Ausbildungs-und Zukunftsperspektiven ostdeutscher Jugendlicher nach der politischen Vereinigung Deutschlands
Christian Palentien/Käte Pollm« er/Klaus Hurrelmann
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Zusammenfassung
Die ostdeutschen Jugendlichen erleben nach der politischen Wende im Herbst 1989 die Licht-und Schattenseiten einer hochindustrialisierten Wettbewerbsgesellschaft. Vor allem die bereits begonnene Bildungsexpansion in den neuen Bundesländern mit ihren hohen Anforderungen an die individuelle Leistungs-und Aufstiegsmotivation hinterläßt erste Spuren in Selbstbewußtsein und biographischer Verarbeitung, die nicht auf die Vorzüge beschränkt bleiben. Wie die vorliegende Studie zeigt, führt die Annäherung des Bildungsverhaltens in den neuen Bundesländern an die alten Bundesländer auch im Osten zu einer Erhöhung der „Kosten der modernen Lebensweise“. In insgesamt drei Studien haben wir 1990 und 1992 Jugendliche nach ihren Lebensumständen, Einstellungen, Zukunftsperspektiven und den daraus resultierenden Hoffnungen, Ängsten, Belastungen und Befürchtungen befragt. Ausgewählte Ergebnisse zeigen, daß sich die 1990 unter den Jugendlichen in Ostdeutschland vorherrschende zukunftsoptimistische Leistungsorientierung abgeschwächt hat. Eine noch diffus bleibende Verunsicherung, die sich auf vielfältige Weise ausdrückt, schlägt sich in zahlreichen Lebensbereichen und den politischen Orientierungen Jugendlicher nieder. Die großen Lebensträume, die mit der Vereinigung verbunden waren, sind einer nüchternen bis skeptischen Einschätzung gewichen.
I. Einleitung
In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, wie ostdeutsche Jugendliche mit den veränderten Bedingungen ihres Lebens, die die politische Vereinigung Deutschlands mit sich gebracht hat, zurechtkommen Wir konzentrieren uns dabei auf die Altersgruppe der 15-bis 18jährigen, also diejenigen Jugendlichen, die sich gerade an der Übergangsschwelle vom allgemeinbildenden Schulwesen in die gymnasiale Oberstufe oder die Berufsausbildung befinden. Welche Möglichkeiten finden diese Jugendlichen, die den in unserem Kulturkreis ökonomisch und auch psychisch so wichtigen ersten Schritte in das Erwachsenenalter gehen, vor? Wie bewerten sie selbst die Chancen und die Begrenzungen für die weitere Gestaltung ihres schulischen, ausbildungsbezogenen und beruflichen Lebensweges?
Abbildung 7
Tabelle?: Aktivitäten zur Bewältigung gesellschaftspolitischer, sozialer und ökologischer Probleme (Mittelwerte im Vergleich) Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Tabelle?: Aktivitäten zur Bewältigung gesellschaftspolitischer, sozialer und ökologischer Probleme (Mittelwerte im Vergleich) Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Zur Beantwortung dieser Fragen stützen wir uns auf zwei repräsentative Jugendbefragungen von 15-bis 18jährigen im Bundesland Sachsen, die -durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert -vom Sonderforschungsbereich „Prävention und Intervention im Kindes-und Jugendalter“ (Universität Bielefeld) 1990 und 1992 durchgeführt wurden. Da zu beiden Zeitpunkten nicht nur die Stichprobe identisch war, sondern bis auf einige wenige Ergänzungen auch das gleiche Erhebungsinstrument (ein standardisierter Fragebogen) eingesetzt wurde, trägt die Studie einen Quasi-Längsschnitt-Charakter: Es ist uns möglich, Veränderungen in den Ausbildungs-und Zukunftsperspektiven der Jugendlichen im Zeitraum von 1990, unmittelbar nach der politischen Vereinigung, bis 1992, nach der ersten Konsolidierung von politischen Veränderungsprozessen, vergleichend zu erfassen.
Abbildung 8
Tabelle 8: Die Lebenssituation vor und nach der Vereinigung im Vergleich (in Prozent) Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Tabelle 8: Die Lebenssituation vor und nach der Vereinigung im Vergleich (in Prozent) Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Die erste Erhebung ist im November und Dezember 1990 unmittelbar nach der Herstellung der Einheit Deutschlands bei 3700 Jugendlichen im Alter von 15 bis 18 Jahren durchgeführt worden. In ausgewählten Regionen wurde auf eine repräsentative Verteilung der unterschiedlichen Bildungs-und Ausbildungswege geachtet. Diese Untersuchung ist im November und Dezember 1992 mit dem gleichen Frageninventar und einigen aktuellen Ergänzungen bei einer Kohorte von 3 400 Jugendlichen mit nach Alter und Region gleicher Zusammensetzung wie 1990 wiederholt worden. In gleicher Weise wurde für beide Erhebungen eine Zufallsauswahl an Schulen und innerhalb der Schulen eine Zufallsauswahl an Klassen in einem Ballungsgebiet (Dresden), einem solitären Verdichtungsgebiet (Chemnitz) und einer ländlichen Region (Landkreis Leipzig) realisiert. Die Auswahl der Gebiete erfolgte so, daß sie ein annähernd repräsentatives Abbild der Siedlungs-und Bevölkerungsstruktur im Bundesland Sachsen widerspiegelt. Die Befragung in den Schulklassen übernahmen Mitglieder des Forschungsteams.
Der Zweijahreszeitraum, für den unsere Untersuchung Zeitvergleiche zuläßt, ermöglicht es, für Jugendliche der hier einbezogenen Altersgruppen die Dynamik der Entwicklung während des Einigungsprozesses einzufangen: Haben die 1992 Befragten bereits über einen längeren Zeitraum Erfahrungen mit den neuen Lebensbedingungen machen können, und stehen sie somit unvoreingenommener den neuen Eindrücken gegenüber, so waren die 1990 Befragten von der politischen Vereinigung noch ganz direkt betroffen: Sie wogen ihr gegenwärtiges Erleben kritischer ab und waren gezwungen, es relativierend einzuordnen. Den 1992 Befragten sind diese Vergleichsmaßstäbe zur früheren DDR-Situation zwar schon wesentlich weniger präsent; anzunehmen, daß sich ihre Lebensbedingungen im allgemeinen Umstrukturierungsprozeß seit der Vereinigung Deutschlands nur positiv geändert haben, wäre jedoch verfehlt: Die Hoffnungen auf einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung dürften bei den heutigen im Vergleich zu den damaligen Jugendlichen erheblich geschmälert sein. Selbst die Politiker, die sich 1990 in günstigen Wirtschaftsprognosen überboten, gestehen heute ihren Irrtum ein. Steigende Arbeitslosenzahlen und geplante Kürzungen der Sozialausgaben sind unübersehbare Zeichen dafür, daß der versprochene Aufschwung Ost in eine unbestimmte Feme gerückt ist.
