Zur langfristigen Wirtschaftsentwicklung der Dritten Welt
Jürgen H. Wolff
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Zusammenfassung
Entwicklungspolitischer Pessimismus hat Hochkonjunktur; Behauptungen wie „Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer“ finden sich nicht nur in der interessengebundenen Tagesdiskussion, sondern auch sinngemäß in seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen. Langfristige Daten zur Wirtschaftsentwicklung widerlegen solche Behauptungen eindeutig, außer für bestimmte Problemregionen und -länder. Die Ausdifferenzierung des Wohlstandes in der Dritten Welt hat inzwischen ein wesentlich größeres Maß erreicht als innerhalb der Gruppe der Industrieländer. Die Zusammenfassung unter einem Begriff wie „Entwicklungsländer“ oder „Dritte Welt“ rechtfertigt sich immer weniger. Alles in allem gilt indes, daß keineswegs „die Armen immer ärmer werden“, sondern daß sie allenfalls nicht im gleichen Maße reicher werden wie erfolgreichere Länder der sogenannten Dritten Welt oder wie die Industrieländer.
I. Einleitung
Kassandra hat Hochkonjunktur: Die Euphorie nach dem Fall der Mauer, dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme und dem behaupteten „Ende der Geschichte“ ist tiefem Pessimismus gewichen. Die Wirtschaft lahmt, in Europa wird wieder Krieg geführt, Osteuropa ringt in teilweise blutigen Auseinandersetzungen um eine neue politische Form, instinkthafte Reflexe der Nach-Versailles-Zeit zeigen sich bei der „politischen Klasse“ der Nachbarstaaten Deutschlands, und auch die Entwicklungshilfe bleibt vom allgemeinen Stimmungsumschwung nicht unberührt: Katastrophen-meldungen aus Afrika sind traurige Routine geworden, Lateinamerikas Rezivilisierung (und -demokratisierung) ist durch Verschuldung und interne Wirtschaftsprobleme bedroht ein Lichtblick allenfalls Südostasien -aber das ist auch nicht recht, wird doch der Erfolg mehrerer Länder in diesem Raum zur unangenehmen Konkurrenz für die deutsche Industrie.
Konjunkturbedingter Pessimismus verbindet sich mit einem breiten Strom der Kritik an der behaupteten Wirkungslosigkeit der Entwicklungshilfe und der Entwicklung der (immer noch so genannten) Dritten Welt. Wissenschaftler machen sich auf, nach den „Ursachen der anhaltenden Unterentwicklung“ zu fragen oder konstatieren, daß der Lebensstandard in den Industrieländern „unaufhörlich“ wächst, aber die „Mehrheit der Entwicklungsländer kontinuierlich zurück(fällt)“ Schlimmer: es wird sogar behauptet, „daß erstmals Grund zur Annahme besteht, daß diese Kluft irreversibel ist und die Perspektive einer , nachholenden Entwicklung möglicherweise gar nicht mehr besteht“ Es zeichneten sich sogar Prozesse der Rückentwicklung ab
Ziel des folgenden Aufsatzes ist die kritische Untersuchung solcher Behauptungen. Die Frage ist: Werden die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer? Gibt es Grund zu der Annahme, daß die Zweiteilung der Welt in Arm und Reich „irreversibel“ ist?
II. Theoretisch-methodische Vorüberlegungen
Abbildung 2
Quelle: A. Maddison (Anm. 6), Tabelle 7. 1, S. 85. Tabelle 2: BIP-Pro-Kopf-Wachstumsraten, sonstige Länder
Quelle: A. Maddison (Anm. 6), Tabelle 7. 1, S. 85. Tabelle 2: BIP-Pro-Kopf-Wachstumsraten, sonstige Länder
Ziel wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung (oder der Wohlstandssteigerung) ist primär die Herstellung und Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen für möglichst alle Mitglieder einer Gesellschaft; darüber besteht jedenfalls in der entwicklungspolitischen Diskussion seit einer Reihe von Jahren Einigkeit. Das Schielen auf die relative Position eines Landes im internationalen Vergleich ist diesem Primärziel gegenüber absolut zweitrangig und allenfalls ein Anliegen ehrgeiziger nationaler Eliten. Anders formuliert: Armut und Reichtum sind nicht als relative, sondern als absolute Konzepte zu begreifen; wenn ein Land die Grundbedürfnisse seiner Bevölkerung zu befriedigen vermag und zudem noch einen Überschuß für Konsum und zusätzliche Investitionen erwirtschaftet, ist es für das Wohlstandsniveau der Bewohner vollständig gleichgültig, ob es andere Länder auf der Erde gibt, die eben noch wohlhabender sind. Die Wohlstandsentwicklung der Länder der Dritten Welt hängt also in erster Linie von deren absoluter Veränderung im Zeitablauf ab; allenfalls hilfsweise wird man einen Vergleich mit der industrialisierten Welt vornehmen.
