Trotz der hohen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten, die in den meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas während der sechziger und siebziger Jahre erzielt wurden, zeigten sich zu Beginn der achtziger Jahre noch immer ausgeprägte Defizite in der Versorgung der Bevölkerung mit den Gütern des Grundbedarfs. Die wirtschaftliche Dauerkrise der achtziger Jahre hat die Massenarmut in Lateinamerika weiter anwachsen lassen. Nach Schätzungen der Weltbank lebten 1990 zirka 108 Millionen Lateinamerikaner unterhalb der Armutsgrenze eines Jahreseinkommens von 420 US-Dollar. Eine Alternative zu der einkommensorientierten Messung von Armut stellt die Beschreibung von Defiziten der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse mit Hilfe sozialer Indikatoren dar. Die nationalen Durchschnittswerte grundbedürfnisrelevanter Indikatoren -wie z. B. Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit, Alphabetisierungsquote etc. -zeigten zu Beginn der neunziger Jahre für Lateinamerika insgesamt eine Verbesserung der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse gegenüber 1970 und 1980 an. Deutliche Fortschritte in den Bereichen Ernährung, sanitäre Versorgung, Ausbildung und Gesundheit konnten in den meisten Staaten der Region auch während des „Krisenjahrzehnts“ 1980-1990 erzielt werden. Die relativen Fortschritte bei der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse während der achtziger Jahre dürfen allerdings nicht übersehen lassen, daß das absolute Ausmaß von Armut in Lateinamerika nach wie vor alarmierende Größenordnungen erreicht. Nach den wirtschaftlichen Reformen, die in vielen Ländern der Region erfolgreich eingeleitet wurden, müssen dringend die sozialen Reformen folgen, ohne die sich die „soziale Schuld“ der lateinamerikanischen Gesellschaften zu einem mindestens ebenso dramatischen Problem auszuwachsen droht wie eine Dekade zuvor die Auslandsverschuldung.
I. Massenarmut und wirtschaftliche Entwicklung
Die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas hatten während der sechziger und siebziger Jahre eindrucksvolle Zuwachsraten des gesamtwirtschaftlichen Produktionsergebnisses erzielt, mehrere Staaten der Region galten als industrielle „Schwellenländer“ oder wie Brasilien als aufsteigende Wirtschaftsgroßmacht, so daß es nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien, bis das Wohlstandsgefälle gegenüber den westlichen Industrie-ländern abgebaut sein würde.
Diese Erwartungen haben sich während der verlorenen Dekade (decada perdida) der achtziger Jahre als Illusion erwiesen. Bereits zu Beginn der achtziger Jahre zeigte eine Bestandsaufnahme der Grundbedürfnisbefriedigung in Lateinamerika, daß in den meisten Ländern der Region noch immer ausgeprägte Defizite in der Versorgung der Bevölkerung mit den Gütern des Grundbedarfs gegeben waren; dieser Befund belegte zugleich einen gravierenden Mangel an Ernsthaftigkeit und Eigenanstrengungen der jeweiligen Regierungen, die zur Beseitigung der Massenarmut erforderlichen strukturellen und institutionellen Voraussetzungen zu schaffen Denn immerhin konnte zu Beginn der achtziger Jahre durchaus mit einer gewissen Berechtigung davon ausgegangen werden, daß in allen Ländern der Region -mit Ausnahme vielleicht Haitis -das ökonomische Potential längst gegeben war, um die absolute Armut in absehbarer Zukunft zu beseitigen.
Die Strukturanpassungsprozesse, die in vielen lateinamerikanischen Volkswirtschaften nach dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise im Jahre 1982 in Gang gesetzt werden mußten, hatten erhebliche rezessive Effekte, so daß sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Region deutlich verlangsamte auf 1, 6 Prozent pro Jahr im Durchschnitt der Jahre 1980-1990, gegenüber sechs Prozent pro Jahr in der Vorperiode 1965-1980 Bei einem demographischen Wachstum von 2, 1 Prozent im Jahr bedeutete die unzureichende Dynamik der lateinamerikanischen Volkswirtschaften zeitweilig einen ausgeprägten Einkommensrückgang. Am Ende der decada perdida lag das Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf der Bevölkerung in mehreren Ländern der Region unter dem Niveau von 1980 (vgl. Tabelle 1).