Unsere Studie ermöglicht es, gewissermaßen in einem Zeitraffer die Eindrücke und Bewertungen zu konstatieren, die die entsprechenden Altersgruppen im Vereinigungsjahr 1990 und im „Normalisierungsjahr“ 1992 mitteilen. Da die in Sachsen 1990 durchgeführte Untersuchung in Stichproben-design und Erhebungsverfahren mit einer entsprechenden repräsentativen Untersuchung in Nordrhein-Westfalen abgestimmt war, sind zudem Vergleiche zwischen ost-und westdeutschen Jugendlichen für diesen Zeitpunkt möglich.
Im folgenden gehen wir zunächst auf die Ausbildungssituation ein, in der sich die Jugendlichen befinden, um daran anschließend ihre allgemeine politische und psychische Verfassung zu untersuchen. Im abschließenden Teil werden Überlegungen zur Bewertung und Einordnung der Befunde angestellt.
II. Die Einschätzung der veränderten Bildungssituation
Abbildung 2
Tabelle 2: Grad der subjektiven Sicherheit sächsischer Jugendlicher über die Erfüllung ihrer beruflichen Vorstellungen Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Tabelle 2: Grad der subjektiven Sicherheit sächsischer Jugendlicher über die Erfüllung ihrer beruflichen Vorstellungen Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Mit Beginn des neuen Schuljahres im September 1992 wurde die vorher heftig diskutierte Umstrukturierung des Schulsystems in Sachsen -als letztem der neuen Bundesländer -realisiert. Der ehemals einheitliche Bildungsweg für alle Schüler bis zur Klasse 10 teilt sich nun ab Klasse 5. Erstmalig standen Eltern und Kinder 1992 hiermit vor einer früheren Bildungswegentscheidung nach vier Jahren Grundschule. Alle Schüler und Schülerinnen ab Klassenstufe 5 mußten sich von ihrer ursprünglichen Klassengemeinschaft trennen und sich entweder für den Besuch einer Mittelschule oder eines Gymnasiums entscheiden.
In den alten Bundesländern kann bereits seit mehreren Jahrzehnten ein Trend zu höherer schulischer Qualifikation festgestellt werden. Im Schulsystem hat dies dazu geführt, daß Hauptschulen erhebliche Verluste an Schülerzahlen hinnehmen mußten und die Gymnasien heute mehr als ein Drittel der Schüler eines Jahrganges aufnehmen. Alle Anzeichen deuten auf eine Angleichung des Bildungsverhaltens in den neuen an die alten Bundesländer hin: Eltern bleibt auch hier nicht verborgen, daß die ersten Weichen für die spätere berufliche Position und den damit verbundenen sozialen Status als Erwachsener bereits durch die Schulkarriere der Kinder und Jugendlichen gestellt werden. 1. Bildungsbeteiligung Bereits 1990 war sicher, daß es eine Umstrukturierung im sächsischen Bildungssystem geben und daß sich der Zugang zu den Gymnasien gegenüber der sehr restriktiven DDR-Tradition vereinfachen würde. Damals wurden die Konzeptionen für das neue Schulsystem heftig diskutiert: Eltern und Kinder waren schon über die neuen Möglichkeiten informiert, obwohl sie noch nicht im einzelnen wußten, was sie unmittelbar in ihrer Stadt oder Gemeinde erwartete.
Das Bewußtsein, welche Bedeutung das Abitur als Startposition für den künftigen sozialen Status haben würde, entwickelte sich rasant: Antworteten 1990 auf die Frage nach dem gewünschten Schulabschluß von den Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klassen in Sachsen noch 17 Prozent, ihren Bildungsweg mit einem Abitur abschließen zu wollen, so gaben bereits im Frühjahr 1991 bei einer ähnlichen Befragung der 8. Klassen in Leipzig 42 Prozent der Schüler an, ein Abitur ablegen zu wollen
Die sich 1990 und 1991 bereits abzeichnenden Veränderungen der Bildungsbeteiligung sind 1992 unübersehbar: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler in den 5. Jahrgängen, die das Gymnasium in Sachsen besuchen, hat sich nach ersten offiziellen Schätzungen je nach Region auf 35-40 Prozent eingependelt. Damit haben sich auch in Sachsen die Übergangsquoten in die begehrteste der weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I an die in Westdeutschland angeglichen. Die Werte für den Gymnasialübergang lagen 1991 in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, die ihr Schulsystem schon 1990 an die westdeutschen Strukturen angepaßt hatten, um die 30 Prozent, die für den Ostteil von Berlin bei 37 Prozent In allen diesen Ländern zeichnet sich 1992/93 ein weiteres Anwachsen dieser Anteile ab. Das Bundesland Sachsen liegt mit seinem Wert von bis zu 40 Prozent für die Gymnasialübergänge in diesem Trend eher in der Spitzengruppe.In den ostdeutschen Ländern erweist sich damit die Anziehungskraft der Schulform Gymnasium als insgesamt sehr groß: Eltern und Jugendliche erblicken in dieser Schulform eine Garantin für einen gesellschaftlich hoch angesehenen Bildungsweg und sehen im Abitur ein in Wirtschaft und Beruf bestens anerkanntes Abschlußzeugnis. Da das Gymnasium außerdem als symbolischer Inbegriff des „westlichen“ Schulsystems gilt, ist anzunehmen, daß die Attraktivität dieser Schulform auch in der diesbezüglich gewünschten raschen Anpassung begründet ist.
