Brasilien: Sozio-ökonomische und außenpolitische Perspektiven vor dem Hintergrund eines blockierten Entwicklungspotentials
Manfred Wöhlcke
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Zusammenfassung
Betrachtet man den Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung Brasiliens unter dem Aspekt der kollektiven Lebensqualität, so wird deutlich, daß die nachholende Entwicklung nicht ein kumulativer „Fortschritt“ (im wertenden Sinne) ist, sondern daß im Laufe der Zeit einige alte Probleme überwunden werden, andere aber bestehen bleiben (sich teilweise sogar verschärfen) und ständig neue hinzukommen, wobei die Gesamtsituation immer komplizierter wird und steigende Anforderungen an das politische System stellt. Die Lebensbedingungen der großen Mehrheit der Bevölkerung sind nach wie vor prekär und zugleich der sichtbarste Ausdruck dafür, daß wichtige Sektoren der Gesellschaft nicht angemessen „funktionieren“. Eine Überwindung dieser Defizite ist nicht in Sicht, so daß das Entwicklungspotential und die Entwicklungswirklichkeit in Brasilien wohl noch auf absehbare Zeit in auffälliger Weise auseinanderklaffen werden. Falls es Brasilien nicht gelingen sollte, die chronische Entwicklungskrise zu überwinden, so wird es dennoch alleine aufgrund seiner geographischen Ausdehnung, seines demographischen Gewichts, seiner wirtschaftlichen „Masse“ und seiner militärischen Potenz eines jener Entwicklungsländer bleiben, die zu den Aufsteigern im internationalen System gehören. Einen wirklichen Großmachtstatus wird Brasilien allerdings in absehbarer Zeit nicht erreichen. Inwieweit der trotz einiger „antiimperialistischer“ Überreaktionen grundsätzlich kooperative und konstruktive Charakter der brasilianischen Außenpolitik auf Dauer von der chronischen Entwicklungskrise tangiert werden könnte, ist nicht leicht vorherzusagen, wird aber im Sinne einer „educated guess“ für wenig wahrscheinlich gehalten.
Ein bekanntes brasilianisches Ondit, das Nationalstolz und Entwicklungsoptimismus ausdrückt, lautet: „O Brasil e o pas do futuro“ (Brasilien ist das Land der Zukunft). Häufig wird allerdings ein ironischer Nachsatz angehängt: . e sempre serä“ (... und wird es immer bleiben). Brasilien verfügt in der Tat über ein großes Entwicklungspotential, das jedoch in mehrfacher Hinsicht blockiert ist. Das Land durchläuft seit Jahrzehnten eine mittlerweile als chronisch zu bezeichnende Krise, die allerdings nicht gradlinig in eine Katastrophe führt, sondern einen ambivalenten Charakter hat, -indem sie positive und negative Tendenzen in sich vereint. In vielen Bereichen gibt es bemerkenswerte positive Entwicklungen, aber diese werden durch die unbewältigten Altlasten der Vergangenheit und die ständig nachwachsenden Probleme der Gegenwart zum Teil entwertet und gefährdet. Eine Überwindung der Krise ist vorläufig nicht in Sicht.
Es muß daher thematisiert werden, warum dieses in vielerlei Hinsicht reich gesegnete Land bislang nicht in der Lage war und ist, seine menschlichen, technologischen, finanziellen und natürlichen Ressourcen für eine erfolgreiche nachholende Entwicklung auf breiter Basis und für eine angemessene Gewichtung seiner Rolle innerhalb des internationalen Systems zu mobilisieren.
Die Frage, inwieweit die brasilianische Gesellschaft noch immer unterentwickelt ist, läßt sich am einfachsten dadurch beantworten, daß die konkreten Lebensbedingungen der Bevölkerung betrachtet werden. Dabei zeigt sich, daß die große Mehrheit in diesem sogenannten Schwellenland nach wie vor unter elenden Verhältnissen lebt, wobei es alte (z. B. ländliche Armut) und „moderne“ Aspekte (z. B. städtische Marginalität) der Unter-entwicklung gibt.
Das bisherige gesellschaftliche Resultat des Industrialisierungsprozesses ist in der Tat nicht sehr befriedigend. Gelegentlich ist von „Wachstum ohne Entwicklung“ bzw. von einer „perversen Modernisierung“ die Rede Im Sinne eines vorgezogenen, allgemeinen Resümees läßt sich feststellen, daß in Brasilien nach wie vor ein deutlicher Widerspruch zwischen dem Entwicklungspotential und der Entwicklungsrealität besteht und daß viele jener Qualitäten, die mit dem Begriff eines Schwellenlandes assoziiert werden, noch nicht verwirklicht sind. Der Hauptgrund hierfür scheint weniger in der unzureichenden Entwicklungsdynamik als im unangemessenen Entwicklungsstil zu liegen. Letzterer produziert keinen sinnvollen gesamtgesellschaftlichen Wandel, sondern führt zu immer neuen Varianten von Entwicklungsblockaden, das heißt, er ist nicht die Lösung, sondern die eigentliche Ursache der herrschenden Krise.
Die Beschäftigung mit der Entwicklungsproblematik Brasiliens ist nicht nur deswegen relevant, weil diesem Land allein aufgrund seiner geographischen, demographischen und ökonomischen Masse eine erhebliche Bedeutung zukommt, sondern weil an diesem Beispiel einer „fortgeschrittenen Entwicklungsproblematik“ deutlich wird, daß der gesellschaftliche Prozeß keineswegs linear und kumulativ vom Schlechteren zum Besseren verläuft. Hierfür sind verschiedene Entwicklungshemmnisse verantwortlich.
