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Kindheit im Umbruch Biographien ostdeutscher Kinder | APuZ 24/1993 | bpb.de

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APuZ 24/1993 Ausbildungs-und Zukunftsperspektiven ostdeutscher Jugendlicher nach der politischen Vereinigung Deutschlands Lebenssituation und Lebensperspektiven Jugendlicher im vereinten Deutschland Außerschulisches Kinderleben im deutsch-deutschen Vergleich. Überlegungen zur Modernisierung kindlicher Sozialisationsbedingungen Kindheit im Umbruch Biographien ostdeutscher Kinder

Kindheit im Umbruch Biographien ostdeutscher Kinder

Heinz-Hermann Krüger/Gerlinde Haak/Marion Musiol

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden die Ergebnisse eines Forschungsprojektes dargestellt, das sich mit dem Wandel von Kinderbiographien, familialen Generationsbeziehungen und Kinderkultur in Ostdeutschland beschäftigt. Dabei werden in einem ersten Schritt in Kurzporträts die Biographieverläufe und familialen Lebensformen von drei ostdeutschen Kindern exemplarisch vorgestellt. In einem zweiten Schritt werden die Ergebnisse aus den biographischen Fallanalysen verallgemeinert und einige generelle Tendenzen zur Situation von Kinderbiographie, familialen, schulischen und außerschulischen Lebensbedingungen von Kindern in den neuen Bundesländern skizziert.

I. Vorbemerkungen

Die hier vorgestellten Untersuchungsergebnisse stehen im Zusammenhang eines größeren interkulturell orientierten Forschungsprojektes, das sich mit dem Wandel von Kinderbiographien, Kinder-kultur und familialen Generationsbeziehungen in Ost-und Westdeutschland sowie den Niederlanden beschäftigt In unseren Forschungsüberlegungen gehen wir davon aus, daß das heutige Kinderleben durch gesellschaftliche Modernisierungsschübe sowie durch Pluralisierungs-und Individualisierungstendenzen geprägt ist, die sich soziokulturell unterschiedlich auswirken Besonders in den neuen Bundesländern wird sich, so unsere Annahme, der durch den deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß bedingte schlagartige ökonomische und kulturelle Modernisierungsschub, der damit einhergehende Prozeß der Auflösung historisch gewachsener Sozialformen, der Verlust des alltäglichen Handlungswissens, der Umstrukturierungsprozeß des Schulsystems etc. im Kinderleben niederschlagen und kindliche Lebenslaufmuster, familiale Generationsbeziehungen sowie schulische und außerschulische Karrieren und Chancenstrukturen gravierend beeinflussen. Bei unserer Analyse stehen drei Untersuchungsstränge im Vordergrund: 1. Wir betrachten die Statuspassage Kindheit -Jugend und dokumentieren, wie ostdeutsche Kinder mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Zukunftsaussichten den Weg ins Jugendalter gestalten. 2. Wir untersuchen, wie sich dabei in Anbetracht des Wandels der Familie das Generationsverhältnis im familialen Kontext gestaltet und ob sich der zivilisationstheoretisch prognostizierte Trend vom Befehlen zum Verhandeln als moderner Form der Eltem-Kind-Beziehungen auch in ostdeutschen Familien feststellen läßt 3. Wir analysieren kinderkulturelle Praxisformen und soziale Beziehungsnetze informeller und institutionenbezogener Art und die Bedeutung von kinderkulturellen Ressourcen für das kindliche Alltagsleben.

Aus dem Gesamtspektrum dieser Fragestellungen wollen wir uns in diesem Beitrag vor allem auf die Analyse des Zusammenhangs zwischen kindlichen Biographieverläufen und familialen Generationsbeziehungen in Ostdeutschland konzentrieren und uns dabei vorrangig auf die Ergebnisse der qualitativen Teilstudie beziehen. Im Rahmen dieser qualitativen Untersuchung haben wir in der Zeit vom Herbst 1991 bis Ende 1992 dreißig narrative und Leitfadeninterviews mit in der Regel zwölfjährigen Kindern und deren Müttern (in Ausnahmefällen auch Vätern) in der Region Halle im Bundesland Sachsen-Anhalt durchgeführt. Von den interviewten Kindern waren etwa je die Hälfte Jungen bzw. Mädchen, ebenfalls etwa je die Hälfte der Befragten kam aus unteren bzw. oberen Sozialmilieus, gut die Hälfte von ihnen wohnt in der Großstadt Halle, jeweils knapp ein Viertel in Kleinstädten bzw. im ländlichen Raum des Saalkreises.

Wir haben von allen dreißig Fällen die narrativen, also erzählenden Teile der Interviews wörtlich wiedergegeben, von den Leitfadeninterviews mit den Kindern und deren Eltern haben wir zusammenfassende Synopsen erstellt. Die meisten der Fälle sind von uns inzwischen ausführlich interpretiert worden. Bei der Interpretation der narrativen Interviews stützen wir uns auf das von Fritz Schütze entwickelte Verfahren der Analyse biographischer Prozeßstrukturen, bei der Analyse der zusammenfassenden Synopsen auf das von Claus Mühlfeld u. a. entwickelte Verfahren der qualitativen In-haltsanalyse Bei der Auswertung interessiert uns vor allem der Zusammenhang zwischen dem erreichten Grad der biographischen Verselbständigung beim Kind und der Art des familialen Verhandlungshaushaltes, der Art des Umgangs zwischen den Generationen in der Familie. Nach der Auswertung unseres Fallmaterials zeichnen sich drei besonders konturierte Fallstrukturen ab, die die Richtung für eine Typologie andeuten, mit der wir unterschiedliche biographische Verlaufsmuster von Kindern in Ostdeutschland und deren Wechselverhältnis zu differenten familialen Beziehungsmustem charakterisieren können.

