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USA und Europa: Die neue strategische Partnerschaft | APuZ 9/1994 | bpb.de

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APuZ 9/1994 Clintons Weltpolitik. Eine Bilanz des ersten Amtsjahres USA und Europa: Die neue strategische Partnerschaft Die USA und Japan Die Rußlandpolitik der USA

USA und Europa: Die neue strategische Partnerschaft

Daniel Hamilton

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In Washington wird zunehmend über eine neue Europapolitik nachgedacht. Sie muß auf zwei grundsätzlichen Überlegungen beruhen: Erstens bleibt ein aktives Engagement der Vereinigten Staaten in Europa unabdingbar. Wenn zweitens innenpolitische Herausforderungen und der Generationswechsel nicht zum Aufbau neuer transatlantischer Koalitionen genutzt werden, entsteht die Gefahr gegenseitiger Indifferenz. Auf diesen Überlegungen bauen drei umfassende Zielsetzungen für die europäisch-amerikanischen Beziehungen auf: Erstens müssen Westeuropa und die USA mit Osteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion eine strategische Partnerschaft gestalten. Zweitens dürfen im Zuge der europäischen Integrationsprozesse die USA nicht zu einer raumfremden Macht werden. In die Vertiefung und die Erweiterung der Europäischen Union müssen transatlantische Elemente eingebunden werden. Drittens sollten Europa und die Vereinigten Staaten die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen intensivieren. In allen angesprochenen Bereichen muß das deutsch-amerikanische Verhältnis federführend sein.

I. Umorientierung der Europapolitik der USA

Ein Jahr nach der Amtsübergabe von George Bush an Bill Clinton ist eine Deutschland-und Europapolitik der USA erst in Ansätzen erkennbar. Auch die Europäer sind vorrangig mit innenpolitischen Problemen beschäftigt und haben bisher keine konkreten Lösungen angeboten, die den transatlantischen Beziehungen neuen Auftrieb geben könnten. Die Erneuerung der atlantischen Partnerschaft steht noch aus, ist aber dringend erforderlich, wenn die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Partner der wachsenden Zahl von gemeinsamen Problemen begegnen wollen.

Bill Clinton wurde primär deshalb gewählt, weil er der amerikanischen Wählerschaft versprochen hatte, sich „wie ein Laserstrahl“ vor allem auf eine innere Erneuerung des Landes zu konzentrieren. Dies war und ist nicht als isolationistische Haltung zu bewerten. Vielmehr wird eine innere Erneuerung als Fundament einer aktiven Außenpolitik verstanden und akzeptiert, nicht als deren Alternative. Diese innenpolitischen Bemühungen aber haben im ersten Amtsjahr der neuen Regierung viel Zeit und Energie in Anspruch genommen.

Dazu kam, daß die junge Clinton-Regierung die außenpolitische Hinterlassenschaft der Bush-Administration verwalten mußte. In die Zeit zwischen der Wahl am 3. November 1992 und der Amtseinführung von Bill Clinton am 20. Januar 1993 fielen eine Reihe wichtiger außenpolitischer Entscheidungen: Mit Rußland wurde ein Rüstungskontrollabkommen unterzeichnet; es wurden Truppen nach Somalia geschickt, und mit dem Irak brachen erneut Konflikte aus. Die meisten Entscheidungen wurden in Abstimmung mit der neuen Regierungsmannschaft getroffen, hatten aber Nachwirkungen, die den Handlungsspielraum der Clinton-Regierung einengten. „Als wir am 21. Januar das Amt übernahmen“, erklärte Außenminister War-ren Christopher, „standen wir vor einem Programm, das von Krisen und potentiellen Katastrophen nur so wimmelte. Wir mußten einen großen Teil unserer Zeit und Energie darauf verwenden, auf allen Kontinenten zwischen Strudeln und Klippen unter der Wasseroberfläche zu navigieren.“

Darüber hinaus wurde die amerikanische Führung gleich nach ihrer Amtsübernahme dazu gezwungen, sich auch anderen Brennpunkten der Weltpolitik zu widmen, die entweder von der Bush-Regierung vernachlässigt worden waren oder die sich zu entzünden drohten, zum Beispiel in Ostasien, im Nahen Osten oder in politisch unsicheren Staaten wie dem Iran. Dazu kam der innenpolitische Kampf um die Ausarbeitung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA), der bis November andauerte und in den die Clinton-Regierung viel politisches Kapital investieren mußte.

