Jugendliche in Brandenburg -Signale einer unverstandenen Generation
Dietmar Sturzbecher/Peter Dietrich
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Zusammenfassung
Die Jugendlichen in den neuen Bundesländern sind von den Folgen der Wende besonders betroffen und auf die aktuellen Anforderungen des Lebens als Bürger der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer bisherigen Sozialisationserfahrungen schlecht vorbereitet. Von der Gesellschaft erhalten sie bei der Bewältigung der neuartigen Anforderungen eine zu geringe Unterstützung. Eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und Benachteiligungen bei den beruflichen Entwicklungschancen, das Wegbrechen des zwar uniformen und politisch doktrinären, aber quantitativ breiten und weitgehend kostenfreien Jugendfreizeitangebotes der DDR, fehlende Kompetenz bei der Artikulation und Durchsetzung eines politischen Willens, eine starke Tendenz zur Auflösung sozialer (auch familialer) Beziehungen und geringe Übung im Umgang mit fremden Kulturen führen zu Verunsicherungen, Ängsten und Überforderungen, die sich u. a. in Gewalt, Fremdenfeindlichkeit sowie politischer Indifferenz oder Radikalismus äußern. Es besteht die große Gefahr, daß sich psychosoziale Probleme und Konflikte in Verbindung mit sozialen Desintegrationsprozessen massenhaft zu extremistischen Einstellungen und terroristischen Potentialen verfestigen.
I. Vorbemerkungen
„Die Jugendlichen in den neuen Ländern sind rassistisch und ausländerfeindlich, die nazistische Vergangenheit Deutschlands ist ihnen nicht Lehre und Mahnung, sie wird nicht mit millionenfachem Völkermord assoziiert, sondern mit deutschem Glanz, Abenteuer und Mannesmut. Dies alles wird genährt durch den Applaus der Älteren bei Gewaltaktionen gegen Asylbewerber und ist verwoben mit Arbeitsscheu, Jammerei, Zimperlichkeit und unverschämter Erwartungshaltung.“ Dieses hier in der Zusammenfassung sicher überzeichnete Bild wird dem unbefangenen Medien-konsumenten nicht nur durch Boulevardzeitungen der alten und neuen Bundesländer, sondern zunehmend auch durch die renommierte Auslandspresse und durch gut inszenierte TV-„Berichterstattung“ vermittelt. Prüfen wir exemplarisch eine dieser Aussagen -die behauptete extreme Ausländerfeindlichkeit der Ostdeutschen -auf ihre empirische Evidenz. Im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) -Gemeinschaftsprojekt des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) Mannheim und des Zentralarchivs (ZA) Köln -wurden im Juni 1992 repräsentative Zufallsstichproben von 2400 Westdeutschen und 1100 Ostdeutschen gezogen und die Testpersonen u. a. nach ihren Einstellungen zu Asylbewerbern befragt. Die Ergebnisse weisen auf eine im Vergleich deutlich niedrigere Asylbewerberfeindlichkeit in Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland und vielen anderen Ländern Westeuropas hin. Allerdings ist diese in den Altersgruppen ungleich verteilt: Im Westen erfaßt sie eher die ältere Generation, im Osten die jüngere.
Abbildung 5
Tabelle 5: Meinungen zu rechtsextremen Parolen (in Prozent) Quelle: wie Tabelle 1.
Tabelle 5: Meinungen zu rechtsextremen Parolen (in Prozent) Quelle: wie Tabelle 1.
Diese Aussagen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, daß rechtsradikale und fremdenfeindliche Verhaltensäußerungen, insbesondere von Jugendlichen, seit der Einigung zu einem festen Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Ostdeutschland geworden und daß diese beschämenden Aktionen ernst zu nehmen sind. Sie sollen aber einer unzweifelhaft vorhandenen Verdrängung und verzerrten Wahrnehmung der Problematik im Westen entgegenwirken sowie darauf hinweisen, daß bei der Suche nach Ursachen und praktikablen Interventionsansätzen nicht die „bewährten“ (westlichen) Erklärungsmuster, sondern die historischen und gegenwärtigen Lebensbedingungen der Jugendlichen im „Beitrittsgebiet“ im Zentrum der Betrachtung stehen müssen.
II. Problemdefinition
Abbildung 2
1. Tabelle 2: Einstellungen zur Nation (in Prozent) Quelle: wie Tabelle
1. Tabelle 2: Einstellungen zur Nation (in Prozent) Quelle: wie Tabelle
Mit dem Ende der DDR sind in den neuen deutschen Bundesländern unerwartet tiefgreifende Veränderungen mit ungewöhnlicher Dynamik in Gang gesetzt worden, die alle gesellschaftlichen Bereiche und natürlich auch die Lebensbedingungen der Jugendlichen betreffen. Damit verbindet sich „keineswegs nur ein Zuwachs an Freiheit..., schon gar nicht ein Abbau sozialer Ungleichheit. Mit einer Zunahme der Freiräume zur Gestaltung des eigenen Lebensweges ist auch die Herauslösung aus der selbstverständlichen Zugehörigkeit zu sozialen Lebenszusammenhängen... verbunden. Der einzelne kann, aber er muß auch zunehmend seinen Lebensweg selbst gestalten; vor allem muß er die Risiken des Scheiterns allein tragen.“
Abbildung 6
Tabelle 6: Jugendeinrichtungen im Kreis Oranienburg Quelle: Dietmar Sturzbecher/Peter Dietrich, Freizeitverhalten Jugendlicher und Freizeitangebote in Brandenburg (Forschungsbericht), Potsdam 1992.
Tabelle 6: Jugendeinrichtungen im Kreis Oranienburg Quelle: Dietmar Sturzbecher/Peter Dietrich, Freizeitverhalten Jugendlicher und Freizeitangebote in Brandenburg (Forschungsbericht), Potsdam 1992.