Diese drei Fälle wollen wir im folgenden in einem ersten Schritt darstellen. In einem zweiten Schritt werden wir dann einige generelle Tendenzen zur aktuellen Situation von Kinderbiographie, familialen, schulischen und außerschulischen Lebensbedingungen von Kindern in den neuen Bundesländern skizzieren, die sich nach der Analyse des gesamten Interviewmaterials abzeichnen.

II. Der Zusammenhang zwischen kindlichen Biographieverläufen und familialen Generationsbeziehungen in Ostdeutschland: drei Fallgruppen

1. Der Fall Krümel Krümel ist 12 Jahre alt und wohnt zusammen mit seinen Eltern in einer großen Wohnung in der Altstadt von Halle (Saale). Die Wohnung ist Teil einer Etagenwohnung, deren Flur auch noch von einer Nachbarin, einer alten Dame, mitbenutzt wird. Seit dem Auszug seiner sechzehnjährigen Halbschwester vor einigen Monaten kann Krümel das Kinderzimmer alleine nutzen. Das Haus befindet sich an einer stark befahrenen Hauptstraße. Krümels Vater, zum Untersuchungszeitpunkt 39 Jahre alt, hat nach dem Abitur Krankenpfleger gelernt und fährt momentan im Schichtdienst einen Krankenwagen für den Arbeitersamariterbund. Deshalb ist er selten zu Hause und an der Erziehung von Krümel auch nur am Rande beteiligt. Die Mutter, 1949 geboren, hat nach dem Besuch der zehnjährigen polytechnischen Oberschule den Beruf der Friseuse erlernt. Danach hat sie in einer Hallenser Diskothek gearbeitet. Gegenwärtig ist sie arbeitslos. In Kürze wird sie als Kellnerin in der Kneipe eines Freundes eingestellt. Die ökonomische Situation der Familie ist vor dem Hintergrund der ostdeutschen Lebensverhältnisse auf mittlerem Niveau einzustufen. Kulturell ist die Familie im Kontext der Alternativkultur zu verorten: Krümels Eltern rechnen sich der linken Alternativen Szene zu. Schon vor der Wende haben sie in der Hausbesetzerbewegung mitgemacht und im Zusammenhang dieser Aktivitäten wurden sie von der Staats-sicherheit überprüft. An den Montagsdemonstrationen der Wendezeit waren die Eltern ebenso wie Krümel aktiv beteiligt.

Die biographische Erzählung von Krümel folgt keiner chronologisch aufgebauten Lebensgeschichte. Vielmehr thematisiert er nach einer knappen Schilderung von zwei Umzügen seinen über Initiationsriten (z. B. zum ersten Mal die Haare abgeschnitten) erfolgten Eintritt in eine Punkclique sowie zwei mehrwöchige Aufenthalte in Ostberlin und Potsdam, wohin er zusammen mit einem Freund abgehauen war, ohne seine Eltern vorher zu informieren. Ursache für den zweiten „Ausflug“ nach Berlin war die Tatsache, daß er in der Schule in eine andere Klasse strafversetzt worden war, nachdem er sich mit einem Klassenkameraden rumgeprügelt hatte. Krümel liefert in der Ersterzählung somit eine szenisch ausgestaltete Actiongeschichte aus dem vergangenen Jahr, in der er sich nicht wie ein Kind, sondern eher altersunspezifisch (er wohnte einige Wochen allein in einer Wagenburg, half bei einem Rockkonzert als „Roadie“ mit) verhalten hat.

Die Informationen aus den Nachfrageteilen relativieren einerseits das herausgearbeitete Muster vom zwölfjährigen Erwachsenen. So darf Krümel abends in der Regel nur bis 19. 00 Uhr Weggehen; zweimal pro Woche hat er Ausgang bis 21. 00 Uhr. Er besucht zum zweiten Male die sechste Klasse einer Realschule (bis 1991 Polytechnische Oberschule). In seiner Freizeit geht er gerne schwimmen, spielt Basketball und hört gern Musik (Punk und Techno). Und in seinem Kommentar zur Frage nach seiner Selbständigkeit stellt er fest: „Naja, ich würd’ gern selbständig sein, aber ich glaub’, das würde absolut nicht klappen, wenn ich irgendwie alleine wohnen würde.“ Andererseits finden sich in den Nachfrageteilen auch eine Reihe von Indikatoren, die auf einen beschleunigten Weg in und durch die Jugendphase hinweisen.

So hat Krümel nach eigener Aussage seine „DiscoPhase“ bereits hinter sich, über die Verwendung seines Taschengeldes und die Auswahl der Urlaubsorte darf er alleine bestimmen. Seine nega33tive Schulkarriere (er ist in der sechsten Klasse der Realschule u. a.deshalb sitzengeblieben, weil er so oft gefehlt hat) hat er durch eigenes Verhalten mitbestimmt. Er raucht bereits Zigaretten und besucht wöchentlich zweimal mit seinen Freunden aus der Punkclique eine linke Szenekneipe, wenn auch nur bis 21. 00 Uhr.

Krümels Lebensgeschichte zeichnet sich durch einen hohen Grad an biographischer Selbstreflexivität aus. Es gelingt ihm nicht nur, sein Ich im Rahmen globaler gesellschaftspolitischer Zusammenhänge zu verorten: Er hätte sich gewünscht, daß die DDR -allerdings ohne das Repressionsorgan der Staatssicherheit -weiterexistiert hätte. Auch sein Lebensentwurf ist hochreflexiv formuliert: So ist ihm bewußt, daß er irgendwann aus der Punk-szene aussteigen und Geld verdienen muß, „da man das nicht das ganze Leben lang durchmachen kann“. Zusammenfassend kann man den erreichten Grad der biographischen Verselbständigung und Selbstreflexion bei Krümel als sehr hoch charakterisieren. Krümels Weg durch die Biographie ist durch ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Individualisierung bestimmt, wenngleich er durchaus noch von der emotionalen Zuwendung der Eltern abhängig ist.