Es gibt einen weiteren Grund dafür, warum eine klare Europapolitik im ersten Amtsjahr der neuen Regierung sich nicht entfaltete. Als die Clinton-Administration damit begann, sich den neuen globalen Herausforderungen zuzuwenden, war sie zuversichtlich, daß ihre europäischen Partner stark genug sein würden, die Hauptverantwortung für die meisten europäischen Probleme zu übernehmen und auch die Verantwortung für globale Fragen mitzutragen. Dies erwies sich als Illusion. Bosnien ist dafür ein gutes Beispiel. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hatten die Vereinigten Staaten ihre Führungsrolle in einer sicherheitspolitischen Krise an andere abgetreten. Die Europäische Gemeinschaft (EG) war zunächst erfreut, diese Rolle zu übernehmen. Angesichts der Meinungsverschiedenheiten zwischen den wichtigsten EG-Mitgliedern und der Kompliziertheit und Verfahrenheit dieser problematischen Situation erwies sich aber die Ohnmacht der jetzigen Europäischen Union (EU). Zunächst erklärte die Clinton-Regierung ihre Bereitschaft, die serbische Aggression „zurückzurollen“, aber ihr Zögern bei der Entsendung von Bodentruppen nach Bosnien unterminierte den Einfluß Washingtons auf seine europäischen Partner. Die Frustation Washingtons war groß, als seine europäischen Partner, vor allem Frankreich, zunächst gegen das Bemühen der Vereinigten Staaten auftraten, das Waffenembargo für die bosnischen Muslime aufzuheben und Luftangriffe gegen die serbischen Aggressoren einzuleiten, und dann beim NATO-Gipfel im Januar 1994 gerade für die Luftangriffe in einer solchen Weise plädierten, daß sie den öffentlichen Eindruck erweckten, Washington zögere noch.

Bei den Fehlern in der Europapolitik während des ersten Amtsjahres der Clinton-Regierung handelt es sich allerdings in der Hauptsache um Unterlassungssünden. Anfangs war die Regierung geneigt, dem Wunsch der Westeuropäer nach größerer transatlantischer Verantwortung entgegenzukommen. Dies wurde jedoch durch die zähen Verhandlungen der Uruguay-Runde, die sich hauptsächlich auf die Europäer konzentrierten, beeinträchtigt. Eine zusätzliche Belastung war die Tatsache, daß das Zusammenstellen des neuen außenpolitischen Teams nur schleppend vorankam.

Es gibt Anzeichen dafür, daß dies sich jetzt ändert. In Washington wird zunehmend über eine neue Europapolitik nachgedacht. Außerdem hat die Regierung jetzt mehr Gelegenheit, sich der Europa-und Deutschlandpolitik zu widmen. Die innere Erneuerung macht Fortschritte: Die Vereinigten Staaten erholen sich allmählich von der Rezession. Die Arbeitslosenquote ist auf sechs Prozent gesunken, und für 1994 wird ein Wirtschaftswachstum von mindestens drei Prozent vorausgesagt. Die Außenwirtschaftspolitik wendet sich ebenfalls zum Positiven: Die Besiegelung der Nordamerikanischen Freihandelszone und der erfolgreiche Abschluß des GATT-Welthandelsabkommens sowie die neue Initiative zur Belebung der Asiatisch-pazifischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit (APEC) beim Gipfeltreffen der 14 Mitgliedstaaten im November 1993 in Seattle brachten Clinton große Erfolge ein.

Diese Fortschritte erreichen jedoch inzwischen Grenzen, die eine neue Europapolitik immer wichtiger erscheinen lassen. Weitere positive Entwicklungen in allen Bereichen, die eingangs erwähnt wurden, hängen jetzt von Fortschritten in Europa ab. Die innere Erneuerung der USA ist vom Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union abhängig. Fortschritte mit Moskau setzen die Einbettung der Rußlandpolitik in eine breitangelegte Europapolitik voraus. Auch Fortschritte bei einer Reihe von anderen globalen Fragen hängen von einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit den wichtigsten demokratischen Partnern Washingtons ab. Hinzu kommt eine weitere Überlegung: Wenn Clinton kein schlüssiges Konzept für die Außenpolitik auf den Tisch legt, das den äußeren Gegebenheiten auf eine Weise begegnet, die ihm die Konzentration auf die Innenpolitik ermöglicht, besteht die Gefahr, daß die Regierung von einer außenpolitischen Krise zur anderen getrieben wird.