Eine Antwort auf die Frage, ob tatsächlich „die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer“ werden, kann sinnvollerweise nur in möglichst langfristiger Betrachtungsweise gesucht werden. Die achtziger Jahre als „verlorenes Jahrzehnt“ Lateinamerikas, die andauernde Krise Afrikas, die Abschwächung des Wirtschaftswachstums in den Industrieländern nach dem Ölpreisschock 1973: solche kurz-bis mittelfristigen Konjunkturwellen müssen notwendig die Richtigkeit der Schlußfolgerungen bedrohen. Eine Langfristanalyse entgeht dieser Gefahr, zumal dann, wenn mit Durchschnittswerten mehrerer Jahre gearbeitet wird.
Das klassische Maß der Nationalökonomie sind die Sozialproduktwerte pro Kopf der Bevölkerung. Auch die Ökonomen sind längst von diesem simplen Index als einziger Meßzahl für Wohlstand und damit Entwicklung abgekommen. Komplexere Wohlfahrtsindizes wie Gesundheitswesen, Alphabetisierung, politische Freiheit, Aktivitäten auf ökonomischen Parallelmärkten und die Verschlechterung der Umwelt sind hinzugekommen (Net Economic Welfare). Seit einer Reihe von Jahren wird durch UNDP (das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) regelmäßig ein Human Development Index für die Mitgliedsstaaten der UNO berechnet, mit gelegentlich erstaunlichen Abweichungen ihrer Rangfolge verglichen mit der Länderrangfolge auf der Basis der Pro-Kopf-Einkommen. Im großen und ganzen korrelieren jedoch diese Indizes hoch miteinander, was der ursprünglichen Kritik viel von ihrer Schärfe nimmt.
Solche verfeinerten Indizes sind leider für längere Zeiträume nicht verfügbar. Für die Sozialprodukt-zahlen sind wir in der glücklichen Lage, daß Reihen vorliegen, die die unzweifelhaft bestehenden Probleme der Langzeitbetrachtung, soweit nach heutigem Kenntnisstand möglich, gelöst (oder doch stark vermindert) haben Solche Schwierigkeiten liegen einmal in der Ausschaltung der säkularen Inflation unseres Jahrhunderts, also der Umrechnung nominaler Geldgrößen in wertkonstante Meßzahlen. Grundsätzlich ist das durch eine Auf-bzw. Abzinsung mit den ebenfalls bekannten Inflationsraten möglich.
Schwieriger ist die Problematik von Wechselkursverschiebungen; die uns interessierenden Zahlen müssen aus Vergleichsgründen notwendig in einer einzigen Währung ausgedrückt werden, und zwar in US-Dollar. Da es um Wohlstands-, also Pro-Kopf-Kaufkraftvergleiche geht, sind alle (immer noch nicht in ihrem Zusammenspiel voll verstandenen) Faktoren auszuschalten, die die Wechselkurse unabhängig von relativen Kaufkraft-verschiebungen bestimmen (etwa Zinsdifferenzen, Leistungsbilanzungleichgewichte, die Psychologie der Marktteilnehmer usw.).