Nicht alle Jugendlichen, die nach dem Abitur streben, wollen es als Zugang für ein Studium nutzen. Die Antworten der Gymnasialschülerinnen und -schüler auf die Frage, was sie nach dem Abitur machen wollen, ergaben einen Anteil von 36 Prozent, der direkt ein Hochschul-oder Universitätsstudium anstrebt; 9 Prozent der Befragten wollen nach ihrem Abitur ein Fachhochschulstudium und 24 Prozent eine berufliche Ausbildung beginnen. Auch diese Zahlen unterstreichen den hohen „symbolischen“ Wert des Abiturs als Abschluß, der vielfältige Ausbildungs-und Berufsoptionen erschließt und offenhält, ohne eine sofortige Festlegung zu verlangen. 2. Veränderungen des schulischen Klimas Die Umstrukturierung des Schul-und Ausbildungssystems in den neuen Bundesländern hat nicht nur Auswirkungen auf strukturelle Merkmale: Curriculare, inhaltliche und rechtliche Reformen, personelle Wechsel etc. führten und führen vielerorts auch zu Veränderungen auf der Binnenebene des Schullebens. Um diese zu erfassen, legten wir den Schülerinnen und Schülern eine Liste mit verschiedenen unterrichtsbezogenen Merkmalen vor. Wir baten sie anzugeben, welche der in dieser Liste aufgeführten Veränderungen eingetroffen sind.
Bereits bei der Befragung 1990, ein Jahr nach dem politischen Umbruch, hatte hiernach die Mehrzahl aller Schülerinnen und Schüler den Eindruck, die Anforderungen im Unterricht seien höher als im vorherigen Jahr. 54 Prozent der Jugendlichen meinten, die Lehrer würden strenger zensieren. Eindeutig war die Zustimmung darüber hinaus zu der Aussage, sich mehr als im vergangenen Jahr anstrengen zu müssen. Über einen Gewinn an Zufriedenheit und Freude beim Schulbesuch berichteten die Jugendlichen allerdings nicht -eher das Gegenteil war der Fall. Ergänzende Beobachtungen von 1992 bekräftigen die Aussagen der Jugendlichen von 1990 in praktisch allen Punkten:
Sie spüren demnach die Umstellung auf ein nach strengen Vergleichsmaßstäben aufgebautes Unterrichtssystem, das einem Wettbewerbsmuster „jeder gegen jeden“ folgt, sozusagen „am eigenen Leibe“. 4 3. Zukunftsperspektiven der Ausbildungswege Die von den Schülerinnen und Schülern wahrgenommenen schulischen Anforderungssteigerungen wirken sich -auch im Zusammenhang mit Erfahrungen, die den nur sehr beschränkten Zugang zur erweiterten Oberstufe vor 1989 betreffen -nicht auf die subjektive Sicherheit des erfolgreichen Ab-schließens des Bildungsweges aus. Auf die Frage nach der Sicherheit des Schulabschlusses/Bildungsweges antwortete jeweils mehr als die Hälfte der Befragten, ganz oder ziemlich sicher zu sein, den angestrebten Schulabschluß zu erhalten (vgl.
Tabelle 1).
Wie Tabelle 1 zeigt, hat sich das bildungswegsbezogene Sicherheitsempfinden der ostdeutschen Jugendlichen seit 1990 nicht verändert, trotz der in diesem Zeitraum eingetretenen erheblichen Veränderungen der Schul-und Ausbildungsstrukturen. Möglicherweise spiegeln sich in dieser er- staunlich hohen Sicherheit, die über dem in Westdeutschland erhobenen Niveau liegt, noch die langjährigen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler mit der schulischen Leistungsbewertung in der ehemaligen DDR wider: Gründe schulischen Versagens wurden in der ehemaligen DDR nicht nur dem individuellen Handeln, den Fähigkeiten und der Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler zugeschrieben, sondern immer auch als ein Versagen und als ein Zeichen für eine mangelnde Kompetenz des Lehrers oder der Lehrerin erachtet. Schlechte Noten blieben in der ehemaligen DDR eher die Ausnahme
Gab 1990 nur rund ein Zehntel aller Jugendlichen in Sachsen an, im Verlauf einer Schulkarriere schon einmal eine Versetzungsgefährdung erlebt zu haben, so meinte dieses in Nordrhein-Westfalen etwa die Hälfte aller Befragten. Tatsächlich wiederholte mindestens annähernd ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler eine Klasse in Nordrhein-Westfalen. In Sachsen gab dieses nur etwa ein Fünfzigstel aller Jugendlichen an Im Zuge der weiteren Angleichung der Situation dürften sich auch diese Unterschiede abbauen, so daß langfristig mit einer Annäherung der Einschätzung der Kalkulierbarkeit der schulischen Abschlüsse gerechnet werden muß. 4. Die Einschätzung der Ausbildungs-und Berufssituation Neben den Schülerinnen und Schülern waren vor allem die zum Zeitpunkt des politischen Umbruchs in einem beruflichen Ausbildungsverhältnis stehenden Jugendlichen von den strukturellen Umwälzungen betroffen.
In der DDR wurde lange Zeit eine bereits sehr früh beginnende Hinführung von Jugendlichen zu spezifischen Berufen -je nach Planung des Arbeitskräftebedarfs in regionalen Wirtschaftszweigen -betrieben. Diskrepanzen zwischen den individuellen Interessen und den Arbeitserfordernissen waren den Jugendlichen dadurch nicht immer bewußt. Der mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen einhergehende Stabilitätsverlust durch die politische Vereinigung kann insofern Anlaß grundlegender Änderungen individueller und zukunftsperspektivischer Planungen und damit für tiefgreifende Verunsicherungserfahrungen sein. Sowohl 1990 als auch 1992 haben wir in unserer Studie zur Klärung dieses Sachverhalts die Jugendlichen im Ausbildungsbereich befragt (vgl. Tabelle 2).
Nach Tabelle 2 ist für die männlichen ostdeutschen Auszubildenden eine Zunahme ihrer Unsicherheit über ihre berufliche Zukunft festzustellen. Wie die Unterteilung der Untersuchungspopulation nach erstem und nach zweitem Lehrjahr ausweist, nimmt diese Unsicherheit mit dem näherkommenden Abschluß der beruflichen Ausbildung zu -dies gilt sowohl 1990 als auch 1992. Es ist anzunehmen, daß die jüngeren Auszubildenden ihre größere Gewißheit auf vage Hoffnungen gründen, ohne hierbei eine Einschätzung der realen Arbeitsmarktverhältnisse und ihrer hiermit zusammenhängenden persönlichen Chancen vorzunehmen.