Im Gegensatz zu einer im Rahmen der jüngeren Entwicklungstheorie häufig vertretenen These scheinen die externen Entwicklungshemmnisse im brasilianischen Falle weitaus weniger relevant zu sein als die internen, sozusagen hausgemachten Probleme, wobei insbesondere das starke Bevölkerungswachstum, der notorische Mangel an „good governance" und die wenig konstruktive Rolle der gesellschaftlichen Eliten hervorzuheben sind.
Dieser Beitrag wurde im Dezember 1993 verfaßt. In diesem Zeitraum wurde das politische System von einem Korruptionsskandal erschüttert, der einen Höhepunkt in der farbigen Geschichte der brasilianischen Korruptionsskandale darstellt. Die zu seiner Aufklärung eingesetzte parlamentarischeUntersuchungskommission war wochenlang die zentrale politische Instanz im Lande. Ein Jahr zuvor war bereits der Präsident der Republik nach einem Impeachment-Verfahren ebenfalls wegen Korruption aus dem Amt entfernt worden. Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob in Brasilien ein großes Aufräumen nach italienischem Vorbild begonnen habe und nunmehr der lang ersehnte „take-off“ (Aufschwung) stattfinden könnte.
Die ohnehin prekäre sozialwissenschaftliche Prognosefähigkeit versagt vollends bei überraschenden historischen Umbrüchen. Insofern läßt sich nicht ausschließen, daß in Brasilien tatsächlich die Weichen in Richtung auf eine moderne, leistungsfähige, sozialverträgliche und umweltfreundliche Gesellschaft gestellt werden. Wahrscheinlich im Sinne einer bereits heute erkennbaren Tendenz ist dies jedoch noch nicht. Die unter dem Rubrum der demokratischen Selbstreinigung ablaufenden Ereignisse waren und sind gewiß bemerkenswert, aber sie erscheinen vorerst noch als unzureichend, um die teilweise anomischen Zustände in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu überwinden, um so mehr, als die konkreten politischen und strafrechtlichen Konsequenzen dieser „Selbstreinigung“ auf sich warten lassen.
Darüber hinaus ist dieser Vorgang zweischneidig, denn er mag zwar zu einer partiellen Moralisierung von Politik und Verwaltung führen, erodiert aber gleichzeitig die Legitimität der zentralen Institutionen und erschüttert das Vertrauen in die Demokratie, da die aufgedeckten Fälle in hohem Maße skandalös sind und nach einer gängigen Vermutung nur die Spitze eines Eisbergs darstellen.
Während sich andere lateinamerikanische Länder in den letzten Jahren erfolgreich modernisiert und an die neuen Gegebenheiten angepaßt haben, ist dies in Brasilien bislang nicht geschehen. Falls es dem Land jedoch gelingen sollte, tatsächlich einen entscheidenden Modernisierungsschub in Gang zu bringen, wären dessen konkrete Resultate sicherlich weit weniger spektakulär als jene überzogenen Erwartungen, die schon immer mit dem vermeintlichen „Land der Zukunft“ verknüpft wurden.
I. Entwicklung als Verbesserung der kollektiven Lebensqualität
Entwicklung bezeichnet einen umfassenden Prozeß gesellschaftlichen Wandels, der anhand einer Vielzahl von wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen und ökologischen Indikatoren dar-gestellt und sozusagen als Momentaufnahme in einem spezifischen Entwicklungsprofil abgebildet werden kann. Der Begriff der Entwicklung hat nicht nur eine beschreibende, sondern im Sinne von „Fortschritt“ auch eine wertende Dimension, das heißt, es ist nicht gleichgültig, in welchen Bereichen der Wandel stattfindet, ob zum Beispiel in der Diversifizierung der alkoholischen Getränke oder in der Befriedigung der Grundbedürfnisse. Das entscheidende Kriterium für Entwicklung ist letztlich die Verbesserung der kollektiven Lebensqualität, und zwar jeweils vorrangig in jenen Bereichen, in denen sie besonders defizitär ist.
Betrachtet man den gesellschaftlichen Prozeß Brasiliens unter einer solchen Perspektive, so wird deutlich, daß die nachholende Entwicklung nicht ein „Fortschritt“ auf breiter Front ist, sondern daß im Laufe der Zeit einige alte Probleme überwunden werden, andere aber bestehen bleiben (sich teilweise sogar verschärfen) und ständig neue hinzukommen, wobei die Gesamtsituation immer komplizierter wird und steigende Anforderungen an das politische System stellt. Die schlechten Lebensbedingungen der großen Mehrheit der Bevölkerung sind der sichtbarste Ausdruck dafür, daß wichtige Sektoren der Gesellschaft nicht angemessen „funktionieren“. Eine Überwindung dieser Defizite ist nicht in Sicht, so daß die Entwicklungswirklichkeit und das Entwicklungspotential Brasiliens wohl noch auf lange Zeit in auffälliger Weise auseinanderklaffen werden.