Obwohl die Strategie importsubstituierender Industrialisierung, die in Lateinamerika während mehrerer Dekaden verfolgt wurde, zeitweilig durchaus als relativ erfolgreich gelten konnte, blieb Massen-armut für die meisten Länder der Region ein charakteristisches Merkmal. Nach Schätzungen der Weltbank lebte zu Beginn der achtziger Jahre jeder siebte Lateinamerikaner in absoluter Armut Untersuchungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL), die sich auf zehn Staaten bezogen, kamen zu dem Ergebnis, daß 1981 in diesen Ländern 35 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten, davon allein in Brasilien zirka 52 Millionen und in Mexiko etwa 21 Millionen
Die wirtschaftliche Dauerkrise der achtziger Jahre hat die Massenarmut in Lateinamerika weiter anwachsen lassen. Schätzungen der CEPAL zufolge erhöhte sich die Zahl der in Armut lebenden Menschen während der ersten Hälfte der achtziger Jahre auf 170 Millionen dies bedeutete gegenüber 1980 einen Zuwachs an „neuer“ Armut um etwa 34 Millionen Menschen, die überwiegend in Städten lebten. So stieg beispielsweise in Guatemala der Anteil der armen Haushalte in der haupt-städtischen Region von 26 Prozent im Jahre 1980 auf über 40 Prozent im Jahre 1986. Ein anderes dramatisches Beispiel ist Mexiko, wo der Anteil der Armen, der 1970 bei 34 Prozent der Gesamtbevölkerung gelegen hatte, zu Beginn der achtziger Jahre auf 29 Prozent abgesunken war, um im Zuge der rigiden Strukturanpassungspolitik bis 1986 auf 51 Prozent hochzuschnellen In mehreren Staaten Lateinamerikas stellen die Armen über ein Viertel der Gesamtbevölkerung und teilweise sogar die Bevölkerungsmehrheit (z. B. 35 Prozent in Paraguay, 44 Prozent in der Dominikanischen Republik, 51 Prozent in Ecuador, 71 Prozent in Guatemala, 76 Prozent in Haiti); von der ländlichen Bevölkerung Boliviens (zirka 3, Millionen) gelten 80 Prozent als arm, in Honduras leben 84 Prozent der 1, 9 Millionen Armen auf dem Lande 7. In Peru leben nach Angaben des UN Millionen Armen auf dem Lande 7. In Peru leben nach Angaben des UN-Kinderhilfswerkes UNICEF 13 Millionen der 21 Millionen Einwohner in „extremer Armut“; etwa ein Viertel der Kinder in den Städten und die Hälfte der Kinder auf dem Lande, insgesamt rund eine Million, leiden unter chronischer Unterernährung 8. In Chile, das vielen Ökonomen als lateinamerikanischer Modellfall erfolgreicher Wirtschaftsreformen gilt, wurde 1990 über ein Drittel der Haushalte als arm klassifiziert, da ihr Einkommen weniger als das Doppelte der Kosten für Grundnahrungsmittel erreichte; zwölf Prozent der Haushalte, deren Einkommen nicht einmal zur Bezahlung des Grundnahrungsmittelbedarfs ausreichte, wurden als absolut arm eingestuft 9.Während es in einzelnen lateinamerikanischen Ländern gelang, gegen Ende der achtziger Jahre im Zuge der wirtschaftlichen Erholung die Armut zu reduzieren, stieg insgesamt die Zahl der in Armut lebenden Menschen in Lateinamerika CEPAL-Projektionen zufolge bis zum Jahre 1989 auf 183 Millionen an, wovon knapp 50 Prozent als „extrem arm“ eingestuft wurden, bei einem gegenüber 1986 weitgehend unverändertem Verhältnis zwischen städtischer und ländlicher Armut Die Weltbank rechnet, daß 1990 etwa 108 Millionen Lateinamerikaner unterhalb der Armutsgrenze eines jährlichen Einkommens von 420 US-Dollar (ausgedrückt in Kaufkraftparitäten von 1985) lebten; dies bedeutet gegenüber 1985 einen Zuwachs von 21 Millionen
Eine einkommensorientierte Messung von Armut vermag zwar Kaufkraftdefizite aufzuzeigen, läßt aber nicht erkennen, welche materiellen und nicht-materiellen Bedürfnisse mit einem Einkommen tatsächlich befriedigt werden (können), das über oder unter einer bestimmten „Armutsgrenze“ liegt. Zwar ist es prinzipiell möglich, ein Güter-bündel des Grundbedarfs mit Preisen zu bewerten und daraus ein „Grundbedürfnis-Einkommen“ als Zielgröße für Individuen oder Haushalte zu kalkulieren;. aber auch ein solches „Mindesteinkommen“ gewährleistet den Beziehern nicht die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse, wenn diese durch Marktunvollkommenheiten oder soziale Partizipationsschranken am Zugang zu Produktionsfaktoren, Waren und Dienstleistungen gehindert werden.