Die geschlechtsspezifische Verteilung der Antwortmittelwerte weist aus, daß die weiblichen Auszubildenden signifikant unsicherer sind als ihre männlichen Altersgenossen, geht es um eine Einschätzung der Erfüllung ihrer beruflichen Vorstellungen. Wahrscheinlich spiegelt sich hier die Kenntnis darüber wider, daß gerade Frauen in angespannten wirtschaftlichen Situationen deutlich benachteiligt sind.
Eine ähnliche, wenn auch geringer ausgeprägte Differenz zeigt sich, vergleicht man diese Ergebnisse mit denen unserer Studie im Bundesland Nordrhein-Westfalen: Auch hier waren sich 1990 die weiblichen Auszubildenden ihrer beruflichen Zukunft weniger gewiß als die männlichen; insgesamt gaben sich die nordrhein-westfälischen Jugendlichen im ersten und zweiten Berufsausbildungsjahr jedoch deutlich sicherer bezüglich der Erfüllung ihrer beruflichen Wünsche (männliche Lehrlinge: x = 4, 87, n = 388; weibliche Lehrlinge: x = 4, 62, n = 447) als ihre Altersgefährten im gleichen Jahr in Sachsen
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß sich -bezogen auf die Bildungsbeteiligung -in den neuen Bundesländern zwar eine strukturelle Angleichung an die alten Bundesländer vollzogen hat, zugleich wird aber auch deutlich, daß die subjektive Verarbeitung dieses Prozesses keineswegs auf eine einfache Reproduktion westlicher Entwicklungen hinausläuft. Soziale, politische und wirtschaftliche Unterschiede, die ihre Ursache in einer fast 40jährigen unterschiedlichen Geschichte haben, werden nur allmählich überwunden, das gilt auch für Jugendliche. Können sich diese biographischen Kontexte einerseits positiv -zum Beispiel in bezug auf die dargestellte subjektive Sicherheit des Erreichens eines gewünschten Bildungsabschlusses -auswirken, so liegen hierin andererseits noch die Anforderungen zukünftig zu erbringender Anpassungs-und Veränderungsleistungen. 5. Einschätzung eigener beruflicher Perspektiven Während die Verunsicherung der allgemeinen Berufsaspirationen der ostdeutschen Jugendlichen im Jahre 1992 größer ist als bei denen im Jahre 1990, zeigt sich ein günstigeres Bild bei den unmittelbaren beruflichen Zukunftschancen (siehe Tabelle 3). Die Antwortpositionen sind 1992 signifikant positiver als 1990. Auch hier sind es die männlichen Befragten, die im Hinblick darauf, daß der Beruf, den sie gewählt haben, ein Beruf mit Zukunft ist, optimistischer sind. Neben dieser geschlechtsspezifischen Ähnlichkeit gibt es eine zweite Analogie zu der allgemeineren beruflichen Verunsicherung: Jeweils die jüngeren Auszubildenden sind überzeugter von den Aussichten der angestrebten Tätigkeit als die älteren.
Insgesamt kann also festgestellt werden, daß die ostdeutschen Jugendlichen 1992 zwar einerseits verunsicherter als die gleichaltrigen Jugendlichen 1990 sind, wenn es um eine Einschätzung der Realisierbarkeit ihrer allgemeineren beruflichen VorStellungen geht. Diese Unsicherheit betrifft jedoch nicht den von ihnen selbst realisierten Beruf: Hier sind es gerade die 1992 befragten Jugendlichen, die überzeugter als die Jugendlichen von vor zwei Jahren sind, einen Beruf mit Zukunft gewählt zu haben. Wir interpretieren diesen Befund als einen Anpassungsprozeß an die neue Ausgangslage: „Die hochfliegenden“ Pläne, die die Jugendlichen 1990, im Sog der Vereinigung, noch umsetzen zu können glaubten, sind 1992 gewichen oder reduziert worden; die „handfesten“ Pläne hingegen haben sich in diesem Zeitraum eher stabilisiert.
III. Psychische und soziale Verunsicherungen
Abbildung 3
Tabelle 3: Grad der subjektiven Sicherheit sächsischer Jugendlicher bezüglich der Zukunft ihres angestrebten Berufes Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Tabelle 3: Grad der subjektiven Sicherheit sächsischer Jugendlicher bezüglich der Zukunft ihres angestrebten Berufes Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Als Folge sowohl der schulischen als auch der beruflichen Umwälzungsprozesse kann konstatiert werden, daß zwar die individuellen Möglichkeiten für Jugendliche und Eltern in den neuen Bundesländern, traditionelle Strukturen biographisch zu überwinden, stark zugenommen haben: Neben der Wahl einer beruflichen Ausbildung betrifft dies auch die individuelle Entscheidung für oder gegen eine Schulform oder für oder gegen einen speziellen Beruf. Diese Individualisierungschancen stoßen aber infolge der gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Chancenstruktur an ihre materiellenGrenzen: Noch immer werden zahlreiche Märkte in Ostdeutschland ausschließlich aus den alten Bundesländern bewirtschaftet, mit der Folge, daß Produktionsstätten und Arbeitsplätze im Osten wegfallen. Die Ansiedlung neuer Industrieunternehmen geht nur sehr zögerlich voran, und die Löhne und Gehälter steigen nicht im erwarteten Umfang. Sozialpolitische Differenzierungsprozesse, die im Westen des Landes zu einer soge-nannten „Zweidrittelgesellschaft“ geführt haben, die ein Drittel zu wirtschaftlich und sozial Unterprivilegierten „stempelt“, zeichnen im Osten Deutschlands eine beängstigende Ausgrenzungsentwicklung ab, die einen weitaus größeren Teil als das untere Drittel der Bevölkerung betrifft.
