Massenentlassungen, Mobilität und Arbeitsmarktpolitik. Das Beispiel zweier ostdeutscher Großbetriebe
Hartmut Häußermann/Heiner Heseler
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Zusammenfassung
Am Beispiel zweier ostdeutscher Großbetriebe wird gezeigt, daß Fluktuation und Mobilität in den ersten zwei Jahren des Einigungsprozesses sehr hoch und die Arbeitskräfte nicht weniger flexibel bezüglich der regionalen Mobilität waren, als dies in Westdeutschland in vergleichbaren Fällen zu beobachten ist. Mehr als ein Drittel der Beschäftigten verließ freiwillig den Betrieb; die Betroffenen fanden in der Region, vor allem aber im Westen neue Arbeit. Wichtige Aufgaben zur sozialverträglichen Abfederung der Massenentlassungen kamen der Arbeitsmarktpolitik zu. Bedeutsamstes Instrument war die Vorruhestandsregelung. Damit und durch den Einsatz von Arbeitsbeschaffungs-und Qualifizierungsmaßnahmen, durch die extensive Nutzung der Kurzarbeiterregelung und durch die Bildung von Beschäftigungsgesellschaften gelang es, den Arbeitsmarkt vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
I. Einleitung
In den neuen Bundesländern erfolgte binnen kürzester Zeit ein beispielloser Abbau von Arbeitsplätzen. Zwischen September 1989 und dem Ende des Jahres 1992 ging die Zahl der Erwerbstätigen um mehr als drei Millionen zurück Ein solcher extremer Rückgang der Beschäftigung ist historisch ohne Parallele und stellt die Akteure auf dem Arbeitsmarkt vor besondere Herausforderungen. Weit stärker als im Fall westlicher Strukturkrisen kam es in der Transformationsphase in Ostdeutschland zu Massenentlassungen und Betriebs-schließungen. Sie sind in den neuen Bundesländern zu einer nahezu alltäglichen Erfahrung geworden. Bis zum März 1993 waren nach Angaben der Treuhandanstalt 2578 Unternehmen mit rund 301000 Arbeitsplätzen von der Stillegung betroffen. Die Zahl der von Massenentlassungen Betroffenen dürfte jedoch um ein Vielfaches höher liegen: Die meisten Großbetriebe der ehemaligen DDR konnten bislang allerdings nur durch drastischen Beschäftigungsabbau überleben.
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Tabelle 3: Auspendler aus den neuen Bundesländern nach Westdeutschland Juni 1992 (in Prozent der Erwerbstätigen) Quelle: M. Koller/T. Jung-Hammon (Anm. 19). Die genannten Arbeitsmarktbezirke sind diejenigen mit der höchsten Auspendlerquote in den einzelnen Bundesländern.
Tabelle 3: Auspendler aus den neuen Bundesländern nach Westdeutschland Juni 1992 (in Prozent der Erwerbstätigen) Quelle: M. Koller/T. Jung-Hammon (Anm. 19). Die genannten Arbeitsmarktbezirke sind diejenigen mit der höchsten Auspendlerquote in den einzelnen Bundesländern.
In welcher Form sich der Arbeitsplatzabbau vollzieht, welche Instrumente die Unternehmensleitungen ergreifen, wie die betroffenen Arbeitskräfte und die Belegschaften sowie deren Interessenvertretungen reagieren, die von Massenentlassungen oder der Schließung des gesamten Betriebs betroffen oder bedroht waren bzw. sind, die Beantwortung dieser Fragen ist für eine zielgerichtete Arbeitsmarktpolitik bedeutsam. Erfahrungen mit Strukturkrisen in einzelnen Branchen und Regionen in Westdeutschland oder anderen westeuropäischen Ländern in den achtziger Jahren dürften für die Bedingungen in den neuen Bundesländern kaum verallgemeinerbar sein. Dafür sprechen die folgenden Überlegungen, die sich aus ersten Beobachtungen der Struktur und des Verlaufs des Arbeitsplatzabbaus in Ostdeutschland ergeben: -Die Schließung großer Betriebe ist auf den lokalen Arbeitsmärkten in Ostdeutschland kein Einzelfall, vielmehr treten mehrere Fälle zu gleicher Zeit auf und haben daher kumulative Wirkung. Gerade erst im Entstehen begriffene lokale Arbeitsmärkte sind unmittelbar durch einen sprunghaften Anstieg von Arbeitssuchenden und Arbeitlosen gekennzeichnet. -Arbeitsmarktverhalten und Suchprozesse müssen von den betroffenen Arbeitskräften erst eingeübt werden: Die meisten Arbeitskräfte gehörten vor der Schließung nicht nur langjährig dem Betrieb an, was in der Regel mit einer weit höheren Betriebsbindung einhergeht, sondern sie haben auch geringe Erfahrungen mit Suchstrategien und Verhaltensweisen auf externen Arbeitsmärkten. -In den ersten Phasen des Strukturwandels gab es keine funktionsfähigen und erfahrenen Arbeitsmarktinstitutionen. Diese mußten parallel zum Anstieg der Arbeitslosigkeit erst aufgebaut werden. Arbeitsmarktpolitik -Vermittlung, Qualifizierung, Arbeitsbeschaffung -, die einen großen Einfluß auf die Wiederbeschäftigungschancen hat, konnte also nur unvollständig greifen. -Überkommene Berufe und Qualifikationen verlieren schnell und in großem Umfang an Bedeutung. Bereitschaft und Fähigkeit zur beruflichen Mobilität ist daher Voraussetzung für erfolgreiche Arbeitsmarktstrategien. Zwar gab es in der ehemaligen DDR ein betriebliches System von Akademien zur Fort-und Weiterbildung, aber gerade bei der Vermittlung über-betrieblicher, auf dem externen Arbeitsmarkt verwertbarer Qualifikationen kann nicht auf Traditionen und Erfahrungen zurückgegriffen werden. -Während westliche Erfahrungen zeigen, daß die Singularität einer Massenentlassung und Betriebsschließung auf einem regionalen Arbeitsmarkt politische Institutionen und einstellende Unternehmen zu einem gezielten, die Wiederbeschäftigung der betroffenen Belegschaft begünstigenden Verhalten veranlaßt, trifft gerade dies für die Arbeitsmärkte der ehemaligen DDR nicht zu. Massenentlassungen und Betriebsschließungen haben hier eine so große Dimension, daß die jeweils Betroffenen weder eine besonders herausgehobene Zielgruppe der regionalen Politik darstellen können, noch die einstellenden Betriebe in den jeweiligen Regionen zu spezifischen Reaktionen in der Lage sind. -Anders als im Westen, wo auch in Krisenregionen das Ausmaß räumlicher Mobilität vergleichsweise gering blieb, haben mit der Öffnung der Grenzen massive Abwanderungs-und Pendlerströme von Ost nach West eingesetzt.
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Tabelle 4: Kurz-und mittelfristige Bereitschaft erwerbsfähiger Männer unter 50 Jahren, aus den neuen Bundesländern in die alten Bundesländer umzuziehen (in Prozent)Quelle: G. Wagner, Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Pendeln von Arbeitskräften der neuen Bundesländer, in: Sozialer Fortschritt, 41 (1992), S. 87.
Tabelle 4: Kurz-und mittelfristige Bereitschaft erwerbsfähiger Männer unter 50 Jahren, aus den neuen Bundesländern in die alten Bundesländer umzuziehen (in Prozent)Quelle: G. Wagner, Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Pendeln von Arbeitskräften der neuen Bundesländer, in: Sozialer Fortschritt, 41 (1992), S. 87.
Angesichts der noch lange Zeit anhaltenden Unterschiede in den Arbeits-, Lebens-und Einkommensbedingungen könnte auch in Zukunft der regionalen Mobilität der Arbeitskräfte eine erhebliche Bedeutung zukommen.
Die in den neuen Bundesländern durch Betriebs-schließungen ausgelösten Arbeitsmarktprozesse unterscheiden sich daher sowohl angebots-als auch nachfrageseitig grundlegend von entsprechenden Erfahrungen im Westen. Arbeitslosigkeit wurde in der DDR durch unproduktive Beschäftigung verdeckt, hieraus können nunmehr Ausgrenzungs-und Marginalisierungsprozesse entstehen.
Allerdings gibt es hinsichtlich der Situation auf regionalen Arbeitsmärkten auch innerhalb der neuen Bundesländer -abhängig vom Ausmaß des ökonomischen Wandels, von den regionalen Strukturproblemen und den ökologischen Belastungen -erhebliche Unterschiede. Regionen mit der Perspektive der Deindustrialisierung stehen solche gegenüber, in denen sich schon jetzt Anzeichen für eine Regeneration der Ökonomie zeigen. Sowohl die Folgen von Massenentlassungen als auch die Chancen für die Wiederbeschäftigung sind also regional durchaus unterschiedlich und beeinflussen damit auch die Mobilitätsprozesse.
Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ist der ostdeutsche Arbeitsmarkt nicht vollständig blockiert. Die Ergebnisse des Arbeitsmarktmonitors für die neuen Bundesländer zeigen eine beträchtliche Dynamik. So schieden zwischen November 1990 und November 1992 drei Millionen Menschen aus der Erwerbstätigkeit aus, während im gleichen Zeitraum 1, 8 Millionen Zugänge in die Erwerbstätigkeit zu verzeichnen waren und 2, 1 Millionen Arbeitnehmer den Betrieb wechselten In diesem beständigen Strom von Zu-und Abgängen aus Beschäftigungsverhältnissen kristallisieren sich bei dem hohen und wachsenden Arbeitsplatzdefizit die Strukturprobleme auf dem Arbeitsmarkt heraus und werden die Chancen zwischen den Arbeitsplatz-suchenden immer wieder neu verteilt. Die betriebliche Beschäftigungspolitik, die staatliche Arbeitsmarktpolitik, aber auch die Strategien und Verhaltensweisen der Arbeitsuchenden beeinflussen -gerade bei hoher Arbeitslosigkeit -die unterschiedliche Verteilung von Chancen und Risiken einzelner Gruppen von Beschäftigten und Arbeitslosen auf den Arbeitsmärkten. Entscheidend für die zukünftige Entwicklung dürfte überdies sein, wie lange die „Durststrecke“ wirtschaftlicher Stagnation und eines hohen Arbeitsplatzdefizites anhält, wie wirksam in dieser Zeit Motivationen der Arbeitskräfte, sich aktiv an den grundlegenden Wandel anzupassen, erhalten und stabilisiert werden können. Weit stärker als auf den westlichen Arbeitsmärkten könnte großräumige Mobilität die Folgen von Massenentlassungen und Betriebs-schließungen beeinflussen.
Wir werden in unserem Beitrag anhand von zwei Fallbeispielen den folgenden Fragestellungen nachgehen:
1. In welchen Formen vollzogen sich diese Massenentlassungen, welche Folgen hatten sie für die betroffenen Arbeitskräfte und wie wirkten sie sich auf die lokalen Arbeitsmärkte aus?
2. In welcher Weise können arbeitsmarktpolitische Maßnahmen die Massenentlassung und deren Folgen sozial abfedern und die Funktionsweise des Arbeitsmarktes verbessern?
3. Wie entwickelt sich die räumliche Mobilität auf einem sich erst konstituierenden Arbeitsmarkt?
II. Die Untersuchungsregionen
Abbildung 16
Tabelle 1: Arbeitsplatzabbau nach Gründen bei der Deutschen Maschinen-und Schiffbau AG (DMS) und der Neptun-Werft Rostock Quelle: Deutsche Maschinen-und Schiffbau AG (DMS) -eigene Berechnungen -nicht enthalten sind sieben Unternehmen, die zum 1. Juli 1991 aus der DMS AG ausschieden; *) 1992: 1. Halbjahr.
Tabelle 1: Arbeitsplatzabbau nach Gründen bei der Deutschen Maschinen-und Schiffbau AG (DMS) und der Neptun-Werft Rostock Quelle: Deutsche Maschinen-und Schiffbau AG (DMS) -eigene Berechnungen -nicht enthalten sind sieben Unternehmen, die zum 1. Juli 1991 aus der DMS AG ausschieden; *) 1992: 1. Halbjahr.
Die folgende Darstellung konzentriert sich auf erste Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojekts das Massenentlassungen von zwei Großbetrieben in zwei unterschiedlichen Regionen verfolgt: der Neptun-Werft in Rostock und dem Braunkohleveredlungsbetrieb in Espenhain (Kreis Borna im Südraum Leipzig). In beiden Betrieben, die zu DDR-Zeiten jeweils mehr als 6000 Personen beschäftigten und in den Regionen eine herausragende Arbeitsmarktbedeutung hatten, wurden zwischen 1990 und 1992 mehr als drei Viertel der Arbeitsplätze abgebaut. Über die endgültige Schließung wurde in beiden Fällen zwar immer wieder diskutiert, jedoch ist sie bisher nicht erfolgt. Während die Privatisierung der Neptun-Werft im Mai 1993 vollzogen wurde steht eine endgültige Entscheidung im Braunkohlebetrieb Mitte 1993 noch aus. In beiden Betrieben haben wir Mitte 1992 jeweils ca. 2 000 Arbeitnehmer im Rahmen einer standardisierten schriftlichen Befragungsaktion und zum Jahresende 1992 jeweils rund 100 Arbeitnehmer in mündlichen Intensivinterviews über ihre Arbeitsmarkterfahrungen und -Strategien befragt. Einbezogen wurden sowohl die noch im alten Betrieb Beschäftigten als auch die inzwischen in einem anderen Unternehmen Beschäftigten, die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und die Arbeitslosen. Ergänzend wurden Expertengespräche mit betrieblichen und regionalen Akteuren durchgeführt.
1. Der Landkreis Borna
Der Landkreis Borna, südlich von Leipzig gelegen, gehörte aufgrund seiner wirtschaftlichen Monostruktur zu den acht strukturschwächsten Regionen der ehemaligen DDR 1989 arbeiteten 73, 4 Prozent aller ständig Berufstätigen in der Industrie, nur wenige in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor. Damit war der Landkreis Borna eine der drei am stärksten industrialisierten Regionen der DDR und zugleich auch eine der am dichtesten besiedelten Der aus Autarkiebestrebungen des NS-Staates begonnene Ausbau des Braunkohle-Tagebaus und der Braunkohlenverarbeitung (Briketterzeugung, Karbochemie) wurde von der DDR aus Gründen der Importsubstitution weiter forciert, so daß es zu einer fast völligen Abhängigkeit der regionalen Wirtschaft von der Braunkohle kam. Noch Ende 1990 arbeiteten von den im Landkreis beschäftigten 55 000 Arbeitneh-mem zwei Drittel im Bereich Kohle/Energie/Chemie. Der Landkreis zählt zu den am stärksten mit Schadstoffen belasteten Regionen der ehemaligen DDR. 1978 waren schon mehr als ein Zehntel der Fläche des Kreises in Abbauflächen bzw. Ödland verwandelt worden. Borna litt schon seit längerem unter der Abwanderung seiner Bevölkerung. Lebten 1971 noch 96000 Menschen im Landkreis, so waren es 1989 nur noch 86000. Von 1981 bis 1989 betrug der Bevölkerungsrückgang 4, 9 Prozent, während im gleichen Zeitraum die Einwohnerzahl in Rostock um 7, 2 Prozent anstieg. Die Folgen der beständigen Abwanderung meist jüngerer und qualifizierterer Einwohner zeigen sich in einer relativ niedrigen Quote Erwerbsfähiger an der Wohnbevölkerung und in einer geringeren Quote des „demographischen Nachwuchspotentials“.
Die Region Borna befindet sich in einer tiefgreifenden Strukturkrise. Durch die starke Verflechtung der Industriebetriebe mit der Braunkohle kommt es zu einem Zusammenbruch der traditionellen Wirtschaftsstrukturen. Die Anlagen der Karbochemie sind 1990 stillgelegt worden, ebenso drei der zwölf Brikettfabriken im Landkreis, denen 1993 alle weiteren folgen werden. Falls der Braunkohlenabbau überhaupt noch eine Chance hat, wird er erheblich eingeschränkt werden müssen. Von den Stillegungen und Produktionsbeschränkungen werden circa 15000 bis 20000 Beschäftigte in der Region betroffen sein.
2. Die Stadt Rostock
Rostock ist eine durch maritime Wirtschaftszweige und Großbetriebe geprägte Stadt. Hafen, Schifffahrt, Schiffbau und Fischwirtschaft waren und sind die Leitsektoren. In ihnen arbeiteten zuletzt (1990) rund ein Drittel der Beschäftigten der 250000 Einwohner zählenden Stadt In der Vergangenheit profitierte Rostock gleichermaßen von den ökonomischen Autarkiebestrebungen wie von der chronischen Devisenschwäche der DDR. Die Hansestadt expandierte schneller als viele andere Städte der DDR. Bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein nahm die Bevölkerung kontinuierlich zu. Im Zeitraum von 1981 bis 1989 stieg die Einwohnerzahl um 17000 (7, 2 Prozent), in der DDR insgesamt hingegen sank sie im gleichen Zeitraum um 1, 8 Prozent.