II. Indikatoren der Grundbedürfnisbefriedigung
Abbildung 2
Tabelle 2: Indikatoren der Lebenserwartung 1980 und 1990 Quelle: World Bank, World tables 1991 update, Baltimore-London 1991
Tabelle 2: Indikatoren der Lebenserwartung 1980 und 1990 Quelle: World Bank, World tables 1991 update, Baltimore-London 1991
Eine Alternative zu der einkommensorientierten Messung von Armut stellt die Beschreibung zielgruppenspezifischer Defizite der (materiellen) Grundbedürfnisbefriedigung mit Hilfe sozialer Indikatoren dar. Entsprechend der Definition der International Labour Organization (ILO) umfaßt die Befriedigung von Grundbedürfnissen zwei wesentliche Komponenten 1. eine Mindestausstattung mit Gütern des privaten Verbrauchs, vor allem angemessene Ernährung, Kleidung und Wohnung sowie bestimmte Haushaltsgeräte und Möbel;
2.den Zugang zu grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen, wie Trinkwasserversorgung, sanitäre Anlagen, Transport, Gesundheitsdienste und Erziehung.
Darüber hinaus wird auch politische Partizipation als Grundbedürfnis verstanden. In einem umfassenden Sinne bedeutet Grundbedürfnisbefriedigung das Vorhandensein körperlichen, sozialen und mentalen Wohlbefindens in einer lebenswerten Umwelt, und dies wiederum verstanden als Voraussetzung für Selbstverantwortlichkeit und Partizipationsfähigkeit der Menschen. Denn: Arm ist nicht nur, wer Bedürfnisse, die er hat, nicht befriedigen kann, sondern auch, wer in der Wahl seiner Bedürfnisse eingeschränkt ist.
Zielen grundbedürfnisorientierte Entwicklungsstrategien darauf ab, den bislang in absoluter öder relativer Armut verharrenden Menschen die Mindestvoraussetzungen für eine aktive Teilnahme an dem Prozeß der gesellschaftlichen Gütererstellung und -Verteilung zu schaffen, dann ist der Zugang zu Produktionsmitteln notwendige Bedingung einer solchen aktiven Partizipationsfähigkeit. Hinzukommen müssen aber auch die körperlichen sowie geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, diese Produktionsmittel effizient zu nutzen. Hinreichende Ernährung, (Aus-) Bildung und Gesundheit erweisen sich somit als integrale Bestandteile der Grundbedürfnisbefriedigung.
Inwieweit verschiedene mögliche Indikatoren -wie z. B. Säuglingssterblichkeitsziffer, Lebenserwartung bei der Geburt, Alphabetisierungsquote etc. -den Bedeutungsinhalt der einzelnen Grundbedürfnisbereiche adäquat widerspiegeln -oder zumindest als jeweils beste verfügbare Näherungsgrößen gelten können, ist in der Literatur ausführlich dokumentiert Bei der Verwendung nationaler Durchschnittswerte für diese Indikatoren ist zu berücksichtigen, daß nicht Nationen oder Bevölkerungsgruppen unter Defiziten der Grundbedürfnis-befriedigung leiden, sondern Individuen; aller-dings wird die individuelle Wahrnehmung von Armut und gesellschaftlicher Benachteiligung entscheidend (mit-) bestimmt von dem kollektiven Versorgungsstandard und von dem Wertesystem, an dem sich der einzelne orientiert. Nationale Durchchnittswerte haben auch den Nachteil, daß sie regionale Disparitäten der Grundbedürfnis-befriedigung innerhalb eines Landes nicht erkennen lassen.
Unter Berücksichtigung der Verzerrungs-und Täuschungseffekte nationaler Durchschnittswerte lassen sich aus dem verfügbaren Datenmaterial einige nützliche Erkenntnisse über Ausmaß bzw. Defizite der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung in den lateinamerikanischen Ländern gewinnen. Vergleicht man die grundbedürfnisrelevanten Daten am Ende der achtziger Jahre mit den entsprechenden Ergebnissen der Vordekade dann wird erkennbar, inwieweit das zurückliegende Jahrzehnt tatsächlich eine „verlorene Dekade“ war.