Die unter westlichen Sozialisationsbedingungen heranwachsenden Jugendlichen sind auf die Anforderungen, Manager und Promoter ihres Lebenslaufs zu werden, mehr oder minder gut vorbereitet. Von den Jugendlichen der neuen Länder dagegen wird die unerwartete Aufgabe, die an die Stelle einer zwar beschränkten, aber sicheren beruflichen Perspektive und eines damit verbundenen planbaren Lebensstils tritt, tendenziell alsÜberforderung und Bedrohung erlebt Dies gilt um so mehr, als die alten Werte wie bspw. kollektive Solidarität am Arbeitsplatz als Orientierungsmuster bei der Bewältigung der Anforderungen ungültig geworden sind und neue Werte, wie bspw. weitgehend von der eigenen Leistung abhängige berufliche Entwicklungschancen, angesichts eigener unzulänglicher Voraussetzungen und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wenig glaubhaft erscheinen. Ausdruck entstehender Verunsicherungen und Ängste bei Jugendlichen sind zum einen militante Forderungen nach einer Restauration sozialistischer Verhältnisse, die mit einer hohen gesellschaftlichen Anerkennung der Jugend und sozialer Geborgenheit für Schwache assoziiert wird. Auf der anderen Seite ist eine Welle der Jugendgewalt und Fremdenfeindlichkeit zu registrieren. Insbesondere die zuletzt genannten Symptome bedienen, wie bereits angesprochen, die sensationshungrigen Medien, aber auch die Klischees vom „faschistischen, chauvinistischen Deutschen“ im Ausland, die angesichts der Nazi-Vergangenheit und der Furcht vor dem wiedervereinigten Deutschland Konjunktur haben. Läßt sich diese Berichterstattung, die den derzeit zu beachtenden Verhaltensmustern ostdeutscher Jugendlicher althergebrachte Wertesysteme zugrunde legt, durch wissenschaftliche Befunde untermauern?
III. Probleme Jugendlicher des Bundeslandes Brandenburg -Ergebnisse dreier Untersuchungen
Abbildung 3
Tabelle 3: Einstellungen gegenüber Ausländern (in Prozent) Quelle: wie Tabelle 1.
Tabelle 3: Einstellungen gegenüber Ausländern (in Prozent) Quelle: wie Tabelle 1.
Zur Beantwortung dieser Frage können die Ergebnisse dreier Studien beitragen, die Ende 1991 vom Institut für Familien-und Kindheitsforschung an der Universität Potsdam durchgeführt wurden.
Abbildung 7
Tabelle 7: Einstellungen zur Demokratie (in Prozent) Quelle: wie Tabelle 1.
Tabelle 7: Einstellungen zur Demokratie (in Prozent) Quelle: wie Tabelle 1.
Dies sind -eine für das Bundesland Brandenburg repräsentative Jugendbefragung zur individuellen Konflikt-und Problembelastung, zukulturellen und politischen Orientierungen, zur Fremden-feindlichkeit und zum Freizeitverhalten; -eine Analyse von Interviews mit Mitgliedern der rechtsradikalen (Skinhead-) Szene zu ihrer Lebenssituation und ihren Zukunftserwartungen, zum Nationalbewußtsein und zur Einstellung gegenüber Fremden sowie -eine für den Kreis Oranienburg (ca. 126000 Einwohner in 45 Kommunen) repräsentative Analyse der Freizeitangebote für Jugendliche.
In die repräsentative Fragebogenerhebung des Bundeslandes Brandenburg waren 1644 vierzehn-bis achtzehnjährige Schüler und Auszubildende einer Zufallsauswahl von 42 Schulen und Oberstufenzentren einbezogen. Im Rahmen der zweiten Studie wurden Interviews mit 40 Angehörigen (32 Männer und 8 Frauen zwischen 15 und 22 Jahren) von Gruppierungen der Jugendszene, die sich selbst als Sympathisanten rechtsradikaler Gruppen verstehen bzw. als solche gelten, geführt Den Interviews lag ein vom Institut entwickelter teilstandärdisierter Interviewleitfaden zugrunde. Die dritte Studie beinhaltet die Ergebnisse einer schriftlichen Befragung von 40 Bürgermeistern. Zusätzlich wurden insgesamt 17 Experteninterviews mit Mitarbeitern von Jugendämtern und Leitern von Jugendeinrichtungen über Verbreitung und Erscheinungsformen gewalttätiger Jugendgruppen geführt.
Sicher können die Ergebnisse der drei Teilstudien nur einen kleinen Ausschnitt der komplexen Lebenssituation Jugendlicher erhellen. Aber sie stellen erste Momentaufnahmen vom Weg einer ostdeutschen Generation in eine noch fremde Gesell-schäft dar. Momentaufnahmen bleiben sie vorläufig auch deshalb, weil aus vielfältigen Gründen unter regionalen oder historischen Aspekten vergleichbare Forschungsergebnisse kaum greifbar sind. Der Wandel der Wertvorstellungen der Jugendlichen wird deshalb erst in Folgeuntersuchungen quantitativ und qualitativ näher bestimmt werden können.
In den folgenden, auf bestimmte Wertebereiche bezogenen Ausführungen werden wir immer zuerst die Ergebnisse der Interviews mit der (Extrem-) Gruppe der Skinheads und danach die Ergebnisse der landesrepräsentativen Jugend-befragung vorstellen. Letztere halten wir aufgrund der weitestgehend ähnlichen historischen und aktuellen Lebensbedingungen in allen neuen Bundesländern auch für die Situation aller ostdeutschen Jugendlichen für aussagekräftig. 1. Jugend und berufliche Karriere Aus den Darlegungen der Skinheads über ihre Lebenssituation und ihre Zukunftserwartungen wird durchgängig eine dominierende „Normalitätssehnsucht“ deutlich. Erstrebt werden ein sicherer Arbeitsplatz, eine Familie, eine eigene Wohnung, ein PKW, vor allem aber Zukunftssicherheit. Dieser Grundorientierung folgend, sehen fast alle Befragten die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe als vorübergehend an. Sie soll mit einem festen Arbeitsplatz und einer festen Partnerbeziehung enden.