Von den Eltern, vor allem von der Mutter, die sich weitgehend alleine um den Sohn kümmert, wird Krümel wie ein gleichberechtigter Partner behandelt. Mutter und Sohn informieren sich wechselseitig, teilweise mit Zetteln, darüber, wo sie am Nachmittag jeweils hingehen. In der Familie herrschen bestimmte Regeln (Essenszeiten, Bettgehzeiten, Umgangsformen), die aber nicht starr festgelegt, sondern diskursiv verhandelbar sind. Die Pflichten von Krümel beschränken sich auf ab und zu mal Kohlenhochholen und Einkaufengehen. Krümels Grenzen sind sehr weit gesteckt, er kann seine Eltern oft von etwas überzeugen, was sie nicht so gut finden. Durchbricht er die Grenzen von sich aus, spricht die Mutter mit ihm darüber. Strafen wie Femsehverbot, Stubenarrest, Geldentzug gibt es nicht. Die Mutter bestraft ihn, indem sie ein Versprechen nicht einhält oder ihn ignoriert. Sie hätte es gerne gesehen, wenn ihr Sohn auf das Gymnasium gegangen wäre, aber sie findet sich auch mit der Tatsache ab, daß es aufgrund von Krümels Faulheit nur zum Besuch der Realschule reicht. In der Familie herrscht eine offene Atmosphäre. Insgesamt gesehen kann das familiale Interaktionsmuster als diskursiver Verhandlungshaushalt, als Erziehung an der langen Leine charakterisiert werden, die mit antipädagogischen Ambitionen durchsetzt ist, da die Mutter Krümel in einer Reihe von Punkten wie einen kleinen Erwachsenen behandelt. Das herausgearbeitete familiale Beziehungsmuster und der bereits erreichte Grad an biographischer Verselbständigung bei Krümel sind somit zwei Seiten der gleichen Medaille. 2. Der Fall Fanni Die 13jährige Fanni lebt mit ihren Eltern und der 9jährigen Schwester in einer Dreiraum-Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus Halles; es ist ein Teil einer Reihe solcher mehrgeschossiger Bauten, die etwa in der Mitte der fünfziger Jahre entstanden sind. Sie bilden auf der einen Seite die Front zu einer Hauptverkehrsstraße. Hinter den Mietshäusern befinden sich Villen auf Gartengrundstükken. Fanni bewohnt gemeinsam mit ihrer Schwester das kleinste der drei Zimmer der elterlichen Wohnung. Fannis Vater ist 41 Jahre alt, von Beruf Psychologe im Strafvollzug, ihre Mutter ist Biologin in der Krebsfrüherkennung. Das ökonomische und kulturelle Niveau dieser Familie läßt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Lebensbedingungen in Ostdeutschland als relativ hoch charakterisieren.

In ihrer biographischen Erzählung orientiert sich Fanni zeitlich an den Institutionen, die sie durchlaufen hat. Sie erzählt Geschichten und Eindrücke aus der Kindergarten-und Schulzeit mit dem Tenor, daß es zwar lustig, insgesamt aber doch auch von Regeln und Verpflichtungen beeinträchtigt war, die sie nicht mochte. Im Kindergarten -erinnert sie sich -war es z. B.der Zwang zum Mittags-schlaf, da sie „nie schlafen konnte“. Positiv wird von ihr rückblickend die Möglichkeit vermerkt, daß „man gehen konnte, wann man wollte, man hatte keinerlei Verpflichtungen... oder mal länger bei der Oma bleiben, wenn man wollte“ -im Gegensatz zur Schulzeit.

Mit ihrer Auffassung zur Schule, die ihr anfangs Spaß machte und ihr leichtfiel, die sie heute jedoch haßt, meint Fanni, stößt sie auf das Unverständnis ihrer Umwelt, insbesondere ihrer Eltern.

Fanni besucht seit dem 1. September 1991 die 7. Klasse eines traditionsreichen Gymnasiums der Stadt. Für diese Schule konnte sie sich -nach Beratung mit den Eltern -selbst entscheiden. Ausschlaggebend für die Wahl war zum einen die Tatsache, daß dieses Gymnasium als erstes sein Konzept öffentlich vorstellte, und zum anderen die für Fanni günstige verkehrstechnische Lage.

Fanni war in schulischen Belangen von Anfang an sehr selbständig und zuverlässig, ihre Leistungen waren bis zur 6. Klasse sehr gut. In den ersten Woeben am Gymnasium gab es erstmalig Vieren oder auch mal eine Fünf. Während Fanni das scheinbar gelassen nimmt -„Es gibt ja noch die Sechs, und es haben ja nur sechs oder sieben Kinder eine Drei oder Vier -und ich kann’s ja“ erhielten die Eltern damit einen „Dämpfer“, obwohl sie sich bewußt waren, so der Vater, daß es zunächst einen Leistungsabfall geben würde. Für sie waren Fannis schulische Leistungen stets der Grund, auf Fanni stolz zu sein -und derzeit entsprechen die Noten ganz und gar nicht ihren Vorstellungen.

Die neuen Lehrer am Gymnasium betrachtet Fanni kritisch, insbesondere deren „unsicheren und ungeschickten“ Umgang mit der neuen Zensurenskala und mit den sehr unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen der Schüler einer Klasse zu Beginn der Schulzeit, die von ihnen nahezu ignoriert würden. Großen Einfluß auf Fanni haben die Großeltern mütterlicherseits. Bei ihnen fühlt sich Fanni sehr wohl, erlebt dort sehr viel Freude und Zuwendung, erlernte bei ihnen das Radfahren und hat Gelegenheit, mit Tieren (Katzen u. a.) umzugehen.

