Schweden. Kontinuität und Wandel einer postindustriellen Gesellschaft
Detlef Jahn
/ 35 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Der Begriff des „schwedischen Modells“ steht für eine ausgewogene, kompromißorientierte Politik und für eine umfangreiche wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik. Dieses Modell wird jedoch gegenwärtig durch endogene und exogene Entwicklungen ausgehöhlt. Einerseits steht der schwedische Wohlfahrtsstaat zunehmend in der Kritik, da er die gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht zu lösen vermag und weil die Bürokratisierung und Zentralisierung zur Ineffizienz wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaftssteuerung zu führen scheint. Andererseits gibt es fundamentale Veränderungen der repräsentativen Demokratie: Interessenverbände und Parteien verlieren an politischer Legitimität und können sich immer weniger auf die Folgebereitschaft ihrer Mitglieder und Wähler verlassen. Die Schlußfolgerung besteht darin, daß Schweden nicht mehr wie früher als Paradebeispiel für kompromißorientierte Vereinbarungen von Kapital und Arbeit dienen kann.
Schweden, bevölkerungsmäßig mit 8, 4 Mio. Einwohnern kleiner als Baden-Württemberg, aber flächenmäßig fast doppelt so groß wie die alte Bundesrepublik, gilt als ein Land, das in vielen Bereichen eine beispielhafte Entwicklung durchlaufen hat Der schwedische Wohlfahrtsstaat steht exemplarisch für eine gerechte, sozialstaatliche Gesellschaft Mit dem Begriff des „schwedischen Modells“ werden gesellschaftliche Entscheidungsprozesse beschrieben, die durch Verhandlung und Konsens charakterisiert sind. Die davon ausgehende Zusammenarbeit von Arbeitgebern, Gewerkschaften und staatlicher Verwaltung gilt als vorbildlich, so daß Schweden als eine typische neokorporatistische Gesellschaft anzusehen ist. All diese Aspekte der schwedischen Politik, die auf Stabilität hindeuten, können jedoch zu einem allgemeinen Modell der Entwicklung von modernen westlichen Gesellschaften relativiert werden: dem der postindustriellen Gesellschaft
Die Besonderheit einer solchen Gesellschaft besteht vor allem in der Ausdehnung des Dienstleistungssektors. Diese Entwicklung hat spezifische soziokulturelle Veränderungen zur Folge, die zur Aufwertung von Themen wie der Umweltproblematik führen sowie ein kritisches Hinterfragen von Bürokratisierung und wirtschaftlichem Wachstum fördern. Des weiteren implizieren sie eine Erosion der etablierten Interessenvermittlung. Jedoch berühren auch die jüngsten europäischen Ereignisse die schwedische Außenpolitik in besonderem Maße, da durch die Auflösung des Ostblocks die schwedische Neutralitätspolitik obsolet erscheint. Um jedoch zunächst die spezifischen Charakteristika der schwedischen Gesellschaft darzustellen, soll das „Modell Schweden“ in seinen Grundzügen beschrieben werden.
I. Entstehung und Entwicklung des schwedischen Modells
1. Die Grundstruktur des schwedischen Modells
Der Begriff des schwedischen Modells ist weder präzise definiert, noch scheint er auf die heutigen Bedingungen anwendbar Jedoch kann dieser Begriff als eine Grundlage dienen, um die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte einzuschätzen.
Wenngleich die Arbeitgeber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zentrale Verhandlungen forcierten, hat das schwedische Modell seinen Ursprung in dem Abkommen von Saltsjöbaden (1938), einem Seebad in der Nähe von Stockholm. In ihm verpflichteten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften, ihre Interessenkonflikte ohne staatliche Intervention autonom zu lösen. Hierzu wurde ein ausführliches Regelsystem formuliert. Aus diesem Abkommen hat sich eine Machtkonzentration zwischen den Dachverbänden von Arbeitgebern (SAP) und Arbeitergewerkschaften (LO) entwikkelt. Auf der Grundlage dieser Zentralverhandlungen war es vor allem in den sechziger und siebziger Jahren möglich, die Konzepte der gewerkschaftlichen Vollbeschäftigungspolitik -das sogenannte Rehn/Meidner-Modell (benannt nach deren Erfindern), das aus der Abstimmung einer restriktiven Nachfragepolitik, einer solidarischen Lohnpolitik und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik besteht -durchzusetzen. Das Abkommen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in den dreißiger Jahren ist als ein über den Tarifbereich hinausgehender Kompromiß der beiden bedeutendsten Gruppen der Industriegesellschaft interpretiert worden. Der Soziologe Walter Korpi spricht von einem historischen Kompromiß in dem das Kapital die umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Reformen einer sozialdemokratischen Regierung zuläßt. Auf der anderen Seite sieht die Arbeiterbewegung davon ab, die Privatwirtschaft zu sozialisieren. Der Kompromiß basiert auf dem gemeinsamen Interesse der beiden Gruppen, durch effiziente Produktion, industrielle Entwicklung und konkurrenzfähige Exportindustrie die Wohlfahrt des Landes zu steigern.
Der historische Kompromiß steht in Einklang mit der schwedischen politischen Kultur und dem politischen Entscheidungsstil. Dieser ist gekennzeichnet durch ein Streben nach politischen Kompromissen und konfliktloser Verhandlung. Der wesentliche Aspekt dieses Verfahrens besteht in der Einbeziehung möglichst aller gesellschaftlichen Gruppen, die von einer Entscheidung betroffen sind. Diese Prozesse sind stark geprägt von Beratungen durch Experten sowie von zentraler Verhandlung und beruhen auf der Überzeugung, daß soziale Probleme durch kollektive Anstrengungen und staatlich-administrative Lösungen gemeistert werden können Da dieses Verfahren ressourcen-intensiv ist, führt es dazu, daß sich die Interessen in Schweden organisieren. So stehen sich bei den Verhandlungen die öffentlichen Verwaltungen und die verschiedenen Interessenorganisationen, von denen die Arbeitgeber-und Arbeitnehmerorganisationen einen besonderen Stellenwert haben, gegenüber
Die Blütezeit des schwedischen Modells reichte von den vierziger bis zum Beginn der siebziger Jahre. Diese Zeit fällt zusammen mit der ununterbrochenen Regierungszeit der Sozialdemokratischen Partei. Ein wesentliches Moment des schwedischen Modells ist die umfassende Sozial-und Wohlfahrtspolitik, die vornehmlich auf staatlichen Aktivitäten beruht Private und kirchliche Wohffahrtsmaßnahmen sind in Schweden eher bedeutungslos. Dabei spielt der Solidaritätsgedanke -eine gerechte gesellschaftliche Umverteilung von materiellen Ressourcen -eine hervorstechende Rolle.