Einige Probleme bleiben indes: -Langfristreihen sind nicht für alle Regionen der Welt verfügbar. Setzt man 1900 als Ausgangspunkt, dann stehen Reihen nur für 32 Länder zur Verfügung also ein Fünftel der Mitgliedstaaten der UN. Allerdings vereinten sie 1980 85 Prozent des Weltsozialproduktes, 76 Prozent der Bevölkerung und 79 Prozent der Exporte auf sich und können daher wohl als repräsentativ angesehen werden. -Unter den Ländern, für die langfristig keine Daten verfügbar sind, finden sich (unglücklicherweise) gerade die heutigen Problemregionen Schwarzafrika und Vorderer Orient. Hier gehen verläßliche Reihen nur bis 1950 zurück. -Problematisch erscheint die Einbeziehung der UdSSR. Waren die offiziellen Zahlen richtig und sind sie erst neuerdings durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch überholt? Oder haben die kommunistischen Regime die publizierten Zahlen nicht nur selektiert (z. B. die ehemalige DDR), sondern direkt gefälscht? Trotz aller Bedenken wird man die Zahlen für die Sowjetunion als die besten verfügbaren Werte beibehalten müssen. -Ein grundsätzliches Problem stellt die Behandlung der japanischen Entwicklung dar. Das Land wird heute, als OECD-Mitglied, zu Recht zur Gruppe der Industrieländer gerechnet; bei dem Gruppenvergleich Industrieländer -Entwicklungsländer beeinflussen die japanischen Zahlen angesichts der Bedeutung der japanischen Wirtschaft die Bilanz der Industrieländer nicht unerheblich. Bei einer Langfristbetrachtung ist das problematisch. Vor einem Jahrhundert war Japan ein Entwicklungsland, das erst später in die Gruppe der Industrieländer aufstieg. 1900 betrug sein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (Preisindex auf der Basis 1980) 677 US-Dollar (die Philippinen etwa kamen auf 718, Thailand auf 626 US-Dollar) und lag damit klar im Bereich heutiger Entwicklungsländer (Bangladesh 1987 375, Pakistan 885, Indien 662 US-Dollar). 1870 betrug Japans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gar nur 420 US-Dollar, kaum mehr als Bangladesh heute. Japan für den Langzeitvergleich von Anfang an der Gruppe der Industrieländer zuzurechnen bedeutete, den phänomenalen Aufstieg eines Entwicklungslandes zu übersehen. Oder anders formuliert: Die jeweils erfolgreichen Entwicklungsländer bei Vergleichen der Industrielän-dergruppe zuzuordnen (demnächst vermutlich die südostasiatischen Schwellenländer), verzerrt notwendigerweise das Ergebnis. Nicht der Erfolg zweier in ihrer Zusammensetzung konstanter Gruppen würde verglichen, sondern eine erfolgreiche Gruppe, jeweils erweitert um die erfolgreichen Länder der anderen Gruppe, wird mit den weniger erfolgreichen Ländern dieser Gruppe verglichen. Daß damit das Ergebnis (immer größerer Abstand etc.) von vornherein feststeht, aber auf Grund der Voraussetzungen nicht anders sein kann, dürfte einleuchten.
III. Zur globalen Wirtschaftsentwicklung dieses Jahrhunderts
Fünfzehn heute hochindustrialisierte OECD-Länder (u. a. ohne Japan) wiesen im Jahr 1900 ein durchschnittliches jährliches Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (in Preisen von 1980) von 2156 US-Dollar auf. Bis 1987 war es auf 11353 US-Dollar gestiegen, was einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von etwas mehr als 1, 9 Prozent entspricht.
Die wichtigsten Länder Asiens in denen sich der größte Teil der Bevölkerung der Erde konzentriert, zeigten ein Verhältnis von 405 US-Dollar 1900 zu 1332 US-Dollar 1987, unter Einbeziehung Japans von 473 zu 1929 US-Dollar, mithin durchschnittliche Wachstumsraten von etwa 1, 4 bzw. 1, 6 Prozent. Für Lateinamerika sind. die Werte 645 zu 3107 US-Dollar (Zuwachsrate 1, 8 Prozent), für die UdSSR 797 zu 5 948 US-Dollar, Zuwachsrate 2, 3 Prozent.