Die Ergebnisse des Nachfrageteils belegen bei Fanni ein relativ ausgewogenes Verhältnis zwischen dem erreichten Grad an biographischer Verselbständigung und der Art des familialen Verhandlungshaushaltes. In der Familie gibt es Regeln, die als bestimmte Rahmenbedingungen bzw. Orientierungen dienen, bei allen Familien-mitgliedern eine gewisse Akzeptanz haben -auch wenn sie nicht in jedem Falle erläutert, ebenso-wenig ganz konsequent eingehalten oder eingefordert werden -und zum großen Teil auch nicht von bestimmten Pflichten zu trennen sind. Dazu zählt, daß Fanni im Haushalt mithilft: Donnerstags wird das Kinderzimmer aufgeräumt, am Samstag ist sie für das Staubwischen in der Wohnung zuständig. Im Vergleich zu ihren Freunden darf Fanni auch nicht „unbegrenzt unten bleiben“.

Insgesamt sind die Regeln in der Familie jedoch nicht starr: Fanni nimmt von Fall zu Fall durch Überreden sogar Einfluß, wenn die „Eltern überzogen haben“.

In ihrer Freizeit besucht Fanni einmal wöchentlich den Gitarrenunterricht in einer Musikschule; sie hatte bereits mehrere kleine Auftritte im Händel-haus. Sie trifft sich mit Freunden, insbesondere mit denen aus dem Wohnviertel (mit ihnen besuchte sie gemeinsam bis zur 6. Klasse die Schule); hier wohnt auch ihre beste Freundin. Fanni verabredet sich selbständig mit ihnen; von Seiten der Eltern gibt es keine Einschränkung des Aktionsradius. Auch darf Fanni -nach eingeholter Erlaubnis -bei der Freundin schlafen (diese wohnt mit ihren Eltern in einem Einfamilienhaus/Villa in der Nähe von Fanni); umgekehrt ist das nur in Ausnahmefällen möglich, und zwar nur dann, wenn sich ein Eltemteil auf Dienstreise befindet und die Schwester ins Schlafzimmer „umzieht“. Freundschaften mit Mitschülern aus dem Gymnasium hält Fanni für kompliziert, da sie aus allen Stadtteilen kommen und somit Treffs nach dem Unterricht ziemlich erschwert wären.

Zunehmend erfolgreich setzt Fanni ihren Willen durch, an bestimmten Familienvorhaben am Wochenende nicht mehr teilnehmen zu müssen, um mal allein sein zu können, oder schüttelt Kritik des Vaters ab mit den Worten: „... ist vielleicht deine Meinung. Ich habe eine andere, meine Freundin eventuell auch.. Fanni zeigt sich immer stärker peergrouporientiert. Ihre Art zu reagieren hält Fannis Vater für distanzlos und meint, daß er seinen Eltern so nicht hätte begegnen dürfen.

Auf die Entscheidung über ihre Kleidung (was sie täglich anzieht) hat Fanni bereits einen gewissen Einfluß; über ihr Taschengeld -es beträgt 5, 00 DM monatlich und wird zu bestimmten Feierlichkeiten von den Großeltern „ergänzt“ -kann sie selbständig verfügen, erntet jedoch manchmal Kritik, was den Nutzen der von ihr gekauften Dinge (z. B. Schlüsselanhänger) betrifft. Sie kann aber auch sehr ehrgeizig sparen (z. B. für ein Fahrrad im Wert von 399, 00 DM) und weiß, daß ihre Freunde über mehr Taschengeld verfügen. Abends darf sie nicht allein Weggehen, und „für die Disko ist Fanni noch zu jung“, meint der Vater.

Die durch die Wende verursachten gesellschaftlichen Veränderungen beurteilt Fanni positiv hinsichtlich der Reisemöglichkeiten und des modischen Peps der Kleidung; negativ reflektiert sie hingegen u. a. Preisanstiege, Arbeitslosigkeit und die Verpackungsflut.

Fannis Vater kritisiert an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung (Oktober 1991) darüber hinaus insbesondere die Situation in und an den Schulen, die er bereichsweise als „katastrophal“ bezeichnet. Das gelte zum Beispiel für die Bücher-versorgung oder für die Unterforderung der Schüler in naturwissenschaftlichen Fächern im Vergleich zu DDR-Zeiten -„... ich weiß nicht, ob wir zurück zur Klippschule wollen“ -sowie für die einseitige Orientierung des Deutschunterrichts auf westliche Literatur oder den -nun wiederum -stark ideologisch ausgerichteten Geschichtsunterricht. Die Handhabung der neuen Zensurengebung an den Schulen durch die Lehrer stellt für ihn eine Unfaßbarkeit dar. Wie können Lehrer argu mentieren „Nur wenn ihr 125 Prozent von dem wißt, was der Lehrer weiß, könnt ihr eine Eins bekommen“ und damit erwarten, daß der Schüler klüger als sein Lehrer ist? Positiv bewertet er die Inhalte und Methoden des Fremdsprachenunterrichts (Fanni erlernt inzwischen drei Fremdsprachen: Russisch, Englisch u. Latein).

Das Bestreben der Schulen nach mehr Demokratie wird von Fannis Vater stark in Zweifel gezogen. Beide Eltern haben sich stets in den ElternVertretungen engagiert, „.. . jetzt wird das alles als Einmischung ausgelegt... Ich habe keine Lust mehr, mir ob meiner Vergangenheit stets Vorwürfe machen zu lassen, denn Arbeit im Strafvollzug ist schon Angriff genug.“ Die heutigen Elternvertreterwahlen seien ein „Demokratiemäntelchen, nichts anderes als früher die, nur, daß der Direktor nicht mehr Mitglied ist“.