Dabei kann weder geleugnet werden, daß in Brasilien auch positiver Wandel stattfindet, noch darf übersehen werden, daß es viele Kräfte im Land gibt, die sich engagiert und konstruktiv für eine bessere gesellschaftliche Alternative einsetzen. Trotzdem ist die Befürchtung nicht unbegründet, daß der gesellschaftliche Prozeß mit allen seinen positiven und negativen Aspekten letztlich nicht in Richtung auf eine nachholende Entwicklung nach dem historischen Vorbild der heutigen Industrienationen verlaufen wird; statt dessen könnte er in chronische soziale und ökologische Krisen münden, sofern es dem politischen System in absehbarer Zeit nicht gelingt, auf die negativen Tendenzen entschieden konstruktiver zu reagieren als bisher.
Das Kernproblem der Entwicklung Brasiliens besteht gar nicht so sehr darin, den wirtschaftlichen Prozeß mit mehr oder weniger Erfolg zu dynamisieren -und bereits dies gelingt bekanntlich nur phasenweise -, sondern die Rahmenbedingungen für einen gesellschaftlichen Wandel zu schaffen, der selbsttragend und langfristig zunächst einmal nach den drei qualitativen Prioritäten in bezug aufdas Gemeinwohl ausgerichtet sein sollte: Existenzsicherung (Grundbedürfnisbefriedigung für die gesamte Bevölkerung); Sozialverträglichkeit (angemessene Verteilung der gesellschaftlichen Pflichten, Rechte und Erträge) und Umweltfreundlichkeit (Erhaltung der materiellen Verfügbarkeit, der natürlichen Regenerationsfähigkeit und eines Milieus, das der physischen wie psychischen Gesundheit der Menschen zuträglich ist).
Aus Ländervergleichen geht hervor, daß es keine sehr eindrucksvolle Korrelation zwischen dem wirtschaftlichen Potential eines Landes und der kollektiven Lebensqualität gibt und daß die Situation in einem sogenannten Schwellenland wie Brasilien in bezug auf zahlreiche Indikatoren erheblich schlechter ist als in manchen Ländern, die nicht nur über ein sehr viel geringeres Potential verfügen, sondern auch vermeintlich weniger entwickelt sind (weil sie nicht ähnlich dynamische, moderne Sektoren aufweisen).
Es ist methodisch nicht ganz unproblematisch, die kollektive Lebensqualität einer Gesellschaft in aggregierter Form zu bewerten. Trotz naheliegender Einwände lassen sich Indizes konstruieren, die zwar nicht absolut verläßlich sein mögen, aber doch zumindest eine grobe Einschätzung erlauben. Auf diese Weise können internationale Rangordnungen erstellt werden, die den relativen Entwicklungsstand einer Gesellschaft anschaulich darstellen. Die bekannteste Zusammenstellung dieser Art ist die internationale Liste des „Human Development Index“ des United Nations Development Programme (UNDP). Dieser Index setzt sich aus einer Reihe von Basisindikatoren zusammen, die von Einkommensverhältnissen bis zu Freiheitsrechten reichen Im „Bericht der menschlichen Entwicklung 1991" findet sich eine diesbezügliche Übersicht (s. Tabelle).
Brasilien steht nach dem „Human Development Index“ auf Rang 60. Dies entspricht zwar in etwa seinem Rang bezüglich des Pro-Kopf-Einkommens (Abweichung: 2 Rangpunkte), dennoch liegt die Frage nahe, warum dieses in fast jeder Beziehung reich gesegnete Land eine durchschnittliche Lebensqualität aufweist, die deutlich schlechter ist als diejenige von Ungarn (Rang 25), Bulgarien (33), Chile (38), Costa Rica (40) oder Argentinien (43).
Das politische System scheint mit den kumulierten sozialen Problemen nicht nur überfordert zu sein, sondern es ist teilweise für diese Mißstände selber verantwortlich und hat die negative Eigendynamik des „capitalismo selvagem" (wilden Kapitalismus) nicht nur geduldet, sondern regelrecht unterstützt, statt ihr entgegenzuwirken. Ähnliches gilt für die Umweltzerstörung und Ressourcenplünderung, deren kurzfristiger Nutzen in keinem Verhältnis zu den langfristigen Kosten steht. Auch in diesem Bereich kommt es zu einer Kumulierung von Altlasten mit ständig neu anfallenden Schäden, wobei nach und nach Probleme einer derartigen Dimension und Komplexität entstehen, daß sie einem korrigierenden politischen Zugriff zu entgleiten drohen.