Jeweils für sich betrachtet sind die einzelnen Zweige der schwedischen Sozialpolitik nicht sehr verschieden von denen in anderen europäischen Ländern. Zusammengenommen jedoch machen die Kranken-, Renten-und Arbeitsversicherung eine einzigartig umfassende Absicherung des Bürgers aus. Wesentliches Moment dieser Sozialpolitik ist die grundsätzliche Gewährung der Sozialleistungen aufgrund des Individualbedarfs. Das einzelne Gesellschaftsmitglied gilt als Bezugseinheit und läßt das Subsidiaritätsprinzip in den Hintergrund rücken. Jedoch zeichnen sich schon seit den sechziger Jahren Tendenzen ab, die die Stabilität des schwedischen Modells gefährden. 2. Veränderungen des schwedischen Modells
Die endogenen Erosionsfaktoren ergeben sich gerade aus dem effizienten Funktionieren der Grundmechanismen des schwedischen Modells Die hervorstechendsten Merkmale sind die Expansion des öffentlichen Sektors und die Zentralisierung der Entscheidungsprozesse.
Die Expansion des öffentlichen Sektors schritt in den sechziger und siebziger Jahren am stärksten voran. Er sichert einen großen Teil sozialer Dienstleistungen, die in anderen Ländern von anderen Trägern und der Familie erbracht werden müssen Die Expansion des Dienstleistungssektors hatte fundamentale Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zur Folge. Mehr als zwei Drittel der schwedischen Erwerbstätigen sind im Dienstleistungssektor und nur knapp 29 Prozent im industriellen Sektor beschäftigt. Die Frauenerwerbsquote lag 1990 bei 82, 6 Prozent, mit weiterhin steigender Tendenz. Die Erwerbs-quote der Männer hegt konstant bei 87 Prozent. Eng mit der Expansion des öffentlichen Sektors verbunden ist die Veränderung der Rolle der Frau. Ihre Integration in das Arbeits-und Wirtschaftsleben kann als „die unsichtbarste und dynamischste Komponente des schwedischen Modells“ interpretiert werden Jedoch sind die sich daraus ergebenen Forderungen nach gleichem Arbeitslohn, gleicher Arbeitszeit und gleichen Arbeitsbedingungen weniger erfolgreich verwirklicht worden.
Die Ausdehnung des Dienstleistungssektors führte zu einem hohen finanziellen Bedarf, der vornehmlich durch Steuern finanziert wurde. Seit Mitte der siebziger Jahre hat sich die wirtschaftliche Lage in Schweden jedoch zunehmend verschlechtert. Das Haushaltsdefizit erreichte die Rekordhöhe von Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) im Haushaltsjahr 1982/83. Es gelang der sozialdemo kratischen Regierung zwar, seit 1983/84 eine Wende einzuleiten, so daß das jährliche Defizit seitdem abgenommen hat und im Haushaltsjahr 1988/89 erstmals seit 1962 wieder ein Überschuß erreicht wurde. Allerdings wird die Anpassungsfähigkeit und Effektivität des Dienstleistungssektors bei zunehmender Größe geringer, so daß es komplizierter wird, politische Reformen durch einen Ausbau des öffentlichen Sektors zu realisieren.
Eine weitere Barriere für die Fortsetzung des schwedischen Modells besteht in der Reaktion der bürgerlichen Parteien auf die Reformoffensive der Sozialdemokraten zu Beginn der siebziger Jahre. Ein Beispiel hierfür stellen die Arbeitnehmerfonds dar, die sozialdemokratische Regierungen seit Mitte der siebziger Jahre aufgrund einer Initiative der Arbeitergewerkschaft LO einrichten wollen. Die Arbeitnehmerfonds sollen es den Arbeitnehmern ermöglichen, kollektiv (kontrolliert durch die Gewerkschaften) am Produktivkapital der Unternehmer beteiligt zu werden. In der Bevölkerung besteht verhaltene Skepsis gegenüber der Frage der Arbeitnehmer-fonds, selbst Anhänger der sozialdemokratischen Partei sprechen sich nicht vorbehaltlos für die Fonds aus 13. 1976 führte diese Frage mit dazu, daß die sozialdemokratische Regierung zum erstenmal nach 44 Jahren die Regierungsverantwortung verlor. Nach sechs Jahren der Opposition gelang es der neuen sozialdemokratischen Regierung 1982, diese Fonds in stark veränderter Form durchzusetzen. Die jüngst gewählte bürgerliche Regierung ist jedoch bestrebt, die Arbeitnehmerfonds wieder abzuschaffen.
Die Entwicklung des schwedischen Modells führte zur Zentralisierung der Entscheidungsprozesse, die mit steigender Bürokratisierung und Professionalisierung verbunden ist. Dies erschwert die Einflußnahme auf politische Entscheidungen. Außerdem führt die effektive Verbändepolitik zu einer Überbetonung von organisierten Sonderinteressen auf Kosten des Allgemeininteresses. Diese endogenen Veränderungstendenzen werden durch den Wandel der schwedischen Gesellschaft zunehmend prekär.
II. Gesellschaftlicher Wandel
Abbildung 4
Abbildung 2: Blockbildungen im schwedischen Parteiensystem Quelle: Vgl. Abbildung 1
Abbildung 2: Blockbildungen im schwedischen Parteiensystem Quelle: Vgl. Abbildung 1
Die Entwicklung Schwedens kann auf das engste mit der Entwicklung postindustrieller Gesellschaften in Verbindung gebracht werden, die durch sozialstrukturelle Veränderungen, wie einen Anstieg des Anteils von Angestellten und des Dienstleistungssektors sowie verbesserter Ausbildungsniveaus, charakterisiert sind. Der Zuwachs dieser „neuen Klasse“, die die postindustrielle Entwicklung forciert, ist in Schweden am deutlichsten von allen westlichen Gesellschaften feststellbar Neben diesen sozialstrukturellen Indikatoren wird die These der postindustriellen Gesellschaft durch einen Wertwandel -der die Betonung von neuen politischen Themen, wie die Umweltproblematik, und neue Formen politischer Partizipation fördert sowie eine Veränderung der Interessenvermittlung zur Folge hat -charakterisiert. Diese langfristigen Veränderungen werden durch aktuelle wirtschaftliche und internationale Entwicklungen momentan überlagert.