Jugendliche sind mit diesen Problemen indirekt -über ihr Elternhaus -und auch direkt, durch den erstmals nach der Wende einsetzenden Ausbildungsplatzmangel, konfrontiert. Stärker als ihre Altersgenossen in den alten Bundesländern -dies zeigen vor allem die Ergebnisse der Befragung der sächsischen Auszubildenden, wenn es um die Einschätzung ihrer individuellen und ihrer allgemeinen beruflichen Perspektiven geht -erleben sie die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen an ihre eigene zukünftige Lebensführung und -planung und den ihnen objektiv eingeräumten Möglichkeiten, diesen Ansprüchen Geltung zu verschaffen. Sind also einerseits mit der historisch bislang nicht gekannten Anzahl an Laufbahn-und Lebensoptionen die Freiräume enorm gewachsen, so müssen andererseits in diesen Optionen, mit denen auch die Anforderung an die frühzeitige Entwicklung eigener Handlungsperspektiven einhergeht, die Quellen für neuartige Belastungen im Jugendalter gesucht werden: Führt zum Beispiel die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung dazu, daß bereits während der Schulzeit im gegliederten Schulsystem möglichst Abschlußzertifikate errungen werden müssen, die einen hohen Tauschwert auf dem Ausbildungsmarkt haben, so ist es die gleiche Ausgangssituation, die bedingt, daß selbst eine hohe Qualifikation keine Garantie mehr für einen Arbeits-oder Ausbildungsplatz bieten kann.
Jugendliche in Ostdeutschland werden mit diesen für sie neuen Erfahrungen in einer Lebensphase konfrontiert, in der darüber hinaus entscheidende Entwicklungsaufgaben anstehen, so z. B. die Lösung aus Abhängigkeiten gegenüber den Eltern, die ökonomische Verselbständigung, aber auch die Partnerbindung und die Familiengründung etc. 1. Emotionale Belastung Um die subjektive Einschätzung der aus den zahlreichen Veränderungsprozessen erwachsenden und verschiedenste Lebensbereiche betreffende Anforderungen ermitteln zu können, haben wir den Jugendlichen in unserer Studie eine Liste mit verschiedenen Gefühlen vorgelegt: Die Jugendlichen sollten auf die Frage „Wie oft fühlst Du Dich...?“ auf einer vierstufigen Skala von 1 (nie) bis 4 (häufig) angeben, wie häufig bei ihnen einzelne negative Gefühlszustände auftreten.
Der Vergleich der Ergebnisse von 1990 und 1992 zeigt, daß die Summe der angegebenen (Über-) Belastungsgefühle angestiegen ist. Die aus den Summenwerten gebildeten Mittelwerte unterscheiden sich signifikant: 1990 = 1, 4 negative Gefühle, 1992 = 1, 8 negative Gefühle. Demnach ist also die allgemeine emotionale Anspannungssituation der Jugendlichen nach der politischen Vereinigung deutlich angewachsen: Sie leiden unter „Vereinigungsstreß“.
Daß diese emotionale Belastung vor allem für die Schülerinnen und Schüler in Verbindung mit der Zunahme der schulischen Anforderungen betrachtet werden muß, zeigen die nachfolgenden korrelationsstatistischen Ergebnisse (vgl. Tabelle 4).
Tabelle 4 zeigt zunächst, daß das in der Schule erfahrene Belastungserleben im Zeitraum von 1990 bis 1992 signifikant angestiegen ist. Dieses Erleben steht zu beiden Zeitpunkten in einem nachweisbaren Zusammenhang zu den dargestellten emotionalen (Über-) Belastungsgefühlen, wie die Korrelationswerte ausweisen. Ganz offensichtlich sind es also die gestiegenen schulischen Belastungen, die wahrgenommenen Steigerungen der Leistungsanforderungen, die die Befindlichkeit der ostdeutschen Jugendlichen beeinträchtigen. 2. Negative Selbstwertgefühle Neben dem Ausmaß der in diesen Ergebnissen zum Ausdruck kommenden Leistungs-und Anforderungsdeterminanten interessierte uns, ob sich in diesen Ergebnissen ein genereller Trend widerspiegelt. Wir haben hierzu mittels einer Regressionsanalyse Prädiktoren (statistische Variable zur Vorhersage eines bestimmten Merkmals) eines negativen emotionalen Selbstwertgefühles zu bestimmen versucht.
In beiden Erhebungen, also sowohl 1990 als auch 1992, haben wir die Befragten gebeten, sich mit der Beantwortung der Fragestellung „Wie sehen Sie sich selbst“ zu charakterisieren. Hierzu standen jeweils insgesamt vier die eigene Person positiv beschreibende Aussagen, wie z. B. „Im großen und ganzen bin ich mit mir zufrieden“, und vier die eigene Person negativ beschreibende Aussagen, wie „Manchmal komme ich mir ganz unwichtig vor“, zur Verfügung. Bei jeder dieser acht Möglichkeiten mußten die Jugendlichen mittels einer Skalierung von 1 („stimmt genau“) bis 4 („stimmt nicht“) eine Einschätzung ihrer eigenen Person vornehmen.
Da uns im Kontext des Belastungsempfindens vor allem die negative Selbsteinschätzung interessierte, haben wir in der Auswertung alle acht Antwortmöglichkeiten zu einem Negativ-Selbstwert-Summenindex zusammengefaßt: Ausgezählt wurde, wie häufig die positiven Selbsteinschätzungsitems verneint und die negativen Selbsteinschätzungsitems bejaht wurden, so daß hieran anschließend mittels einer Regressionsanalyse (statistische Analyse, die multiple Zusammenhänge erklärt) Prädiktoren des negativen Selbstwertgefühls ermittelt werden konnten (vgl. Tabelle 5). Als Prädiktoren haben wir in die Analyse Variablen unterschiedlicher Dimension aufgenommen. Tabelle 5 zeigt das Ergebnis der Analyse: 1990 hat den größten Vorhersagewert für das negative Selbstwertempfinden Jugendlicher der individuelle Stellenwert, den die Jugendlichen schulischen/beruflichen Leistungen beimessen, und die Zufriedenheit mit diesen Leistungen: Je weniger Bedeutung die Jugendlichen ihren schulischen und beruflichen Leistungen beimessen und je weniger zufrieden sie mit ihren Leistungen sind, desto stärker ist der Erklärungseffekt von negativem Selbstwertempfinden.
Dieses Bild hat sich 1992 gewandelt: Hier sind es nicht mehr vorherrschend die eine Leistungsdimension beinhaltenden Prädiktoren, die zur Vorhersage beitragen. Sie haben deutlich an Einfluß verloren. Weitaus mehr tragen die eher makrosozialen Stressoren zur Erklärungsgüte bei: Je weniger Hoffnungen die Jugendlichen für ihre Zukunft durch die Vereinigung haben und je größer die hiermit verbundenen Sorgen sind, desto stärker ist hier der Erklärungseffekt.