Fanni betrachtet ihre Lebensplanung eindeutig unter dem Eindruck der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse; sie hat noch keine fest umrissenen Vorstellungen, möchte aber ihr Abitur mit guten Leistungen abschließen. „Na ja, dann geht es da draußen weiter mit dem ganzen Gesuche und... na, ja, ich weiß nicht.“ 3. Der Fall Ina Ina ist zum Zeitpunkt des Interviews 12 Jahre alt und wohnt mit ihren Eltern und dem 19jährigen Bruder in Halle-Neustadt. Inas Eltern sind beide Jahrgang 1948, haben das Abitur erworben und verfügen über einen Hochschulabschluß. Inas Vater ist von Beruf Diplomingenieur für Maschinenbau, ihre Mutter ist Ökonomin. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Vater Geschäftsführer in einer Fenster-und Türenfirma in zentraler Lage von Halle. Die Mutter ist seit einiger Zeit arbeitslos und führt den Haushalt der Familie. Darüber hinaus erledigt sie die Buchhaltung der Firma ihres Mannes und nutzt dafür ein angemietetes Zimmer in der Nachbarwohnung. Inas Familie bewohnt eine Vierraum-Mietwohnung, in der Ina über ein eigenes kleines Zimmer verfügt. Momentan bemühen sich'die Eltern um eine große Altbauwohnung im Zentrum von Halle und vor allem in Geschäfts-nähe.

Die ökonomische Situation der Familie ist gut, da das Geschäft des Vaters floriert. Dementsprechend sehen Inas Eltern in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen echte Entwicklungschancen für alle Familienmitglieder.

Die biographische Erzählung von Ina ist sehr kurz. Ina eröffnet sie mit Erinnerungen an ihre frühe Kindheit und beginnt, aus der Kindergartenzeit zu berichten. Dabei orientiert sie sich nicht an einem bestimmten Lebensjahr, sondern „hangelt“ sich entlang an Institutionen wie Kindergarten und Schule. Damit markiert sie entscheidende Abschnitte in ihrem Leben. Personen, die sie durch diese Institutionen begleiten, bleiben weitgehend „blaß“. Daß sie gern in den Kindergarten gegangen ist, begründet sie mit der „netten“ Erzieherin. Überhaupt sind die „netten“ Personen, so z. B. auch die Lehrerin in der Schule, für Ina wichtige Bezugspunkte. Im narrativen Interview reflektiert Ina sehr wenig ihre eigene Lebensgeschichte. Biographische Selbstverortungen werden von ihr ebensowenig vorgenommen wie ein expliziter Zukunftsentwurf.

Ina besucht seit September 1991 das Francke-Gymnasium, das auf eine lange Tradition verweisen kann. Das Besondere dieser Schule hat Ina nun verinnerlicht. „Na und... na ja und dann bin ich ja... ähm... na in die Schule gekommen, und das ist ja nun die Franckische Stiftung, und dort ist es eigentlich etwas strenger, find ich es. Nun bin ich ja erst eine Woche da, aber da -finde ich -ist es etwas strenger. Dort wird auch viel geleistet, hm, ich meine, wir müssen viel leisten, na ja.“ Sollte sie dieses Gymnasium nicht schaffen, dann besucht sie eben ein „niederes“. Der Wechsel der Schulen ist Ina nicht schwergefallen. Allerdings bedauert sie die Trennung von den alten Schulfreunden, die sie nun nur noch selten trifft. Ina wäre lieber mit ihnen weiterhin im Wohngebiet auf das Gymnasium gegangen. Ihre Mutter hat aber gegen Inas Willen die Wahl des Gymnasiums getroffen („für Ina das Beste“). Das Gymnasium im Wohngebiet ist ein Modellversuch für eine Gesamtschule und entsprach nicht den Vorstellungen der Mutter.

Inas Alltag ist relativ klar geregelt. Ihre Muter fährt sie täglich zur Schule (damit Ina nicht den vollen Linienbus benutzen muß), gegen 14. 30 Uhr ist sie wieder zu Hause, fertigt dann ihre Hausaufgaben an und trifft sich danach mit Freunden im Wohngebiet zum Fahrradfahren oder einfach so zum „Schwatzen“.

Einmal wöchentlich besucht Ina die Musikschule. 1989 ging sie regelmäßig zur Kirche, gegenwärtig allerdings nicht mehr, nur noch an bestimmten Fest-und Feiertagen. Ina bewegt sich in dem vor allem von der Mutter gesteckten Rahmen und unternimmt keinen Versuch, diesen Spielraum für sich zu erweitern. Somit kommt es auch kaum zu Konflikten. Die Toleranzbereiche der Eltern sind sehr gering, was in der Antwort der Mutter hinsichtlich der Auswahl von Bekleidung für ihre Tochter exemplarisch deutlich wird: „Sie hätte das zwar gern, aber beim Kaufen schränke ich das sehr, sehr ein. Gerade weil, äh... Ina... äh eine recht angenehme Erscheinung ist, würde sie das am liebsten auch rausputzen wie die Modedame, und das schränke ich sehr ein... Also, da lege ich streng fest, was ich ihr kaufe.. Nach Aussage der Mutter ist die ganze Familie nicht zärtlich veranlagt, jedoch „.. holt sich Ina ihre Streicheleinheiten von der Mutter und vom Vater.“

Dauerbrenner in der Familie sind die konträren Erziehungsauffassungen zwischen Vater und Mutter (der Vater ist viel toleranter). Dominierende Regel in der Familie ist, daß dicht gelogen werden darf. Darüber hinaus sind feste Essens-, Bettgehund Fernsehzeiten sowie Pflichten wie Zimmeraufräumen, Tischdecken usw. und gepflegte Umgangsformen einzuhalten. Aufgestellte Regeln werden von der Mutter nicht begründet. Für Ungerechtigkeiten würde sie sich nie bei den Kindern entschuldigen („... sie müssen lernen, mit Ungerechtigkeiten zu leben...“). Die Mutter spricht sich für einen autoritären Erziehungsstil aus.