1. Wertwandel und Umweltpolitik
Der Wertwandel steht in engem Zusammenhang mit der Aufwertung von neuen Themen, wie beispielsweise der Umweltpolitik. Schon zu Beginn der sechziger Jahre begann in Schweden das Engagement für die Umwelt was sich auf politischer Ebene in der sogenannten „Quecksilberdebatte“ ausdrückte. Wenngleich diese erste Umweltdebatte hauptsächlich von Experten und Massenmedien geführt wurde, so schärfte sie doch das Umweltbewußtsein der schwedischen Bevölkerung.
Der schwedische Staat reagierte schnell. Die Verwaltung im Umweltschutzbereich wurde 1967 reformiert und zu einer Umweltschutzbehörde zusammengefaßt. 1968 verabschiedete der schwedische Reichstag ein Umweltschutzgesetz, das seinerzeit als vorbildlich galt. Schließlich verschaffte die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm im Jahr 1972 der Umweltproblematik weitere Aufmerksamkeit.
Ebenfalls in den sechziger Jahren begann die Kontroverse um den weiteren Ausbau der Wasser-kraft. Bisher unberührte Flüsse im Norden Schwedens sollten zur Energiegewinnung genutzt werden. Gegen dieses Projekt entstanden erste lokale Protestgruppen Mit dem Konflikt um die Wasserkraft wurde die Umweltproblematik mit der Zukunft der schwedischen Energiepolitik verbunden, und es deutete sich eine Neuordnung der parteipolitischen Konstellationen an. Der postindustrielle Gesellschaftskonflikt konkretisierte sich dann in aller Schärfe in der Diskussison über die Nutzung der Kernenergie Sie war (neben den Arbeitnehmerfonds) nicht nur ausschlaggebend für die erste Wahlniederlage der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) 1976, sondern führte 1978 auch zum Rücktritt einer bürgerlichen Regierung und 1980 zu einem Volksentscheid über Kernenergie. Zwar wurde der Kernenergiekonflikt durch das Referendum entschärft, jedoch nicht gelöst. In den folgenden Jahren erlangten andere Umweltthemen zunehmende Bedeutung, und die Reichstagswahl 1988 galt als „Umweltwahl“. Allerdings vermochte keine andere Frage die politischen Lager in Schweden in gleichem Maße zu spalten wie die der Kernenergie.
Die Diskussion um ökologische Probleme machte eine Veränderung in der Interessenvermittlung deutlich, die insbesondere auf den Charakter einer postindustriellen Gesellschaft hindeutet. 2. Veränderung der Interessenvermittlung Wie Daniel Bell (Anm. 3) darstellt, ist die Politik der postindustriellen Gesellschaft durch Information, abstrakte Konzepte und ein „Spiel zwischen Personen“ gekennzeichnet. Dies hat zur Folge, daß die Interessenvermittlung immer weniger an sozialstrukturelle Faktoren wie Schicht-oder Klassenzugehörigkeit gebunden werden kann. Neben fundamentalen Veränderungen für das Parteiensystem und das Wahlverhalten, auf die später noch eingegangen wird, hat die Auflösung sozialstrukturell bestimmter Bedürfnisartikulation Konsequenzen für den Inhalt und die Form der Interessenvermittlung. Soziale Probleme werden zunehmend sozial konstruiert. Was wie als Problem gilt, wird durch gesellschaftliche Definitionsprozesse festgelegt In diesem Prozeß erhalten die Massenmedien eine neue Rolle, die zunehmend in der schwedischen SozialWissenschaft diskutiert wird. Aber auch der veränderte Stellenwert der Interessenorganisationen ist von besonderer Bedeutung. a) Die Rolle der Massenmedien Von jeher haben die Massenmedien eine bedeutende Rolle in Schweden gespielt Pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, gehören die Zeitungsauflagen in Schweden zu den höchsten der Welt. Vier von fünf Erwachsenen lesen eine Morgenzeitung und ein Drittel liest die verschiedenen Abendzeitungen. Ein wesentliches Charakteristikum der schwedischen Zeitungslandschaft besteht darin, daß die Tageszeitungen den politischen Parteien zugeordnet werden können.
Die schwedischen SozialWissenschaftler Olof Petersson und Ingrid Carlberg geben den Massenmedien einen besonderen Status bei der Meinungsbildung der Bevölkerung. Sie sprechen sogar davon, daß die Massenmedien die „Macht über die Gedanken“ besitzen. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich der Kampf um die gesellschaftlich-politische Definitionsmacht in Schweden zunehmend verschärft
Obgleich es unbestreitbar ist, daß die Massenmedien eine steigende Bedeutung bei der Erlangung von Problemdefinitionen erhalten, ist doch der Einfluß der Parteien und Interessenorganisationen auf den Definitionsprozeß und vor allem auf die Implementation von Entscheidungen weiterhin groß. b) Die Rolle der Interessenorganisationen Wie schon aus der Beschreibung des schwedischen Modells deutlich wurde, spielen Interessenorganisationen in der schwedischen Politik eine bedeutende Rolle Dies ist auch unter dem Einfluß der Entwicklung zur postindustriellen Gesellschaft so geblieben, und manche Autoren vermuten, daß deren Einfluß auch weiterhin auf Kosten der politischen Parteien zunehmen wird Allerdings haben die Interessenorganisationen auf dem Gebiet der Definition von Themen Terrain verloren. Die Sozialwissenschaftlerin Michele Micheletti stellt in diesem Zusammenhang fest, daß die etablierten Interessenorganisationen zunehmend Schwierigkeiten haben, für bestimmte Interessen einzutreten Durch steigende Heterogenität der Mitglieder wird es schwerer, jene Solidarität und Folgebe reitschaft zu erhalten, die für eine funktionierende Interessenvertretung notwendig wäre. Dem steht jedoch gegenüber, daß in der Entscheidung und Implementation von politischen Fragen die etablierten Interessengruppen weiterhin einen exklusiven Status innehaben, was allerdings demokratische Legitimationsprobleme aufwirft
Ein weiteres ambivalentes Charakteristikum für die erfolgreiche Behandlung von postindustriellen Problemen besteht in der relativen Offenheit des Parteien-und Interessenverbandsystems. Am Beispiel der Umweltbewegung konnte demonstriert werden, wie die Umweltinteressen innerhalb der etablierten Logik der traditionellen politischen Akteure „inkorporiert“ wurden. Diese Inkorporation hatte zur Folge, daß Umweltprobleme auf pragmatische Art diskutiert wurden. Gesellschaftspolitische Aspekte, die in anderen Ländern so entscheidend für die Identität der Umweltbewegungen waren und zu weiterreichendem politischen Wandel geführt haben, wurden ausgegrenzt