Insgesamt ist in Rostock -verglichen mit westdeutschen Großstädten -der Anteil der Industrie hoch, der private Dienstleistungssektor, aber auch die exportorientierten Handelsfunktionen sind deutlich unterentwickelt. Der Verkehrssektor war in der Vergangenheit selbst gegenüber anderen Hafenstädten überdimensioniert. Die maritime Ausrichtung Rostocks prägt auch stark die Industriestruktur der Stadt. Ende 1989 arbeiteten noch 12600 Beschäftigte auf den Werften. Mit 8, 6 Prozent lag ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung mehr als dreimal so hoch wie in der Stadt Bremen
Das Umland der Stadt Rostock ist ländlich geprägt mit geringem Industriebesatz und einer niedrigen Einwohnerdichte. Die Stadt ist das eindeutige Wirtschaftszentrum der Region. Der Einpendlerüberschuß betrug im Juni 1992 17 Prozent von den in der Stadt beschäftigten 123000 Erwerbstätigen. Im Vergleich zur Region Boma-Espenhain sind die ökologischen Belastungen relativ gering, auch dürften die Chancen einer Revitalisierung der lokalen Ökonomie und des Arbeitsmarkts größer sein.
Die geringe Diversifizierung der Industrie in beiden Regionen (Braunkohle/Chemie einerseits, maritime Wirtschaft andererseits) geht mit einer hohen Verflechtung der Wirtschaftszweige und Unternehmen einher. Die Kombinatsstruktur verursachte eine hohe Abhängigkeit der regionalen Betriebe von den Schlüsselsektoren. In der Vergangenheit hatte diese starke Verflechtung die Beschäftigungslage der Regionen begünstigt. In einer Schrumpfungsphase bildet sie freilich ein zusätzliches Gefährdungspotential.
Die Talfahrt und der erwartete Rekonstruktionsprozeß der regionalen Wirtschaftsstruktur verlaufen in beiden Regionen unterschiedlich. Während Rostocks Bevölkerung bis zur Wende kontinuierlich gewachsen ist, litt Borna schon lange unter Bevölkerungsverlusten. Jungen, überdurchschnittlich qualifizierten Berufstätigen in Rostock steht eine überalterte Bevölkerung mit geringerer Qualifikationsstruktur in Borna gegenüber. Durch den beständigen Zustrom von Arbeitskräften nach Rostock gab es dort eine rege Bautätigkeit, was sich in vergleichsweise guter Wohnqualität niederschlug; vorherrschend sind dabei Großsiedlungen und eine geringe Wohneigentumsquote. Borna dagegen hatte nur geringen Wohnungsneubau, der Siedlungsstruktur entsprechend herrscht alte Bausubstanz mit schlechter Wohnungsqualität vor, die Hauseigentumsquote ist jedoch deutlich höher.
III. Massenentlassungen, Arbeitsmarktpolitik und Mobilität in Rostock und im Landkreis Borna
Abbildung 17
Abbildung 2: Verbleib der Beschäftigten des Braunkohleveredlungsbetriebes Espenhain und der Neptun-Werft Rostock bis Juni 1992 Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Erhebungen im Rahmen eines laufenden Forschungsprojektes (vgl. Anm. 4).
Abbildung 2: Verbleib der Beschäftigten des Braunkohleveredlungsbetriebes Espenhain und der Neptun-Werft Rostock bis Juni 1992 Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Erhebungen im Rahmen eines laufenden Forschungsprojektes (vgl. Anm. 4).
1. Arbeitsmarktfolgen der Massenentlassungen Betriebe und Beschäftigte in den neuen Bundesländern müssen sich einem fundamentalen ökonomischen, sozialen und politischen Strukturbruch anpassen. Chancen zum Überleben haben die überdimensionierten Großbetriebe der ehemaligen DDR nur, wenn sie innerhalb kürzester Zeit die Zahl ihrer Arbeitsplätze massiv reduzieren und zugleich neue Untemehmenskonzepte entwickeln, mit denen sie sich auf den Märkten behaupten können. Allerdings fehlt es ihnen an erforderlichen Investitionsmitteln, da die Treuhand in der Regel erst nach der Privatisierung Mittel zur Sanierung bereitstellt.
Beim Arbeitsplatzabbau konnten die Betriebe eine Vielzahl von Instrumenten anwenden. Überraschend hoch war die Zahl deijenigen, die um besserer Einkommenschancen und Arbeitsbedingungen willen den Betrieb frühzeitig und freiwillig verließen. Allerdings sind die Folgen dieser natürlichen Fluktuation ambivalent. Einerseits vollzieht sich so der Beschäftigungsrückgang unspektakulär und reibungslos. Andererseits sind es gerade die jüngeren und höher qualifizierten Arbeitskräfte, die als erste den Betrieb verlassen. Darüber hinaus stand den Betrieben die Möglichkeit offen, ältere Arbeitskräfte in den Vorruhestand zu schicken. Angesichts des vergleichsweise hohen Alters-durchschnitts der Beschäftigten früherer DDR-Betriebe war dies ein in quantitativer Hinsicht überaus bedeutsames beschäftigungspolitisches Instrument.
Die Kombinatsbetriebe zeichneten sich durch eine hohe Fertigungstiefe und die Wahrnehmung von Aufgaben aus, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen typischerweise nicht zu den Aufgaben eines Betriebs gehören (Sozial-und Kultur-einrichtungen wurden unterhalten, es bestand die Verpflichtung zur Produktion von Konsumgütern -auch für Investitionsgüterbetriebe). Ausgliederungen von Betrieben oder Betriebsteilen stellten daher ein weiteres Instrument dar, mit dem ein schneller Arbeitsplatzabbau erzielt werden konnte.
Den Beschäftigten standen von Beginn an verschiedene Optionen offen. Gerade in den ersten beiden Jahren hatten viele die Chance, einen Arbeitsplatz im Westen zu erhalten oder auch in den neugegründeten Klein-und Mittelbetrieben der Region. Die enorme Expansion arbeitsmarkt-politischer Instrumente eröffnete vielen -als Alternative zur Arbeitslosigkeit -den Weg in eine Arbeitsbeschaffungs-oder Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahme (bei Großbetrieben häufig auch in einer Beschäftigungsgesellschaft
Angesichts des außerordentlich schnellen Um-bruchs auf dem Arbeitsmarkt standen die erst im Aufbau befindlichen Arbeitsämter vor besonderen Problemen. Einerseits mußten sie sehr schnell die aus dem Westen importierten Instrumente der Arbeitsmarktpolitik einsetzen, um einen noch stärkeren Anstieg der offenen Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Andererseits sollte die Arbeitsmarktpolitik selbst einen Beitrag zur Revitalisierung der regionalen Ökonomie leisten: durch zielgerichtete Qualifizierung für künftige Anforderungen der modernisierten oder neu entstandenen Betriebe, durch Beschäftigungsmaßnahmen, die der Sanierung der Infrastruktur dienen, sowie durch die Förderung von Ausgründungen und Neugründungen von Betrieben.
Erste Untersuchungsergebnisse Im folgenden geben wir die ersten Untersuchungsergebnisse aus dem laufenden Forschungsprojekt wieder. Beide Fallbeispiele sind gewiß nicht repräsentativ, die Befunde auf keinen Fall zu verallgemeinern. Doch können sie Eindrücke über das Spektrum arbeitsmarktpolitischer Strategien und Handlungsmöglichkeiten im laufenden Transformationsprozeß von der Plan-zur Marktwirtschaft vermitteln: Der erste auffällige Befund ist, daß ein großer Teil des Personalabbaus in den beiden untersuchten Betrieben in einem Zeitraum stattfand, in dem die Arbeitnehmer noch durch Kündigungsschutzregeln besonders gut geschützt waren. So wurde für die Metallindustrie und damit für die Werften 1990 ein Tarifvertrag abgeschlossen, der einen bis zum 30. Juni 1991 befristeten Kündigungsschutz für alle Arbeitnehmer enthielt. Mit dem Auslaufen des Tarifvertrags wurde für die zur Deutschen Maschinen-und Schiffbau AG (DMS) gehörende Neptun-Werft in Rostock eine Konzembetriebsvereinbarung abgeschlossen, nach der eine betriebliche Kündigung nur zulässig ist, wenn den betroffenen Arbeitnehmern zugleich ein Beschäftigungsverhältnis in einer Beschäftigungsgesellschaft angeboten wird. Da sich die Bildung solcher Beschäftigungsgesellschaften verzögerte, kam es erst Ende 1991 mit Wirkung zum 1. Januar 1992 zu den ersten betriebsbedingten Kündigungen. Im Bereich des Bergbaus bestand zwar keine derartige Tarifvereinbarung, aber dem Braunkohleveredlungsbetrieb (BV) Espenhain stand insbesondere das Instrument des sehr früh beginnenden Vorruhestands zur Verfügung. Hieraus erklären sich sowohl die vergleichsweise hohen Anteile von freiwilliger Fluktuation als auch die Unterschiede im Verbleib zwischen den beiden Betrieben. 1. Beschäftigungsverlauf: Im BV Espenhain vollzog sich der größte Teil des Abbaus, nämlich um nahezu 4000 Arbeitsplätze, zwischen Juni 1990 und Juli 1991; im folgenden Jahr kam es zwar noch einmal zu einer Halbierung der Belegschaft, quantitativ war dies aber eine weit geringere Zahl. Auf der Neptun-Werft sank die Beschäftigung bis Juni 1991 schon um nahezu 2000 Stellen. Der überwiegende Teil des Arbeitsplatzabbaus vollzog sich allerdings im zweiten Halbjahr 1991 (vgl. Abbildung 1). In beiden Betrieben wurden mehr als die Hälfte des Arbeitsplatzabbaus ohne gezielte betriebliche Entlassungsaktionen realisiert. 2. Formen und Instrumente des Arbeitsplatzabbaus (vgl. Tabelle 1): Der Spielraum der Beschäftigungspolitik war zunächst groß. Entlassungen spielten nur eine geringe Rolle; Fluktuation und Mobilität der Belegschaften waren in den ersten zwei Jahren des Einigungsprozesses sehr hoch. Über 40 Prozent derjenigen, die bis zum November 1991 die Werften verließen, taten dies auf eigenen Wunsch. Bei der Neptun-Werft waren es 1990 immerhin 30 Prozent. 1991 ging die Zahl der Eigenkündigungen deutlich zurück. Viele kündigten, weil sie in anderen Betrieben der Region, insbesondere in den neu entstandenen privaten Betrieben, einen Arbeitsplatz fanden. Noch größer dürfte freilich die Zahl jener sein, die als Pendler einen Arbeitsplatz in Westdeutschland erhielten oder direkt übersiedelten.