Was sind mögliche Konturen einer neuen Europa-und Deutschlandpolitik der USA? Sie beruhen auf zwei grundsätzlichen Überlegungen:

Erstens: Der Rahmen, in den die transatlantischen Beziehungen eingebettet werden, mag neu sein, aber gewisse fundamentale US-amerikanische Interessen in Europa haben weiterhin Bestand: keine feindlichen Machtkonstellationen auf dem europäischen Kontinent; florierende Wirtschaftspartner, die den Ideen, Gütern und Investitionen aus den USA offen gegenüberstehen; eine Wertegemeinschaft von demokratisch regierten Ländern, die sich so weit ostwärts ausdehnt, daß sie den immer zahlreicheren globalen Herausforderungen begegnen kann; ein Kontinent, der nicht in einem Maß von Unfrieden geplagt ist, daß er unmäßige Ressourcen der Vereinigten Staaten oder der übrigen Welt aufsaugt. Diese Interessen machen ein aktives Engagement der Vereinigten Staaten in Europa unabdingbar. Sie deuten darauf hin, daß eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland und anderen europäischen Partnern notwendig ist. Diese Haltung hat Präsident Clinton bei seiner Rede am 10. Januar 1994 im Brüsseler Rathaus unterstrichen.

Zweitens: Sowohl in Westeuropa als auch in den USA ist man sich inzwischen der Tatsache bewußt geworden, daß eine innere Erneuerung der Gesellschaft dringend erforderlich ist. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten werden gemeinsamen Herausforderungen von außen nur dann effektiv begegnen können, wenn sie in der Lage sind, Probleme im eigenen Land zu meistern. Einem wirtschaftlich schwachen Amerika, dessen Gesellschaft keine Geschlossenheit zeigt, wird im Ausland kein Respekt gezollt. Ein von den psychologischen und materiellen Kosten der Vereinigung überwältigtes Deutschland oder ein von Massenarbeitslosigkeit und Rezession geplagtes Europa wird kaum in der Lage sein, eine größere weltpolitische Rolle zu übernehmen, wie es den Vorstellungen der Vereinigten Staaten entspräche. Europäer und Amerikaner würden sich lediglich ihren eigenen Problemen zuwenden oder wären geneigt, nach fremden Sündenböcken für hausgemachte Probleme zu suchen. Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es bereits solche Tendenzen.

Auf der anderen Seite aber ist das Weltgeschehen zu eng mit dem Leben in Europa und in Amerika verwoben, als daß man die übrige Welt ignorieren und sich nur auf drängende innenpolitische Probleme konzentrieren könnte. Stellt man das gesamte politische Handeln unter das „Primat der Innenpolitik“, wird der gesellschaftliche Konsens, auf dem die Außenpolitik beruhen muß, zu anfälhg. Man liefe Gefahr, sich in der Bewältigung der eigenen Probleme zu verlieren.

Dies ist die größte Herausforderung, vor der die europäisch-amerikanischen Beziehungen in den nächsten Jahren stehen werden. Ein Blick auf die letzten vierzig Jahre zeigt, daß Europäer und Amerikaner zur Zeit mehr denn je mit innenpolitischen Problemen beschäftigt sind. Es besteht dasRisiko, daß Entscheidungsträger und Führungskräfte, die von ihren innenpolitischen Sorgen stark in Anspruch genommen werden, immer öfter im Interesse des eigenen Landes handeln, ohne dabei die internationalen Konsequenzen ausreichend zu berücksichtigen. Wir laufen Gefahr, am Ende wie ein altes Ehepaar dazustehen; beide erinnern sich hin und wieder an die guten alten Zeiten, aber so langsam gerät in Vergessenheit, warum man überhaupt noch beieinander ist.

II. Strategische Partnerschaft mit dem Osten

Nach der Vereinigung Deutschlands und dem Zerfall der Sowjetunion muß sich Deutschland nun mit einem epochalen Umbruch seiner strategischen Prioritäten auseinandersetzen. Fast fünfzig Jahre lang waren die Bemühungen der Bonner Republik von dem strategischen Gebot geprägt, die Teilung Europas zu überwinden, eine Einbindung in den Westen zu erreichen, sich als stabile Demokratie zu erweisen und die Grundlagen für die französisch-deutsche sowie die amerikanisch-deutsche Partnerschaft zu festigen. Diese Ziele sind erreicht worden. Für die nächsten fünfzig Jahre haben sich die wichtigsten strategischen Interessen Deutschlands nun in Richtung Osten verlagert. Die Beziehungen zum Westen bleiben weiterhin von wesentlicher Bedeutung, doch dies vor dem Hintergrund einer ganz anderen strategischen Priorität: nämlich Demokratie, Marktwirtschaft und den Abbau der Waffenarsenale so weit wie möglich nach Osten hin zu festigen. Wenn Deutschland befreundete, wohlhabende und vor allem stabile Demokratien als Nachbarstaaten hat, kann das vereinte Deutschland sich vielleicht endlich von dem historisch-tragischen Dilemma seiner Mittellage zwischen Ost und West befreien.