III. Defizite der Grundbedürfnisbefriedigung
Die aggregierten nationalen Durchschnittswerte der grundbedürfnisrelevanten Indikatoren zeigten zu Beginn der neunziger Jahre für Lateinamerika insgesamt eine Verbesserung der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung gegenüber 1970 und 1980 an. Deutliche Fortschritte in den Bereichen Ernährung, sanitäre Versorgung, Ausbildung und Gesundheit sind demnach also auch während des „Krisenjahrzehnts“ 1980-1990 erzielt worden. Trotz dieser Verbesserungen bestehen in Lateinamerika jedoch nach wie vor erhebliche Defizite in der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung, gemessen an dem Standard, der in den westlichen (OECD) -Industrieländern erreicht ist.
Die relativen Fortschritte bei der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung während der achtziger Jahre dürfen allerdings nicht übersehen lassen, daß das absolute Ausmaß von Armut und Defiziten der Grundbedürfnisbefriedigung in Lateinamerika nach wie vor alarmierende Größenordnungen erreicht. Hinter den Prozentangaben in der statistischen Buchhaltung der lateinamerikanischen Armut verbargen sich zu Beginn der neunziger Jahre: -mehr als 70 Millionen erwachsene Analphabeten; -etwa 18 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter, die keine Schule besuchen;
-mindestens 95 Millionen Lateinamerikaner ohne angemessenen Zugang zu unbedenklichem Trinkwasser;
-über 100 Millionen Menschen, die innerhalb akzeptabler Wegzeiten keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten haben und -mindestens 5, 8 Millionen unterernährte Kleinkinder im Alter bis zu fünf Jahren.
Allein in Brasilien leben schätzungsweise 35 Millionen Kinder am Rande der Gesellschaft, für die sich die weiteren (Über-) Lebensperspektiven zunehmend verengen auf Straßenraub, Glücksspiel, Drogenhandel, Prostitution und Gewaltkriminalität. Kinderarbeit, obwohl praktisch in allen Staaten der Region offiziell geächtet, ist beispielsweise in Haiti der amtlichen Statistik zufolge für mindestens 25 Prozent der Zehn-bis Vierzehnjährigen bittere Realität, in Honduras für 13 Prozent dieser Altersgruppe, wobei vermutlich eine außerordentlich hohe Dunkelziffer angesetzt werden muß
Die Tendenz zu einer Angleichung sozioökonomischer Tatbestände in Lateinamerika gilt auch für die Einkommenssituation. Hatte die Spannweite zwischen höchstem und niedrigstem BSP pro Kopf in der Region 1980 über 4000 US-Dollar betragen, so war dieser Abstand 1990 auf 3280 US-Dollar gesunken. Die Wirtschaftskrise der achtziger Jahre hat sich also im intraregionalen Vergleich nivellierend auf die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung per capita ausgewirkt. Innerhalb vieler lateinamerikanischer Volkswirtschaften hat sich allerdings die Konzentration der personellen Einkommens-verteilung im Verlaufe des Krisenjahrzehnts und der wirtschaftspolitischen Anpassungsprozesse weiter verschärft. Ein besonders krasses Beispiel ist Brasilien, wo der Anteil der ärmsten 20 Prozent der Haushalte am Gesamteinkommen von 2, 7 Prozent im Jahre 1981 auf zwei Prozent am Ende der achtziger Jahre gesunken ist; die zehn Prozent der Haushalte an der Spitze der brasilianischen Einkommenspyramide konnten hingegen während dieses Zeitraums ihren Anteil am Gesamteinkommen von 46, 6 Prozent auf 53, 2 Prozent steigern
IV. Ist ein längeres Leben auch ein besseres Leben?
Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Lateinamerikaners bei der Geburt betrug 1990 rund 67 Jahre und war damit um sieben Jahre niedriger als die eines Bürgers der OECD-Staaten; dieser Abstand gilt auch für die Lebenserwartung der Frauen Lateinamerikas, die bei 71 Jahren liegt. Die höchste Lebenserwartung wird in Costa Rica erreicht (über 75 Jahre), gefolgt von Jamaica und Uruguay (vgl. Tabelle 2); in Haiti und Bolivien verharrte die durchschnittliche Lebenserwartung auf dem relativ niedrigen Niveau von 54 bzw. 60 Jahren.
Die Säuglingssterblichkeitsziffer ist im Verlaufe der achtziger Jahre im lateinamerikanischen Durchschnitt um rund 20 Todesfälle je 1000 Lebendgeburten gesunken, gegenüber einem Rückgang um zehn Todesfälle je 1000 Lebendgeburten während der Vordekade. Allerdings betrug die Säuglingssterblichkeit Lateinamerikas zu Beginn der neunziger Jahre noch immer mehr als das Sechsfache des Standards, der in den OECD-Ländern gegeben ist.