Zwei Hauptprobleme werden von den Jugendlichen immer wieder genannt: die unsicheren Aussichten auf einen Ausbildungs-bzw. Arbeitsplatz und die fehlenden Freizeitangebote (auf die wir an anderer Stelle noch eingehen werden). Die erstgenannten Ängste sind durchaus realistisch, die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Brandenburg mit knapp 20 Prozent wesentlich höher als die allgemeine Arbeitslosenrate von ca. 14 Prozent. Betroffen sind vor allem Jugendliche, die nach der Lehre nicht in ein Arbeitsverhältnis übernommen werden oder denen man aufgrund ihres Alters und geringerer familialer Verpflichtungen mehr berufliche Mobilität und Disponibilität bzw. Flexibilität in der Umschulung zumutet. Gegen solcherart motivierte Entlassungen sind Jugendliche oft machtlos, da es im Rahmen der tradierten Interessenvertreter der Arbeitnehmer wie Gewerkschaft oder Personalrat kaum Vertreter von Jugendinteressen gibt. Eine weitere Benachteiligung Jugendlicher auf dem Arbeitsmarkt besteht darin, daß un-ter DDR-Bedingungen ordnungsgemäß erworbene berufliche Abschlüsse gegenwärtig mit Hinweis auf fehlende Berufserfahrung vielfach nicht anerkannt oder Nachqualifikationen gefordert werden.
Fehlende berufliche Perspektiven tragen offenbar zu einem Ansteigen von Aggression und Kriminalität bei: Die Städte mit den höchsten Zahlen an männlichen Arbeitslosen unter 25 Jahren sind im Jahr 1992 übrigens in ähnlicher Reihenfolge auch die Brennpunkte der Jugendgewalt: Cottbus (768), Fürstenwalde (540), Oranienburg (518), Ebers-walde (452), Frankfurt/Oder (450)
Die Zukunftsängste, die sich in den Interviews mit den Skinheads zeigten, lassen sich auch in den Ergebnissen der landesrepräsentativen Jugendbefragung finden. Als die wichtigsten psychosozialen Konflikte und Probleme nannten die Jugendlichen Bedrohungen durch die zunehmende Umweltzerstörung (Platz 1) und den unkontrollierten Anstieg der Asylbewerberzahlen (Platz 2), weiterhin die Kriegsgefahr, die vom Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens ausgeht (Platz 4), sowie Ängste, die die berufliche Karriere betreffen.
Folgerichtig finden wir, daß im Landesmaßstab mehr als ein Viertel aller Jugendlichen immer oder oft unter der Angst leidet, nach der Schule oder Lehre keine Lehr-oder Arbeitsstelle zu bekommen, oder darüber nachdenkt, wegen der düsteren Perspektiven in den Westen zu gehen. Gewiß, dem westlichen Betrachter erscheinen diese Zahlen nicht ungewöhnlich, die Zukunftsunsicherheit mag nicht höher als in Oldenburg oder Essen sein. Aber das Ergebnis, daß ca. ein Viertel der Jugendlichen „immer oder oft“ (Skalenstufe des Fragebogens) karrierebezogene Zukunftsängste reflektiert, sagt noch nichts über das vermutlich hohe individuelle Belastungsniveau und führt zu falschen Interpretationen, wenn man die Sozialisationserfahrungen der Jugendlichen nicht in Rechnung stellt: Die Fähigkeit, den mit solchen neuartigen Konflikten verbundenen Streß zu ertragen, wurde in der DDR ebensowenig erlernt wie die entwicklungsfördernde Konfliktbewältigung. So konnten wir bspw. anhand signifikanter Mittelwertunterschiede in Untersuchungen unseres Instituts feststellen, daß schon in der Familien-erziehung von Vorschulkindern ostdeutsche Eltern Erziehungsziele, die auf Konformität gerichtet sind (bspw. Gehorsam, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Ordnung, Ehrgeiz), wesentlich bedeutsamer einschätzten, als westdeutsche Eltern. Dagegen waren die Erwartungen an das Selbstbewußtsein der Kinder sowie ihre Selbständigkeit, Aufgeschlossenheit und Kritikfähigkeit signifikant geringer ausgeprägt als im Westen Die Wunschkinder des Ostens dürften also in einer Ellenbogengesellschaft die schlechteren Karten haben. Sie erscheinen sozial beziehungsbedürftiger, angepaßter und ehrgeiziger, sie haben aber leider auch geringere Chancen, diesen Ehrgeiz in einer beruflichen Karriere zu befriedigen.
In Kindergarten und Schule finden wir die gleiche Überbetonung von Disziplin und Wohlverhalten, darüber hinaus unzureichend differenzierte Bildungsangebote sowie einen autoritären Erziehungsstil, letztlich also eine Ausrichtung von Bildung und Erziehung auf Individualitätsverzicht: nicht Selbständigkeit, Phantasie und Kreativität bei der Problemanalyse und -bewältigung in der DDR im intellektuellen, ästhetischen und sozialen Bereich wurden gefordert, der pädagogische Schwerpunkt lag vielmehr auf der Vermittlung eines im Alltag kaum anwendbaren Wissens und auf dem Einüben kollektivistischen Verhaltens, d. h. letztlich also darauf, vorgegebene Leistungen zu reproduzieren Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, daß es vielen Jugendlichen an Eigeninitiative, Selbstbewußtsein, sozial-kommunikativen und Problemlösungsfähigkeiten mangelt, mithin an Fähigkeiten und Eigenschaften, die angesichts neuartiger Anforderungen und Lebensbedingungen existentielle Bedeutung erlangen.
Zu diesen Anforderungen zählt bspw., daß man sich einen Ausbildungs-oder Arbeitsplatz in einer Konkurrenzsituation erkämpfen und dabei seine individuellen Vorzüge selbstbewußt darstellen muß. In der DDR gab es staatlich gesteuerte Vermittlungsmechanismen, die jedem Absolventen eines Ausbildungsganges einen (wenn auch nicht immer den gewünschten) weiterführenden Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle garantierten, ohne daß es dazu besonderer Anstrengungen bedurfte. Da es sich um eine geschlossene Gesellschaft ohne freien Wohnungsmarkt handelte, mußte dieser Ausbildungs-oder Arbeitsplatz meist in Wohnortnähe gefunden werden; bei der Auswahl von Berufsbewerbern war für die Arbeitgeber die Lösung des Wohnungsproblems oft wichtiger, als eine spezielle berufliche Qualifikation. Dies führte in Ostdeutschland zu einer gewissen Bodenständigkeit, die die Mobilität und Disponibilität der Jugendlichen heute einschränkt.