Die Konsequenz des Wertwandels, die steigende Bedeutung von postindustriellen Themen, sowie die Veränderung der Interessenvermittlung hat Auswirkungen auf das Parteiensystem Schwedens, was im nachfolgenden Kapitel näher betrachtet wird. Jedoch haben sich mit der bürgerlichen Regierung auch einige ökonomische Parameter entscheidend verändert. 3. Wirtschaftliche Entwicklung In den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die schwedische Wirtschaft eine vornehmlich durch Export bewirkte Expansion, die zu einer langanhaltenden Vollbeschäftigung führte. Die durch den Koreakrieg bedingte Inflation und die Rezessionen von 1953/54 und 1957/58 senkten die jährlichen Wachstumsraten in den fünfziger Jahren jedoch auf 3, 4 Prozent. Die sechziger Jahre entwickelten sich dagegen für Schweden zum goldenen Jahrzehnt, das durch Vollbeschäftigung, wachsenden Freihandel und Optimismus geprägt war. Die jährliche Wachstumsrate des BSP lag im Durchschnitt bei 4, 6 Prozent. Die siebziger Jahre erwiesen sich als ein Jahrzehnt geringen Wirtschaftswachstums und zunehmender wirtschaftlicher wie sozialer Unzufriedenheit. Die Arbeitslosenquote blieb zwar unter 2 Prozent, doch konnte dies nur durch umfangreiche Arbeitsbeschaffungsprogramme erreicht werden. Die BSP-Zuwachsraten lagen, insbesondere in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, unter dem OECD-Durchschnitt (2 Prozent für die gesamten siebziger Jahre, 1, 3 Prozent für 1975-1980). Die starken Abwertungen der schwedischen Krone im September 1981 und Oktober 1982 hatten einen sehr günstigen Einfluß auf die schwedische Wettbewerbsfähigkeit. Unterstützt von der Erholung der Weltwirtschaft wuchs das BSP in den Jahren 1982 bis 1989 um durchschnittlich 2, 3 Prozent. Jedoch ist die Wirtschaft seit Mitte der achtziger Jahre durch eine überhitzte Nachfrage auf dem Binnenmarkt gekennzeichnet, was eine straffere Finanzpolitik erforderlich machte. 1990 und 1991 war die Industrieproduktion rückläufig, und die Volkswirtschaft des Landes war durch eine Rezession und Stagnation geprägt.
Unter der neuen Regierung der bürgerlichen Parteien stieg die Arbeitslosigkeit rapide an. Die „offene Arbeitslosigkeit“ liegt bei über sechs Prozent; eine ebenso große Zahl ist in den Arbeitsbeschaffungs-und Umschulungsmaßnahmen untergebracht. Der Vollbeschäftigungskonsens scheint in den neunziger Jahren zum Teil aufgekündigt worden zu sein Kürzungen in den Ausgaben der Kommunen, von denen 26 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung beschäftigt werden, schlugen auf den Arbeitsmarkt durch. Einige Gemeinden (z. B. Uppsala) vollzogen radikale Kursänderungen, in denen Entlassungen von kommunalen Be-schädigten in bisher unbekanntem Ausmaß durchgeführt wurden. Ein weiterer Wandel findet zur Zeit in der schwedischen Außenpolitik statt.
III. Außenpolitische Orientierung und EG-Frage
Nach einer imperialistischen Periode während der Napoleonischen Kriege, in der Schweden versuchte, eine wichtige Rolle in der europäischen Machtpolitik zu spielen, revidierte König Karl XIV. Johan die schwedische Außenpolitik vollständig und legte so die Grundlage der schwedischen Neutralitätspolitik. Im 19. Jahrhundert bezog sich diese Politik auf den Balanceakt zwischen Großbritannien und Rußland und später dann zwischen Deutschland und Rußland.
Der umfangreiche Handel mit dem Ausland erschwerte Schweden im Ersten Weltkrieg die Einhaltung der Neutralitätspolitik, da es durch Handelsblockaden isoliert wurde. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Schweden im Völkerbund. Als jedoch deutlich wurde, daß der Völkerbund dem aggressiven Verhalten der faschistischen Länder nichts entgegenzusetzen hatte, begann sich Schweden von einer kollektiven auf eine regional-nordische Sicherheitspolitik umzuorientieren. Jedoch gelang es auch auf dieser Ebene nicht, ein Übereinkommen zu erreichen, das die schwedische Sicherheit garantieren konnte, so daß sich Schweden schließlich wieder auf die alten Grundsätze der Neutralität stützte. Während des Zweiten Weltkrieges wich Schweden jedoch von seiner strikten Neutralitätspolitik ab. Als Finnland im November 1939 von der Sowjetunion angegriffen wurde, bot Schweden den Finnen Hilfe (Waffen, Nahrungsmittel, Kredite) an. Später wurde deutschen Soldaten auf Druck von Berlin die Durchreise nach Norwegen gestattet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Schweden 1946 Mitglied der Vereinten Nationen. Angesichts des sich abzeichnenden Kalten Krieges wurde die Möglichkeit einer nordischen Sicherheitspolitik nochmals überprüft. Die Verhandlungen über ein skandinavisches Verteidigungsbündnis scheiterten jedoch; Norwegen und bald darauf Dänemark entschieden sich für die umfassendere Sicherheit, die die kurz zuvor geschaffene NATO anbieten konnte. Schweden wählte eine Außenpolitik der Bündnisfreiheit im Frieden, die auf Neutralität im Kriegsfall abzielte und sich auf eine starke Landesverteidigung stützte.
Die schwedische Neutralitätspolitik beruhte vor allem auf den folgenden Überlegungen: Der Druck, der durch die sowjetische Präsenz im Baltischen Meer ausging, sollte nicht durch eine Mitgliedschaft Schwedens in der NATO verschärft werden. Dieser Aspekt wurde insbesondere durch den sogenannten „finnischen Faktor“ verstärkt. Es wurde befürchtet, daß ein schwedischer Schritt in Richtung Westen die Sowjetunion provozieren würde, eine militärische Präsenz in Finnland einzurichten. Des weiteren ermöglichte die Bündnis-freiheit eine Mittlerrolle Schwedens. Auf verschiedenen internationalen Foren konnten Kompromißvorschläge eingebracht oder unterstützt werden. Während des Indochinakonflikts wurde Schweden zu einem hartnäckigen Kritiker der amerikanischen Interventionspolitik. Schweden spielte auch eine aktive Rolle als Mitglied der Gruppe der neutralen und nichtgebundenen Staaten im Anschluß an die Schlußakte von Helsinki, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Schweden erweiterte seine Vermittlungsbemühungen über den Ost-West-Konflikt hinaus und suchte Lösungen im Nord-Süd-Dialog. Die Neutralität, zusammen mit einer nichtkolonialen Vergangenheit und dem Willen, einen relevanten Beitrag zur Entwicklungshilfe zu leisten, halfen Schweden eine integrierende Rolle im Nord-Süd-Dialog zu spielen. Schließlich wahrte Schweden durch seine Neutralität auch eine gewisse Distanz gegenüber den Ideologien des sozialistischen Ostblocks und des kapitalistischen Westens, die eine Wohlfahrtspolitik des „Dritten Weges“ ermöglichte.