In den asiatischen Entwicklungsländern hat in diesem Jahrhundert eine im historischen Vergleich beispiellose Wohlstandsexplosion stattgefunden, mehr als eine Verdreifachung des Sozialproduktes pro Kopf in weniger als 100 Jahren. Lateinamerikas entsprechender Wert ist gar auf das (fast) Fünffache gestiegen. Die Einwände von Intellektuellen und Politikern aus diesen Ländern finden in den Langfrist-Daten keine Stütze. Der heutige asiatische Durchschnitt hegt erheblich höher als etwa der finnische oder norwegische des Jahres 1900 und fast gleichauf mit dem damaligen Italiens. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß Bangladesch das Sozialprodukt pro Kopf von 1987 bereits 1913 (oder auch 1929) erreicht hatte, in diesem Land also eine langfristige Stagnation feststellbar ist. Seine Daten drücken notwendig den asiatischen Durchschnitt.
Richtig ist allerdings auch, daß sich der relative und damit auch absolute Rückstand aller angeführten Entwicklungsländergruppen (außer Japan) gegenüber der Gruppe der OECD-Länder (ohne Japan) vergrößert hat. Nur scheint uns dies kein entscheidendes Argument zu sein. Das wird noch deutlicher, wenn Vergleichsdaten der Industrieländer aus der Zeit vor 1900 herangezogen werden.
IV. Wirtschaftsentwicklung in der Blütezeit der Industrialisierung
Die wirtschaftshistorische und -theoretische Bewertung der angeführten Daten ist umstritten. Nach der „Konvergenzhypothese“ müßte die Entwicklung der ärmeren Länder schneller verlaufen als die der reicheren, da hier abnehmende Grenzerträge des Kapitals zu verzeichnen seien Die heutigen Industrieländer müßten demnach in einem früheren Stadium ihrer Entwicklung schneller gewachsen sein, als sie es heute tun. Andererseits müßten Entwicklungsländer bei einem vergleichbaren wirtschaftlichen Entwicklungsstand vergleichbare Wachstumsraten aufweisen.
Ein Gegenargument stellt natürlich der technische Fortschritt dar, der prinzipiell aus Industrieländern in Entwicklungsländer exportiert werden kann. Wie jahrzehntelange entwicklungspolitische Diskussionen und Beobachtungen gezeigt haben, gilt das aber nur sehr bedingt: Zwischen Forschung, Entwicklung und Innovation, die (sozusagen organisch) das Ergebnis einer jahrhundertealten kulturellen Tradition im Abendland sind, und (bestenfalls) dem Versuch der imitativen Übernahme oder dem simplen Import der entsprechenden technischen Artefakte besteht ein enormer Unterschied.
In summa scheint uns ein Vergleich heutiger wirtschaftlicher Wachstumsraten von Entwicklungsländern mit denjenigen heutiger Industrieländer bei ähnlichem Entwicklungsstand sinnvoll zu sein. Dazu ist es notwendig, vor das Jahr 1900 zurückzugreifen. Für alle zugrunde gelegten OECD-Länder (außer der Schweiz, erst ab 1900) liegen preis-und wechselkursbereinigte Reihen seit 1870, für Dänemark, Finnland, Schweden und die Vereinigten Staaten seit 1820, für Großbritannien gar seit 1700 vor Wie sich zeigt, enthält diese Gruppe Daten des ersten Industrielandes (Großbritannien) überhaupt, sodann aber auch solcher, die im 19. und 20. Jahrhundert eine Art „nachholende Entwicklung“ (bzw. Industrialisierung) erlebt haben. Insofern erscheint uns eine Parallelisierung zu heutigen Entwicklungsländern gerechtfertigt. Zu langfristigen Wachstumsraten vgl. Tabelle 1.