Psychosoziale Belastungen, die sich auch in einem dramatischen Ansteigen der Jugendgewalt und der Suizidrate äußern, werden durch das Fehlen sozialer Netze und Defizite in der Jugendhilfe erhöht. Erhalten Jugendliche im allgemeinen in der Schulund Ausbildungsphase Orientierungshilfen oder auch finanzielle Mittel durch ihre Familien oder öffentliche Einrichtungen, so steht den ostdeutschen Jugendlichen diese Unterstützung nur in geringerem Maße zur Verfügung. Der Grund dafür ist, daß Beratungsstellen der Kommunen und öffentlichen Träger nur schleppend entstehen und die Mütter und Väter der Jugendlichen vielfach selbst ihre berufliche Existenz verloren haben. Damit geht bei den Eltern häufig der Verlust ihrer Orientierungsfunktion und Unterstützungsbereitschaft einher: Eltern und Jugendliche befinden sich -bezogen auf ihre Lebenskarriere -im gleichen Stadium, in der gleichen Rolle, sie suchen nach neuen Lebensmustern und versuchen, sich -mit allen Risiken und Ängsten -auf eine tragfähige berufliche Existenz vorzubereiten. Das hat einerseits eine gewisse Solidarität der Generationen zur Folge; Jugendliche werfen den Älteren kaum das, zumindest durch fehlenden Widerstand akzeptierende, Ausharren in sozialistischen Verhältnissen vor. Andererseits wird das Familienklima repressiver; wechselseitige Hilfe, Trost und Kompromißbereitschaft nehmen angesichts individueller Probleme und Belastungen ab. Dafür fanden wir Belege bei einer Befragung von 76 Magdeburger Kindern vermutlich würde sich dieses Ergebnis in Familien mit Jugendlichen bestätigen.
Setzt man also die im wesentlichen durch Erziehung und Bildung in einem andersartigen Gesellschaftssystem geprägten Persönlichkeitseigenschaften der Jugendlichen, die vom Inhalt und ihrer fehlenden Vorhersehbarkeit her neuartigen Anpassungsforderungen sowie die unzureichenden öffentlichen und familialen Hilfen bei ihrer Bewältigung ins Verhältnis, wird deutlich, daßnicht fehlende individuelle Anstrengungsbereitschaft die Schuld an den Adaptionsproblemen eines Teils der Jugendlichen trägt.
Der genannte Zusammenhang spricht einerseits dafür, daß die Anpassungsprobleme schwinden werden. Andererseits ist diese Prognose aber zumindest für die derzeitige Generation der Jugendlichen unsicher. Der Verlust einer zwar beschränkten, aber doch sicheren beruflichen Perspektive wird nicht auf die eigene Unvollkommenheit, sondern auf die unbekannte Marktwirtschaft, das neue politische System oder seine personifizierten Vertreter, die sogenannten „Wessis“, zurückgeführt. Angesichts derzeit fehlender eigener Entwicklungschancen wird von den jungen Menschen nicht erkannt oder verdrängt, daß die ehemals sichere Perspektive über eine „verdeckte Arbeitslosigkeit“ ermöglicht wurde und mit einer Nivellierung individueller Entwicklungschancen und Mißwirtschaft einherging.
Der Selbstwertverlust vieler Jugendlicher, der aus dem derzeitigen Ausschluß vom Arbeitsmarkt resultiert, wird verstärkt durch den dadurch erzwungenen Konsumverzicht (viele für Jugendliche attraktive Konsumgüter wie Unterhaltungselektronik sind ihrem Geldwert nach heute wesentlich billiger, aber wegen der geringen Einkommen unerschwinglich) und die Erfahrung, daß mit hohem sozialen Status verbundene Positionen in Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik zunehmend von Bewerbern aus Westdeutschland eingenommen werden. Vor diesem Hintergrund wandeln sich die überzogenen Erwartungen an die Marktwirtschaft in Skepsis und Resignation; die einst vielfach belächelten „sozialistischen Ideale“ und „sozialen Errungenschaften“ gewinnen neue Bedeutung und neuen Glanz. Dieser Befund wird durch die Ergebnisse in Tabelle 1 gestützt.
Die in Tabelle 1 zusammengefaßten Befragungsergebnisse verdeutlichen die außerordentliche Skepsis, die fast die Hälfte der Jugendlichen dem nun auch in Ostdeutschland eingeführten marktwirtschaftlichen System entgegenbringen. Mädchen sprechen sich übrigens signifikant häufiger und entschiedener gegen die Marktwirtschaft aus. Sie haben offensichtlich erkannt, daß Frauen von der neuen Arbeitslosigkeit viel häufiger betroffen sind als Männer. Dies wie auch der Abbau der institutioneilen Kinderbetreuung oder die drohende Verschärfung des Abtreibungsrechts wird als Angriff auf eine errungene Unabhängigkeit der Frauen in Ostdeutschland erlebt, die sicher nicht mit Gleichberechtigung gleichgesetzt werden konnte.
Insgesamt deutet sich bei den Jugendlichen Widerstand gegen die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung an. Dieser wird u. a. dadurch genährt, daß die Jugend durch spezielle sozialpolitische Maßnahmen in der Vergangenheit gegenüber anderen Altersgruppen wie Senioren deutlich bevorzugt wurde und deshalb die jetzige Zurücksetzung besonders deutlich empfindet. Und so entwickelt sich diese „Wendegeneration“ Jugendlicher teilweise zu provokanten „Wendeverlierern“ -zu einer „verlorenen“ Generation mit unzeitgemäßen Idealen und unrealistischen Wünschen, aber ohne brauchbare Ausbildung und übliche Hilfen. Demgegenüber hat die nachfolgende Generation Zeit, die geforderten Sozialisationsleistungen zu trainieren; die vorangehende hat sich vielfach bereits mittels größerer Lebens-und Berufserfahrung erfolgreich anpassen können. 2. Jugend und Nationalismus In Zusammenhang mit dem Bild, das die Medien von ostdeutschen Jugendlichen zeichnen, wird oft von einem „neuen Nationalismus“ gesprochen. Wir haben deshalb versucht . aufzuhellen, welche Bedeutung „Deutschland“ für die Jugendlichen besitzt und welchen Platz es in der Gemeinschaft der Nationen einnehmen soll. Wenden wir uns zuerst wieder den Aussagen der Skinheads zu.