II. Ursachen der anhaltenden Unterentwicklung
Die Ursachen der anhaltenden Unterentwicklung sind nicht nur vielfältig, sondern auch in einer kaum zu entwirrenden Weise miteinander verwoben, so daß es sich häufig um zirkuläre Verursachungen mit einer schwer zu bestimmenden kausalen Verknüpfung handelt. Im Rahmen dieses Beitrags können die wichtigsten Faktoren nur additiv und in aller Kürze angesprochen werden. Betrachten wir zunächst die externen Entwicklungshemmnisse: -In einigen Sektoren (vor allem Agrarprodukte und mineralische Rohstoffe) gibt es das bekannte Problem sich verschlechternder terms-of-trade, das heißt, die Exporte erleiden im Vergleich zu den Importen -besonders aus den Industrieländern -einen ständigen Wertverlust. Dieses Problem besteht allerdings nicht nur im Nord-Süd-Verhältnis, sondern auch im Süd-Süd-Verhältnis, und es ist der Marktwirtschaft generell immanent. Es wird sich nicht über „gerechte Preise“ überwinden lassen, sondern nur über Produktivitätssteigerung, Diversifizierung und Spezialisierung; diesbezüglich ist in erster Linie die Innovationsfähigkeit der brasilianischen Wirtschaft und Gesellschaft gefordert.-Ein mit den terms-of-trade verwandtes Problem betrifft die internationale Asymmetrie der technologischen Entwicklung. Auch in diesem Bereich ist es der Marktwirtschaft immanent, daß technologische Innovationen belohnt und geschützt werden. Dies mag aus verschiedenen Gründen kritisiert werden, aber die einzige konstruktive Reaktion besteht darin, die vielfältigen und bereits vorhandenen Möglichkeiten des internationalen Technologietransfers sowie der Ausbildung einer eigenen technischen Intelligenz zu nutzen. Im übrigen ist Brasilien nicht gerade ein Opfer der internationalen Asymmetrie im Bereich der Technologie; ganz im Gegenteil ist es ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie ein Land im Zuge der abhängigen Industrialisierung von der internationalen technologischen Entwicklung profitieren und eigene Kapazitäten aufbauen kann, und zwar auch in den „modernen“ Bereichen (z. B. Flugzeugbau, Kernenergie, Rüstungsproduktion, Telekommunikation, Chemie). -Ein weiterer Punkt betrifft den Protektionismus der Industrieländer, der zu Exporteinbußen bei „eigentlich" konkurrenzfähigen Produkten aus den Entwicklungsländern führt (vgl. die jüngste Diskussion im Zusammenhang mit der sogenannten Euro-Banane). Dieses Problem ist de facto gegeben, läßt sich aber kaum quantifizieren, da sich nicht bestimmen läßt, wieviel Brasilien tatsächlich exportieren könnte, falls es seitens der Industrieländer keinen Protektionismus geben würde. Mit guten Gründen läßt sich aber die These aufstellen, daß die durch Protektionismus verursachten Exporteinbußen keinen bedeutenden Faktor für die anhaltende Unterentwicklung Brasiliens darstellen. -Ein weiterer Punkt im Außenverhältnis betrifft die Verschuldung. Sie beläuft sich in Brasilien auf etwas mehr als 100 Mrd. US-Dollar, womit es -in absoluten Zahlen -zu den am höchsten verschuldeten Ländern der Welt zählt. In relativen Zahlen sieht das Bild allerdings etwas günstiger aus: Die Bruttoauslandsschulden je Einwohner beliefen sich 1989 auf 717 US-Dollar und hatten eine fallende Tendenz (zum Vergleich: Argentinien 2019, Chile 1291,. Ecuador 1135, Uruguay 1960, Venezuela 1494); der Schuldendienst in Prozent der Ausfuhr belief sich auf 31, 3, ebenfalls mit fallender Tendenz (zum Vergleich: Argentinien 36, 1, Chile 27, 5, Ecuador 36, 2, Uruguay 29, 4, Venezuela 25, 0) Mittlerweile hat sich die Lage weiter entspannt.
Sicherlich führt der durch die Verschuldung bedingte Ressourcenabfluß zu einer entsprechenden Minderung des Entwicklungspotentials -jedenfalls im quantitativen Sinne. Andererseits ist die Verschuldung im Gegensatz zu einer gängigen These nicht eine der Hauptursachen für die anhaltende Unterentwicklung. Letztere ist in erster Linie ein strukturelles Problem und reproduziert sich mit oder ohne Verschuldung und im übrigen auch in wirtschaftlich dynamischen Phasen, was sich im brasilianischen Falle gut zeigen läßt. Abgesehen davon stellen sich im Zusammenhang mit der Verschuldung noch einige Fragen: Wie ist -abgesehen vom Verhalten der internationalen Gläubiger -der von Brasilien selber zu verantwortende Beitrag beim Zustandekommen der „Schuldenfalle“ zu bewerten? Wie paßt die Verschuldung mit der Tatsache zusammen, daß das brasilianische Fluchtkapital auf Dutzende von Milliarden Dollar geschätzt wird? Wie ist der Versuch der brasilianischen Eliten zu bewerten, die aus der Kreditaufnahme resultierenden direkten wie indirekten Erträge nach Möglichkeit zu privatisieren, die Kosten aber zu sozialisieren, das heißt, die negativen Effekte der Verschuldung möglichst auf die arme Mehrheit der Bevölkerung abzuwälzen? Wie vereinbart sich die Verschuldung mit der ungebrochenen Ausgabe-freudigkeit der öffentlichen Hand? Wie rechtfertigen sich die zahlreichen „projectos faraönicos“ (pharaonische Projekte), deren Nutzen in keinem vertretbaren Verhältnis zu ihren Kosten stehen? Wie ist das Verhältnis zwischen dem ostentativen Reichtum der Oberschicht zu den gesamtgesellschaftlich anhängigen Zahlungsproblemen zu bewerten? Diese Fragen können hier nicht im Detail beantwortet werden, aber ihre bloße Nennung genügt, um auf verschiedene Widersprüchlichkeiten aufmerksam zu machen, die das Verschuldungsproblem als Ursache für die anhaltende Unterentwicklung deutlich relativieren. -Zu den entscheidenden „Machtwährungen“ innerhalb des internationalen Systems zählen die ökonomische Potenz und die militärische Stärke eines Staates. Nach diesen Kriterien bemißt sich auch der Status Brasiliens, wo dieser Umstand allerdings häufig kritisiert wird, weil sich die Souveränität in Wahrheit auf eine „autonomia relativa“ reduziere. Dadurch könne Brasilien seine nationalen Interessen schlechter durchsetzen als andere Staaten und werde von diesen -direkt oder indirekt -zum eigenen Nachteil geprägt und