V. Vergleich OECD-Asien-Lateinamerika
Schon auf den ersten Blick fällt auf, daß die angeführten langfristigen Wachstumsraten von OECD-Ländem im Größenbereich der Raten heutiger Entwicklungsländer in Asien und Lateinamerika liegen. Eine genauere „Parallelisierung“ der Entwicklung weist aus: Lateinamerika (in der hier, nach Maddison, verwendeten Abgrenzung) hatte 1987 ein Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von 3107 US-Dollar Es unterschied sich damit nur gering von dem Wert für die OECD zu Beginn der „Goldenen Jahre“ 1950 (nach Behebung der ärgsten Kriegsschäden) bis 1973 (massiver, vielleicht säkularer Einbruch der Wachstumsraten nach dem ersten Ölpreisschock), 3360 US-Dollar Mindestens in diesem Fall ist davon auszugehen, daß die enormen Zuwachsraten des dritten Viertels unseres Jahrhunderts (1950-1987) in den Industrieländern, 3, 3 Prozent pro Jahr, in Lateinamerika bei gleichem Entwicklungsstand aller Voraussicht nach nicht wiederholbar sein dürften. Die Weltbank schätzt für 1990-2000, in zwei Szenarien, einen Wert von 1, 3-2, 0 Prozent pro Jahr Optimistischer ist allerdings die Interamerikanische Entwicklungsbank in ihrem Jahresbericht 1990 Sie hält bei Fortführung der Wirtschaftsreformen in diesem Raum eine Zunahme des Wachstums auf 5 Prozent bis Ende dieses Jahrhunderts für möglich, damit ein Pro-Kopf-Wachstum, das auf mehr als 3 Prozent geschätzt werden kann. Unglücklicherweise werden aber keine Durchschnittswerte für die Dekade angegeben.
Schalten wir, aus Vergleichsgründen, im Sinne des oben Gesagten, erneut Japan aus unseren Berechnungen aus; es hatte 1950 ein Bruttoinlandsprodukt von nur 1116 US-Dollar pro Kopf, etwa ein Drittel des heutigen lateinamerikanischen Wertes, und war damit eindeutig immer noch ein Entwicklungsland Der OECD-Bereich hätte dann 1950 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von 3 738 US-Dollar, 1987 ein solches von 11353 US-Dollar aufgewiesen, was einer durchschnittlichen jährli-eben Wachstumsrate von 3, 0 Prozent entspricht Wie sich zeigt, nähert sich die Wachstumsrate durch diese Korrektur mehr dem (erwarteten oder möglichen) lateinamerikanischen Wert an.
Wie sehen die Vergleichswerte in Asien aus? Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 1987 betrug 1332 US-Dollar: Es entspricht damit in etwa dem Stand der OECD von 1870 (ohne Schweiz und Japan), und zwar 1360 US-Dollar. Wie Tabelle 1 ausweist, lag für diese Ländergruppe die anschließende langfristige Wachstumsrate im Bereich von 1, 6-1, 8 Prozent pro Jahr, ein Wert, den Asien insgesamt in den vergangenen Jahrzehnten (1950-1989 z. B. 3, 6 Prozent weit übertroffen hat und den es, Projektionen zufolge, mit 2, 1-2, 6 Prozent für Süd-, 4, 2-5, 3 Prozent für Ostasien auch in unserem Jahrzehnt weit übertreffen dürfte.
Auch wenn Lateinamerika in unserem Jahrzehnt wegen seiner ausgeprägten Wachstumsschwäche die enormen Zuwachsraten der Industrieländer zwischen 1950 und 1973 nicht wiederholen dürfte, liegt seine Wachstumsrate immer noch in der Größenordnung der langfristigen Zuwachsrate der Industrieländer in unserem Jahrhundert (1900-1987 2, 0 Prozent Optimistischen Prognosen zufolge läge Lateinamerikas Wachstum sogar erheblich darüber. Für Asien liegt die Wachstumsrate nicht nur höher als das gegenwärtige und erwartete Wachstum dieser Gruppe, sondern auch entscheidend höher, als es die Industrieländer in einem vergleichbaren Stadium ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu verzeichnen hatten. In beiden Fällen besteht kein Grund zu Pessimismus oder zu Ungeduld.