Diese Jugendlichen reklamieren für sich zunächst einmal das Recht auf ein deutsches Nationalgefühl. Patriotismus und seine Zurschaustellung bis hin zu seiner Propagierung als wesentliches Erziehungsziel gehören in anderen Nationen zur Normalität, was die Jugendlichen sensibel registrieren. Verständlich wird die Nachdrücklichkeit, mit der ein deutsches Selbstwertgefühl beansprucht wird, aber auch die unbewußte oder politisch motivierte Umdeutung dieses Nationalgefühls durch Außen-stehende in eine politische Ideologie bzw. Bewegung jedoch nur, wenn man die historischen Hintergründe in die Betrachtung einbezieht. Der Aufblähung und Instrumentalisierung des Wertes „Nation“ durch die Nationalsozialisten folgte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein gegenläufiger Prozeß: Nationalbewußtsein zu haben oder Nationalgefühl zu zeigen war in Deutschland nicht mehr opportun und wurde in beiden Staaten stigmatisiert. Dieser Prozeß, der sich besonders in der institutionalisierten Erziehung zeigte, hielt in der DDR tendenziell bis zu ihrem Ende an, wenn sich auch seit Mitte der siebziger Jahre Bemühungen zeigten, die mit diesem Prozeß verbundene „Geschichtslosigkeit“ staatlich gesteuert zu überwinden. Das Zurschautragen von Nationalgefühl besaß aber in Ostdeutschland Symbolcharakter für einen individuellen Widerstand gegenüber der politischen Unfreiheit und wird nun, da der staatliche Widerstand weggefallen ist, ausgelebt. Es handelt sich wahrscheinlich „nur“ um ein vorübergehendes, „nachlaufendes“ Phänomen. Ein Indiz für diese Vermutung ist, daß Nationalgefühl sich in den Interviews immer in Form der Ablehnung einer (angeblichen) Zurücksetzung durch Angehörige fremder Nationen bzw. einer zugemuteten Selbst-Zurücksetzung artikuliert. Darüber hinaus wird „Nation“ in Ostdeutschland als Solidargemeinschaft in Anspruch genommen, was aus der schweren moralischen, ökonomischen und sozialen Krise zu erklären ist. Mit Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit und die Zukunftsunsicherheit fordern die Jugendlichen, daß Unterstützungen an Entwicklungsländer und internationale Krisengebiete unterbleiben sowie Nicht-Deutsche und vor allem Asylbewerber von sozialen Leistungen ausgeschlossen werden, solange der wirtschaftliche Aufschwung in Ostdeutschland noch aüssteht. Forderungen nach einer Dominanz der deutschen Wirtschaft und Politik in Europa und der Welt stellten in den Interviews die Ausnahme dar. Ebenso wie das akzentuiert patriotische Gebaren dürfte auch die zuweilen in den Interviews geäußerte Sympathie mit dem Nationalsozialismus Folge der einseitigen Aufarbeitung deutscher Geschichte in den Schulen der DDR und Ausfluß aktuell vorhandener sozialer Ängste sein. Die Jugendlichen vermuten, daß auch das vermittelte Bild vom Nationalsozialismus negativ verfälscht wurde und interpretieren bspw. die im Verlaufe der Kriegsvorbereitung abnehmende Arbeitslosigkeit im Nazideutschland vor dem Hintergrund eigener Wünsche außerhalb des historischen Zusammenhangs. Die damit verbundene retrospektive Umdeutung wird durch das erlebte wirtschaftliche und politische Versagen des sozialistischen Systems gefördert, das sich stets als überlegen dargestellt hat. Es muß darauf hingewiesen werden, daß die hier wiedergegebenen Einstellungen von Angehörigen einer Jugendkultur (Skinheads) geäußert wurden, der ca. drei Prozent der Jugendlichen angehören und weitere ca. 16 Prozent der befragten Jugendlichen Sympathie entgegenbringen. Es ist jedoch zu vermuten, daß diese Wertvorstellungen latent auch im Bewußtsein anderer Bevölkerungsgruppen präsent sind. Dies zeigt sich auch in den in Tabelle 2 zusammengestellten Ergebnissen der landesrepräsentativen Jugendbefragung.
Erschreckend erscheint vor allem, daß ca. 17 Prozent der Jugendlichen einer Aussage zustimmen (Aussage 1), mit der ein offen revanchistischer Inhalt angesprochen wird und die auf eine nicht gewaltlos zu erreichende Änderung des Status quo in Europa zielt. Diese Zustimmung liegt höher, als das bei den Erwachsenen der Fall ist und wirkt auch deshalb beängstigend, weil anscheinend fünf Prozent der Jugendlichen militärische Mittel bei einer Neuordnung der europäischen Grenzen akzeptieren würden (Aussage 4). Jeweils die Hälfte der Jugendlichen wünscht sich ein blockfreies, neutrales Deutschland (Aussage 2) bzw. ein einheitliches, freies und demokratisches Europa (Aussage 3). Die Zustimmung zur Europa-Idee liegt im Trend von Befragungen, die für die Bundesrepublik repräsentativ sind, während die Präferenzen für ein neutrales Deutschland dem NATO-Engagement der derzeitigen Bundesregierung und ihrem Wunsch nach militärischer Präsenz im Rahmen von UN-Missionen entgegengerichtet zu seinscheinen. Insgesamt erstaunt die hohe Anzahl indifferenter Äußerungen.
Betrachten wir die Untersuchungsergebnisse in Abhängigkeit von soziographischen Variablen (Alter und Geschlecht der Befragten, Schultyp und Wohnumfeld), so fällt eine Fülle signifikanter Unterschiede auf, denen jedoch meist nur schwache Zusammenhänge zugrunde liegen. Jedoch ließen sich keine Unterschiede zwischen Jugendlichen in Städten und auf dem Lande finden. Der Aussage „Ich bin für ein Deutschland in den Grenzen von 1937“ stimmen Gesamtschüler und Auszubildende eher als Gymnasiasten und Jungen eher als Mädchen zu; die Zustimmung wächst generell mit dem Alter der Befragten. Mädchen zeigen (Aussage 2 ausgenommen) insgesamt ein unentschlosseneres Antwortverhalten. In Zusammenhang mit der vierten Aussage artikulieren sie einen deutlich stärker ausgeprägten Wunsch nach Frieden; dieser Wunsch wird in bezug auf die Gesamtstichprobe mit zunehmendem Alter schwächer und ist bei den Gymnasiasten am stärksten ausgeprägt.