Im Zuge dieser Neuorientierung haben allein die Vereinigten Staaten gegebenenfalls den nötigen Weitblick, den politischen Willen, die Mittel und ein Gefühl für die Dringlichkeit der Lage, um Deutschland bei seinen Bemühungen zur Seite zu stehen. Im Hinblick auf Osteuropa, Rußland und einige andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion, z. B.der Ukraine, läßt sich eine entscheidende Konvergenz zwischen den strategischen Interessen beider Länder feststellen. Diese könnte und sollte in eine strategische Partnerschaft umgesetzt werden, die auf multilateraler Ebene die treibende Kraft ist für den Export demokratischer Strukturen, Hilfsleistungen für marktwirtschaftlich ausgerichtete Reformen, eine gesicherte Reduzierung von Waffen, die Entwicklung kooperativer militärischer Strukturen und die Förderung der zivilen Kontrolle des Militärs in allen osteuropäischen Staaten sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, während sie gleichzeitig die Anbindung und letztlich die Integration dieser Länder in westliche Strukturen ermöglicht. Andere Länder sollten in diese Anstrengungen einbezogen werden, aber die deutsch-amerikanischen bilateralen Beziehungen müssen Angelpunkt dieses Wandels sein. Derartige Bemühungen könnten mehr zur Sicherheit Europas beitragen als Überlegungen, die sich nur mit den rein militärischen Sicherheitsaspekten auseinandersetzen.

Letztlich müssen erfolgreiche Reformen von innen kommen. Doch eine strategische deutsch-amerikanische Partnerschaft kann helfen. Ein großes Land wie Rußland ist gewöhnlich nur geringfügig von außen zu beeinflussen. Bei einem monumentalen Umbruch können äußere Einflüsse jedoch bedeutsam sein. Das überraschend gute Wahlergebnis von Wladimir Schirinowskij und seinen neofaschistischen Anhängern unterstreicht drei wichtige Fakten, die bei der zweiten russischen Revolution berücksichtigt werden müssen: Die augenblickliche Lage läßt viele Möglichkeiten offen; die Ereignisse in Rußland haben tiefgreifende Konsequenzen für die übrige Welt, und das Handeln oder die Untätigkeit des Westens wird für den Ausgang mitentscheidend sein.

Die hier dargestellte deutsch-amerikanische Partnerschaft sollte bilaterale und multilaterale Elemente aufweisen und strategisch ausgerichtet sein. Dabei sollen und können die deutschen Verpflichtungen im Rahmen der Europäischen Union voll berücksichtigt werden. Beide Länder könnten zum Beispiel eine Initiative für den verstärkten Zugang osteuropäischer Länder zu westlichen Märkten erarbeiten, die einen Abbau von Einfuhrkontingenten in wichtigen Bereichen wie Textilien, landwirtschaftlichen Produkten und Stahl vorsähe. Dieser Vorschlag könnte dann der EU vorgelegt werden. Besser koordinierte Hilfeleistungen, die auf spürbare Verbesserungen im Alltag der russischen Bevölkerung zielen, könnten demagogischen Parolen den Wind aus den Segeln nehmen. Man könnte in Osteuropa und in Rußland ein Netz von deutsch-amerikanischen „Häusern der Demokratie“ einrichten, auf der Tradition der 50 Amerika-Häuser fußend, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland gegründet wurden.

Möglichkeiten gibt es viele. Die Frage ist, ob beide Länder die Gelegenheit ergreifen, aufgrund ihrer besonderen Kompatibilität im Rahmen einer strategischen deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit dem Osten einen umfassenderen Problem-ansatz anzubieten, oder ob jeder seinen eigenen Weg geht und sich bei loser Koordination mit anderen Partnern eigene Aktionsfelder sucht und sich generell weigert, gemeinsam einem ehrgeizigeren Plan Priorität einzuräumen.