Selbständig darf Ina einkaufen und entscheiden, wann und ob sie Freunde trifft. Daß sie bei Freunden schläft, wünscht die Mutter nicht, auch übernachtete noch nie ein Kind bei Ina. Die Wochenenden werden in bzw. mit der Familie verlebt (z. B. Oma besuchen). Ina orientiert sich noch relativ stark an der Familie, und es sind noch keine Ablösungserscheinungen zu erkennen. Einfluß auf die Erziehung sowie das Leben haben die Großeltern mütterlicherseits. Ina ist mit ihrem Leben und dem der Eltern zufrieden. Sie möchte später auch ein eigenes Geschäft besitzen.

Die Mutter sieht in der heutigen Zeit eine echte Chance für die Entwicklung der Kinder („... das sind richtige Sonnenkinder...“). Was für sie früher nicht möglich war, ist heute für ihre Kinder möglich.

III. Zur aktuellen Lebenssituation von Kindern in den neuen Bundesländern

1. Zwischen restriktivem Befehlshaushalt und Verhandlungshaushalt mit antipädagogischer Orientierung Wir haben drei besonders interessante Fälle aus unserer qualitativen Teilstudie dargestellt, die verschiedene Varianten des Wechselverhältnisses von Kinderbiographien und familialen Interaktionsmustern in Ostdeutschland repräsentieren. Krümel und seine Eltern sind im Spektrum unserer Fälle sicherlich das avancierteste Muster, bei dem ein beschleunigter Weg von der Kindheit in die Jugendphase mit familialen Umgangsformen einhergeht, die wir als diskursiven Verhandlungshaushalt mit antipädagogischer Orientierung charakterisieren können. Auch in politischer Hinsicht stellt der Fall Krümel im Kontext unserer Fälle eine Extrem- und Ausnahmevariante dar, da Krümel sich den Fortbestand einer erneuerten und reformierten DDR als eigenständiger Staat gewünscht hätte.

Der maximale Kontrastfall zu Krümel in allen uns interessierenden Dimensionen ist der Fall Ina. Inas Lebensgeschichte repräsentiert das Muster einer kindhaften Biographie, das durch eine Zufriedenheit mit der Kindrolle, durch kindliches Verhalten im Alltag und noch durch eine starke Familien-orientierung bestimmt ist. Biographische Verselbständigungsschritte und Ablösungsprozesse von der Familie sind noch nicht zu erkennen. Die familialen Umgangsformen in Inas Familie kann man als die eines restriktiven Befehlshaushalts kennzeichnen. Die Mutter, die aufgrund der hohen beruflichen Belastung des Vaters weitgehend alleine für die Erziehung der Kinder verantwortlich ist, hat eine autoritäre Erziehungshaltung. In der Familie herrscht ein klares Regelsystem, an das sich die Kinder zu halten haben. Ökonomisch gesehen gehört Inas Familie zu denjenigen, die nach der politischen Wende in der DDR einen sozialen Aufstieg erlebt haben, und dementsprechend eindeutig positiv ist auch ihre Einstellung zur politischen Entwicklung seit der Wende.

Der Fall Fanni repräsentiert im Spektrum dieser Pole in den verschiedenen Dimensionen ein mittleres Muster. Fannis biographische Entwicklung läßt sich als Weg in die jugendliche Normalbiographie charakterisieren. Einerseits bewegt sie sich noch in dem von der Familie vorgegebenen Rahmen (z. B. Einhalten der Ausgehzeiten, Mithilfe im Haushalt), andererseits ist sie in einigen Lebensbereichen schon sehr selbständig (eigenständige Verabredungspraxis, selbstbestimmter Aktionsradius, erste Ansätze von Peergroup-Orientierung). Das Erziehungsverhalten der Eltern ist durch eine Ambivalenz von Befehls-und Verhandlungshaushalt bestimmt. Die Eltern gehen bei einigen Fragen ziemlich autoritär vor, bei anderen lassen sie mit sich verhandeln oder geben ihrer Tochter sogar die völlige Entscheidungsfreiheit. Unter politischen Gesichtspunkten repräsentiert dieser Fall ein drittes für die aktuelle Situation in den neuen Bundesländern exemplarisches Muster. Der Vater steht aufgrund seiner Tätigkeit im Jugendstrafvoll zug wegen seiner politischen Vergangenheit unter Rechtfertigungsdruck. Gleichzeitig kritisiert er die vermeintlichen Innovationen im Bildungswesen von Sachsen-Anhalt, das im Jahre 1991 an westdeutsche Vorbilder angepaßt wurde. Mit den drei hier vorgestellten Fällen haben wir markante Eckpunkte beschrieben, in die sich das von uns herausgearbeitete Spektrum von Varianten von Kinder-biographien und familialen Generationsbeziehungen in Ostdeutschland einordnen lassen.

Welche globalen Entwicklungstendenzen der Situation von Kindern in den neuen Bundesländern zeichnen sich nach der Auswertung des gesamten Interviewmaterials noch ab? 2. Fazit Erstens: Ein zentrales Ergebnis unserer Untersuchung ist, daß ein hochmodernisierter beschleunigter Weg von der Kindheit in eine lange Jugend-phase, wie er in den aktuellen Debatten um eine Zerfaserung der Statuspassage Kindheit-Jugend, um eine Destandardisierung der kindlichen Normalbiographie oder gar um ein völliges Verschwinden der Lebensphase Kindheit als generelle Trendannahme diskutiert wird, in unserer ostdeutschen Stichprobe eher die Ausnahme ist. Die Mehrzahl der von uns befragten Kinder sind zwar aufgrund der Berufstätigkeit von Vater und Mutter schon früh zur Selbständigkeit (z. B. sich selber versorgen zu müssen) gezwungen. Gleichzeitig sind sie aber noch sehr kindlich und stark familienorientiert.