Seine Neutralitätspolitik machte es Schweden unmöglich, sich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) anzuschließen. Um seine handelspolitischen Interessen zu wahren, beteiligte sich Schweden 1959 an der Gründung der nicht so festgefügten Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA).
Mit den jüngsten Veränderungen in Europa erschienen die alten politischen Richtlinien der Neutralitätspolitik weniger relevant. Anders als in Norwegen, das Mitglied der NATO ist und nicht aus sicherheits-, sondern aus innenpolitischen Gründen bisher der EG fernblieb, scheint für Schweden eine Haupthindernis für eine Mitgliedschaft in der EG zu entfallen. Insbesondere wirtschaftliche Kräfte setzen sich dafür ein, daß Schweden Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden soll Der Außenhandel, der seit der Hansezeit stark auf Kontinentaleuropa und Deutschland konzentriert ist, forciert die Annäherung an die EG. Im Jahre 1990 wickelte Schweden etwa 55 Prozent seines Außenhandels mit der EG ab. Die Bundesrepublik ist dabei der wichtigste Handelspartner (Export: 14 Prozent; Import: 20 Prozent). Bei wachsender Ausfuhr in die EG-Länder hat der EFTA-Anteil (19 Prozent) eine sinkende Tendenz.
Am 26. Oktober 1990 empfahl die sozialdemokratische Regierung dem schwedischen Reichstag, dem Wunsch nach Mitgliedschaft in der EG Ausdruck zu verleihen. Eine entsprechende Erklärung wurde am 12. Dezember 1990 vom Reichstag verabschiedet. Der schwedische Antrag auf Beitritt zur EG wurde am l. Juli 1991 eingereicht. Dies war das wichtigste Ereignis der schwedischen Außenpolitik der Nachkriegszeit.
Die neue bürgerliche Regierung verfolgt verstärkt die Annäherung an Europa. Ministerpräsident Carl Bildt schloß im März 1992 selbst eine Mitgliedschaft Schwedens im Verteidigungsbündnis Westeuropäische Union (in dem die meisten EG-Länder Mitglied sind) nicht aus Jedoch beruht die schwedische Verteidigungspolitik auch weiterhin auf eigener militärischer Stärke. Der fünfjährige Verteidigungshaushalt der neuen Regierung für die Periode 1992-1997, der dem Reichstag vor ein paar Monaten vorgelegt wurde, enthält eine effektive Erhöhung der Verteidigungsausgaben.
Die Einstellung der schwedischen Bevölkerung zum EG-Beitritt war in den letzten Jahren starken Schwankungen unterworfen. Abgesehen von einer sehr positiven Haltung in den sechziger Jahren war die Einstellung zur EG-Mitgliedschaft in den siebziger und frühen achtziger Jahren eher skeptisch. Erst ab Mitte der achtziger Jahre wurde sie wieder positiver. Der stärkste Meinungsumschwung fand Ende 1990 statt, als die sozialdemokratische Regierung eine Umorientierung ihrer EG-Politik bekanntgab. Zu diesem Zeitpunkt waren annähernd zwei Drittel der Schweden für einen EG-Beitritt.
Seit dem Herbst 1991 ist jedoch die Einstellung wieder skeptischer geworden Befürworter und Gegner halten sich in etwa die Waage. Die Meinungsunterschiede zeigen sich besonders stark zwischen den politischen Lagern. Anhänger der konservativen und liberalen Partei sind entschieden für einen EG-Beitritt, Anhänger der Kommunisten, der Grünen und -mit einigen Abstrichen -der Zentrumspartei stehen dem ablehnend gegenüber. Viele Parteien sind zudem gespalten in der Frage, welche Position sie letztendlich einnehmen sollen.
Es wird jedoch auch ein Stadt/Land-bzw. Nord/Süd-Gegensatz deutlich. Die Stadtbevölkerung im südlichen Schweden (Stockholm, Göteborg, Malmö) ist eher für, die Landbevölkerung im Norden ist entschieden gegen einen EG-Beitritt. Diese Konstellation erinnert an die Situation in Norwegen. Zudem bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede in der EG-Frage: Männer sind eher für die EG, Frauen eher dagegen. Die Gründe für einen EG-Beitritt sind vornehmlich wirtschaftlicher Art. Dagegen erwarten die Schweden Nachteile auf den Gebieten der sozialen Sicherheit, der Umwelt-und auch der Arbeitsmarktpolitik.
Die Meinungsumfragen haben also sehr unterschiedliche Ergebnisse gebracht. Die Regierung sowie die großen Parteien und Interessenorganisationen unterstützen eine EG-Mitgliedschaft. Die Entscheidung über eine schwedischen Beitritt fällt in einer Volksabstimmung, die wahrscheinlich 1994 stattfinden wird. Dieses Referendum wird ein weiterer Test für die Bindungpfähigkeit der etablierten politischen Kräfte sein, die insbesondere im schwedischen Parteiensystem deutliche Spuren einer Erosion zeigt. Die Konsequenzen der Referenden zur Mitgliedschaft in der EG in Dänemark und Norwegen haben gezeigt, daß -unabhängig vom Ausgang -die sozialdemokratischen Parteien empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen mußten. Ein ähnliches Schicksal könnte den schwedischen Sozialdemokraten beschieden sein.
IV. Politischer Wandel
1. Die Stabilität des schwedischen Parteiensystems bis in die achtziger Jahre Das schwedische Parteiensystem zeichnet sich durch große Kontinuität aus Der schwedische Parteienforscher Evert Vedung bezeichnet es als das stabilste Parteiensystem der westlichen Welt und als ein Paradebeispiel für ein „eingefrorenes“ Parteiensystem, wie es Seymour Lipset und Stein Rokkan für westliche Gesellschaften beschrieben haben Danach entwickelten sich die demokratischen Parteiensysteme Westeuropas entlang zweier historischer Revolutionen, die jeweils spezifische Konfliktstrukturen (cleavage structures) hinterlassen haben. Die „kulturelle Revolution“ führte zu Konflikten zwischen religiösen und ethnischen Gruppierungen, und die „ökonomische Revolution“ ist für den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sowie für den aufbrechenden Unterschied zwischen Land-und Stadtbevölkerung verantwortlich. Nach der Meinung von Lipset und Rokkan haben sich diese Konfliktstrukturen in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Parteiensystem westlicher Industriegesellschaften manifestiert und überdauerten zwei Weltkriege bis hin in die Gegenwart.