beeinflußt. Man darf in diesem Zusammenhang aber nicht übersehen, daß sich die Beeinflussung von außen nicht „von selbst“ durchsetzen kann, weil Brasilien keine „Bananenrepublik“ ist und keines- wegs wie eine Marionette an den Fäden ausländischer Interessen bzw. Mächte hängt. Sofern dies überhaupt jemals der Fall gewesen sein sollte, ist diese Zeit längst vorüber. Man kann davon ausgehen, daß es ein breites Spektrum gemeinsamer Interessen zwischen der Regierung bzw.den Ober-schichten Brasiliens und entsprechenden Partnern im Ausland -besonders in den Industrieländern -gibt. In jenen Fällen, in denen gemeinsame Interessen aber nicht bestehen, setzt sich Brasilien seit langem sehr souverän gegen ausländische Wünsche durch (z. B. Anerkennung der Revolutionsregierung Nicaraguas, Unterstützung Argentiniens im Faiklandkrieg, Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie, Protektionismus zugunsten der eigenen Computerindustrie, Verschleppung der Agrarreform, Widerstand gegen Auflagen des Internationalen Währungsfonds, Fortsetzung der Umweltzerstörung im Amazonasgebiet usw.). Im übrigen ist Brasilie innerhalb Lateinamerikas -trotz häufiger Behauptung des Gegenteils -eine Regional-macht und wird als solche von den USA akzeptiert. Auch gehört Brasilien zu jenen wenigen Staaten der sogenannten Dritten Welt, die eine weltweite Außenpolitik betreiben und sehr wohl in der Lage sind, ihre Interessen international gut zu vertreten.
Vor dem Hintergrund der vorgestellten Daten und Argumente erscheint also die These wenig überzeugend, wonach die anhaltende Unterentwicklung Brasiliens in erster Linie auf exogenen Faktoren beruhe. Deren Wirksamkeit kann zwar nicht geleugnet werden, aber es ist erforderlich, ihre Ambivalenz zu betonen und ihr Gewicht zu relativieren. Betrachten wir nunmehr die internen Entwicklungshemmnisse: -Ein bedeutendes internes Entwicklungshemmnis ist das Bevölkerungswachstum, das bekanntlich auf einer Reihe von Ursachen beruht: Fortschritte bei der Schwangerschafts-und Geburtsmedizin; Erfolge bei der Bekämpfung der Kindersterblichkeit und einiger der Haupttodesursachen (Infektionskrankheiten und Seuchen); „junges Altersprofil“; Bedeutung von Kinderreichtum als Sozialversicherungssystem unter prekären ökonomischen Bedingungen; mangelnde Kenntnis über empfängnisverhütende Methoden bzw. schwieriger oder teurer Zugang zu entsprechenden Mitteln; dominante Ideologien (z. B. Machismo und die sogenannte Sohnespräferenz); religiöse Gebote bezüglich der Empfängnisverhütung und Abtreibung; anomische Situationen mit einem Verfall geordneter familiärer Verhältnisse u. ä. Obwohl die Zuwachsraten langsam fallen, nimmt die Bevölkerung in absoluten Zahlen stark zu. Im Jahre 2025 wird Brasilien mehr als viermal so viele Einwohner haben wie im Jahre 1950, nämlich 220 Millionen. Es scheint ausgeschlossen, daß dieser ständige Zuwachs -der im übrigen überproportional in den unteren Schichten erfolgt -gesellschaftlich befriedigend integriert werden kann, abgesehen davon, daß zusätzlich die großen „sozialen Altlasten“ bewältigt werden müßten. Da in Brasilien keine gezielte Politik der Geburtenkontrolle betrieben wird, muß davon ausgegangen werden, daß der Entwicklungsprozeß durch das Bevölkerungswachstum auch in Zukunft in erheblichem Maße behindert wird. -Das politische System sowie die politische Kultur stellen weitere interne Entwicklungshemmnisse dar Der Staat tritt weniger als Garant von Stabilität, Ordnung, Rechtssicherheit und Regelung gegenüber den heterogenen und tendenziell „chaotischen“ gesellschaftlichen Interessen und Kräften auf, sondern er ist selber eine Quelle von Instabilität, Unordnung, opportunistischer Rechtsinterpretation und Chaos. Die Gewaltenteilung funktioniert nicht befriedigend. Es mangelt erheblich an „good governance“ und politischer Moral Die Verwaltung ist in vielen Bereichen schwerfällig, inkompetent und korrupt. Die Parteien sind mit wenigen Ausnahmen opportunistische Machtkartelle, die den Staat tendenziell als Beute betrachten, und die politische Kultur steht in mehrfacher Hinsicht mit den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft im Konflikt -Ein spezifisches Problem stellt die Wirtschaftsund Finanzpolitik dar, die eine ambivalente Funktion von Feuerwehr und Brandstifter wahrnimmt, indem sie den negativen Aspekten der wirtschaftlichen Entwicklung entgegenzuwirken versucht (Rezession, Inflation, Verschuldung), gleichzeitig aber selber zur bestehenden Misere beiträgt, und zwar aufgrund einer notorisch unsoliden Haushaltspolitik sowie sämtlicher problematischer Aspekte, welche die politische Kultur Brasiliens im allgemeinen auszeichnen Es ist in Brasilienbislang nicht gelungen, die Marktwirtscnaft in einen angemessenen Struktur-, sozial-und umwelt-politischen Gestaltungsrahmen einzufügen. Der erwähnte „capitalismo selvagem" erlaubt keine befriedigende Umsetzung der wirtschaftlichen Erträge in kollektive Lebensqualität, sondern er ist im Gegenteil selber eine entscheidende Ursache sozialer und ökologischer Fehlentwicklungen. Angesichts der in vielen Bereichen destruktiv wirkenden Eigendynamik der Gesellschaft ist auch die Struktur-, Sozial-und Umweltpolitik des Staates nicht nur als Korrektiv im Sinne des langfristigen Gemeinwohls unzureichend, sondern vielfach geradezu kontraproduktiv -Die Zivilgesellschaft, das heißt die Summe aller jener sozialer Bereiche, die nicht dem politischen System im engeren Sinne zugerechnet werden können, ist selber Bestandteil des „capitalismo selvagem“ und von daher wenig dazu geeignet, die Defizite des politischen Systems gewissermaßen durch eine gute Selbstregulierungsfähigkeit in einem gewissen Grade zu kompensieren. Die gesellschaftliche Rolle der Eliten ist wenig konstruktiv und innerhalb der wichtigsten Institutionen der Zivilgesellschaft mangelt es an einem gewissen „consenso bäsico“, das heißt an einem nationalen Grundkonsens in bezug auf Werte, Normen und Spielregeln.
