen zwei Jahren hat sich aber -z. B. am Trend zum „frühen Ruhestand“ -auch gezeigt, daß es gesellschaftliche systemimmanente Sachverhalte und Zusammenhänge gibt, die sich nicht ohne weiteres durch staatliche Wirtschaftsund Sozialpolitik bzw. durch individuelles und kollektives Handeln gestalten lassen. Wie kompliziert und z. T. unmöglich es ist, geplante Wirkungen durch politische Eingriffe zu initiieren und markt-ideologische Barrieren zu beseitigen, zeigt der Versuch, die Wirtschaftsentwicklung in den neuen Ländern anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit einzudämmen. Offensichtlich ist die Angleichung der Lebensverhältnisse durch selbstheilende Marktkräfte und die Anwendung von ehemals in Strukturkrisen bewährten Instrumenten der Wirtschaftspolitik nicht zu erreichen. Dies ist zunächst einmal kein Grund, um zu resignieren, relativiert aber die Erwartungshaltung betreffs realer Interventionsmöglichkeiten bei noch so bedeutsamen Gestaltungserfordernissen und weitet den Blick für neue Aufgaben und Möglichkeiten einer gesellschaftsbzw. strukturverändernden Sozialpolitik. 2. Die Vereinigung Deutschlands bietet die historische Chance zu einer umfassenden Sozialreform, durch die für alle Bürger des neuen Gesamtdeutsch-land ein höheres Niveau an Sozialstaatlichkeit und sozialer Sicherheit realisiert werden könnte. Aufgrund der anderen Ausgangsbedingungen und Problemlagen in den neuen Bundesländern ergeben sich hier zwar spezifische Aufgaben der Altenpolitik, aber auch in den alten Ländern stehen strukturelle Reformen und Reorganisationen des Sozialstaates an. Ihre Notwendigkeit resultiert aus dem dort ebenfalls reichlich vorhandenen Handlungsbedarf, aus Problemen und Mängeln die zudem mit der Übertragung der (alt-) bundesdeutschen Strukturen sozialer Sicherung auf die neuen Bundesländer transferiert werden sowie aus den absehbaren Veränderungen, die im Altersstrukturwandel begründet liegen. Schließlich werden mit der deutsch-deutschen Transformation Erfahrungen zu sammeln sein, die für die Anpassung sozialer Sicherungssysteme im Rahmen der Europäischen Union Modellcharakter tragen könnten, weil -langfristig betrachtet -zu den unterschiedlichen Systemen in Nord-, West-und Südeuropa soziale Modelle aus osteuropäischen Ländern hinzukommen werden. All dies erfordert eine Politik, die -mit Blick auf Europa und angesichts der zunehmend mobilen Armut in der Welt -über Grenzen hinweg neue Maßstäbe setzt, Zeithorizonte und langfristige Perspektiven entwickelt.
Klaus-Peter Schwitzer, Dr. sc. phil., geb. 1946; bis zur Abwicklung des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR Forschungsgruppenleiter; seit Januar 1992 Beschäftigung im Rahmen des Wissenschaftler-Integrations-Programms (WIP) in den neuen Ländern. -Veröffentlichungen u. a.: (Mitautor:) Lexikon der Sozialpolitik, Berlin 1987; Sozialpolitik im Betrieb, Berlin 1988; Sozialreport '90, Berlin -Bonn 1990; Aiding and Aging, New York -Westport -London 1990; (Hrsg, und Mitautor:) Altenreport '90, in: Blätter der Wohlfahrtspflege (Sonderausgabe), 137 (1990) 10/11.
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