VI. Zur Entwicklung Schwarzafrikas und des Vorderen Orients
Bisher haben wir (aus Datengründen) Afrika und den Vorderen Orient aus unseren Überlegungen ausgespart. Die bisher zugrunde gelegte Länder-gruppe deckte allerdings 1987 73, 9Prozent der Weltbevölkerung ab, was von vornherein erwarten läßt, daß eine Korrektur durch die verbleibenden Länder sich in Grenzen halten wird. 41 Länder Afrikas wiesen zwischen 1950 und 1987 einen Anstieg des BIP pro Kopf von 1, 2 Prozent pro Jahr auf. Dabei war der Wert für die Periode 1973-1987 mit — 0, 9 Prozent sogar negativ Bei Berücksichtigung nur der Länder der Subsahara 1950-1989 ergibt sich für die Gesamtperiode gar nur ein Wachstum von 0, 8 Prozent, der Rückgang seit dem Einbruch der Weltkonjunktur 1973 bis 1989 beträgt hier — 0, 5 Prozent pro Jahr Anders formuliert: Das BIP pro Kopf betrug in Afrika 1950 noch 11 Prozent des Durchschnittswertes der OECD-Länder; es ist bis 1989 auf 5 Prozent zurückgegangen (obwohl, absolut gesehen, immer noch gestiegen). Auch aus einem historischen Vergleich ist hier kein Trost zu schöpfen: Das BIP pro Kopf (513 US-Dollar) beträgt 1989 nur annähernd die Hälfte des britischen im Jahre 1700. Das britische Wachstum im 18. Jahrhundert war zwar noch geringer (etwa ein Zehntel des schwarz-afrikanischen Wertes seit 1950); alle anderen Ländergruppen, die zu Beginn unseres Jahrhunderts ähnliche Werte wie Schwarzafrika heute aufwiesen (Asien 405, Lateinamerika 645 und UdSSR 797 US-Dollar), die also eine nachholende Wirtschaftsentwicklung erfuhren, weisen in den folgenden Jahrzehnten säkular gesehen hohe Wachstumsraten auf, die sich im übrigen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teil dramatisch beschleunigt haben.
Auf den ersten Blick hoffnungsvoller erscheint die Situation im mittleren Osten mit einem Wachstum von 2, 8 Prozent 1950-1987. Auch hier ist jedoch einem hohen Wachstum 1950-1973 (5, 1 Prozent) ein massiver Rückgang (-0, 8 Prozent) gefolgt Der Vollständigkeit halber seien noch die Werte für 16 „kleinere“ lateinamerikanische und 11 „sonstige“ asiatische Länder angeführt. Wie sich zeigt, sind die Wachstumsraten der Tendenz nach ähnlich (Tab. 2).
VII. Entwicklungspolitische Folgerungen und Zusammenfassung
Der Einbruch der Weltkonjunktur 1973 quer durch alle Regionen mit Ausnahme Asiens weist auf die Bedeutung des externen Faktors „Ölpreisschock“ hin, mit dem alle Länder zu kämpfen hatten, den sie aber unterschiedlich gut bewältigt haben. Bei allen sonstigen Faktoren, die die Problemregionen in ihre mißliche Lage gebracht haben, bedeutet der Ölpreisschock den Unterschied zwischen Wachstum und Stagnation oder Rückgang des Sozialpro- duktes pro Kopf. Sicherlich nicht neu, aber durch unsere Zahlen erneut bestätigt: die eigentlich Leidtragenden des Ölpreisschocks sind die ärmsten Länder dieser Erde geworden.
Je mehr Zeit vergeht, um so weniger sind wir berechtigt, von „der“ Dritten Welt oder „den“ Entwicklungsländern zu sprechen Die Tücken der Exponentialrechnung führen schon nach wenigen Jahrzehnten dazu, daß bescheiden erscheinende Unterschiede von Wachstumsraten beträchtliche Unterschiede im Wohlstandsniveau verschiedener Länder produzieren. Die Ausdifferenzierung „der“ Dritten Welt schreitet fort, die Differenz des Wohlstandsniveaus nimmt zu, und zwar keineswegs nur zwischen dem Block „der“ Industrieländer und demjenigen „der“ Entwicklungsländer. Die Wohlstandsunterschiede innerhalb der Gruppe „der“ Entwicklungsländer sind inzwischen (in relativen wie absoluten Zahlen) größer als zwischen „den“ Entwicklungsländern und „den“ Industrieländern. Zwischen Arm und Reich gibt es keinen Graben, der die eine von der anderen Gruppe klar und unmißverständlich trennte; vom ärmsten bis zum reichsten Land gibt es vielmehr ein Kontinuum, das die Grenzziehung willkürlich erscheinen läßt (eine Beobachtung übrigens, die der englische Ökonom P. T. Bauer schon vor Jahrzehnten gemacht hat).