Trotz einiger positiver Tendenzen ist die brasilianische Zivilgesellschaft in vielen Bereichen noch immer geprägt von einer Mischung aus „anomia social“ und „anomia moral“
III. Entwicklungspolitische Perspektiven
Die in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellten Daten und Argumente haben deutlich gemacht, daß sich Brasilien -trotz zahlreicher positiver Tendenzen in vielen gesellschaftlichen Sektoren -insgesamt betrachtet in einer chronischen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krise befindet. Versucht man, die vielfältigen Ursachen dieser Krise nach ihrer Bedeutung zu bewerten, so sind an erster Stelle der Mangel an „good governance“, die wenig konstruktive Rolle der Eliten und das hohe Bevölkerungswachstum zu nennen. Demgegenüber erscheinen die durch das internationale System produzierten Entwicklungshemmnisse weniger ausschlaggebend zu sein, auch wenn sie konjunkturell erhebliche Auswirkungen haben können (z. B.der „Öl-Schock“ und der „Zins-Schock“). Es wäre auf jeden Fall verfehlt, anzunehmen, Brasilien könnte die chronische Krise überwinden, sofern allein die exogenen Entwicklungshemmnisse überwunden würden.
Die brasilianische Krise ist keineswegs gleichbedeutend mit Stagnation, sondern sie impliziert im Gegenteil einen höchst dynamischen gesellschaftlichen Wandel, der unter dem Entwicklungsaspekt ambivalent zu beurteilen ist: Auf der einen Seite gibt es in vielen Bereichen wirkliche Fortschritte (im wertenden Sinne), aber auf der anderen Seite summieren sich die ungelösten Probleme der Vergangenheit mit den ständig nachwachsenden Problemen der Gegenwart in einem solchen Maß, daß die positiven Tendenzen* zunehmend entwertet und gefährdet werden. Abgesehen davon kommt ein großer Teil der Bevölkerung mit den positiven Tendenzen gar nicht oder kaum in Berührung, und zwar auch nicht während wirtschaftlicher Aufschwungphasen. Für sie wurde das geflügelte Wort von den „kranken Menschen in der gesunden Wirtschaft“ geprägt.
Dem widerspricht nicht, daß sich einige soziale Indikatoren -auch bezüglich der Unterschichten -verbessern, aber diese Verbesserungen sind angesichts des Entwicklungsbedarfs minimal (z. B. reale Einkommen), häufig über einen längeren Zeitraum nicht stabil (z. B. Kindersterblichkeit), und sie werden durch andere Tendenzen konterkariert (z. B. Chaotisierung der Großstädte, Zunahme von Slums). Im übrigen muß in diesem Zusammenhang angemerkt werden, daß die Verbesserung einiger sozialer Indikatoren relativ „billig“ zu erreichen ist und daß leichte Anfangserfolge nicht ohne weiteres linear in die Zukunft extrapoliert werden dürfen.
Selbst wenn sich die kollektive Lebensqualität für alle Bürger langsam verbessern sollte, entsteht aufgrund des anhaltend hohen Bevölkerungswachstums allmählich eine „bomba social“ deren Brisanz durch eine ebenfalls heranwachsende „bomba ecolögica“ potenziert wird. Um beide Bomben zu entschärfen, wären entscheidende Weichenstellungen in Richtung auf eine soziale und ökologische Marktwirtschaft erforderlich.
Dabei sind einige quantitative Eckwerte interessant. Im Jahr 2000 wird Brasilien nahezu 200 Mio.Einwohner haben, das heißt rund 110 Mio. mehr als im Jahre 1970. Obwohl die Zuwachsrate für die Bevölkerung insgesamt langsam fällt, ist sie in den unteren Schichten nach wie vor sehr hoch (drei Prozent und darüber). Das Bruttoinlandsprodukt müßte jährlich -und zwar dauerhaft -in einer Größenordnung von drei bis fünf Prozent zunehmen, um die neu heranwachsenden Generationen in den Arbeitsmarkt zu integrieren -ohne damit den Sockel der bisherigen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung abzubauen.