Die schwedische Parteienlandschaft spiegelt diese Struktur auf typische Weise wider. Siebzig Jahre lang beherrschten fünf Parteien das politische Leben in Schweden. Die älteste existierende Partei ist die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP), die 1889 gegründet wurde. Dreißig Jahre später gründete sich landesweit die liberale Partei der Freigesinnten aus einem losen Zusammenschluß von Reichstagsgruppen, die seit etwa 1900 bestanden. Die konservative Rechtspartei hat ihre Wurzeln in verschiedenen agrarischen, protektionistischen und nationalen Gruppierungen, die sich 1904 zum allgemeinen Wahlmännerverbund (Allmänna valmansförbundet) zusammenschlossen. Etwas später entstand aus dem Zusammenschluß zweier rivalisierender agrarischer Parteien die Bauernpartei. Etwa zur selben Zeit (Mai 1917) formierte sich in Anbetracht der bevorstehenden russischen Oktoberrevolution innerhalb der SAP eine linke Fraktion, aus der schließlich die Schwedische Kommunistische Partei (SKP) hervorging.
Bis auf einige Abspaltungen und Zusammenschlüsse im linken Spektrum blieb das schwedische Parteiensystem von 1921 bis 1988 stabil. In den Wahlen von 1988 und 1991 hat sich dieses Bild jedoch fundamental verändert. Drei Parteien gelang in diesem Zeitraum der erstmalige Einzug in den Reichstag. Abbildung 1 stellt diese Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart graphisch dar. 2. Besonderheiten des schwedischen Parteiensystems Ein besonderes Kennzeichen des schwedischen Parteiensystems besteht in der Blockbildung entlang einer Links-Rechts-Achse. Dabei bilden die Linkspartei (v = vänsterpartiet) und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Socialdemokratiska arbetarepartiet = SAP) den sozialistischen Block. Die liberale Volkspartei (Folkpartiet liberalema = fp), die agrarische Zentrumspartei (Centerpartiet = cp) und die konservative Moderate Sammlungspartei (Moderata samlingspartiet = m) bilden den bürgerlichen Block, zu dem auch die erst kürzlich in den Reichstag gelangte Christdemokratische Gesellschaftspartei (Kristdemokratiska Samhällspartiet = kds) zu zählen ist. Diese Links-Rechts-Achse determiniert die Einstellung der Parteien zu vielen Sachfragen, wie dem öffentlichen Einfluß auf das Wirtschaftsleben, der Umverteilung von materiellen Ressourcen, dem Umfang von Sozial-und Wirtschaftsplänen und dem Stellenwert des öffentlichen Sektors.
Aber auch der traditionelle Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie ist im schwedischen Parteiensystem vertreten. Dabei vertritt die frühere Bauernpartei und heutige Zentrumspartei die Interessen, die gegen eine gesellschaftliche Zentralisierung sind. Alle anderen Parteien waren für einen fortschreitenden stärkeren Einfluß von zentralen gesellschaftlichen Institutionen. Diese Allianz wurde erst in den letzten zwanzig Jahren im Zusammenhang mit der Politisierung von ökologischen Themen aufgelöst.
Manche schwedischen Wahlforscher sehen in dem Auftreten der ökologischen Frage die Etablierung einer neuen politischen Dimension, die sich mit den Begriffen Wachstum/ökologische Balance beschreiben läßt Diese Dimension unterminierte die Links-Rechts-Achse, ohne deren dominanten Einfluß jedoch zu brechen Allerdings führt diese Konstellation zu einer neuen Blockbildung zwischen den Parteien bei bestimmten Fragen (Umwelt, Energie, EG). Abbildung 2 verdeutlicht die Position der politischen Parteien in einen zweidimensionalen Raum.
Neben der Blockbildung ist die Dominanz der SAP hervorzuheben. Seit 1917, als die Sozialdemokraten das erste Mal an einer Regierung teilnahmen, war die SAP 62 von 74 Jahren an der Regierung beteiligt. Von 1932 bis 1976 war sie ununterbrochen (bis auf den Sommer 1936) 44 Jahre die dominierende Regierungspartei. Auch in der Opposition konnte die SAP die schwedische Politik nachhaltig mitgestalten. Beobachter der schwedischen Politik konstatieren daher eine sozialdemokratische Hegemonie die über parteipolitische Wahl-erfolge hinausreicht (die SAP erhält rund doppelt so viele Stimmen wie die nächst größere Partei) und in einer sozialdemokratischen „Infrastruktur“ besteht. Die enge Zusammenarbeit mit der Arbeitergewerkschaft (LO) ist das prominenteste Beispiel; wichtig sind aber auch die Bildungs-und Konsumvereine. Die SAP ist eine moderne, pragmatische Partei. Sie tritt vor allem für Wirtschaftswachstum und den Erhalt des Wohlfahrtsstaates ein. Bedeutend ist das Konzept der aktiven Arbeitsmarktpolitik, das zusammen mit den Arbeitergewerkschaften realisiert wurde und ein Fundament des schwedischen Modells darstellt, ökologische Themen haben hier eine geringere Bedeutung als etwa in der SPD und sind wirtschaftlichen Themen deutlich untergeordnet. Innerparteiliche ideologische Flügelkämpfe sind der SAP bisher weitgehend fremd.