Als ein wesentlicher Faktor, der zu dem Rückgang der Säuglingsmortalität und zur Verlängerung der Lebenserwartung beigetragen hat, gilt die Verbes serung der Wasserver-und -entsorgung. Insgesamt wurden im Bereich der sanitären Infrastruktur während der achtziger Jahre deutlich größere Zuwächse erzielt als in dem Jahrzehnt zuvor. 1970 war nur für etwa die Hälfte der lateinamerikanischen Bevölkerung eine unbedenkliche Trinkwasserversorgung gewährleistet, während zu Beginn der neunziger Jahre fast 80 von 100 Lateinamerikanern innerhalb akzeptabler Entfernungen und mit vertretbarem Zeitaufwand Zugang zu einwandfreiem Wasser hatten. In El Salvador, Haiti und Paraguay ist allerdings die Trinkwasserversorgung noch immer für weniger als die Hälfte der Bevölkerung gewährleistet.
Erhebliche Defizite bestehen in vielen Ländern Lateinamerikas nach wie vor in der sanitären Entsorgung; Ende der achtziger Jahre war nur für 65 Prozent der Lateinamerikaner eine sachgerechte Entsorgung von Brauchwasser und Fäkalien vorhanden Die Maßnahmen zur Verbesserung der sanitären Infrastruktur konnten in vielen Ländern der Region mit dem unkontrollierten Wachstum der urbanen Siedlungskonzentrationen kaum Schritt halten, so daß das Risiko von Erkrankungen und die Häufigkeit von Krankheitsübertragungen infolge nicht sachgerechter Wasserversorgung und -entsorgung tendenziell steigen. Daß die Cholera in einer Reihe südamerikanischer Staaten während der achtziger Jahre wieder endemisch geworden ist und die Inzidenzraten auch bei anderen durch Wasser übertragenen Krankheiten relativ hoch sind, vor allem bei der Bevölkerung mit niedrigem Einkommen, weist auf erhebliche Defizite der sanitären Infrastruktur hin.
Im Ernährungsbereich zeigt der Index der Nahrungsmittelproduktion, daß das Angebot an Nahrungsmitteln pro Kopf und Tag zwischen 1980 und 1990 um sieben Prozentpunkte ausgeweitet wurde. Im lateinamerikanischen Durchschnitt stand Ende der achtziger Jahre ein tägliches Kalorienangebot pro Kopf von 2720 Kalorien zur Verfügung; dies bedeutete gegenüber dem OECD-Niveau von 3417 Kalorien pro Kopf und Tag ein Minus von knapp 700 Kalorien, während die „Kalorienlücke“ Lateinamerikas gegenüber den westlichen Industrieländern Ende der sechziger Jahre täglich knapp 650 Kalorien pro Einwohner betragen hatte. Immerhin gelang es im lateinamerikanischen Durchschnitt, das Kalorienangebot pro Kopf und Tag von 111 Prozent der Mindestbedarfsnorm im Jahre 1980 auf 116 Prozent im Jahre 1990 zu steigern. Allerdings kann dieser Zuwachs nicht ohne weiteres mit einem entsprechenden Abbau von Unterernährung gleichgesetzt werden; denn angesichts der bestehenden Einkommensungleichverteilung muß das tägliche Pro-Kopf-Kalorienangebot im Landesdurchschnitt 110-125 Prozent der Bedarfsnorm erreichen, wenn der Mindestverbrauch auch für die untersten Einkommensklassen gesichert sein soll
Für das Bildungswesen wenden die lateinamerikanischen Staaten durchschnittlich weniger als ein Fünftel der gesamten öffentlichen Ausgaben auf, das entspricht etwa 3, 5 Prozent ihres BSP (1960: 2, 1 Prozent); in den OECD-Ländern erreichten die öffentlichen Bildungsausgaben zu Beginn der sechziger Jahre 4, 6 Prozent und 1986 über sechs Prozent des BIP Angesichts der vergleichsweise niedrigen Investitionen in die Humankapitalbildung kann es nicht überraschen, daß die bildungsrelevanten Indikatoren -Alphabetisierungsquote und Einschulungsquote -nach wie vor auf erhebliche Defizite hindeuten. Allerdings ist der Aussagegehalt von (Brutto-) Einschulungsquoten begrenzt; auch eine Einschulungsquote von 100 Prozent besagt nicht notwendigerweise, daß alle Kinder im schulpflichtigen Alter Zugang zu dem Primarschulsystem haben, und sie läßt nicht erkennen, wie viele der Eingeschulten über das 1. Schuljahr hinauskommen. So erreichten beispielsweise in Mexiko -bei einer Bruttoeinschulungsquote von 108 Prozent -von den 1985 eingeschulten Jungen 94 Prozent das Ende des vierten Schuljahres, von den Mädchen aber nur 73 Prozent
Die in zahlreichen Ländern Lateinamerikas registrierten Bruttoeinschulungsquoten von über 100 Prozent sind u. a. das Ergebnis hoher Reprobationsraten; für Brasilien -und ähnlich auch für andere lateinamerikanische Länder -läßt sich nachweisen, daß die Reprobationsraten bei Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen besonders hoch sind Eine kärgliche Ausstattung der öffentlichen Schulen, mangelhafte Ernährung, ein prekärer Gesundheitszustand und fehlende häusliche Betreuung tragen dazu bei, daß Kinder aus armen Familien die Schule häufig vorzeitig verlassen bzw. Klassen wiederholen müssen.