Hinsichtlich der Ideen eines neutralen Deutschland (Aussage 2) bzw. eines einheitlichen Europa (Aussage 3) gibt es mehr Zustimmung, aber auch mehr Ablehnung von Jungen, was durch die große Zahl indifferenter Mädchenaussagen ermöglicht wird. Beide Ideen verlieren mit zunehmendem Alter an Attraktivität, die größte genießen sie wiederum bei Gymnasiasten. Die signifikanten Unterschiede zwischen den Antworten der Mädchen und Jungen insbesondere bei der Aussage „Wir brauchen den Frieden zwischen allen Völkern“ spiegeln u. a. eine größere „Problem-“ und „Konfliktsensibilität“ der Mädchen wider. Sie sind „ängst-licher“, zeichnen sich durch ein stärker „sozial bezogenes Denken“ aus und sind durch Schilderungen von Kriegsfolgen stärker beeindruckt als Jungen. Männliche Jugendliche interessieren möglicherweise andere politische Themen stärker als die Kriegsgefahr, die aufgrund der schwindenden Ost-West-Konfrontation zum Zeitpunkt der Untersuchung deutlich gesunken war. 3. Jugend und Fremdenfeindlichkeit Betrachten wir die Einstellungen der Jugendlichen des Landes Brandenburg zu sozialen Außenseitern, so sind sie bei den befragten Skinheads von der gleichen kleinbürgerlichen Normalitäts-Norm geprägt, wie die oben skizzierten Wünsche an das eigene Leben: Gegenüber Linken, Homosexuellen oder Asylbewerbern wird eine aggressive und intolerante Haltung eingenommen. Der Wunsch nach einer kulturellen, ethnischen, politischen und sexuellen Homogenität ist affektiv hoch besetzt, die Ablehnung des vermeintlich „Unnormalen“ reicht bis zum Haß.
Bei einem Teil der Befragten wird die Fremden-angst mit dem Argument der Konkurrenz auf dem Wohnungs-und Arbeitsmarkt begründet. Ausländer, also meist gleichfalls sozial und finanziell schlecht gestellte Gruppen, werden als Konkurrenzklientel der Sozialpolitik wahrgenommen und sollen mit dem Hinweis auf ihre Andersartigkeit abgewertet und ausgeschlossen werden. Die vorgebrachten Begründungen enthalten selten Argumente des „klassischen“ Rassismus, sie sind eher dem Apartheid-Prinzip des sogenannten „Ethnozentrismus“ entlehnt. Ihr Wesen liegt im Beharren auf einer Unvereinbarkeit mit dem anderen; die Kriterien, nach denen er bestimmt wird (Natur oder Kultur), spielen keine Rolle. Die Völker und Ethnien sollen „ihre Kultur“ ausleben -aber ebenjeweils für sich und auf ihrem Territorium. Auf diese Weise erhält die Beschwörung der eigenen, nationalen Kultur ausgrenzenden Charakter.
Latent zeigen sich diese Einstellungen auch in den in Tabelle 3 zusammengestellten Ergebnissen der landesrepräsentativen Jugendumfrage. Bei der Interpretation ist zu beachten, daß der Ausländeranteil in Brandenburg zum Zeitpunkt der Erhebung unter einem Prozent lag, eine reale Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt also nicht gegeben war. Die Ergebnisse zeigen eine erschreckende ausländerfeindliche Stimmung, die im Vergleich mit den Ergebnissen einer Untersuchung aus dem Jahr 1991 im Bundesland Sachsen eher zu wachsen scheint. Waren es in Sachsen nur 27 Prozent der Jugendlichen, die sich von Ausländern bedroht fühlten so liegt dieser Anteil in Brandenburg mit mehr als 40 Prozent beträchtlich höher. Die Fremdenfeindlichkeit der Jungen ist in allen diesbezüglichen Aussagen signifikant stärker ausgeprägt als die der Mädchen, die Auszubildenden (31, 6 Prozent) äußern ein signifikant höheres Bedrohungsgefühl hinsichtlich einer „Überschwemmung“ durch Ausländer, als die Gesamtschüler (23, 5 Prozent) und Gymnasiasten (19, 1 Prozent)
Diese Ergebnisse stützen die Vermutung, daß nicht Rassismus, sondern Konkurrenzangst auf dem Arbeitsmarkt die bestimmende Ursache der Ausländerfeindlichkeit ist: Jungen reagieren aufgrund ihrer Geschlechterrolle als künftige „Ernährer“ stärker auf vermeintliche Gefährdungen ihres künftigen Arbeitsplatzes: Es seien vor allem ausländische Männer, die nach Abschluß der Lehre mit ihnen konkurrierten. Dies gilt bspw. für Polen, die oft in der Baubranche als Gastarbeiter beschäftigt sind. Sie werden demzufolge häufig abwertender eingeschätzt als Vietnamesen, obwohl bei Vorliegen rassistischer Wertemuster letztere als Nicht-Europäer eher diskriminiert werden müßten. Das hat die von uns im Rahmen der landesrepräsentativen Jugendbefragung vorgenommene Erhebung (vgl. Tabelle 4) ergeben, in der es darum ging, welche Eigenschaftsprofile von „generalisierten Bürgern“ verschiedener Nationen von den Jugendlichen wahrgenommen werden.
Ein weiterer Grund der Ausländerfeindlichkeit scheint das Fehlen sozialer Erfahrungen mit Ausländern zu sein, von Möglichkeiten, fremde Kulturen zu erleben und schätzen zu lernen. Die DDR war eine monokulturelle Gesellschaft mit einem äußerst geringen Anteil ausländischer Mitbürger (weniger als ein Prozent der Bevölkerung), die in speziellen Wohnheimen und Betriebsabteilungen wohnten und arbeiteten und deshalb kaum integriert wurden.
Von der Ausländerfeindlichkeit profitieren politische Gruppierungen, die Fremdenhaß als Teil eines politischen Programms schüren und konsequent die von der breiten Öffentlichkeit gewünschte Verschärfung des Asylrechts fordern. So erhielten auch zwei zentrale neonazistische Parolen beträchtliche Zustimmung bei der landesrepräsentativen Jugendbefragung (vgl. Tabelle 5). Es sei angemerkt, daß es sich bei Aussage 1 um einen harten und bei Aussage 2 um einen weichen Indikator handelt.