• Insgesamt zeigen die Ergebnisse deutlich, daß sich die Themen, die Jugendliche in Ostdeutschland subjektiv tangieren und das Erleben eines negativen Selbstwertempfindens beeinflussen, gewandelt haben: Noch 1990 zeichnete sich ein übermäßig durch individuelle Leistungen erklärtes Selbstwertgefühl ab, das sowohl die Schule als auch die beruflichen Ausbildungsverhältnisse betraf. Vermutlich waren es gerade diese Bereiche, in denen Jugendliche am unmittelbarsten mit den Veränderungen durch die politische Vereinigung und der Wettbewerbsgesellschaft konfrontiert waren. Diese Prädiktoren eines negativen Selbstwertgefühles verlieren bis 1992 an Stellenwert. Im Kontext der vorangegangenen Ergebnisse, die zumindest für den schulischen Bereich einen Anstieg der Belastungen darstellen, wird deutlich, daß sich die Jugendlichen mit den von ihnen in Schule und Beruf zu erbrin genden Leistungen arrangiert zu haben scheinen. Das heißt jedoch nicht, daß Jugendliche durchweg nur noch ein positives Selbstwertgefühl empfinden; vielmehr haben sich Determinanten verändert: 1992 sind es die makrosozialen und zukunftsperspektivischen Probleme, die Jugendliche subjektiv in ihrem Selbstwertgefühl betreffen.
IV. Politische Orientierungen Jugendlicher
Abbildung 4
Tabelle 4: Mittelwertvergleich der schulischen Be* lastung 1990 und 1992; Zusammenhang zwischen schulischer Belastung und emotionaler (Über-) Belastung (Pearsonscher Korrelationskoeffizient [r]) Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Tabelle 4: Mittelwertvergleich der schulischen Be* lastung 1990 und 1992; Zusammenhang zwischen schulischer Belastung und emotionaler (Über-) Belastung (Pearsonscher Korrelationskoeffizient [r]) Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Die zuletzt referierten Befunde verweisen auf die große Bedeutung, die der Einschätzung der gesamten Lebenslage für die subjektive Befindlichkeit zukommt. Zu dieser Einschätzung gehört auch die politische und wirtschaftliche Lage, insbesondere die Wahrnehmung von Problemen und Krisen in diesem Bereich. Diesem Zusammenhang sind wir abschließend durch Fragen nach der politischen Meinungsbildung und politischen Handlungsimpulsen der ostdeutschen Jugendlichen nachgegangen. Um zunächst eine allgemeine Einschätzung der Problemlösungskompetenz zu erhalten, die Jugendliche Politikern zuschreiben, legten wir den Befragten eine Liste mit aktuellen und ungelösten Problemen vor, darunter Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen. Wir stellten ihnen hierzu die Frage: „Wie wahrscheinlich ist es nach Ihrer Meinung, daß Politiker diese Probleme lösen werden können?“
Die Ergebnisse zeigen, daß die den Politikern zugesprochene Problemlösungskompetenz von 1990 bis 1992 stark abgenommen hat. Liegt der Mittelwert der Antwortverteilung im Jahr 1990 noch bei x = 3, 08, so ist er im Verlauf von zwei Jahren auf X = 1, 95 signifikant gesunken (Antwortmöglichkeiten: Von 1 [„sehr unwahrscheinlich“ ] bis 5 [„sehr wahrscheinlich“ ]). In diesem niedrigen Vertrauenswert liegt ein erhebliches Risiko für die Akzeptanz des politischen Systems als Ganzem. Die hier berichteten Werte sollten deshalb Anlaß zu einiger Besorgtheit um die Basis einer funktionierenden repräsentativen Demokratie in Ostdeutschland sein. Offenbar fühlen sich die Jugendlichen politisch nicht an-und emstgenommen. Diese Skepsis bleibt nicht nur auf die Beurteilung der Problemlösungskompetenz beschränkt, sondern betrifft das etablierte politische Parteienspektrum insgesamt, wie die nachfolgenden Ergebnisse zeigen.
Sowohl 1990 als auch 1992 legten wir den Jugendlichen eine Liste mit verschiedenen Parteien und Gruppierungen vor. Wir baten sie, anzugeben, welche politische Partei oder Bürgerbewegung ihres Erachtens die Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegenwärtig am. besten vertritt (vgl. Tabelle 6).
Betrachtet man die Präferenzen Jugendlicher, so fallen vor allem die starken Verluste bei den Volksparteien CDU, SPD und FDP auf. Während die CDU einen über 25prozentigen Verlust von 1990 bis 1992 hinnehmen muß, bleibt die SPD mit lediglich 4, 9 Prozent der Jugendlichen, die ihr zusprechen, sie würde ihre Interessen am besten vertreten, auf niedrigem Niveau. Der größte Anteil der Befragten entschied sich Ende 1992 für keine Partei oder Gruppierung, gefolgt von den rechts-orientierten Parteien und Gruppierungen, auf die 14, 8 Prozent entfielen.
Die Jugendlichen fühlen sich demnach im politischen System nicht gerade angemessen vertreten: Die hier referierten Werte liegen deutlich unterdem -ohnehin schon niedrigem -Niveau in Westdeutschland und auch unter dem der erwachsenen Bevölkerung. Die Ergebnisse sind deshalb als Symptom für die Entfremdung vom politischen System zu werten.
Um zu erfahren, ob sich in dieser Skepsis gegenüber dem etablierten parteipolitischen System auch Erfahrungen oder Beurteilungen ausdrücken, die die Jugendlichen ihren eigenen Möglichkeiten zuschreiben, politisch partizipieren zu können, fragten wir sowohl 1990 als auch 1992 nach verschiedenen Aktivitäten, die man zur Bewältigung aktueller Probleme ergreifen kann. Wir baten sie, anzugeben, wie wirksam ihres Erachtens die einzelnen Aktivitäten sind. Tabelle zeigt die Mittelwerte von 1990 und 1992 (im Vergleich).
Die Ergebnisse zeigen deutlich, daß das Vertrauen der Jugendlichen in die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, an der Willensbildung in der Demokratie teilzuhaben, von 1990 bis 1992 in allen Bereichen gesunken ist. Dieses betrifft sowohl die direkten als auch die indirekten Formen der Intervention: Die geringste Wirkung wird 1992 -wie schon 1990 -dem Schreiben von Leserbriefen zugesprochen, den größten Effekt zeitigt -nach Meinung der Befragten -die Teilnahme an politischen Demonstrationen.