Aus solchen Daten wird deutlich, daß eine „Stabilisierung" der Krise -und zwar auch im Falle eines wirtschaftlichen Aufschwungs -wahrscheinlicher ist als ihre Überwindung, um so mehr, als das politische System zusätzliche Probleme schafft, anstatt die bestehenden Probleme konstruktiv anzugehen. Dabei besteht die Gefahr, daß sich immer mehr Probleme aufgrund mangelnder Verantwortung bzw. Kompetenz des politischen Systems so weit zuspitzen, daß sie einem politischen Zugriff kaum noch zugänglich sind. Die kollektive Gewöhnung an die chronische Krise sowie die Bereitschaft, mit ihr zu leben, begünstigen zusätzlich ein Klima von individuellem „Durchwursteln“ und behindern die Durchsetzung der notwendigen Weichenstellungen in Richtung auf die Optimierung des Gemeinwohls.
Da die Zukunft in der Gegenwart vorbereitet wird, die zentralen Probleme von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt zur Zeit aber noch wenig konstruktiv in Angriff genommen werden, darf man wohl die Prognose wagen, daß die Krise Brasiliens auf absehbare Zeit anhalten wird. Dies schließt eine wirtschaftliche Erholung nicht aus; letztere wäre zwar eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung für die Über-windung der Unterentwicklung.
IV. Außenpolitische Perspektiven
Falls es Brasilien in absehbarer Zeit nicht gelingen sollte, die chronische Entwicklungskrise zu überwinden, stellt sich die Frage, was dies für seine Stellung innerhalb des internationalen Systems sowie für die Ausrichtung seiner Außenpolitik, bedeuten würde. Bezüglich des erstgenannten Aspekts läßt sich feststellen, daß Brasilien trotz der anhaltenden Entwicklungskrise alleine aufgrund seiner geographischen Ausdehnung, seines demographischen Gewichts, seiner wirtschaftlichen „Masse“ und seiner militärischen Potenz eines jener Ent35 wicklungsländer bleiben wird, die zu den Aufsteigern im internationalen System gehören. Einen wirklichen Großmachtstatus wird Brasilien allerdings in absehbarer Zeit wohl nicht erreichen. Diese bereits 1981 von Katzman vertretene Auffassung gründet auf zwei Prämissen: Erstens ist es in Anbetracht der Struktur des internationalen Systems sehr unwahrscheinlich, daß „Nachzügler“ zu einer führenden Weltmacht aufrücken können, und zweitens erscheinen die wirtschaftlichen Voraussetzungen (und entsprechenden militärischen Fähigkeiten) für eine Weltmachtrolle im Falle Brasiliens unzureichend.
Die Befürchtung, Brasilien könne seine wachsende Bedeutung innerhalb des internationalen Systems im Sinne einer Chaos-Macht benutzen, erscheint zur Zeit wenig begründet. Nach mehreren prägnanten Kursänderungen der brasilianischen Außenpolitik in den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine nationalistische, pragmatische und realistische Linie durchgesetzt und konsolidiert Sowohl die Doktrin einer „automatischen Allianz“ mit den USA als auch die zeitweilige Drittweltorientierung wurden zugunsten einer unideologischen und -im wohlverstandenen Sinne -opportunistischen Verfolgung nationaler Interessen mit Schwerpunkt im wirtschaftlichen Bereich überwunden. Die brasilianische Außenpolitik ist zwar nicht völlig von den innenpolitischen Kräfteverhältnissen losgelöst, hat aber doch eine gewisse Eigendynamik, die wesentlich mit der oft hervorgehobenen Kompetenz des Außenministeriums („Itamaraty“) zusammenhängt. Die brasilianische Außenpolitik hebt sich bezüglich ihrer Professionalität, Rationalität und Kontinuität in der Tat wohltuend von den anderen Politikbereichen ab.
Natürlich wäre es vorstellbar, daß eine Fortsetzung der chronischen Krise mit allen begleitenden Engpässen, Konflikten und Ideologien die Voraussetzungen für eine stabile, berechenbare sowie kooperative Außenpolitik verschlechtern würde und die Versuchung entstehen könnte, von internen Problemen mit einer „erfolgreichen“ aggressiven Außenpolitik abzulenken. Eine solche Gefahr ist zur Zeit aber nicht zu erkennen, im Gegenteil:Die brasilianische Außenpolitik hat einen kooperativen und konstruktiven Charakter und ist bei der Behandlung von Problemen in erster Linie sachorientiert. Gleichwohl sind immer wieder ziemlich gespreizte und erregte „anti-imperialistische“ Attitüden -zum Beispiel gegenüber dem Auslandskapital, der Weltbank oder dem „ökologischen Imperialismus des Nordens“ -zu beobachten, die von der Sache her reichlich schief sind und nicht in das politische Klima einer konstruktiven internationalen Kooperation passen.