III. Neugestaltung der Sicherheitspartnerschaft

Die militärischen Institutionen des Westens sind noch immer von veralteten Elementen aus der Zeit des Kalten Krieges geprägt. Alte Probleme, die noch am Horizont erkennbar sind, und neue Herausforderungen, die plötzlich im Rampenlicht stehen, werfen Schatten auf die alten Mechanismen der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft. Die alten Strukturen dürfen nicht konserviert, sondern sie müssen neu gestaltet werden.

Im Hinblick auf diese neuen Herausforderungen sind die augenblicklichen Strukturen von NATO, KSZE und Europäischer Union, der US-Truppen-präsenz und der Mittelzuweisung der USA für die „Sicherheit“ Europas nicht mehr zeitgemäß. Es geht nicht um die Umgestaltung der bestehenden Sicherheitsinstitutionen, vielmehr muß eine neue Beziehung zwischen den einzelnen Organisationen hergestellt werden. Die Alternative „NATO oder Nichts“ ist nicht genug.

Die NATO sucht noch nach ihrer neuen Rolle und Aufgabe. Die sowjetische Bedrohung, die das Konzept der NATO größtenteils prägte, gibt es nicht mehr. Doch das Bündnis hat im Laufe der Jahre auch andere Funktionen entwickelt, die nach wie vor relevant sind: Die NATO beschwichtigt europäische Befürchtungen, daß Deutschland seine politische Macht zum Einsatz bringen könnte; sie fördert eine entnationalisierte militärische Planung; das Bündnis bildet die sicherheitspolitische Grundlage für die europäischen Integrationsbemühungen; die NATO bietet die Grundlage für gemeinsame multilaterale Aktionen, und sie ist der greifbarste Ausdruck für das Engagement der USA in Europa. Die NATO ist aber auch für Deutschland wichtig. Sie verleiht vielen Deutschen das Gefühl der Stabilität und Sicherheit in einer Zeit atemberaubender Veränderungen. Ferner erlaubt sie Deutschland auch weiterhin den Verzicht auf eigene Atomwaffen, während gleichzeitig ein Mitspracherecht in nuklearen Angelegenheiten gegeben bleibt, das Deutschland sonst nicht hätte.

Die Beistandspflicht der NATO, die ja ihr Hauptzweck ist, muß weiterhin aufrechterhalten werden. Als weitere Ziele sollten jetzt das gemeinsame Kri-B senmanagement, Truppeneinsätze außerhalb des NATO-Gebiets und der Export von Stabilität nach Osten mit eingebaut werden. In Anbetracht der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa wird die NATO jedoch nicht in der Lage sein, die Sicherheit im Westen zu garantieren, wenn sie nicht auch im Osten und mit Partnern außerhalb der NATO operieren kann.

Eine überstürzte Erweiterung der NATO könnte allerdings die Aussichten auf Frieden und Stabilität in Europa schwächen. Politische Realität ist, daß die osteuropäischen Länder derzeit noch nicht in der Lage sind, über Nacht NATO-Mitglieder zu werden. Eine plötzliche Ausdehnung der NATO bis zur russischen Grenze könnte leicht mißverstanden werden. Dies könnte eine russische Bedrohung hervorrufen, die momentan nicht existiert.

Das Angebot der NATO zu einer „Partnerschaft für den Frieden“ entspringt dem pragmatischen Bemühen, diese Klippen sicher zu umgehen. Der Vorschlag sieht eine Reihe von bilateralen Assoziierungsvereinbarungen als Zusätze zum Vertrag von Washington vor, nach denen die betreffenden Länder den Artikeln 1 bis 4 des Vertrages beitreten würden, nicht aber der gegenseitigen Beistandspflicht, die in Artikel 5 und 6 festgeschrieben ist. Die mit der Friedenspartnerschaft anvisierten militärischen Beziehungen würden der Unterstützung des Aufbaus demokratischer Institutionen dienen, indem sichergestellt wird, daß die Friedenspartner jeweils ihr Verteidigungsministerium unter zivile Kontrolle stellen, daß sie ihren Verteidigungshaushalt offenlegen, daß sie eine regelmäßige Zusammenarbeit mit den NATO-Mitgliedern anstreben und die vielen erforderlichen Einzelschritte unternehmen, die dafür sorgen, daß das Militär im Rahmen einer zivilen Gesellschaft produktive Aufgaben erfüllt. Der Weg hin zur gemeinsamen Verteidigung und zur militärischen Integration würde die Verteidigungspolitik entnationalisieren und den Mitgliedstaaten bei ihrem sicherheitspolitischen Kalkül die Sorge um andere Mitglieds-länder nehmen.