An zweiter Stelle der Gründe für das Ausscheiden aus dem Betrieb stand bis zum November 1991 die Inanspruchnahme des Vorruhestands. Mehr als ein Drittel derjenigen, die Schiffbaubetriebe verließen, sind anschließend in Rente gegangen und somit aus dem Erwerbsleben und dem Arbeitsmarkt ausgeschieden. Rund 10 Prozent des Arbeitsplatzabbaus wurden durch Ausgliederungen von Betrieben oder Betriebsteilen aus den Werften oder den Zuliefererbetrieben vollzogen. Das betraf auch die Bildungs-und Sozialeinrichtungen, die in der früheren DDR betriebsbezogen organisiert waren. Sie wurden aufgelöst oder den Kommunen überlassen. In der Schiffbaufertigung wurden Bereiche wie Schiffsreinigung, Konservierung, Tischlerei und Klimatechnik meist von spezialisierten westlichen Schiffbauzuliefererbetrieben übernommen *
Der extrem hohe Arbeitsplatzabbau im ersten Jahr nach der Währungsunion ist somit nicht primär durch betriebliche Kündigungen zu erklären; lediglich jedem achten, der aus den Werften ausschied, wurde seitens des Unternehmens gekündigt. Dies änderte sich zwar nach Auslaufen der Kündigungsschutzregeln und betraf insbesondere die Neptun-Werft. So waren 1991 insgesamt 59, 6 Prozent aller Abgänge der Neptun-Werft auf betriebliche Kündigungen zurückzuführen. Dabei war maßgeblich, daß zum 1. Juli die Fusion mit der Warnow-Werft wirksam wurde und ein Teil der Arbeitskräfte zum Standort der Warnow-Werft wechselte. Von den zum Ende des Jahres 1991 Entlassenen ging die Mehrheit in die Beschäftigungsgesellschaft Neptun, 1800 von ihnen freilich in Kurzarbeit-Null (Null Stunden). 3. Arbeitsmarktverbleib: Zwei Jahre nach der Wirtschafts-und Währungsunion hatten sowohl die Neptun-Werft als auch der Braunkohleveredlungsbetrieb Espenhain die Zahl ihrer Beschäftigten auf einen Minimalbestand reduziert, unterhalb dessen eine Weiterexistenz des Betriebs kaum zu gewährleisten ist. Jeweils mehr als 4000 Arbeitnehmer hatten ihren Arbeitsplatz verloren. Über den Verbleib zum Juni 1992 gibt eine Repräsentativbefragung der Arbeitnehmer beider Betriebe Auskunft (vgl. Abbildung 2).
Ein überraschend hoher Anteil der früheren Beschäftigten hatte neue Arbeit gefunden, in Rostock nahezu 40 Prozent, in Espenhain immerhin fast ein Drittel. Dies hängt einerseits mit der Qualifikationsstruktur und dem Mobilitätsverhalten der Belegschaften zusammen und andererseits mit den tarifvertraglichen und betrieblichen Regelungen. In Espenhain war ein weiteres Drittel, in Rostock ungefähr ein Fünftel über Vorruhestand aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Groß ist auch die Bedeutung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen (jeweils mehr als 20 Prozent). Schwer zu beurteilen ist zunächst der hohe Anteil von Kurzarbeitem-Null in Rostock. Hierbei handelt es sich um die formal in der Beschäftigungsgesellschaft Neptun Beschäftigten. Ein Teil von ihnen ist später arbeitslos geworden, andere haben ein neues Beschäftigungsverhältnis gefunden. Insofern ist der Anteil von Arbeitslosen zu niedrig ausgewiesen und dürfte nach dem Auslaufen der Kurzarbeitersonderregelungen gestiegen sein.
Gleichwohl ist das Ausmaß offener Arbeitslosigkeit bei beiden Massenentlassungen niedriger, als ursprünglich zu erwarten gewesen wäre. Von den Beschäftigten der Neptun-Werft waren im Juni 1992 lediglich vier Prozent arbeitslos Dies hängt entscheidend damit zusammen, daß es bis zu diesem Zeitpunkt arbeitgeberseitige Kündigungen nur geben konnte, wenn zugleich ein Beschäftigungsverhältnis in einer Beschäftigungsgesellschaft angeboten wurde. Mit 16 Prozent war die Arbeitslosenquote im Fall des Braunkohlebetriebs deutlich höher. Arbeitslos gemeldet waren fast 600 der 4000 innerhalb von anderthalb Jahren aus diesem Betrieb ausgeschiedenen Arbeitskräfte. Bedenkt man jedoch, daß der Arbeitsplatzabbau in der Region immer noch nicht abgeschlossen ist und ein Arbeitsmarkt sich unter erschwerten Bedingungen erst entwickeln mußte, ist eine Zahl von etwa 600 Arbeitslosen vergleichsweise gering. Bei Betriebsstillegungen in den westlichen Ländern lag die Quote anderthalb Jahre nach einer Stillegung meist deutlich über 20 Prozent 2. Reichweite und Wirksamkeit der Arbeitsmarktpolitik a) Spezifische Bedingungen in den untersuchten Regionen Die Arbeitsmarktwirkungen und die Einflußmöglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik in den hier vorgestellten Fällen sind aus den folgenden Gründen nicht zu verallgemeinern: -In beiden Fällen handelt es sich um Großbetriebe, auf die sich frühzeitig die Aufmerksamkeit der wirtschafts-und arbeitsmarktpolitischen Akteure konzentrierte. Für die vom Arbeitsplatzabbau Betroffenen waren dies vergleichsweise günstige Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, die bei Massenentlassungen in anderen Branchen, in kleineren Betrieben und insbesondere in kleinstädtischen und ländlichen Regionen in der Regel nicht gegeben waren. -Bei den Werften verfügt eine Belegschaft mit hoher und flexibel einsetzbarer Qualifikation und einer vergleichsweise hohen Mobilitätsbereitschaft über überdurchschnittliche Arbeitsmarktchancen. -Ein großstädtischer Arbeitsmarkt, auf dem zwar im gleichen Zeitraum auch die meisten anderen Großbetriebe massenhaft Arbeitsplätze abbauten, auf dem zugleich aber neue Betriebe entstanden oder Kleinbetriebe expandierten, begünstigte die Suche nach neuen Arbeitsplätzen in Rostock. Aber auch im Fall Borna dürfte die Nähe zum Wirtschaftszentrum Leipzig, das eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in den neuen Bundesländern aufweist, die Arbeitsmarktbedingungen positiv beeinflussen. Wenngleich die expandierenden Betriebe bei weitem nicht den Arbeitsplatzverlust kompensieren konnten, so waren doch für die jüngeren Facharbeiter auch auf dem regionalen Arbeitsmarkt Wiederbeschäftigungschancen gegeben. -Die räumliche Nähe Rostocks zu westdeutschen Wirtschaftszentren mit ähnlicher Struktur, in denen gerade im Zeitraum des höchsten Arbeitsplatzabbaus in den Ostbetrieben qualifizierte Fachkräfte gesucht wurden, trug ebenfalls zur vergleichsweise geringen Arbeitslosigkeit bei. -Der hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten beider Regionen, die schnelle Integration in die westdeutschen Interessenvertretungsstrukturen und die wiederholt demonstrierte Bereitschaft, für den Erhalt von Arbeitsplätzen zu kämpfen, trugen in doppelter Hinsicht zur Verbesserung der Arbeitsmarkt-chancenbei: Einerseits erreichten die Werftbelegschaften über einen relativ langen Zeitraum einen weitgehenden Schutz vor Entlassungen bzw. Arbeitslosigkeit. Andererseits führten wiederholte betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen dazu, daß die politischen Entscheidungsinstanzen den Erhalt aller Werftstandorte faktisch garantierten und außerordentlich hohe Mittel für die Privatisierung und Sanierung bereitstellten. Im Schiffbau wurde zudem im März 1991 als Pilotabschluß die später