In den städtischen Gebieten Lateinamerikas sind die Einschulungsquoten meist deutlich höher als auf dem Lande, wo Kinderarbeit noch verbreiteter ist und die Zugangsmöglichkeiten zur Schule schwieriger sind und wo besonders unzureichende Unterrichtsbedingungen herrschen, da es an der erforderlichen materiellen Grundausstattung der Schulen mangelt und die Lehrer häufig selber nur über eine Primarschulausbildung verfügen. Kinder armer Eltern, die auf dem Lande wohnen, sind innerhalb der formalen Bildungssysteme Lateinamerikas besonders benachteiligt. Ein niedriges Familieneinkommen bewirkt tendenziell, daß Kinder vorzeitig die Schule verlassen, um möglichst früh in den Arbeitsmarkt einzutreten. Dort finden sie allerdings kaum Arbeitsplätze, an denen eine weiterführende qualifizierende Ausbildung möglich ist, so daß ihre Einkommenschancen von vornherein begrenzt bleiben.
Bemerkenswerterweise ist die Einschulungsquote der Mädchen in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten -anders als in vielen Entwicklungsländern Afrikas und Asiens -genauso hoch oder nur unwesentlich niedriger als die Einschulungsquote der Jungen. Noch Ende der siebziger Jahre deuteten Differenzen zwischen den geschlechtsspezifischen Einschulungsquoten in Höhe von sieben bis zwölf Prozentpunkten in Ländern wie Bolivien, Guatemala, Haiti und Honduras auf eine systematische Benachteiligung der Mädchen hinsichtlich des Zugangs zu einer Primarschulbildung hin; dieser Abstand zwischen den Einschulungsquoten der Mädchen und Jungen hat sich inzwischen wesentlich verringert oder ist sogar völlig beseitigt. Im lateinamerikanischen Durchschnitt erreichen die Einschulungsquoten der Mädchen im Primarschulbereich 99 Prozent des männlichen Vergleichswertes, im sekundären Bildungsbereich 98 Prozent, auf der Ebene der tertiären Bildung 92 Prozent Die Erfahrung aus vielen Entwicklungsländern zeigt, daß die sozialen Erträge höherer Einschulungsquoten um so größer sind, je mehr die Einschulungsquoten der Mädchen denen der Jungen entsprechen
Mit einer Alphabetisierungsquote der erwachsenen Bevölkerung von 84 Prozent (Frauen: 81 Prozent) im Jahre 1990 ist Lateinamerika noch immer deutlich von dem durchschnittlichen OECD-Standard (96 Prozent) entfernt; allerdings zeigt auch in diesem Bereich die Statistik Verbesserungen gegenüber 1980 an, als lediglich 78 Prozent Erwachsene mit Lese-und Schreibkenntnissen registriert worden waren. Die statistischen Angaben zur Alphabetisierung sollten jedoch zurückhaltend interpretiert werden, da ihnen in verschiedenen Ländern teilweise recht großzügige Definitionen des zu messenden Tatbestandes zugrunde liegen.