Da die NATO prima facie keinen Unterschied machen würde zwischen einzelnen potentiellen Partnern, würden sich die Friedenspartner im Laufe ihrer Zusammenarbeit mit der NATO selbst voneinander abheben. Einige würden Verbindungen zur NATO herstellen, die zur Vollmitgliedschaft führen; andere würden sich für eine umfassendere Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich disqualifizieren, weil sie die Prinzipien nicht einhalten, die im Vertrag von Washington, der Schlußakte von Helsinki und der KSZE-Charta von Paris (1990) festgelegt sind.In den Augen seiner Kritiker geht dieser Vorschlag jedoch nicht weit genug. Doch Skeptiker sollten das auf den Tisch gelegte Angebot nicht unterschätzen. Wenn die Friedenspartner den Vorschlag der NATO ernst nehmen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß ein Land enger in den Operationsbereich der NATO eingebunden wird. Natürlich birgt dieser Vorschlag auch Probleme. Zunächst könnte der anvisierte Selbstausleseprozeß einen Wettbewerb unter den osteuropäischen Ländern hervorrufen, was die NATO ja gerade zu vermeiden sucht. Zweitens werden diejenigen, die der Europäischen Union beitreten, wahrscheinlich auch zum WEU-Beitritt ermuntert. Dadurch verstärkt sich der Druck, diese Länder auch in die NATO aufzunehmen. Obwohl die NATO selbst keine neuen Grenzen ziehen will, wird sich dies kaum vermeiden lassen, wenn die für die NATO-Mitgliedschaft qualifizierten Friedenspartner sämtliche Kriterien erfüllen können und ihre Aufnahmebereitschaft ankündigen.

Somit kann die Partnerschaft für den Frieden lediglich eine Station auf dem Weg zu grundlegend neuen militärischen Beziehungen zwischen Ost und West sein, die die Vereinigten Staaten zwingen, darzulegen, ob sie im Rahmen ihrer nationalen Interessen einer Konsolidierung der Demokratie in dieser Region genügend Bedeutung beimessen, so daß Washington dafür Sicherheitsgarantien abgeben könnte.

Da die Vereinigten Staaten diese Debatte im eigenen Land noch nicht geführt haben, versucht Washington, es zu vermeiden, Prozesse in Gang zu setzen, die eine automatische NATO-Mitgliedschaft zum Ziel haben. Die Erfüllung der festgelegten Kriterien sollte eine notwendige, aber keineswegs die einzige Bedingung für eine Vollmitgliedschaft im Bündnis sein. Die NATOMitglieder sollten sich das Recht vorbehalten, zu gegebener Zeit entscheiden zu können, ob die Gewährung des Beistands nach Artikel 5 des NATO-Vertrages in ihrem strategischen Interesse ist oder nicht.

Es mag durchaus im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten liegen, Männer und Frauen aus Montana, Virginia und Wisconsin zur Verteidigung der Ostgrenzen von Polen, der Slowakei oder von Ungarn einzusetzen -aber dies darf nicht ohne eine umfassende landesweite Debatte geschehen. Denn derartige Zusagen hätten kein Gewicht, wenn sie nicht auf der vollen Unterstützung der US-Bevölkerung gegründet wären. Würde man versuchen, neue Sicherheitsgarantien abzugeben, während viele Amerikaner ernsthafte Zweifel an der künftigen Lebensfähigkeit der NATO haben, könnte dies das Engagement der Vereinigten Staaten für die Sicherheit Europas eher schwächen als stärken. Spätestens hier wird deutlich, wie wichtig es ist, daß die Clinton-Regierung im ganzen Land eine gezielte Kampagne startet, die klarmacht, wie notwendig eine neue NATO für die Durchsetzung der nationalen Interessen der Vereinigten Staaten ist.