Brasilien hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich aus dem hegemonialen Schatten der USA gelöst, ohne damit deren Weltmachtrolle in Frage zu stellen. Die USA haben die Emanzipationsbestrebungen Brasiliens im wesentlichen akzeptiert, was bereits im gemeinsmen Memorandum von 1976 zum Ausdruck kam, in welchem Brasilien die „Führungsrolle“ in Lateinamerika zuerkannt und es zugleich als „privilegierter Verbündeter“ bestätigt wurde. Die zunehmende außenpolitische Verselbständigung Brasiliens gegenüber den USA sollte indessen nicht überinterpretiert werden. Betrachtet man die Beziehungen dieser beiden Länder zueinander, so wird man zahlreiche Divergenzen finden; man wird aber auch -und zwar wesentlich mehr -Konkordanzen finden, wenn man gezielt danach sucht. Es geht also nicht um ein „Freischwimmen“ Brasiliens von den USA, sondern um die Erweiterung des außenpolitischen Spielraums im Rahmen einer nach wie vor bestehenden engen und zugleich asymmetrischen Beziehungsstruktur, aus der sich Brasilien noch lange nicht wird herauslösen können.
Vieles spricht für die bereits 1981 formulierte Einschätzung von Wesson daß die Beziehungen zwischen Brasilien und den USA trotz kleinerer Differenzen auch weiterhin einen grundsätzlich kooperativen Charakter behalten werden: Die USA haben in Brasilien bedeutende wirtschaftliche Interessen, und sie respektieren das Land als führende Regionalmacht und als Stabilitätsfaktor in Lateinamerika; die Sicherheitsinteressen Brasiliens und der USA decken sich weitgehend; die USA sind und bleiben der wichtigste außenpolitische Partner Brasiliens und beeinflussen dadurch mittelbar auch die Beziehungen zu anderen Ländern; die USA vermeiden Konfrontationen mit Brasilien, und umgekehrt ist auch der Antiamerikanismus in Brasilien schwächer ausgeprägt als in vielen anderen Ländern. Diese Einschätzung klingt einigermaßen undramatisch und steht im Gegensatz zu manchen Beurteilungen, die den Aspekt einer konfliktreichen Emanzipation Brasiliens von den USA zu stark betonen.
Die zunehmende Bedeutung der Europäischen Union für Brasilien sollte nicht als Ersatz für die Bindungen an die USA überinterpretiert werden, weil die USA im Gegensatz zur Europäischen Union nur eine Außenpolitik betreiben und nicht nur eine Vormachtstellung im internationalen System ganz generell, sondern speziell in Lateinamerika behaupten. Wenn diese Vormachtstellung in den letzten Jahren auch geschwächt wurde und nicht mehr so kompromißlos durchgesetzt wird wie in früheren Jahrzehnten, so ist sie trotzdem nicht zu übersehen. Insofern ist die europäische Option das Ergebnis einer geschickten Diversifizierung der Außenpolitik und Außenwirtschaft Brasiliens, ohne gleichzeitig die besonderen Beziehungen zu den USA grundsätzlich in Frage zu stellen. Entsprechendes gilt bezüglich der Beziehungen Brasiliens zu Japan.
Den Beziehungen zu den lateinamerikanischen Staaten kommt im Rahmen der brasilianischen Außenpolitik höchste Priorität zu, wobei es der brasilianischen Diplomatie mit großem Fingerspitzengefühl gelingt, den Status einer Regionalmacht -den Brasilien de facto hat -herunterzuspielen und betont kooperative Umgangsformen zu pflegen. Dies gilt auch für die mit großem Elan begonnene regionale Integration mit Argentinien, Paraguay und Uruguay („Mercosur“) die in ihrer wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Bedeutung sicherlich noch nicht allzu hoch eingeschätzt werden sollte, die aber doch aussichtsreicher erscheint als die zahlreichen südamerikanischen „Integrationsruinen“. In jedem Fall ist der „Mercosur“ als Ergebnis einer konstruktiven Politik gegenüber einem traditionell schwierigen Nachbarn (Argentinien) von beträchtlicher symbolischer Bedeutung.
Die Perspektiven für die Außenpolitik Brasiliens in den nächsten Jahren deuten in Richtung auf Fortsetzung des bisherigen Kurses, das heißt: -pragmatische Verfolgung der nationalen Interessen, vor allem im wirtschaftlichen Bereich; -Emanzipation gegenüber hegemonialer Bevormundung;-regionale Diversifizierung und Ausbau der weltweiten Außenpolitik
-Intensivierung der Integration im Rahmen des „Mercosur“.
Das Fazit früherer Studien hat sich weithin bestätigt und kann als Perspektive für die nächste Zukunft wiederholt werden: Brasilien bleibt ein kooperativer und verläßlicher Partner im Rahmen bilateraler bzw. multilateraler Beziehungen, wo es um gemeinsame bzw. komplementäre Interessen geht; es wird seine eigenen Interessen aber zunehmend selbstbewußt, konfliktbejahend, opportunistisch und mit mancherlei „antiimperialistischen“ Überreaktionen vertreten, wobei die Instrumentalisierbarkeit der brasilianischen Außenpolitik für die Interessen anderer Nationen immer geringer wird. Brasilien wird also in absehbarer Zeit nicht zu den wirklich prominenten Akteuren innerhalb des internationalen Systems aufsteigen, aber sehr wohl in der Lage sein, sich hegemonialen Ansprüchen erfolgreich zu widersetzen.
Manfred Wöhlcke, Dr. habil., geb. 1942; Soziologe und Lateinamerikanist; Referent in der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen. Veröffentlichungen u. a.: Umweltzerstörung in der Dritten Welt, München 1987; Der Fall Lateinamerika. Die Kosten des Fortschritts, München 1989; Brasilien. Anatomie eines Riesen, München 19913; Umweltflüchtlinge, München 1992; Der ökologische Nord-Süd-Konflikt, München 1993.
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