Zum gleichen Ergebnis (Auflösung des Entwicklungsländer-Begriffs) führt die angeführte Beobachtung, daß die bevölkerungsreichen Länder Asiens inzwischen (1987) fast zwei Drittel des Wohlstandsniveaus der reichen Länder im Jahre 1900 erreicht haben, die Lateinamerikaner dieses Niveau um 60 Prozent übertreffen und etwa da stehen, wo die westliche Welt 1950 stand. Wieso soll das saturierte Deutsche Reich 1900 kein, das heute mehr als doppelt so reiche Argentinien aber ein Entwicklungsland sein -mit allen damit verbundenen Weiterungen und Forderungen an Industrieländer, Argumentationen für Sammlungen durch entwicklungspolitisch tätige Organisationen etc.?
Mit Ausnahme der Problemregionen ist es nicht haltbar, von einer „Verarmung , der‘ Dritten Welt“ zu sprechen. Für die überwiegende Zahl der Menschen in diesem Raum hat unser Jahrhundert eine im historischen Vergleich beispiellose Wohlstands-steigerung mit sich gebracht, trotz aller Krisen und Rückschläge, eine Wohlstandssteigerung, die in der Regel die der heute führenden Industrieländer im 19. Jahrhundert bei weitem übertrifft Vor dem Hintergrund Hunderttausender Jahre menschlicher Existenz, die durch Bedrohung durch Hunger, und Krankheiten gekennzeichnet war, aus der erst die industrielle Revolution einen Ausweg bedeutete, ist dieser Erfolg nicht geringzuschätzen. Er ist mittel-bis langfristig geeignet, den bis ins 16. Jahrhundert bestehenden (ungefähren) Gleichstand der Hochkulturen in wirtschaftlicher Hinsicht wiederherzustellen.
Selbst das vielbeklagte Bevölkerungswachstum, das als Ursache vieler Probleme gilt, ist unter anderem Blickwinkel Ausdruck eines enormen sozialen Fortschritts: Nur in Ausnahmefällen ist es das Resultat einer Erhöhung der Geburtenraten, vielmehr meist auf eine radikale Verminderung der Sterblichkeitsraten (vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern), also auf eine Erhöhung der Lebenserwartung, zurückzuführen. „Entwicklung“ und „Unterentwicklung“ sind weniger denn je als Zustand denn als Prozeß zu begreifen, als Prozeß, der durch falsche Politik, Krieg oder Bürgerkrieg, gelegentlich auch durch die Ungunst der weltwirtschaftlichen Lage stets gefährdet erscheint. Kein „entwickeltes“ Land hat eine Garantie, stets zu den führenden Ländern zu zählen; kein „unterentwickeltes“ Ursache, sich auf die Dauer mit diesem Zustand abzufinden. Argentiniens Wohlstand vor dem Ersten Weltkrieg übertrifft den Finnlands, Japans und Norwegens und liegt fast gleichauf mit dem Italiens und Schwedens. Bis 1987 ist er hingegen sogar von Brasilien und Chile erreicht worden und beträgt weniger als ein Drittel des Durchschnitts-Wertes der OECD. Großbritannien weist um 1900 144 Prozent des Durchschnittswertes der OECD auf, im Jahre 1987 noch 83 Prozent. Umgekehrt Japan mit 35 Prozent um 1900 gegenüber 88 Prozent im Jahre 1987!
Noch immer bleibt unklar, inwieweit die Entwicklung der Dritten Welt mit der Entwicklungspolitik der Industrieländer kausal zusammenhängt. Kapitalzuflüsse aus dem Ausland können Wachstumsprozesse sicherlich beschleunigen, vorausgesetzt, sie werden investiv verwendet und führen nicht direkt oder indirekt (via Substitutionsprozesse) zu einer Erhöhung des Konsums. Ausgerechnet Argentinien hatte aber um 1913 Verfügung über Auslandskapital, das pro Kopf nur noch von Kanada übertroffen wurde Selbst im günstigsten Falle ist Auslandshilfe nur ein Faktor unter vielen, die Entwicklung möglich machen oder beschleunigen; aber noch so erfolgreiche Projekte, noch so hoher Zufluß von Auslandskapital können durch falsche Verwendung oder eine unverantwortliche Wirtschaftspolitik wirkungslos verpuffen oder sogar Probleme schaffen, statt sie zu lösen (z. B. die Schuldenkrise seit 1982).