Ein zweites wichtiges Element für die Schaffung einer neuen NATO ist der Ausbau der Bündnis-kapazitäten im Krisenmanagement und in den Bereichen friedenserhaltende und friedenschaffende Maßnahmen. Um diese neuen Zuständigkeiten wahrnehmen zu können, müssen die Beziehungen zu den Vereinten Nationen und zur KSZE auf eine neue Grundlage gestellt werden. Eine Beteiligung der NATO auf Ersuchen der UNO oder der KSZE an derartigen Operationen würde den Bemühungen des Bündnisses bei einem Krisenmanagement im genannten Spannungsdreieck eine größere internationale Legitimation verleihen. Dem Nordatlantischen Kooperationsrat (NACC), der auf eine deutsch-amerikanische Initiative hin gegründet wurde mit dem Ziel, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ausgleichend zwischen Ost und West zu wirken, fielen ebenfalls neue Aufgaben zu. Das NATO-Angebot einer Friedenspartnerschaft greift den ursprünglichen Gedanken des Kooperationsrats auf und geht sogar noch darüber hinaus. Eine neue deutsch-amerikanische Initiative könnte nun den Vorschlag unterbreiten, jetzt auch neutrale und blockfreie Länder, die vorher nicht beitreten konnten, in den Nordatlantischen Kooperationsrat aufzunehmen und ihn so zum militärischen Arm der KSZE zu machen. Dieses neue Instrument könnte die Zusammenarbeit zwischen NATO-Mitgliedern und Nichtmitgliedern erleichtern, z. B. bei friedenserhaltenden Maßnahmen, Abrüstungsvereinbarungen, der Verhinderung der Weitergabe von Nuklearwaffen und der Rüstungskonversion.

IV. Funktionsfähigkeit der KSZE

Eine strategische deutsch-amerikanische Partnerschaft könnte multilaterale Mechanismen im Sicherheitsbereich weiter stärken. Sie könnte zum Beispiel einen Vorschlag zur Neubelebung der KSZE unterbreiten, der mehr operationelle Kapazitäten für diese Organisation vorsähe.

Die NATO ist nicht geeignet für die Lösung ethnischer Konflikte. Dennoch stellen gerade solche Konflikte heute die größte Bedrohung für die Sicherheit Europas dar. Die KSZE spielt bei der Schlichtung ethnischer Konflikte eine aktivere Rolle, aber sie hat kaum operationelle Kapazitäten. Die politischen und militärischen Aspekte derKonfliktverhütung könnten koordiniert werden, wenn KSZE-Mitglieder in der Lage wären, von der geleisteten normativen Arbeit der Organisation aktiv Gebrauch zu machen. Dazu gehören die Anstrengungen in den Bereichen Menschenrechte und Grundfreiheiten, Mechanismen wie der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten sowie Maßnahmen der präventiven Diplomatie wie Frühwarn-Indikatoren. Zum möglichen Aufgabenbereich der KSZE sollte auch die Entsendung von friedenserhaltenden Truppen gehören, und zwar je nach den Gegebenheiten unter der Schirmherrschaft von KSZE, UNO, NATO, NACC oder sogar der WEU. Es gibt keine Garantie dafür, daß bittere europäische Konflikte friedlich gelöst werden können. Wenn aber eine ethnische Minderheit die Möglichkeit hat, sich in einer Konfliktsituation an eine anerkannte internationale Institution zu wenden, könnten zumindest hin und wieder Spannungen vermieden werden. Auch die Zusicherung, daß Gruppen, die entschlossen sind, sich von ihrem Heimatstaat zu lösen, ein friedlicher Weg zu einer fairen Anhörung offensteht, könnte hilfreich sein. Helfen könnten politische Maßnahmen und Verfahren, die das Recht des Menschen untermauern, im Heimatstaat zu verbleiben, so daß niemand durch Krieg und Verfolgung gezwungen wird, sein „Recht, ihn zu verlassen“, wahrzunehmen. Die Bemühungen um die Schaffung flexibler Strukturen zur Bewältigung von Instabilitäten würden sich sicher lohnen. Der dadurch für die europäische Sicherheit geleistete Beitrag entspräche der Stationierung von 100000 amerikanischen Soldaten. Wird dieser Prozeß aber nicht von einer deutsch-amerikanischen Initiative in Bewegung gesetzt, ist sein Zustandekommen unwahrscheinlich.

Eine solche Initiative müßte natürlich auch die Grenzen der KSZE berücksichtigen. Keine der KSZE-Vereinbarungen hat die Durchsetzungskraft eines internationalen Vertrages; es handelt sich in allen Fällen um Regierungsvereinbarungen.