Trotzdem ist davor zu warnen, diese Ergebnisse einseitig und verkürzt als Zunahme rechtsorientierter Einstellungen unter Jugendlichen zu interpretieren. Insbesondere das Ergebnis zur zweiten Aussage, die mit 85, 7 Prozent den höchsten Zustimmungsgrad erreichte, dürfte Ausdruck des Be-B dürfnisses der Jugendlichen nach mehr Ordnung und Sicherheit im öffentlichen Leben und nach Zurückdrängen der Kriminalität durch staatliche Maßnahmen sein, wie dies auch in der Öffentlichkeit immer wieder gefordert wird. Offenbar wird der Unterschied zwischen relativ hoher öffentlicher Sicherheit in der DDR und dem steilen Anstieg der Kriminalität nach der Wende als beängstigend erlebt, wenngleich die Gewaltkriminalität noch weit unter westdeutschem Niveau liegt. 4. Jugend und Freizeit In der DDR wurde ein Teil der Freizeit der Jugendlichen durch schulische Angebote ausgefüllt, für deren Organisation Lehrer verantwortlich waren. Zu den vielfältigen Möglichkeiten gehörten Interessen-und Sportgemeinschaften ebenso wie kulturelle (Theaterbesuche, Diskotheken) und politisch-agitatorische Veranstaltungen.
Ergänzt wurden diese Offerten durch ein zumindest quantitativ breites Freizeitangebot in Jugendbegegnungsstätten von Kommunen und großen Firmen, das sich wie folgt charakterisieren läßt: Alle Aktivitäten, die sich vom Inhalt her und in der Durchführung im staatlich verordneten Rahmen bewegten, erfuhren, ohne wesentliche Anforderungen hinsichtlich der Qualität nachweisen zu müssen, eine großzügige finanzielle Förderung. Bemühungen, die ein Ausbrechen aus den vorgegebenen ideologischen Bahnen erkennen ließen, wurden behindert und unterdrückt.
Dies hat einerseits dazu geführt, daß Jugendarbeit nivelliert wurde und kreative Freiräume versperrt blieben. Auch förderte die Finanzierungspraxis nicht die Fähigkeit der Jugendsozialarbeiter, Mittel zweckorientiert zu beantragen und zu verwenden, was heute eine Voraussetzung für erfolgreiche Jugendarbeit ist. Andererseits existierten ausreichend Freizeitstätten, in denen sich die Jugendlichen im vorgegebenen Rahmen weitgehend selbstbestimmt und ohne nennenswerte Kosten treffen konnten. Das ist heute nicht mehr der Fall, wie wir am'Beispiel des Kreises Oranienburg zeigen wollen. Besonders hart ist die ländliche Jugend vom Abbau kommunaler Jugendfreizeiteinrichtungen betroffen (vgl. Tabelle 6).
Wie die kommunalen wurden auch die schulischen Freizeitangebote weitgehend abgebaut; die Lehrer sind nicht mehr dafür verantwortlich. Über 80 Prozent der Jugendlichen des Kreises Oranienburgsind völlig oder zumindest teilweise mit den gegenwärtigen schulischen Freizeitangeboten unzufrieden. Im Maßstab des Landes Brandenburg gaben nur 54, 8 Prozent der befragten Jugendlichen auf dem Lande und 79 Prozent in den Städten an, daß in ihrem Wohnumfeld eine Jugendeinrichtüng existiert. Wiederum die Hälfte dieser Jugendlichen kann oder will diese Angebote nicht nutzen, was von ihnen mit dem westdeutschen Preisniveau (nicht am Finanzbudget ostdeutscher Familien orientierte Preise), unangemessenen Öffnungszeiten und Gewalttätigkeiten im Rahmen von Inter-Gruppen-Konflikten unter Angehörigen verschiedener jugendlicher Subkulturen begründet wird.
Die Defizite an jugendgemäßen Freizeitangeboten haben schwerwiegende Folgen. Eine davon ist Langeweile, die in Alkoholmißbrauch und Gewalttätigkeit mündet. Einer der befragten Skinheads hat es so formuliert: „Weißt du, wenn du gar nicht mehr weißt, was du machen sollst, baust du eben Scheiße. “ Und: „Ich glaube, es gibt keinen jugendlichen Gewalttäter, der nüchtern ist. “ Eine andere Folge besteht darin, daß die Jugendlichen den Mangel an jugendorientierten Freizeitstätten und -angeboten als soziale Abwertung empfinden. Dies schürt Aggressivität und Gewalt, die sich aber nicht gegen die verantwortlichen Kommunalpolitiker, sondern stellvertretend gegen die leicht auffindbaren sozialen Außenseiter richten, für deren Verfolgung sich leichter vermeintlich rationale Begründungen und auch Beifall in der Öffentlichkeit finden lassen. 5. Jugend und Zukunft Unser Beitrag über Jugendliche des Landes Brandenburg, in dem auch Entwicklungstrends für die Jugend Ostdeutschlands insgesamt reflektiert wurden, zeichnet ein für Außenstehende widersprüchliches Bild: die große Nachfrage nach ausländischen Investoren in Ostdeutschland, die endlich errungene Reisefreiheit passen nicht zur Ausländerfeindlichkeit; die großzügige finanzielle und personelle Unterstützung durch die alten Bundesländer lassen die Diffamierung der „Wessis“ als Undankbarkeit erscheinen; die erwartete Aufbruchstimmung, die der endlich errungenen Freiheit folgen sollte, will bei den ostdeutschen Jugendlichen nicht aufkommen. Wo liegen die Gründe? Wo sind Unterschiede zu anderen Ländern des ehemals sozialistischen Osteuropa?
Zunächst ist daran zu erinnern, daß die Jugend bei der gewaltlosen Revolution in der DDR im Herbst 1989 eine besondere Rolle spielte. Akute Versorgungsmängel und soziale Not waren nicht die Auslöser der „Wende“ (der Lebensstandard war hier im Vergleich zu Osteuropa hoch) und die etablierten Erwachsenen nicht die Initiatoren. Junge Leute, die wenig zu verlieren, aber Freiheit und Chancen zu gewinnen hatten, begannen die öffentlichen Demonstrationen, flüchteten über die Botschaften in den Westen.