Die staatlichen Gesundheitsausgaben betragen in Lateinamerika mit (1987) 1, 8 Prozent des BIP weniger als ein Fünftel der öffentlichen Ausgaben, die in den OECD-Ländern für das Gesundheitssystem aufgewendet werden. Den statistischen Angaben zufolge sollen Gesundheitsdienste für knapp 90 Prozent der städtischen Bevölkerung Lateinamerikas innerhalb einer Stunde zu Fuß oder mit den örtlichen Transportmitteln erreichbar sein, aber lediglich für 45 Prozent der Menschen, die auf dem Lande wohnen Mitte der achtziger Jahre entfielen im lateinamerikanischen Durchschnitt auf jeden Arzt mehr als doppelt so viele Einwohner wie in den OECD-Staaten; lediglich in Argentinien und Uruguay entsprach die Arztdichte dem OECD-Vergleichswert. Für die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist allerdings nicht allein die Zahl der Ärzte und des medizinischen Hilfspersonals entscheidend, sondern auch die Funktionsweise des Gesundheitssystems. Charakteristisch für das lateinamerikanische Gesundheitswesen ist die Konzentration von medizinischen Einrichtungen und Personal in den großen Städten sowie die starke Dominanz kurativer gegenüber präventiven Maßnahmen. Immerhin gibt es Indizien für die allmähliche Verstärkung vorbeugender und vorsorgender Gesundheitsmaßnahmen, wie z. B. die deutliche Erhöhung der lateinamerikanischen Säuglingsimpfquote auf 77 Prozent in den Jahren 1989-1990, gegenüber lediglich 52 Prozent zu Beginn der achtziger Jahre
Wenn die hier verwendeten sozialen Indikatoren für Lateinamerika insgesamt eine Verbesserung der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung während der zurückliegenden Dekade anzeigen -trotz der schweren Wirtschaftskrise der achtziger Jahre dann deutet dies darauf hin, daß soziale Fortschritte auch ohne hohes wirtschaftliches Wachstum möglich sind; umgekehrt hatten die siebziger Jahre gezeigt, daß ausgeprägte Wachstumsraten des Sozialprodukts keine Garantie für Verbesserungen der sozialen Indikatoren darstellen. Eine Korrelationsanalyse zeigt keinen signifikanten (linearen) Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Wachstumsdynamik der achtziger Jahre (gemessen durch die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des BIP 1980-1990) und dem Niveau, das die grundbedürfnisrelevanten Indikatoren in den 24 untersuchten lateinamerikanischen Ländern am Ende dieser Dekade erreicht hatten Auch zwischen dem demographischen Wachstum der achtziger Jahre und den 1990 erreichten Standards der sozialen Indikatoren sind die empirischen Korrelationskoeffizienten statistisch nicht hinreichend aussagefähig. Wirtschaftliches Wachstum auf breiter Basis ist zwar notwendig, um das (Geld-) Einkommen der Armen zu verbessern, aber Defizite der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung können auch in Zeiten der Rezession mittels einer sachgerechten, zielgruppenorientierten Politik abgebaut werden Eine einfache Kausalrelation zwischen Wirtschaftskrise und sozialen Mißständen in Lateinamerika reicht als Erklärung also keinesweges aus.
V. Lateinamerikas sozialer Imperativ
Nach den wirtschaftlichen Reformen, die in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik erfolgreich eingeleitet wurden, müssen dringend die sozialen Reformen folgen, ohne die sich die „soziale Schuld“ der lateinamerikanischen Gesellschaften zu einem mindestens ebenso dramatischen Problem auszuwachsen droht wie eine Dekade zuvor die externe Verschuldung. Der bemerkenswerte wirtschaftspolitische Wandel, der in den letzten Jahren bereits vollzogen oder zumindest eingeleitet wurde, in Richtung auf eine weltmarkt-orientierte, vorrangig durch private Initiative strukturierte Entwicklung, kann nur dann zu einem nachhaltigen Erfolg führen, wenn er auch sozial abgesichert wird
Die Notwendigkeit einer verstärkten Berücksichtigung der sozialen Komponente wirtschaftlicher Anpassungsprogramme in Lateinamerika wird inzwischen auch von den internationalen Finanzierungsinstitutionen betont. Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Interamerikanische Entwicklungsbank sind bereit, die technische und finanzielle Unterstützung sozialer Programme und Projekte auszuweiten Im Vordergrund stehen dabei Verbesserungen der Humankapitalbildung sowie die Stärkung der institutionellen Anbieter sozialer Leistungen. Weitgehende Einigkeit besteht bei den politischen Hauptakteuren darüber, daß zur Bewältigung der Armut in Lateinamerika mindestens drei Strategien miteinander kombiniert werden müssen:
1. eine auf Wachstum gerichtete Wirtschafts-und Finanzpolitik, 2. spezielle Programme, um die marktvermittelten Verdienstmöglichkeiten der Armen auszuweiten, sowie 3. gezielte Sozialprogramme für die Armen.