Insgesamt kann festgestellt werden, daß sich die Jugendlichen in der etablierten politischen Parteienlandschaft nur zu einem sehr geringem Anteil vertreten fühlen. Hinzu kommt eine große Verunsicherung und Skepsis, die sie ihren eigenen Möglichkeiten, politisch Einfluß zu nehmen, entgegenbringen. Im Kontext dieser Ergebnisse muß auch der große Anteil derjenigen Jugendlichen betrachtet werden, die meinen, ihre Interessen würden am besten von rechtsorientierten Parteien und Gruppierungen vertreten. Neuere Studien zur politischen Sozialisation zeigen, daß Jugendliche gerade in Verunsicherungssituationen geneigt sein können, vereinfachte Orientierungen und fundamentalistische Wertsetzungen zu übernehmen 7. Die Voraussetzungen hierfür sind zur Zeit bei den ostdeutschen Jugendlichen in einem deutlich höheren Maß gegeben als bei den westdeutschen.
V. Gesamteinschätzung der Jugendlichen
Abbildung 5
Tabelle 5: Prädiktoren des negativen Selbstwertempfindens Jugendlicher 1990 und 1992 im Vergleich Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Tabelle 5: Prädiktoren des negativen Selbstwertempfindens Jugendlicher 1990 und 1992 im Vergleich Quelle: Jugendbefragungen (wie Tabelle 1).
Daß sich diese Grundstimmung bislang noch nicht in eine allgemeine Depression umgewandelt hat, zeigen die nachfolgenden Ergebnisse, die abschließend dargestellt werden: Wir fragten die Jugendlichen, ob sie ihre persönliche Lebenssituation im Vergleich zur Zeit vor der Wende als verbessert oder verschlechtert ansehen.
Für die 1990 befragten Jugendlichen konnte festgestellt werden, daß sie ihre Lebenssituation nach der Wende überwiegend positiv einschätzten Fast zwei Drittel der Jugendlichen erlebten die Entwicklungen nach dem Herbst 1989 als Verbesserung ihres persönlichen Lebens. Etwa ein Drittel meinte, daß weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung eingetreten sei. Allerdings beurteilten die Mädchen ihre Lebenssituation 1990 signifikant schlechter als die Jungen. Diese Trends bestätigen und verstärken sich bei der Befragung 1992. Im „handfesten“ täglichen Erlebensbereich überwiegen demnach -trotz aller berichteten Belastungen -die Vorteile der Vereinigung eindeutig die Nachteile (vgl. Tabelle 8). 1992 hat sich der Anteil der Jugendlichen eindeutig erhöht, der angibt, daß sich sein Leben verbessert hat. Diese Tendenz zeigt sich durchgehend über
alle Teilstichproben nach Bildungs-und Ausbildungsstufen und Geschlecht, obwohl auch hier wieder erhebliche Unterschiede in den Antworten zwischen den Geschlechtern auftreten: meinten von den männlichen Befragten etwa drei Viertel, ihr Leben habe sich seit 1989 verbessert, so gaben dieses von den weiblichen Befragten lediglich rund zwei Drittel an.
Jugendliche in Ostdeutschland, dies kann zusammenfassend festgestellt werden, sind auch noch zwei Jahre nach der Vereinigung im Herbst 1990 mit zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Umstrukturierungen konfrontiert: 1990 war die Wahrnehmung der sich auch schon seinerzeit abzeichnenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme noch durch eine stark leistungsbezogene Selbstwertdefinition gefärbt; 1992 hat sich das Bild der ostdeutschen Jugendlichen gewandelt: Es ist jetzt vor allem durch eine negative Einschätzung ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und durch eine tiefe Beunruhigung über anhaltende wirtschaftliche und soziale Makroprobleme geprägt. Die eigene konkrete Lebenssituation wird hingegen eher positiv eingeschätzt.
Die nach der Vereinigung im Oktober 1990 einsetzende gesellschaftlich-politische Umstrukturierung des östlichen Teils Deutschlands nach dem Muster des westlichen läßt erwarten, daß in diesem auch die Jugendlichen alle Vor-und Nachteile für ihre Entwicklung erfahren werden, die von den Sozial-wissenschaften als typisch beschrieben werden
Die ostdeutsche Jugend erlebt nach der politischen Wende die Vorzüge einer hochindustrialisierten bürgerlichen Gesellschaft, wie ein reichhaltiges Warenangebot, vielfältige Informationsmöglichkeiten, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Glaubensfreiheit ohne Benachteiligung und Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Bildungswegen. Andererseits „bezahlt“ sie diese Vorzüge -wie die westdeutsche Jugend -mit sozialer Verunsicherung und mit dem Erleben von Konkurrenz-und Leistungsdruck, der mit der Schulzeit beginnt und sich bis zum Ende der Berufskarriere fortsetzt. Sie wird mit den für sie neuen Erfahrungen in einer Lebensphase konfrontiert, in der entscheidende Entwicklungsaufgaben anstehen: Lösung aus Abhängigkeiten gegenüber den Eltern, ökonomische Verselbständigung, Identitätsfindung, Partnerbindung, Familiengründung und Sinngebung für das eigene Leben.
Für die erfolgreiche Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben in der Lebensphase Jugend ist besonders wichtig, daß die „Schwellensituationen“ gemeistert werden. Das betrifft das Gelingen der Übergänge, erstens innerhalb des Schulsystems, zweitens von der Schule in die Berufsausbildung und drittens von der Berufsausbildung in die Erwerbstätigkeit. Die moderne Industriegesellschaft stellt hier hohe Anforderungen an die Heranwachsenden. Durch die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung ist wenig kalkulierbar, ob der gewählte Beruf in ein paar Jahren noch gefragt ist. Letztlich ist selbst bei hoher Qualifikation keine Garantie für einen Arbeitsplatz gegeben. Die ostdeutschen Jugendlichen müssen diese Spannungen ertragen lernen, ohne dabei in psychische oder gesundheitliche Schwierigkeiten zu geraten.