Was folgt daraus für die Außen-und Entwicklungspolitik? Zunächst wäre der Westen gut beraten, die Einwände gewisser Vertreter der Dritten Welt über ihr hartes Los im Lichte der mitgeteilten Daten zu relativieren und zu einem guten Teil als Lobbyismus zu verstehen. Die lautesten Klagen kamen aus den Ländern, ja die entwicklungspolitische Orthodoxie ist über lange Jahre ausgerechnet von der Weltgegend (Lateinamerika) dominiert worden, die am wenigsten Grund zur Klage hatte. Für andere Vertreter der „Dritten Welt“ war das Spielen auf der Klaviatur von Schuldgefühlen des Westens wegen des Kolonialismus überaus einträglich (Tansania unter Nyerere) und hat sogar den Hinweis auf eine ineffiziente Wirtschaftspolitik durch die westlichen Geldgeber verboten. Soweit Entwicklungspolitik ihren Namen verdient, wäre eine harte Auflagenpolitik (Geld des deutschen Steuerzahlers nur einzusetzen bei räsonabler Aussicht auf Erfolg) bei Sozial-und Wirtschaftspolitik und bei Respektierung von Menschen-und Bürgerrechten zu empfehlen
Humanitäre Gesichtspunkte verbieten demgegenüber die Vernachlässigung der Problemregionen Afrika, Naher Osten und einzelner Länder auch in den erfolgreichen Regionen (etwa Bangladesch, Bolivien u. a.). Nur sollte man sich bewußt sein, daß ohne eine radikale Wende, wie sie etwa die Weltbank vor wenigen Jahren für Afrika vorgeschlagen hat hier nicht viel mehr als eine Art internationale Armenfürsorge möglich sein dürfte. Hier liegt der klassische Fall eines Zielkonfliktes vor: Unter Gesichtspunkten der Effizienz wäre eine Förderung der erfolgreichen Länder zu fordern, humanitäre Gesichtspunkte sprechen für die Hilfe an die ärmsten Länder.
Abschließend kann festgestellt werden, daß die Beobachtung historisch richtig ist, daß „die Reichen immer reicher werden“, auch wenn dies kein Naturgesetz ist. Falsch ist (von wenigen Ausnahmen abgesehen) aber die Behauptung, die Armen würden immer ärmer; äußerstenfalls werden sie nicht ganz so schnell reich wie die reichen Länder. Viele der „armen“ Länder sind heute erheblich reicher als die „reichen“ noch um die Jahrhundertwende oder nähern sich diesem Stand rasch an. Richtig ist allerdings auch, daß die Lücke zwischen den Industrie-ländern als Gruppe und den lateinamerikanischen und asiatischen Entwicklungsländern seit Anfang des Jahrhunderts zugenommen hat. Selbst hier ist aber seit 1973 wenigstens für Asien eine Trendwende eingetreten; der Kontinent wächst seither schneller als die Gruppe der Industrieländer. Die hohe Bevölkerungszahl Asiens bedeutet, daß das geringe Wachstum Lateinamerikas in Durchschnittswerten für Asien und Lateinamerika mehr als kompensiert wird. Beide Kontinente zusammen genommen wachsen daher seit 1973 schneller als der OECD-Raum. Zu Panik (oder zu der Annahme, daß die Kluft zwischen Nord und Süd „irreversibel“ ist) besteht kein Anlaß.
Ziel dieses Aufsatzes war es nicht, die Existenz von Hunger, Elend und Ausbeutung in der Dritten Welt zu leugnen oder zu verharmlosen. Die Zahlen beweisen aber wenigstens für Asien und Lateinamerika, daß soziale Reformprogramme jedenfalls nicht an der verfügbaren ökonomischen Redistributionsmasse scheitern müssen Eine ganz andere (und von außen nur bedingt beeinflußbare) Frage ist es natürlich, ob und wie weit nationale Eliten bereit sind, solche sozialen Reformprogramme in Angriff zu nehmen und damit ihr wohlverstandenes langfristiges Interesse vor die kurzfristige Verteidigung von politischen und wirtschaftlichen Vorteilen zu setzen.
Jürgen H. Wolff, Diplom-Volkswirt, Dr. phil. habil.; Professor für Soziologie der Entwicklungsländer an der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik und Gesellschaft der Entwicklungsländer.