Jedoch war die SAP öfters auf die Hilfe anderer Parteien angewiesen. Insbesondere die Vorläuferin der Zentrumspartei, die Bauernpartei, bildete Koalitionsregierungen mit der SAP in den Jahren 1936 bis 1945 (in der Zeit während des Zweiten Weltkrieges zusammen mit den anderen bürgerlichen Parteien) und zwischen 1951 und 1957. Der Politologe Gösta Esping-Andersen sieht in den „rot-grünen“ Koalitionen zwischen Arbeiterklasse und agrarischem Mittelstand die Grundlage für den Erfolg der schwedischen Sozialdemokratie. Jedoch führten die Wahlverluste der Bauernpartei in den fünfziger Jahren zu einer programmatischen Umorientierung dieser Partei, welche auch durch die Namensänderung 1958 zur Zentrumspartei sichtbar wurde Der Zentrumspartei gelang es, in neue Wählerschichten vorzudringen. Insbesondere vermochte sie es, Kleinuntemehmer und sogar Arbeitnehmer für sich zu gewinnen. Auch profilierte sich die Zentrumspartei zunehmend als Oppositionspartei zur Politik der SAP, die zwischen 1957 und 1976 allein regierte. Seit Beginn der siebziger Jahre nahm die Zentrumspartei das Umweltthema in ihre Programmatik auf Es gelang ihr, die Unzufriedenheit über Umweltzerstörung, Entvölke-rung ganzer Landstriche und Verstädterung als Folge der sozialdemokratischen Strukturpolitik mit der Kritik an Machtkonzentration, Bürokratisierung und Wirtschaftswachstum in eine anti-sozialistische Richtung zu lenken. So konnte die Zentrumspartei auf der ökologischen Welle große Wahlerfolge erzielen. Von 1976 bis 1978 und von 1979 bis 1982 stellte sie den Ministerpräsidenten. Dies war das erste Mal, daß die Zentrumspartei an einer bürgerlichen Regierung teilnahm. Jedoch nahm ihre Attraktivität in den achtziger Jahren rapide ab. Dies lag zum einen an der ambivalenten Regierungspolitik der Zentrumspartei in der Kemkraftfrage. Der andere Grund für ihren Niedergang bestand in der zunehmenden Konkurrenz auf dem Gebiet der Umweltpolitik, was die Partei nicht durch andere programmatische Aspekte ausgleichen konnte. Die SAP konnte sich aber auch auf andere Parteien stützen, mit denen sie jedoch keine formale Koalition einging. Nach den Stimmeneinbußen bei der Reichstagswahl 1973 unterstützte die Volkspartei die sozialdemokratische Regierungspolitik. Diese Zusammenarbeit beruhte auf der damaligen Stärke ihres sozialliberalen Flügels. Allerdings setzte sich Ende der achtziger Jahre der marktwirtschaftliche Flügel stärker durch, was zu einer Annäherung zwischen Volkspartei und Moderaten führte.
Eine andere verläßliche Stütze der SAP in den siebziger und achtziger Jahren war die Kommunistische Partei. Vom Zweiten Weltkrieg bis Ende der sechziger Jahre war die Schwedische Kommunistische Partei (SKP) moskautreu und stalinistisch. Mit den Studentenunruhen und der sowjetischen Invasion in der Tschechoslowakei wurde der „modernistische“ Flügel der Partei stärker, der seit Mitte der sechziger Jahre Auftrieb bekommen hatte. Auch hier zeigt die Namensänderung zur Linkspartei der Kommunisten (vänsterpartiet kommunistema = vpk) von 1967 eine Umorientierung, hin zum Eurokommunismus, an. Später konzentrierte sich die Partei zunehmend auf Umwelt-themen. Sie kann somit als linker Gegenpart zur Zentrumspartei angesehen werden. Die Umbrüche in Osteuropa führten schließlich mit dazu, daß die Linkspartei der Kommunisten sich 1990 in Linkspartei (vänster partiet = v) umbenannte.
Eine weitere Besonderheit des schwedischen Parteiensystems besteht in der Uneinigkeit der bürgerlichen Parteien, die wesentlich zur Stärke der SAP beiträgt Diese Uneinigkeit beruht zum einen auf der Fähigkeit der Sozialdemokraten, immer wieder Bündnispartner aus dem bürgerlichen Lager zu gewinnen. Zum anderen sind die bürgerlichen Parteien weltanschaulich fragmentiert. Gerade die Zentrums-und die Volkspartei sahen oft größere Gemeinsamkeiten mit der SAP als etwa mit der konservativen Moderaten Partei, die heute die profilierteste Oppositionspartei ist. In den sechziger Jahren befand sie sich -damals noch unter dem Namen Rechtspartei (Högerpartiet) -in der Defensive. In vielen Belangen schloß sie sich der sozialdemokratischen Reformpolitik an. Um sich von den zunehmenden Rechtsdiktaturen in aller Welt zu distanzieren, änderte sie ihren Namen zur Moderaten Sammlungspartei. Auch implizierte der Namenswechsel eine politische Umorientierung hin zur Mitte. Damit wurde die Grundlage für eine bürgerliche Koalition gelegt, die von 1976 bis 1982 bestand
Jedoch gingen alle bürgerlichen Parteien als Verlierer aus dieser Koalition hervor. Sie vermochten nicht zu demonstrieren, daß sie eine effiziente Regierung bilden können. Zwei Regierungen scheiterten aufgrund von „unlösbaren“ Sachfragen (Kernenergie und Finanzpolitik). So beruhte die erneute Regierungszeit der SAP von 1982 bis 1991 zu einem großen Teil darauf, daß die schwedische Bevölkerung diese Partei für kompetenter hielt, die sozialen und vor allem wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. Es ist Carl Bildt zu verdanken, daß die Moderate Partei an Profil gewann. 1986 wurde er mit 37 Jahren neuer Parteivorsitzender. Er entwarf ein wirtschaftliches Konzept, das in Form eines Wahlprogramms (Ny Start för Sverige = Neuer Start für Schweden) 1991 zusammen mit der Volkspartei vertreten wurde. Seit 1991 ist Carl Bildt Ministerpräsident einer Minderheitenregierung von Moderaten, Christdemokraten, Liberalen und der Zentrumspartei.
Die neue Regierung stellt ein Novum in vielerlei Hinsicht dar: Zum einen ist Carl Bildt der erste konservative Regierungschef seit 1930; zum anderen ist er der erste konservative Chef einer Koalition aus rein bürgerlichen Parteien; schließlich umfaßt die neue Regierung vier Parteien -eine Anzahl, die zuvor nie erreicht wurde (mit Ausnahme der Krisenregierung während des Zweiten Welt krieges). Es ist auch ein neues Phänomen, daß bis auf die SAP (37, 6) und die Moderate Sammlungspartei (21, 9) keine der restlichen vier im Reichstag vertretenen Parteien mehr als zehn Prozent der Stimmen bei der letzten Wahl erhalten hat. Die achtziger und neunziger Jahre deuten einen Bruch der Kontinuität des schwedischen Parteien-systems an, der nicht nur durch die Regierungswechsel belegt wird, sondern auf länger anhaltende Entwicklungen zurückzuführen ist.