Die großen Hoffnungen in die Integrationskraft der Bundesrepublik, die durch fehlende Informationen über und mangelnde Erfahrung mit dem neuen politischen und wirtschaftlichen System sowie durch unerfüllbare Versprechungen von Politikern noch genährt wurden, erwiesen sich angesichts von 17 Millionen ostdeutscher „Integrationsbewerber“ als trügerisch. Zu den Verlierern zählen, wie wir zeigen wollten, auch die Jugendlichen. Ein Teil von ihnen fühlt sich heute um verdiente Chancen betrogen. Maximalismus, Ungeduld und Intoleranz, die manchem als generelle Eigenschaften Jugendlicher gelten und die durch die ständige Konfrontation mit dem hohen westdeutschen Lebensstandard noch gesteigert werden, verstärken mit Blick auf die Erwartungen an die deutsche Vereinigung die Unzufriedenheit.
Mangelnde Erfahrungen mit Marktwirtschaft und Revolution haben die aus heutiger Sicht utopische Erwartung produziert, man könne durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die Vorzüge beider Systeme kombinieren oder auf dem erreichB ten individuellen sozialen und ökonomischen Status aufbauen. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Von den Einschränkungen sind immer auch Jugendliche betroffen, die die damit verbundenen Probleme nur unzureichend historisch und politisch einordnen können, kaum über Bewältigungsstrategien verfügen und wenig zu verlieren haben, weshalb sie ihren Widerstand provokant artikulieren und so als Seismograph der weitgehend verborgenen Erschütterungen in der ostdeutschen Gesellschaft fungieren.
Abschließend soll das hier gezeichnete, partiell erschreckende Bild der Jugendgeneration in Ostdeutschland relativiert und eine Prognose ihrer künftigen Entwicklung gewagt werden. Die dargestellten Ergebnisse der Skinhead-Befragung reflektieren die Einstellungen einer Randgruppe, die ernst genommen werden muß, aber nicht für die Jugendlichen Brandenburgs oder der anderen neuen Länder repräsentativ ist. Tabelle 7 (vgl. die Aussagen 3 und 4) zeigt, daß die Mehrheit der Jugendlichen die Gefahr, die von derartigen Gruppen ausgeht, erkannt hat und ihr entgegenwirkt.
Wenn auch nur eine kleine Minderheit terroristische Methoden als Stimulus gesellschaftlicher Bewegung befürwortet, so sollte das geringe Vertrauen in die Demokratie doch Anlaß für die Politiker sein, den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland voranzutreiben, dabei Impulse und Erfahrungen aus Ostdeutschland nicht zu ignorieren und die Bemühungen um den wirtschaftlichen Aufschwung im Osten zu forcieren. Nur mit Erfolgen auf diesen Gebieten wird die unter den Jugendlichen weitverbreitete Politik-und Wahlverdrossenheit zu überwinden, politische Glaubwürdigkeit wiederherzustellen und der im Herbst 1989 in der DDR vorhandene Pioniergeist wiederzubeleben sein.
Die aufgezeigten Jugendprobleme sind weitgehend Effekt psychosozialer Konflikte und sozialer Des-integrationsprozesse. Sie werden sich, entsprechende Hilfen -angefangen von Jugendbeschäftigungsprogrammen bis hin zur individuellen Beratung -vorausgesetzt, mit der individuellen Entwicklung der Betroffenen lösen bzw. im gesellschaftlichen Maßstab mindern. Wenn sich jedoch der „Aufschwung Ost“ weiterhin verzögert, dann können sich die bislang instabilen, latent vorhandenen antidemokratischen und ethnozentristischen Einstellungen bei der großen Zahl der den freiheitlichen Grundwerten indifferent gegenüberstehenden Jugendlichen verfestigen, was unabsehbare politische Folgen hätte.
IV. Nachbemerkung
Abbildung 4
Tabelle 4: Wahrgenommene Eigenschaftsprofile von Angehörigen verschiedener Nationalitäten (Mittelwerte der Einschätzungen) Quelle: wie Tabelle 1.
Tabelle 4: Wahrgenommene Eigenschaftsprofile von Angehörigen verschiedener Nationalitäten (Mittelwerte der Einschätzungen) Quelle: wie Tabelle 1.
Deutlich spiegelt sich inzwischen das Phänomen „Jugend und Gewalt“ auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft wider. Die Publikationen zu diesem Problemkreis nehmen einen wachsenden Raum ein. Je nach theoretischem Ansatz werden soziale und/oder individuelle Bedingungen unterschiedlich gewichtet und Deutungsmuster erprobt; die Befindlichkeit der Opfer jugendlicher Gewalttäter wird dabei oft vergessen. Das Erleben der Asyl-bewerber und Aussiedler in Hoyerswerda, Rostock und Quedlinburg, die psychischen Folgen eines Lebens im „Ausnahmezustand“ sollten stärker Gegenstand psychologischer oder soziologischer Forschungsbemühungen werden.
Dietmar Sturzbecher, Dr. paed., geb. 1953; Habilitand der Deutschen Forschungsgemeinschaft; seit 1991 Direktor des Instituts für Familien-und Kindheitsforschung an der Universität Potsdam. -Veröffentlichungen u. a.: Situation und Perspektiven der vorschulischen Erziehung in Ostdeutschland, in: Peter Büchner/Hans-Hermann Krüger (Hrsg.), Aufwachsen hüben und drüben, Opladen 1991; (zus. mit Peter Dietrich) Freizeitverhalten Jugendlicher und Freizeit-angebote im Land Brandenburg (Forschungsbericht), Potsdam 1992. Peter Dietrich, Dipl. -Paed., geb. 1960; seit 1992 Leiter des Referats . Jugendforschung“ am Institut für Familien-und Kindheitsforschung an der Universität Potsdam. -Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Michael Kohlstruck) Erscheinungsformen und Motive von Gewalt -Herausforderungen für Jugendpolitik und Jugendarbeit, in: Broschüre des Arbeitsausschusses für politische Bildung, Bonn (1992); (zus. mit Michael Kohlstruck/Dietmar Sturzbecher) Jugend-szene und Jugendgewalt im Land Brandenburg (Forschungsbericht), Potsdam 1992.
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