umstrittene Tariflohnangleichung ausgehandelt. Möglicherweise stellte diese eine Voraussetzung dar, um ein höheres Maß an Abwanderung qualifizierter Fachkräfte aus der Küstenregion zu verhindern. Wenngleich die gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretungen im Fall der Braunkohle auf ähnlich spektakuläre Aktionen verzichteten, konnten sie doch sehr frühzeitig in Betriebsvereinbarungen, Tarifverträgen und Vereinbarungen mit der Treuhand-anstalt eine weitreichende Absicherung der Belegschaft erreichen. Diesen Schutz hatten beispielsweise die Beschäftigten der ostdeutschen Landwirtschaft oder Textilindustrie nicht, weswegen hier die negativen Arbeitsmarktfolgen weitaus dramatischer sein dürften. b) Beurteilung derArbeitsmarktpolitik Vor diesem Hintergrund sind Reichweite und Wirksamkeit der Arbeitsmarktpolitik zu beurteilen. Entscheidende Faktoren für die vergleichsweise günstigen Arbeitsmarktkonstellationen lagen in Qualifikationsstrukturen, Verhaltensweisen und Strategien der von Massenentlassungen betroffenen Belegschaften sowie in den regionalen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Gleichwohl hatte der massive Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente wichtige Aufgaben:
Erstens: Durch Vorruhestandsregelungen wurden im Fall der Neptun-Werft Rostock circa neunzehn Prozent, im Fall des BV Espenhain sogar ein Drittel der Arbeitskräfte aus dem Erwerbsleben ausgegliedert. Ohne dieses Instrument wäre der Anstieg der Arbeitslosigkeit weitaus höher ausgefallen. Wenngleich der Vorruhestand im Vergleich zur Dauerarbeitslosigkeit die sozialverträglichere Form darstellt, bedeutete doch für viele, die jahrzehntelang in stabilen, praktisch unkündbaren Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet hatten, das abrupte Ausscheiden aus dem Betrieb und der Verlust des Arbeitsplatzes eine persönliche Katastrophe. Da damit häufig ein finanzieller Abstieg verbunden ist, hat dieses Instrument nicht die gleiche Akzeptanz gefunden wie in vergleichbaren Krisenbranchen im Westen.Zweitens: Kurzarbeit -zunächst im Betrieb und anschließend in der Beschäftigungsgesellschaft -hat nicht unerheblich dazu beigetragen, den erstmaligen Bezug des Arbeitslosengeldes hinauszuzögern und damit die soziale Absicherung derjenigen, die später arbeitslos werden, zu verbessern Gegen dieses Instrument wird mit gewissem Recht eingewandt, daß es letztlich zur Strukturkonservierung beitrage und notwendige Mobilität und Flexibilität verhindere. Kurzarbeit-Null ging auch -in beiden Fällen -nur selten mit Qualifizierungsmaßnahmen einher. Gleichwohl wechselte ein überraschend hoher Anteil der Kurzarbeiter aus der Beschäftigungsgesellschaft in ein neues Beschäftigungsverhältnis.
Drittens: Besondere Bedeutung kam sowohl bei den Rostocker Werften als auch -noch stärker -im Fall des BV Espenhain der Bildung von Beschäftigungsgesellschaften zu. Jeder achte der 4000 ehemaligen Espenhainer war im Frühjahr 1993 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) beschäftigt. Die meisten davon arbeiten in der eigenständigen Beschäftigungs-und Qualifizierungsgesellschaft der Mitteldeutschen Braunkohle AG (MIBRAG) auf dem Betriebsgelände des Werkes bzw. in stillgelegten Tagebauen. Dort führen sie im Rahmen von sogenannen MEGA-ABM notwendige Sanierungsarbeiten durch, u. a.den Rückbau der Schwelereianlagen und die Rekultivierung der Tagebaue. Auf den Werften bewahrte die Beschäftigungsgesellschaft besonders Angehörige jener Gruppe von Arbeitnehmern zunächst vor Arbeitslosigkeit, die ihren Arbeitsplatz verloren, aber nicht alt genug waren, um in den Vorruhestand zu wechseln. Zugleich hatten diese aber Schwierigkeiten, einen neuen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Anders als im Braun-kohlebereich gab es hier keine MEGA-ABM. Die Beschäftigungs-und Qualifizierungsgesellschaften nehmen auf den Werften im wesentlichen fünf Funktionen wahr -die Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen; -die Durchführung von bzw. Vermittlung in Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen; -die Verwaltung von Kurzarbeitsmaßnahmen; -die Vorbereitung von Ausgründungen; -die Bereitstellung eines Pools qualifizierter Arbeitskräfte für neue Investoren in der Region.
Die Hälfte der in die Beschäftigungsgesellschaft „Neptun“ Übergewechselten war freilich in Kurz-arbeit-Null, d. h. nur formell beschäftigt, tatsächlich aber ohne Arbeit oder Ausbildung. Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen (FuU) erfolgten zumeist nur als Kurzzeitmaßnahmen nach § 41a Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Struktur-politisch bedenklich war zudem, daß die Kurzarbeiter faktisch besser gestellt waren als diejenigen, die an einer Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahme teilnahmen.
Mit dem 1. Juli 1992 kam es zu einer drastischen Reduzierung der Belegschaften in den Beschäftigungsgesellschaften. Kurzarbeit-Null war nunmehr aufgrund gesetzlicher Regelungen in Beschäftigungsgesellschaften nicht mehr möglich. Von den verbliebenen Arbeitskräften waren mehr als zwei Drittel im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tätig. Gegenüber dem Jahresbeginn haben längerfristige Bildungsmaßnahmen, aber auch die Kombination von ABM und FuU-Maßnahmen an Bedeutung gewonnen. Es erfolgte somit eine Verschiebung zu arbeitsmarktpolitisch effektiveren Maßnahmen.
Immerhin trug auch die Kurzarbeit in einer Beschäftigungsgesellschaft zum Vermeiden von Arbeitslosigkeit bei. Von den ausgeschiedenen Kurzarbeit-Null-Arbeitskräften der Beschäftigungsgesellschaft „Neptun“ wurden nach Ermittlung der Trägergesellschaft (TGS) Schiffbau lediglich 44 Prozent arbeitslos, die anderen fanden einen neuen Arbeitsplatz -zum Teil im Rahmen von ABM -oder gingen in eine FuU-Maßnahme. Die Beschäftigungsgesellschaft des Braunkohlebetriebs konnte aufgrund geänderter gesetzlicher Regelung einer größeren Zahl von ABM-Beschäftigten eine über die sonst üblichen zwei Jahre hinaus reichende längerfristige Perspektive bieten.
3. Entwicklung der Mobilität
Aufgrund der hohen Abwanderung aus dem Gebiet der ehemaligen DDR, die auch noch nach der Vereinigung am 3. Oktober 1990 anhielt, wurde vielfach befürchtet, Ostdeutschland werde ausbluten. Eine anhaltend hohe Ost-West-Wanderung würde mit Sicherheit große Probleme in beiden Teilen des Landes mit sich bringen: im Westen, weil sich die Aufnahmefähigkeit von Arbeits-und Wohnungsmärkten auch bei anhaltend hoher Konjunktur erschöpfen müßte, im Osten, weil das für eine mittelfristige Stabilisierung der ökonomischen Entwicklung notwendige Arbeitskräfte-, vor allem Qualifikationspotential erheblich geschwächt würde. Wir haben die ehemaligen Beschäftigten in Rostock und Espenhain im Herbst 1992 nach ihren Mobilitätsorientierungen gefragt. Über diejenigen, die schon vor diesem Zeitpunkt weggezogen sind, wissen wir zu wenig, um dazu Aussagen machen zu können.