3. Die Entwicklung seit den achtziger Jahren
In den achtziger und neunziger Jahren unterlagen alle beschriebenen Besonderheiten des schwedischen Parteiensystems (Blockbildung, sozialdemokratische Dominanz, Uneinigkeit der bürgerlichen Parteien) fundamentalen Veränderungen. Am auffälligsten sind die Wahlerfolge neuer, kleiner Parteien. So löste 1988 die Grüne Partei (Miljöpartiet de gröna = Umweltpartei Die Grünen, mp) das stabile Parteiensystem auf Gab der Einzug der Grünen zunächst jenen recht, die eine Etablierung des Wachstum-Ökologie-Konflikts in der schwedischen Parteienpolitik sahen, so scheint die Reichstagswahl 1991 diese These zu widerlegen Die Grünen scheiterten an der Vierprozenthürde und erhielten nur 3, 4 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dagegen vermochten es zwei andere Parteien, in den Reichstag einzuziehen: die Christdemokratische Gesellschaftspartei (kds) und die erst 1991 gegründete Neue Demokratie (Ny Demokrat! = nyd). Die kds besteht schon seit 1964. Sie betont stark die christlichen Werte und die Rolle der Familie in der Gesellschaft. Auf der Liste der Zentrumspartei war ihr Parteiführer, Alf Svensson, in der Zeit von 1985 bis 1988 im Reichstag vertreten. Durch den Wahlerfolg von 7, 1 Prozent gelang der kds mit 26 Abgeordneten der Einzug in den Reichstag. Noch überraschender als der Wahlerfolg der kds ist das gute Abschneiden der rechtspopulistischen Neuen Demokratie. Erst kurz vor der Wahl gegründet, erhielt die Partei auf Anhieb 6, 7 Prozent der Wählerstimmen. Sie steht für eine Liberalisierung der Ökonomie, die Abschaffung der Bürokratie und für eine restriktive Ausländerpolitik.
4. Wahlverhalten
Die schwedische Wahlforschung konstatiert schon seit langem ein Auflösen des traditionalen Wahl-verhaltens. So fassen die schwedischen Wahlforscher Mikael Gilljam und Sören Holmberg die Entwicklung der Wahlentscheidung der Nachkriegsjahre wie folgt zusammen Die Bedeutung der schichtorientierten Wahl-entscheidung hat abgenommen. Die Parteienidentifikation und -loyalität (Stammwähler) haben nachgelassen. Die sachorientierten Wahlentscheidungen (Wahlentscheidungen durch Ansichten, die nicht mit der sozialen Herkunft in Verbindung stehen) haben einen höheren Stellenwert erlangt. Der Einfluß der Kandidatenpräferenz ist stärker geworden. Der Einfluß der taktischen Wahl hat, wenngleich im Zeitverlauf unterschiedlich stark, an Bedeutung gewonnen.
Diese Tendenzen führen insbesondere zu Nachteilen für Parteien, die ihre Wählerschaft aus Schichtenstrukturen traditionaler oder industrieller Sozialgruppen rekrutieren, d. h., die Zentrumspartei, die Kommunistische Partei und die SAP sind hiervon besonders betroffen. So gelang es der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nicht, die Mittelschicht -vor allem in den großen Städten -an die Partei zu binden Seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ist dieser Trend jedoch in einen qualitativen Wandel des Wahlverhaltens umgeschlagen, wie das Aufkommen und Verschwinden neuer Parteien anzeigt. Die Entwicklung in den achtziger Jahren deutet auf zunehmende Tendenzen einer Auflösung parteipolitischer Bindungen (dealignment) hin, die weniger mit einer Änderung (realignment) von Parteipräferenzen sozialer Gruppen auf einer Wachstum-Ökologie-Achse verbunden ist, als in den siebziger Jahren vermutet worden war. Diese beiden Begriffe gehen auf die obengenannte Untersuchung von Lipset und Rokkan zurück. Sie gehen von einer Parteienbindung (alignment) der Wähler durch soziostrukturelle und soziokulturelle Faktoren wie Schichten-und Religionszugehörigkeit aus.
V. Fazit
Die postindustrielle Entwicklung Schwedens führt zu neuen politischen Problemen, die anscheinend nicht so reibungslos und effizient durch die etablierten Institutionen behandelt werden können, wie dies noch zu Anfang der siebziger Jahre vermutet wurde. Im Gegenteil, das gesamte System der Interessenvermittlung ist in Frage gestellt. Die Kluft zwischen Organisationen und Parteien einerseits und den Vertretungsansprüchen der schwedischen Bevölkerung andererseits scheint sich auszuweiten. Kontinuität, die in Schweden immer noch relativ stark ausgeprägt ist, löst sich zunehmend auf. Insbesondere Interessenorganisationen, noch vor einem Jahrzehnt als der Inbegriff einer effizienten und kalkulierbaren Interessenvertretung und als Mittel einer produktiven gesellschaftlichen Steuerung betrachtet, werden zunehmend eine Belastung für die schwedische Gesellschaft. Auf manchen Gebieten sind sie durch andere Akteure, wie Massenmedien und Bürgerinitiativen, ersetzt worden oder erhielten von diesen Konkurrenz.
Die politischen Parteien in Schweden verlieren zunehmend an Einfluß auf ihre Wählerschaft. Die Profillosigkeit der Parteien eröffnet die Möglichkeit, daß populistische Stimmen an Bedeutung gewinnen. Unabhängig davon, welche Partei sich in der Regierungsverantwortung befindet -Regieren selbst scheint zur Belastung zu werden und führt zu Sympathieverlust. Damit werden Trendaussagen riskant.
Schweden scheint im Moment politisch „dahinzutreiben“. Substantielle politische Entscheidungen werden schwerer durchführbar. Hoffte man gestern noch, durch Privatisierung und den Beitritt zur EG neue ökonomische Energien freizusetzen, so besteht heute schon eine gewisse Reserviertheit gegenüber diesen Zielen. Politische Themen -etwa der EG-Beitritt, ökologische Einschnitte wie die geplante Öresundbrücke von Schweden nach Dänemark, die Kernenergie, die Behandlung der wirtschaftlichen Probleme oder die Ausländer-frage -können morgen schon politisch explosiv werden. Jede Frage ist potentiell in der Lage, den Konsens der labilen bürgerlichen Minderheitenregierung aufzuheben. Zunehmend entstehen Meinungsverschiedenheiten auch innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die bisher immer ein Garant für Stabilität und Kontinuität gewesen ist.
Schweden kann jedoch weiterhin als ein Modell dienen. Allerdings scheint die Zeit vorüber zu sein, in der man Schweden als das Modell einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung betrachten konnte, in dem die zukünftigen Probleme sozial progressiv gelöst werden. Vielmehr scheint Schweden nun Beispiel für eine entstrukturierte, postindustrielle Gesellschaft zu sein
Detlef Jahn, Dr. sc. pol., geb. 1956; wissenschaftlicher Angestellter im Fach Soziologie der Universität -Gesamthochschule Paderborn. Zahlreiche Aufsätze zur Energie-und Umweltpolitik, zur Parteien-, Wahl-und Verbändeforschung in englischsprachigen und deutschen Zeitschriften.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).