Zweitens: Ein weiteres Resultat unserer Studie ist, daß der im Anschluß an modernitäts-und zivilisationstheoretische Überlegungen für Westdeutschland und Westeuropa diagnostizierte Wandel in den familialen Generationsbeziehungen von einem „Befehls“ -zu einem „Verhandlungshaushalt“ sich der Tendenz nach auch in unserem ostdeutschen Fallmaterial abzeichnet, und dies obwohl das Familienleben in der DDR bis zur Wende durch völlig andere politisch-ideologische und sozioökonomische Rahmenbedingungen bestimmt war. Diese Entwicklung wird erklärbar, wenn man berücksichtigt, daß die Familie in der DDR -entgegen den Vorstellungen und dem Anspruch der SED -vor allem im vergangenen Jahrzehnt eine Gegenwelt zur „öffentlichen“ Gesellschaft geworden ist: ein Synonym für Privatheit in einer „normierten Gesellschaft“ die schon lange vor der Wende die einzigen Freiräume für die Selbstverwirklichung der Eltern und für die Förderung der Selbständigkeit der Heranwachsenden bot. Die Herausbildung einer Verhandlungskultur in den Generationenbeziehungen fand in der ehemaligen DDR somit allenfalls im privaten Raum der Familie statt, während das öffentliche Leben in Schule, Freizeit-Organisationen (Junge Pioniere, FDJ) und Politik zumindest bis zur Wende eher durch hierarchische und zentralistische Entscheidungsstrukturen gekennzeichnet war. Trendsetter für die schrittweise Durchsetzung einer Verhandlungskultur in den Familien sind in Ostdeutschland ähnlich wie in westeuropäischen Ländern die Eltern aus oberen sozialen Statusgruppen mit hohem Bildungsniveau. Dabei fällt jedoch auf, daß neben einer Erziehung an der langen Leine, die Erziehung an der kurzen Leine bzw. das Changieren zwischen Verhandeln und Befehlen das zweite dominante Interaktionsmuster in ostdeutschen Familien ist. Die Berufstätigkeit der Väter und der meisten Mütter, der dadurch bedingte Zwang, den Alltag relativ straff zu organisieren, sowie die durch die Folgen der deutsch-deutschen Vereinigung ausgelösten neuen Belastungen der Familien, die sich u. a. in der Tatsache dokumentieren, daß ein Teil der von uns befragten Mütter im vergangenen Jahr arbeitslos geworden ist, können sicherlich Erklärungsursachen für das Festhalten an klaren Regeln bzw. für das Hin-und Herschwanken zwischen Befehlen und Verhandeln in der Erziehung sein. Ein weiteres Spezifikum ostdeutscher Familienerziehung ist zudem, daß die Großeltern aufgrund der Berufstätigkeit der Eltern eine große Bedeutung für die Kinder als ergänzende Erzieher und wichtige Bezugspersonen haben.

Drittens: In unserem Interviewmaterial spiegeln sich nicht nur die vielfältigen Transformationsprozesse der ostdeutschen Gesellschaft, die die Familie betreffen. Thematisiert werden von Kindern und Eltern auch die immensen Veränderungen in der Schule (neue Bücher, neue Lerninhalte, das modifizierte System der Notengebung, neu zu wählende Schulformen), die mit der Ablösung der einheitlichen Polytechnischen Oberschule durchdas dreigliedrige Schulsystem im September 1991 im Bundesland Sachsen-Anhalt einhergingen. Viele der von uns befragten Kinder beschreiben den Übergang von der Grundschule ins weiterführende Schulwesen als biographischen Einschnitt und Neuanfang, der mit dem Verlust von Schulfreunden, Lehrern, der gewohnten Umgebung und längeren Anfahrtswegen einhergeht. Angesprochen wird auch der gestiegene Leistungsdruck als Folge des neu eingeführten Schulsystems, dem sich jedoch die meisten anzupassen suchen, um einen optimalen Schulabschluß erreichen zu können

Viertens: Fast alle der von uns befragten Kinder haben einige feste Freunde und sind zudem in ein loses Netz von Gleichaltrigenbeziehungen eingebunden, das in Schule und Nachbarschaft seinen soziokulturellen Ort hat. Bei der Ausstattung mit Medien hat inzwischen in ostdeutschen Kinderzimmern eine Angleichung an westdeutsches Ausstattungsniveau stattgefunden In anderen Bereichen der Kinderkultur (Kindermöbel, Kindermode) finden sich noch Elemente jener homogenen und wenig ausdifferenzierten DDR-Kultur, die durch eine starke Gebrauchswertorientierung und eine Dialektik der Nützlichkeit und des „praktischen Sinns“ charakterisiert war. Gleichzeitig zeichnet sich jedoch bei der Nutzung von kinderkulturellen Einrichtungen (z. B. Malschulen, Musikschulen) eine schichtspezifische Ausdifferenzierung kinder-kultureller Aktivitätsformen ähnlich wie im Westen Deutschlands ab, bei der die Eltern aus den alten (ehemalige Parteikader) und neuen Mittel-und Oberschichten versuchen, ihren Kindern über außerschulische Freizeitkarrieren zusätzliche Vorteile beim Erwerb von kulturellen und sozialen Kompetenzen zu verschaffen.