Im Jahre 1989 sind 344000 Personen aus Ost-nach Westdeutschland abgewandert, 1990 schätzungsweise noch einmal 350000. 1991 waren es wahrscheinlich nur noch 200000. Nach Koller und Jung-Hammon haben zwischen 1990 und Juni 1992 insgesamt 315000 Menschen Ostdeutschland verlassen, das wären also im Jahresdurchschnitt nur noch 150000. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat die Bevölkerung der neuen Bundesländer im Jahr 1991 um 169 500 Personen abgenommen, in den ersten sechs Monaten des Jahres 1992 dagegen nur noch um 42 786
Die hohe Abwanderung ist durch die außergewöhnliche Situation im Herbst 1989 und die enorme Anspannung davor zu erklären: Vor der staatlichen Vereinigung (von etwa Mitte 1989 bis Oktober 1990) baute sich ein „Stau“ von Abwanderungswilligen ab, die aus den verschiedensten Gründen die sich bietende Gelegenheit sofort wahrnahmen. Bis Mitte 1990 wurde die „Übersiedlung“ noch durch staatliche Unterstützung erleichtert bzw. angereizt. Danach dürften Nachfolgewanderungen zu Verwandten, die bei der Übersiedlung hilfreich waren, ebenso bedeutend gewesen sein wie der Sog, der auf dem Arbeitsmarkt durch den Vereinigungsboom entstanden war. In den Jahren 1991/92 ist die Abwanderung dann zurückgegangen, sicher auch, weil die Aufnahmefähigkeit -und damit die Attraktivität -des westdeutschen Arbeitsmarktes stark nachgelassen hatte. Ob sich das Wanderungsverhalten der Bevölkerung in den neuen Bundesländern demjenigen in der alten Bundesrepublik angleichen wird, dürfte davon abhängen, wie rasch sich die Lebensbedingungen annähem werden -vor allem aber von der Situation auf dem Arbeitsmarkt.
In einigen der alten Bundesländer, die einem starken industriellen Strukturwandel unterworfen waren, haben in der Vergangenheit ebenfalls die Bevölkerungszahlen infolge von Abwanderung abgenommen. So ging z. B. in Nordrhein-Westfalen die Bevölkerungszahl zwischen 1973 und 1985 um 3, 3 Prozent zurück, im Saarland zwischen 1975 und 1986 um 4, 9 Prozent In beiden Ländern ist seitdem die Bevölkerungszahl insbesondere durch Zu-wanderungen aus dem Ausland wieder angestiegen. Von Juli 1991 bis Juni 1992 (das ist der letzte Zeitraum, für den gegenwärtig verläßliche Daten vorliegen) hat die Bevölkerung der neuen Bundesländer noch um insgesamt 143688 abgenommen. Dieser Wert entspricht etwa dem Abwanderungsverlust, den das Saarland aufgrund der Stahlkrise erlitten hat. In unseren Befragungen haben wir zu ermitteln versucht, welche Bedeutung die Abwanderung als Option bei der Bewältigung der Massenentlassungen hat. Wir haben nach den gegenwärtigen Überlegungen gefragt, die bezüglich eines Umzugs in eine andere Region angestellt werden. Aus den Antworten läßt sich erkennen, ob die Abwanderungsbereitschaft größer ist als in vergleichbaren Fällen in der alten Bundesrepublik, d. h. ob es eine über die „normale“, d. h. durch eine tiefgreifende Arbeitsmarktkrise aufgezwungene Orientierung auf Abwanderung hinausgehende Tendenz zum Verlassen des ehemaligen DDR-Gebietes gibt.
Exkurs: Grundlegende Bemerkungen zum Thema Mobilität Als „Normalität“ unterstellen wir hier zum Zweck des Vergleichs die Mobilitätsbewegungen, die in der alten Bundesrepublik zu beobachten waren. Die Ergebnisse der Forschung zum Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und regionaler Mobilität in der alten Bundesrepublik können kurz so zusammengefaßt werden: Zwar wird von der ökonomischen Modelltheorie regionale Mobilität als eine Form der Bewältigung von Arbeitsmarktkrisen und regionalen Disparitäten betrachtet und für notwendig gehalten, tatsächlich aber ist sie in der alten Bundesrepublik kontinuierlich zurückgegangen. Blaschke/Nagel bezeichnen es als „dämpfenden säkularen Wohlstandseffekt“, daß die Zwänge zur Mobilität geringer werden. Der Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktkrise und Niveau der regionalen Mobilität ist sogar negativ: In der Rezession vermindert sich die Mobilität insbe sondere der Erwerbspersonen Ein Prozent mehr Arbeitslosigkeit hat drei bis vier Prozent weniger Wanderungen zur Folge
Generell nimmt die Bereitschaft zur Wanderung mit zunehmendem Alter ab. Der Scheitelpunkt zwischen zunehmender und abnehmender Mobilität liegt bei etwa 35 Jahren, was mit dem Lebenszyklus und der Familienbildung erklärbar ist. Ledige sind generell mobiler als Verheiratete, daher ist die Mobilität bei jüngeren Alleinstehenden und kinderlosen Ehepaaren unter 35 Jahren auch am größten. Die Beziehungen zwischen Tätigkeitswechsel und räumlicher Mobilität sind im Alter zwischen 20 und 25 Jahren am engsten
Wesentlichen Einfluß auf die Mobilitätsrate hat auch das Qualifikationsniveau: Die Wanderungshäufigkeit nimmt mit höheren Ausbildungsabschlüssen zu. Die Gründe dafür sind leicht nachvollziehbar: Je höher das Qualifikationsniveau, desto kleiner und regional konzentrierter ist das entsprechende Segment auf den regionalen Arbeitsmärkten und desto größer die überregionale Nachfrage. Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung Nürnberg weisen Arbeiter außerordentlich niedrige Quoten bei „arbeitsbedingter“ Wanderung auf, die ungelernten die niedrigsten.
Erwerbspersonen, die irgendwann arbeitslos waren, sind deutlich mobiler als die übrigen Die Bereitschaft zum Ortswechsel nimmt außerdem mit der Dauer der Arbeitslosigkeit zu. Aber auch bei Arbeitslosen ist die Beteiligung an der Mobilität nach Alter und Qualifikation unterschiedlich: Angestellte wechseln im Vergleich zu Arbeitern mehr als doppelt so häufig den Wohnort, um einen neuen Arbeitsplatz anzutreten; Hochschulabsolventen fast viermal so häufig wie Arbeitslose ohne beruflichen Abschluß; und über 45jährige ziehen sehr viel seltener um, weil sie einen neuen Arbeitsplatz gefunden haben, als jüngere Arbeitslose. Während die regionale Mobilität bei den Unqualifizierten mit zunehmendem Alter drastisch sinkt -bei den über 55jährigen beträgt sie nur noch 2, 4 Prozent -, steigt sie bei den Hochschulabsolventen mit zunehmendem Alter. Dominant für die Selektivität der Wanderungen ist also die berufliche Qualifikation.
Für Arbeitslose mit niedrigem Bildungsniveau ist der Berufswechsel die häufigste Strategie, um wieder einen Arbeitsplatz zu finden, während bei höherer Bildung ein Ortswechsel die Möglichkeit verbessert, einen Arbeitsplatz entsprechend der persönlichen Qualifikation zu finden. Dies verweist auf einen Zusammenhang, der sich aus der „Strukturierung der Arbeitslosigkeit“ ergibt: Bei den Arbeitslosen sind diejenigen Berufsgruppen, die unterdurchschnittliche (Wieder) -Beschäftigungschancen haben, überdurchschnittlich stark vertreten. Das heißt, daß sich die Qualifikationsstrukturen der längerfristig Arbeitslosen auf verschiedenen regionalen Arbeitsmärkten gleichen, regionale Mobilität also die Beschäftigungschancen für diese Gruppe kaum erhöhen würde. Regionale Disparitäten sind für längerfristig arbeitslose Arbeiter bei ihren Bewältigungsstrategien daher kaum relevant. In einer Periode der Massenarbeitslosigkeit sind „Jedermanns“ -Arbeitsplätze überall knapp.
Auch Überlegungen zu einem Kosten-Nutzen-Vergleich bei Ortswechsel weisen in die Richtung, daß für gering Qualifizierte Mobilität in der Regel kein Ausweg aus ihrer Situation ist. Die berufliche Karriere von Arbeitslosen mit niedrigem oder ohne formalen Bildungsabschluß verläuft in fast allen Fällen negativ: Bei unterdurchschnittlichen Wiedereingliederungsquoten haben sie mit schlechteren Arbeitsplätzen und geringeren Einkommen zu rechnen Die finanzielle Belastung bei regionaler Mobilität ist dagegen hoch: Kosten für einen Umzug werden von den Betrieben nur bei den begehrten höchstqualifizierten Arbeitskräften bezahlt. Die Kosten für die Wohnung sind am neuen Arbeitsort für Mieter wie für Hausbesitzer immer höher. Wenn das Einkommen niedriger ist als im vorhergehenden Arbeitsverhältnis und die Wohnkosten deutlich höher sind, sprechen die „finanziellen Erwägungen ... eindeutig gegen einen Umzug“, und „es bedarf schon großer finanzieller Anreize, um auch in der Situation des Entscheidungsdrucks die Suchprozesse in die Richtung zu lenken, in der mögliche Lösungen evtl, mit einem Umzug verbunden wären“ Da insbeson-dere für hausbesitzende Arbeiter ein erneuter Eigentumserwerb an einem anderen Wohnort unmöglich wäre und weil Hausbesitzer durchschnittlich älter als Mieter sind bleiben sie auch im Falle von Arbeitslosigkeit eher seßhaft.