Sie müssen außerdem heute ihre Probleme mit einem größeren Anteil eigener Verantwortung lösen als zu DDR-Zeiten. Die normativen Vorgaben für die Lebensgestaltung, die Jugendorganisation und Bildungssystem der DDR vermittelten, sind nahezu ersatzlos entfallen. Die Autorität von Lehrern und Eltern ist gering. Die Jugendlichen sindim positiven und negativen Sinne immer mehr auf sich selbst gestellt
Wie unsere Studie zeigt, ergeben sich für die ostdeutschen Jugendlichen unter den gegenwärtigen Bedingungen des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs Probleme, die die Bewältigung der für das Jugendalter typischen Anforderungen erschweren können. -Erstens werden die psychosozialen Belastungen der Jugendphase von den Jugendlichen in den neuen Bundesländern schwerer verarbeitet, weil sie nicht wie die westdeutschen Jugendlichen von klein auf in diese Verhältnisse hineingewachsen sind, sondern andere Sozialisationsbedingungen hatten.
-Zweitens ist zu befürchten, daß infolge der in Ostdeutschland bestehenden wirtschaftlichen Krisensituation mit hoher Arbeitslosenquote und Mangel an Lehrstellen Entsolidarisierungsprozesse einsetzen, die zur Ausgrenzung eines großen Teiles der jugendlichen Bevölkerung führen werden und verschärfend auf den Konkurrenzkampf und den Leistungsdruck wirken.
-Drittens ist fraglich, inwieweit die ostdeutschen Eltern und Lehrer den Kindern und Jugendlichen in diesem schwierigen Entwicklungsprozeß Unterstützung geben können, da sie sich selbst mit den Folgeerscheinungen des Um-bruchs auseinanderzusetzen haben, ihre eigene materielle Existenz neu gründen oder verteidigen müssen und ihren Kindern nicht -wie die westdeutschen Eltern -aus langjähriger eigener Erfahrung Orientierungen und Strategien für das Leben unter den Bedingungen der „freien Marktwirtschaft“ übermitteln können.
Unsere Studie zeigt, wie intensiv sich die ostdeutschen Jugendlichen in den verschiedenen Lebensbereichen mit der neuen Lebenssituation nach der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung auseinandersetzen. Fassen wir die Ergebnisse zusammen, die sich im Zeitvergleich von 1990 bis 1992 ergeben, dann deutet sich teilweise eine Anpassung an die Situation der westdeutschen Jugendlichen an, teilweise aber auch das Fortbestehen von spezifischen Belastungssituationen, die sich aus der Umbruchsituation und -noch fortwirkend -aus der historischen Vergangenheit der DDR erklären. Dieser letzte Faktor dürfte sich im Verlaufe der nächsten drei bis fünf Jahre verflüchtigen, wenn die Umstellungen im Bildungs-und Beschäftigungssystem abgeschlossen sind.
Die heute bemerkenswert stabile und im Kem eher optimistische Einschätzung der konkreten Bildungs-und Zukunftsperspektiven wird vermutlich nur dann anhalten, wenn sich die Bildungs-und Ausbildungschancen und die Berufseintrittschancen der jungen Generation nicht verschlechtern, sondern zumindest auf dem derzeitigen Niveau bleiben. Mit den heutigen Lebensverhältnissen haben sich die ostdeutschen Jugendlichen -wie die Ergebnisse unserer Studie dokumentieren -ganz offensichtlich pragmatisch-positiv arrangiert.
Die innere Beunruhigung und Irritation zeigt sich aber zumindest ansatzweise in der angespannten psychischen und sozialen Befindlichkeit der ostdeutschen Jugendlichen. Sie schimmert außerdem deutlich im Bereich der politischen Einstellungen und Erwartungen durch: Die große Enttäuschung über politische Versprechungen drückt sich in einer ernstzunehmenden-Skepsis gegenüber den Problemlösungskompetenzen der Politiker und in einer starken Distanziertheit gegenüber den maßgeblichen politischen Kräften aus. Diese Befunde sind als ein deutliches Warnsignal an das politische System der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen, das von den Jugendlichen ganz offensichtlich nicht als ihren Interessen angemessen eingeschätzt wird. Die politische Verunsicherung der Jugendlichen liegt nach den Erkenntnissen unserer Studie eher auf der Makroebene als auf der Mikroebene: Die alltäglichen Herausforderungen des Lebens glaubt man meistem zu können und schätzt auch die veränderten Bedingungen hierfür eher positiv ein. Die großen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die sich an die ganze Gesellschaft richten, machen den Jugendlichen aber ganz offensichtlich erhebliche Sorgen.
Was den Jugendlichen in Ostdeutschland am meisten zu schaffen macht, ist nach den Ergebnissen unserer Studie a) die rasche Umstellung auf die „scharfe“ Dynamik einer Wettbewerbsgesellschaft in Bildung und Ausbildung, die über ihr schulisches und berufliches Schicksal entscheidet, und b) die Unüberschaubarkeit der großen politischen und wirtschaftlichen Probleme, deren Lösung ihnen unwahrscheinlich erscheint.
Die ostdeutschen Jugendlichen sehen in diesen beiden Faktoren die größten Belastungen für ihr psychisches und soziales Wohlbefinden.
Christian Palentien, Dipl. -Päd., geb. 1969; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. -Veröffentlichungen u. a: (zus. mit K. Hurrelmann) Jugendliche -politisch, aber gegenüber Politikern äußerst skeptisch, in: Pädagogik, (1992), 11. Käte Pollmer, Dr. phil. habil., Dipl. -Psych., geb. 1942; u. a. langjährige Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Jugendforschung, seit 1992 Lehrtätigkeit an der Fachhochschule Potsdam. -Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit K. Hurrelmann) Neue Chancen oder neue Risiken für Jugendliche in Ostdeutschland, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, (1992) 1; (zus. mit K. Hurrelmann) Familientraditionen und Erziehungsstile in Ost-und Westdeutschland im Vergleich, in: Kind-Jugend-Gesellschaft, (1992) 1. Klaus Hurrelmann, Dr. rer. pol., geb. 1944; Professor für Sozialisationsforschung, Sprecher des Sonderforschungsbereiches „Prävention und Intervention im Kindes-und Jugendalter“ an der Universität Bielefeld. -Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit J. Mansel) Alltagsstreß bei Jugendlichen. Eine Untersuchung über Lebenschancen, Lebensrisiken und psychosoziale Befindlichkeiten im Statusübergang, Weinheim-München 1991; (zus. mit U. Engel) Was Jugendliche wagen. Eine Längsschnittstudie über Drogenkonsum, Streßreaktion und Delinquenz im Jugendalter, Wein-heim-München 1993.
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