Fünftens: Angesichts der vielfältigen Umstrukturierungsprozesse, die seit der politischen Wende im Jahr 1989 in Familie, Schule und Freizeit in der ehemaligen DDR stattgefunden haben, können die Ergebnisse unserer qualitativen Befragung aus der Zeit vom Herbst 1991 bis Ende 1992 nur als Momentaufnahme eines dramatischen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses gesehen werden. Sie beschreiben eine Prozeßstruktur im Umbruch, die durch eine für solch eine historische Situation typische Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet ist. Einerseits sind die ostdeutschen Kinder für uns noch Repräsentanten eines traditionellen Kindheitsmusters, das durch eine geringer ausgeprägte Biographisierung der kindlichen Lebensführung, durch eine stärkere Eingebundenheit von Kindheit in Familie und Nachbarschaft und durch deutlich ausgeprägte geschlechtsspezifiche Rollenmuster (z. B. Mädchen müssen im Haushalt mehr mithelfen) gekennzeichnet ist. Andererseits existierte in der ehemaligen DDR (hervorgerufen durch Internationalisierungstendenzen im Freizeit-, Medien-und Konsumbereich) bereits seit den siebziger Jahren eine nischenhafte alltags-kulturelle Modernisierung und eine Westorientierung im Freizeitbereich, die Ursache für den gegenwärtig sich abzeichnenden raschen Angleichungsprozeß der ostdeutschen Kinder an westUche Vorbilder im Bereich der Mediennutzung und der kulturellen Orientierungen ist. Weitere von uns herausgearbeitete Trends lassen sich hingegen nicht primär im Zusammenhang mit der Vorgeschichte in der DDR, sondern nur als direkte Folgeerscheinungen der im Zuge der Vereinigung forciert einsetzenden Modernisierungsund Transformationsprozesse der ostdeutschen Gesellschaft erklären. Das Spektrum der Phänomene reicht von der sich auch in unserer Stichprobe bereits abzeichnenden Arbeitslosigkeit der Mütter über die ausführliche Thematisierung der politischen Auswirkungen der Wende in der alltäglichen Familienkommunikation bis hin zum Verschwinden der stark verregelten Bildungslaufbahnen in der einheitlichen Polytechnischen Oberschule. An deren Stelle ist nun der Zwang zur Schulformauswahl nach der vierten Klasse getreten, der für viele Schüler mit dem Weggang von der ortsgebundenen Nachbarschaftsschule verbunden ist. Nicht mehr existent ist auch das ideologisch einseitige Muster der Betreuung und Kontrolle von Kindheit in Gestalt der Freizeitangebote der Pionierorganisation und der FDJ. Ein alternatives breites Freizeitangebot von Vereinen und Verbänden hat sich jedoch noch nicht herausgebildet.

Zusammenfassend läßt sich also konstatieren, daß der aktuelle Umstrukturierungsprozeß in Ostdeutschland die Lebensbedingungen sowie die Biographien und Lebenspläne von ostdeutschen Kindern dramatisch verändert und eine Neubestimmung der Lebensorientierung verlangt. Ob diese neuen Herausforderungen produktiv bewältigt werden können, hängt auch von den Unterstützungspotentialen ab, die die Familienpolitik sowie die Kinder-und Jugendpolitik für die Kinder in Ostdeutschland bereitstellt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Projekt „Kinderbiographie, Kinderkultur und familiale Generationsbeziehungen im interkulturellen Vergleich“, dessen Anliegen es ist, in einer qualitativen und quantitativen Längsschnittstudie den Wandel des Kindererlebens in Ost-, Westdeutschland und den Niederlanden zu untersuchen, wird von Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger (Universität Halle) in Kooperation mit Prof. Dr. Peter Büchner (Universität Marburg) und Prof. Dr. Manuela du Bois-Reymond (Universität Leiden) durchgeführt.

  2. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Peter Büchner/Burkhard Fuhs in diesem Heft.

  3. Vgl. Manuel du Bois-Reymond/Peter Büchner/Heinz-Hermann Krüger, Die moderne Familie als Verhandlungshaushalt, in: neue praxis, 23 (1993) 1 (i. E.).

  4. Vgl. Fritz Schütze, Biographieforschung und narratives Interview, in: neue praxis, 13 (1983) 6, S. 283-293; Claus Mühlfeld u. a., Auswertungsprobleme offener Interviews, in: Soziale Welt, 32 (1981), S. 325-352.

  5. Vgl. Peter Büchner, Aufwachsen in den achtziger Jahren, in: Peter Büchner/Heinz-Hermann Krüger/Lynne Chisholm (Hrsg.), Kindheit und Jugend im interkulturellen Vergleich, Opladen 1990, S. 79-84.

  6. Vgl. Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt am Main 1983.

  7. Manuela du Bois-Reymond, Zum Wandel der Beziehungen zwischen Eltern und Heranwachsenden, in: Peter Büchner/Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.), Aufwachsen hüben und drüben, Opladen 1991, S. 297-306.

  8. Jutta Gysi u. a., Die Zukunft von Familie und Ehe, Familienpolitik und Familienforschung in der DDR, in: Günter Burghard (Hrsg.), Sozialisation im Sozialismus, 1. Beiheft der Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, (1990), S. 105-113.

  9. Quantitative Befragungen zeigen, daß über 50 Prozent der ostdeutschen Schüler das Abitur erwerben wollen; vgl. Imbke Behnken/Heinz-Hermann Krüger u. a., Schülerstudie ‘ 90, Weinheim 1991, S. 14; vgl. auch den Beitrag von Christian Palentien/Käte Pollmer/Klaus Hurrelmann in diesem Heft.

  10. Vgl. auch den Beitrag von Peter Büchner/Burkhard Fuhs in diesem Heft.

  11. Wolfgang Engler, Die zivilisatorische Lücke, Frankfurt am Main 1992, S. 73.

Weitere Inhalte

Heinz-Hermann Krüger, Dr. phil. habil., geb. 1947; Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. -Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Abschied von der Aufklärung? Perspektiven der Erziehungswissenschaft, Opladen 1990; (zus. mit Rainer Lersch) Lernen und Erfahrung, Opladen 1993; (Hrsg.) Handbuch der Jugendforschung, Opladen 1993. Gerlinde Haak, Dr. päd., geb. 1950; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Kinderbiographien, Kinderkultur und familiale Generationsbeziehungen im interkulturellen Vergleich“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Marion Musiol, Diplompädagogin, geb. 1953; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Kinderbiographien, Kinderkultur und familiale Generationsbeziehungen“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.