Aus den genannten Gründen sind in der alten Bundesrepublik Berufs-und Branchenwechsel sowie tägliches oder Wochenendpendeln die häufigsten Lösungen, die Arbeiter bevorzugen, wenn sie am regionalen Arbeitsmarkt keine Beschäftigung mehr finden. Diese Befunde gelten offensichtlich auch für Extremsituationen, wie erst kürzlich wieder eine Befragung zum Mobilitätsverhalten anläßlich einer „Arbeitsmarktkatastrophe“ in der Oberpfalz bestätigte: Von den ehemaligen Beschäftigten der Max-Hütte trugen sich ausschließlich die beruflich gut qualifizierten Jüngeren mit Abwanderungsgedanken
Auch für die DDR waren (vor der Wende) sinkende Wanderungsquoten festgestellt worden Arbeitslosigkeit hat für die Mobilität dort allerdings nie eine Rolle gespielt, denn Migrationsprozesse vollzogen sich auf der Basis einer staatlichen Arbeitsplatzgarantie. Obwohl es in der sozialistischen Planwirtschaft offiziell keinen Arbeitsmarkt gab, waren -wie sich aus den Biographien der Bewohner der ehemaligen DDR ergibt -für die Allokation der Arbeitskräfte dennoch individuelle Suchstrategien bedeutsam. Die Ähnlichkeit der sozialen Strukturierung regionaler Wanderungen (nach Alter und Qualifikation), die sich beim Vergleich von Untersuchungen in der ehemaligen DDR mit denen der alten Bundesrepublik zeigt, ist daher auch nicht überraschend.
Dennoch: Die zuvor beschriebenen Konturen des Arbeitsmarktverhaltens haben sich unter Bedingungen in der alten Bundesrepublik herausgebildet, die in den beiden Untersuchungsregionen für absehbare Zeit nicht vorhanden sind: Das Lohngefälle zu den westlichen Arbeitsmarktregionen ist so groß, daß -im Gegensatz zur alten Bundesrepublik -selbst für Ungelernte regionale Mobilität attraktiv sein könnte; das lokale Arbeitsangebot ist noch für längere Zeit voraussichtlich so gering, daß unmittelbarer Berufswechsel als Ausweichstrategie nur selten in Frage kommt.
Erste Ergebnisse unserer Befragungen unter den ehemaligen oder noch Beschäftigten der Neptun-Werft in Rostock und des Braunkohleveredlungsbetriebs in Espenhain zeigen jedoch eine verblüffende Übereinstimmung mit westdeutschen Erfahrungen. Nahezu drei Viertel der Befragten im Raum Espenhain wollen „auf gar keinen Fall“ umziehen, in Rostock sind es zwei Drittel. Generell ist der Wunsch, am Wohnort bleiben zu können, trotz aller widrigen Umstände sehr hoch. Dabei gibt es Unterschiede zwischen den beiden Regionen: Die Rostocker Befragten zeigen sich durchgängig mobiler als die Espenhainer, und sie lehnen in geringerem Ausmaß als die Bewohner des Land-kreises Borna eine Abwanderung kategorisch ab. Dabei werden als mögliches Umzugsziel die alten Bundesländer häufiger genannt als die neuen. Ein sehr viel größerer Anteil der Arbeitslosen in Espenhain (71 Prozent) als in Rostock (31 Prozent) möchte auf keinen Fall in die alten Bundesländer umziehen. Die regionalen Unterschiede erklären sich zum Teil aus vorhergehenden Mobilitätserfahrungen, denn Rostock war bis 1989 nach Berlin (Ost) bevorzugtes Zuzugsgebiet in der DDR; Stadt-Land-Unterschiede in der Ortsverbundenheit spielen ebenso eine Rolle wie die unterschiedlichen Anteile an Hauseigentum (während von den Befragten in Rostock kaum jemand über Hauseigentum verfügte, waren es in Espenhain immerhin um 20 Prozent). Aber auch die räumliche Entfernung zum „Westen“ dürfte eine Rolle spielen, die bei den Espenhainem zu einer größeren sozialen oder „kulturellen“ Distanz führt.
Die Orientierung darauf, die Arbeitsmärkte der westlichen Bundesländer als Pendler zu nutzen, ist aus naheliegenden Gründen in Rostock ebenfalls stärker. Räumliche Mobilität ziehen am ehesten die Jüngeren, Unverheirateten und Qualifizierten in Betracht, Mieter eher als Hauseigentümer. Die Bereitschaft nimmt allerdings bei den Höchstqualifizierten wieder leicht ab, und sie ist bei Angestellten geringer als bei Arbeitern. Diese Ergebnisse decken sich mit denen aus anderen Befragungen in Ostdeutschland*. Als Hauptgrund für die geringe Wanderungsbereitschaft (von Befragten in OstBerlin und Sachsen-Anhalt) werden starke soziale Bindungen genannt. „Selbst in Problemgebieten mit einer hohen Arbeitslosigkeit, hohen Umwelt-belastungen, schlechter Infrastruktur und dergleichen mehr fühlen sich die meisten Menschen dem Wohnort eng verbunden.“ Die wichtigsten Gründe dafür, den Wohnort nicht zu wechseln, sind die positive Einschätzung von Wohnbedingungen und Einkaufsmöglichkeiten, der geringe Nutzen eines Ortswechsels, die engen Kontakte zu Einwohnern und die Nähe zu Verwandten.
Diese Orientierungen sind um so wichtiger für das Mobilitätsverhalten, je geringer auf den westdeutschen Arbeitsmärkten die Möglichkeiten sind, einen stabilen und gut bezahlten Arbeitsplatz zu finden. Wie sie sich entwickeln, wenn der „Aufschwung Ost“ auf dem Arbeitsmarkt noch lange auf sich warten läßt, ist nicht vorherzusagen. Solange arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für viele eine berufliche Tätigkeit, Fortbildung bzw. Umschulung oder zumindest eine existentielle Sicherheit bieten, werden die meisten von Entlassung Betroffenen in ihrer Heimat bleiben. Diese Einschätzung bestätigt sich, wenn man die vorhandenen Daten zur Abwanderung in den neuen Bundesländern insgesamt betrachtet. a) Arbeitsplatzdefizite und Abwanderung Stellt man für die neuen Bundesländer das „Arbeitsplatzdefizit“ (= Erwerbspersonen minus „normale“ Arbeitsplätze) den Abwanderungsquoten gegenüber (vgl. Tabelle 2), dann ergibt sich für die Zeit von 1990 bis Juni 1992 kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktsituation und Abwanderung. Die Länder mit überdurchschnittlichen Arbeitsplatzdefiziten haben durchaus nicht die höchsten Abwanderungsraten (Berlin-Ost, Thüringen, vgl. Tabelle 2) und umgekehrt: Die Länder mit unterdurchschnittlichen Defiziten haben vergleichsweise hohe Abwanderungsraten (Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt). Eine Erklärung liegt in den Pendlerquoten (vgl. Tabelle 3): Ost-Berlin hat (selbstverständlich) die höchste Auspendlerquote, und Thüringen liegt ebenfalls über dem Durchschnitt der neuen Bundesländer. Die genannten Länder mit hohen Abwanderungsquoten haben vergleichsweise niedrige Pendlerquoten. Unsere beiden Untersuchungsregionen liegen in Ländern, die in dieser Hinsicht Extreme bilden: Das Land mit einer der niedrigsten Auspendlerquote und der höchsten Abwanderung ist Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen hingegen hat die niedrigste Auspendlerquote und eine Abwanderung, die relativ nahe am Durchschnitt liegt. b) Sozialstruktur und Zielregion der Abwanderer Von den Übersiedlern in den Westen waren im Jahr 1989 über 80 Prozent jünger als 40 Jahre (derAnteil dieser Altersgruppe an der DDR-Bevölkerung betrug 57 Prozent). Für 1991 liegen uns altersgegliederte Daten bisher nur für das Land Thüringen vor, und dabei zeigt sich, daß 78 Prozent der Abwanderer unter 30 Jahre alt waren! Es sind also nach wie vor vor allem die jüngeren Menschen, die in den Westen übersiedeln. In der Befragung des Sozioökonomischen Panels in der nach der Neigung zur Abwanderung gefragt wird, zeigt sich ebenfalls der sehr starke Zusammenhang mit dem Alter, während der Zusammenhang mit der Lohnhöhe vergleichsweise irrelevant zu sein scheint Wanderungsanalysen, in denen die Qualifikationsstruktur der Abwanderer aus jüngerer Zeit aufgeschlüsselt wird, gibt es nicht. Im SOEP-Ost läßt sich zumindest ein Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt-Status und Wanderungsneigung erkennen. Die Befragung 1991 ergab das in Tabelle 4 dargestellte Bild:
Die größte Umzugsneigung zeigen demnach Pendler, gefolgt von Arbeitslosen bzw. Nicht-Erwerbstätigen. Daraus ist einerseits zu ersehen, daß Pendeln eine Vorstufe zur Abwanderung sein kann, andererseits zeigt die starke Diskrepanz zwischen kurz-und mittelfristiger Option, daß der in jüngster Zeit zu beobachtende Rückgang der Abwanderung noch keineswegs eine stabile Tendenz darstellen muß. Eine Stabilisierung der Arbeits-marktentwicklung würde aber mit größter Wahrscheinlichkeit die Ost-West-Mobilität erheblich reduzieren.