Will Lateinamerika seine Kompetenz auf dem Weltmarkt erweitern und neue, leistungsfähigere Formen der Arbeitsorganisation auf breiter Front einführen, dann sind zusätzliche Investitionen in die Humankapitalbildung erforderlich, und es muß eine wesentlich breitere gesellschaftliche Partizipation im Entwicklungsprozeß erreicht werden. Denn die Massenarmut in Lateinamerika wird nicht nur durch die unzureichende Ausstattung mit Humankapital perpetuiert, sondern auch durch die ungleiche Verteilung von Finanz-und Sachkapital sowie des Bodens. Gleichsam spiegelbildlich zu der außerordentlich starken Vermögenskonzentration in den meisten Ländern der Region ist ein sehr großer Teil der Arbeitsplätze -vor allem im informellen Sektor und in der Subsistenzlandwirtschaft -nur mit sehr wenig Sachkapital bzw. Boden ausgestattet; die Folge ist eine relativ niedrige Arbeitsproduktivität (Output je eingesetzter Arbeitseinheit) und eine entsprechend geringe Grenzproduktivität der Arbeit (zusätzlicher Output je zusätzlich eingesetzter Arbeitseinheit). Sind es nun vor allem die nicht oder nur gering qualifizierten Arbeitskräfte, die auf den Arbeitsplätzen mit niedriger Sachkapitalausstattung beschäftigt werden, dann kumulieren sich die negativen Einkommenswirkungen unzureichenden Humankapitals mit den negativen Produktivitätseffekten der mangelnden Sachkapitalausstattung: Der Teufelskreis der Armut ist geschlossen! Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, sind u. a. massive Investitionen in (Aus-) Bildung der bislang benachteiligten Bevölkerungsgruppen erforderlich sowie eine gleichmäßigere Verteilung von Kapital und Boden. Die Erfahrungen zahlreicher Entwicklungsländer deuten darauf hin, daß ein solcher Ansatz eher zu einer nachhaltigen Entwicklung führen wird alseine Strategie des beschleunigten Aufbaus gesamtwirtschaftlichen Sachkapitals bei gleichzeitig weitgehender sozialpolitischer Abstinenz
Bei anhaltendem Zwang zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gibt es derzeit allerdings in den meisten Ländern Lateinamerikas kaum Spielraum für zusätzliche staatliche Ausgaben. Eine Politik der Armutsbekämpfung und der Förderung der Verteilungsgerechtigkeit muß daher hauptsächlich durch zielgruppenorientierte Umschichtungen innerhalb des gegebenen Budgetrahmens erfolgen. Um die Situation der ärmsten zehn Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung zu verbessern, würde es genügen, einige wenige Prozent der Staatsausgaben so umzuschichten, daß diese gezielt den Ärmsten zugute kommen
Ein entschiedenerer Kampf gegen die schockierende Massenarmut in Lateinamerika, ernsthafte Reformen in Richtung auf ein partizipatives Wirtschafts
System, eine nachhaltige Politik des sozialen Ausgleichs -all dies ist nicht nur ein ethischer Imperativ, sondern hat auch einen funktional-instrumentellen Charakter, insofern Gesundheit, Bildung und Ernährung sowie die Erfüllung anderer Grundbedürfnisse als Bedingungsfaktoren von Produktivität und wirtschaftlicher Dynamik verstanden werden. Für eine wirtschaftliche Erholung Lateinamerikas, die in eine nachhaltige Entwicklung münden soll, sind fundamentale Veränderungen der tradierten einzel-und gesamtwirtschaftlichen Produktionsmuster ebenso notwendig wie die Veränderung der gesellschaftlichen Partizipationsmuster Gelingt dieser Transformationsprozeß nicht, dann wird sich die Zahl der Armen in der Region während der kommenden Jahre um weitere Millionen erhöhen Dies bedeutet weitere millionenfache Einzelschicksale von Menschen, die hungern, krank sind und gesellschaftlich marginalisiert. Hunger und Armut aber machen apathisch -oder aggressiv.
Hartmut Sangmeister, Dr. rer. pol. habil., geb. 1945; Privatdozent für Entwicklungsökonomie und Wirtschaftsstatistik an der Universität Heidelberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu entwicklungsökonomischen und wirtschaftsstatistischen Fragen; Mitherausgeber des Lateinamerika Jahrbuchs.
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