Ziel der Abwanderung waren bisher vor allem solche Regionen, in denen das Beschäftigungswachstum überdurchschnittlich und die Arbeitslosigkeit unterdurchschnittlich waren Bisher hat also die Ost-West-Wanderung nicht zu einer Verschärfung der Arbeitsmarktsituation (z. B. durch Verdrängung) in westdeutschen Arbeitsmarktregionen geführt. Dies kann sich jedoch ändern, wenn die Arbeitsmarktlage auch in Westdeutschland für längere Zeit sehr schlecht bleibt. Dann kann die Abwanderung junger und qualifizierter Arbeitskräfte zu einer Substitution westdeutscher Arbeitskräfte führen. c) Pendler Im Jahresdurchschnitt pendelten 1992 circa 422000 Erwerbstätige (5, 3 Prozent) aus Ostdeutschland in den westdeutschen Arbeitsmarkt -ein großer Teil davon allerdings von Ost-nach West-Berlin 80 Prozent der Pendler sind Männer, sie machen etwa 10 Prozent der männlichen Erwerbstätigen in Ostdeutschland aus. Von den 16-bis 19jährigen pendeln 13 Prozent, von den 20-bis 29jährigen 12 Prozent, von den 30-bis 39jährigen 10 Prozent, und danach sinkt die Rate auf 7 Prozent. Die Pendler sind überdurchschnittlich jung (nur 8 Prozent sind älter als 45 Jahre), der Anteil von Facharbeitern ist „auffallend hoch“
Die Pendlerquote steigt, je näher ein Bundesland bzw. ein Arbeitsamtsbezirk an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten liegt (vgl. Tabelle 3). Wir können daraus schließen: Wo es geographisch möglich ist, wird Pendeln der Abwanderung vorgezogen. Dafür gibt es gute Gründe: Die Kombination aus höheren Verdiensten im Westen und niedrigeren Lebenshaltungskosten im Osten führt zu einer deutlich positiven ökonomischen Bilanz, was bei einem Umzug keineswegs immer der Fall sein muß. Pendeln kann einerseits eine Strategie zur Überwindung der „Durststrecke“ auf dem Arbeitsmarkt im Osten sein, andererseits die Vorstufe zu einem Umzug.
IV. Zusammenfassung
Abbildung 18
Tabelle 2: Abwanderungsverluste Ostdeutschlands 1990 bis Juni 1992 Quelle: M. Koller/T. Jung-Hammoh (Anm. 19): 70 Prozent der Abwanderer sind Erwerbspersonen.
Tabelle 2: Abwanderungsverluste Ostdeutschlands 1990 bis Juni 1992 Quelle: M. Koller/T. Jung-Hammoh (Anm. 19): 70 Prozent der Abwanderer sind Erwerbspersonen.
In beiden hier untersuchten Betrieben -der Neptun-Werft Rostock und dem Braunkohleveredlungsbetrieb Espenhain -kam es seit 1990 zu einem massiven Arbeitsplatzabbau. Mehr als drei Viertel der noch zu DDR-Zeiten Beschäftigten verloren im Verlauf von kaum mehr als zwei Jahren ihren Arbeitsplatz. Die ursprünglich zu erwartenden Betriebsschließungen fanden jedoch nicht bzw. nur in Teilbereichen statt. Dies wirkte sich auch auf den Prozeß des Arbeitsplatzabbaus aus.
Gemessen am gesamten Abschmelzungsprozeß an Arbeitsplätzen kam den arbeitgeberseitigen Kündigungen keine dominierende Rolle zu. Zugleich erklärt sich aus diesen Befunden, daß nur ein sehr kleiner Teil der Belegschaften bisher arbeitslos geworden ist.
Einerseits verließen unerwartet viele Arbeitskräfte in einem frühen Stadium freiwillig den Betrieb, weil sie einen neuen Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb der Region oder im Westen fanden. Andererseits wurde das Instrument des vorzeitigen Übergangs in den Ruhestand zum wichtigsten Instrument der betrieblichen Politik des Personalabbaus in den ersten Jahren der Transformationsphase. Entlastung brachte auch die Ausgliederung von Betriebsteilen oder Abteilungen.
Sozial abgefedert und zeitlich gestreckt wurde der Arbeitsplatzabbau zudem durch die extensive Nutzung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente Arbeitsbeschaffungs-sowie Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen. Nicht zuletzt durch deren Einsatz gelang es, die regionalen Arbeitsmarkt-und Wirtschaftsstrukturen vor dem Zusammenbruch zu bewahren und günstigere Voraussetzungen für die Revitalisierung der Regionen zu schaffen. Die Kurzarbeit, ein weiteres arbeitsmarktpolitisches Instrument, zögerte zumindest für die Betroffenen den erstmaligen Bezug von Arbeitslosengeld hinaus. Auch wenn nur selten Kurzarbeit und Bildungsmaßnahmen kombiniert wurden, ist doch der Anteil detjenigen beachtlich hoch, die aus der Kurzarbeit, ohne arbeitslos zu werden, in ein neues Beschäftigungsverhältnis wechselten. Ohne den intensiven Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wäre es auch im Fall der hier dargestellten Massenentlassungen in zwei gewerkschaftlich hoch organisierten Großbetrieben zu einer Arbeitsmarktkatastrophe gekommen.
Die ostdeutschen Arbeitskräfte zeigen sich nicht weniger flexibel bezüglich der regionalen Mobilität, als dies in Westdeutschland in vergleichbaren Fällen zu beobachten ist. Diejenigen, die nach dem Fall der Mauer einen schon länger gehegten Abwanderungswunsch realisiert haben, waren vor allem jüngere und qualifizierte Arbeitskräfte. Bei der Auswahl von Beschäftigten, die beim Arbeitsplatzabbau in den Betrieben entlassen wurden, spielten Kriterien des Alters und der Mobilitätsfähigkeit eine wichtige Rolle zur Suche nach einem neuen Arbeitsplatz gezwungen wurden also von vornherein stärker diejenigen, die geringere soziale Bindungen an den Wohnort hatten. Bei den jetzt in den neuen Bundesländern Lebenden ist die Neigung umzuziehen, generell gering, sie bilden also ein stabiles Potential für die zukünftige Entwicklung.
Bemerkenswert ist, daß die Pendel-und Umzugs-bereitschaft größer ist, je näher eine Region an der ehemaligen Staatsgrenze liegt. Die objektiv günstigere räumliche Erreichbarkeit dürfte dafür eine Erklärung sein, aber auch die größere „kulturelle“ Nähe zum Westen, die sich in häufigeren Reisen und Begegnungen entwickelt hat. Offensichtlich gleichen sich die Orientierungen und Verhaltensweisen zwischen Ost und West in den Regionen um die ehemals so scharf trennende DDR-Grenze rascher an. Nicht ignoriert werden dürfen aber die darin liegenden Gefahren passiver Sanierung ostdeutscher Regionen, denen eine zielgerichtete Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik entgegenwirken sollte.
Hartmut Häußermann, Dr. rer. pol., geb. 1943; Professor für Stadt-und Regionalsoziologie im Fachbereich Sozial-wissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin; bis September 1993 Mitglied der Zentralen Wissenschaftlichen Einrichtung „Arbeit und Region“ an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Jürgen Friedrichs und Walter Siebei) Süd-Nord-Gefälle in der Bundesrepublik?, Opladen 1986; (zus. mit Walter Siebei) Neue Urbanität, Frankfurt am Main 1987; (Hrsg.) Ökonomie und Politik in alten Industrieregionen Europas, Basel 1992; Heiner Heseler, Dr. rer. pol., geb. 1948; Leiter des Kooperationsbereichs Universität, Arbeiterkammer in Bremen. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Bert Warich) Strukturwandel und arbeitsmarktpolitischer Handlungsbedarf in Rostock, Nürnberg 1992; (zus. mit Heike Löser) Die Transformation des ostdeutschen Schiffbaus, Rostock 1992; (zus. mit Joachim Eisbach) Strukturwandel, Fertigungstiefe und Ausgründungspotentiale im ostdeutschen Schiffbau, Eschborn 1992.
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