Zwar wurde das Prinzip der Einstimmigkeit geringfügig abgeschwächt, aber mit mehr als fünfzig 'sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten ist die Organisation zu schwerfällig, um gemeinsame Verteidigungsinteressen wahrnehmen zu können. Auch fehlt die Erfahrung auf den Gebieten Bedrohungsanalysen und abschreckende Maßnahmen. Die KSZE könnte zur Not der europäischen Sicherheitspolitik dienen; dies darf aber nicht zu einer Schwächung der NATO oder einer geringeren Rolle der WEU führen. „Wenn das Bündnis und/oder die Europäische Gemeinschaft in den neunziger Jahren ernstlich unterminiert würde/n“, erinnert uns Robert Blackwill, „wäre die KSZE nicht Erbe von deren Schutzschirm; sie würde vielmehr ebenfalls Opfer dieses Niedergangs.“

Die Vereinigten Staaten sollten ihre europäischen Bündnispartner dabei unterstützen, ihre Streitkräftestruktur nicht mehr allein auf die territoriale Verteidigung auszurichten, sondern auf die Verteidigung gemeinsamer lebenswichtiger Interessen außerhalb des traditionellen NATO-Gebiets. Diese Gelegenheit sollte genutzt werden, eine neue Prämisse für die flexible Verteidigung festzuschreiben: daß nämlich die USA nicht das einzige NATO-Mitglied sein sollten, das wichtige gemeinsame Interessen außerhalb Europas schützen kann. Die Initiative der NATO zur Schaffung gemischter Einsatzverbände ist ein weiterer positiver, pragmatischer Schritt. Wenn aber Washington diesen Gedanken akzeptieren soll, muß die US-Regierung ihn bis zur letzten Konsequenz anerkennen und den traditionellen Widerstand gegen eine reale, sich schnell entwickelnde europäische Verteidigungszusammenarbeit aufgeben. Wenn eine solide europäische Verteidigungsidentität mit militärischen Kapazitäten verwirklicht werden kann, müssen die Vereinigten Staaten diese Bemühungen unterstützen.

V. Deutschlands fehlende Bereitschaft zu strategischer Verantwortung

Die Effizienz einer strategischen Partnerschaft mit dem Osten und neu durchdachter gemeinsamer Sicherheitsstrukturen hängt jedoch davon ab, inwieweit Deutschland in seiner Bereitschaft zu größerer Verantwortung gefördert werden kann. Es hat zwar den Anschein, als seien die Interessen Deutschlands und der Vereinigten Staaten im Hinblick auf eine enge sicherheitspolitische Zusammenarbeit und ein Engagement der Amerikaner für die Sicherheit Europas identisch. Dieser Eindruck täuscht jedoch über große Unterschiede hinweg, die sich alle auf einen entscheidenden und strittigen Punkt der deutschen Politik konzentrieren: Läßt sich Gewaltanwendung rechtfertigen, um die Menschenrechte und Grundfreiheiten von Menschen zu verteidigen, die von Aggression bedroht werden? An diesem Punkt werden höchst unterschiedliche Meinungen über den Sinn und Zweck der gemeinsamen Verteidigung geäußert, und das Vakuum an strategischem Denken, das es in Deutschland während des Kalten Krieges gab, wird offensichtlich.

Viele Deutsche haben die NATO und die Präsenz der US-amerikanischen Streitkräfte als Mittel zur Verteidigung Deutschlands gegen eine ganz spezifische Bedrohung gesehen. Beide waren in der Hauptsache dafür da, Deutschland zu verteidigen. Die NATO als umfassenderes Sicherheitsbündniswurde wenig verstanden. Dies war an der Wankelmütigkeit Deutschlandsim Hinblick auf die Unterstützung der Türkei im Golfkrieg klar erkennbar. Das Gefühl, „Importeure“ ihrer Sicherheit zu sein, ist im Denken der Deutschen seit mehr als vierzig Jahren tief verwurzelt. Aufgrund der deutschen Geschichte ist es verständlich, daß es den Deutschen bereits widerstrebt, auch nur über die Möglichkeit zu sprechen, daß Deutschland seine Macht vielleicht anwenden müßte, wobei auch Gewaltanwendung gemeint ist, um Menschen zu schützen, die weit von Deutschland entfernt leben. Dieses Denken wurde von den Bündnispartnern Deutschlands gefördert und verstärkt. Die deutschen politischen Stiftungen haben sicherlich eine wichtige Rolle dabei gespielt, den Aufbau demokratischer Strukturen im Ausland zu unterstützen. Aber im allgemeinen ist der Gedanke, daß der Export von Sicherheit in befreundete Länder oder der Schutz schwächerer Staaten vor der Aggression von außen ebenfalls positiv zu bewerten sind, in Deutschland nur schwach ausgeprägt.

Angesichts der Realitäten im post-sowjetischen Europa erweist sich dieses Denken als unzureichend. Es macht den Deutschen unmöglich, sich ganz normal darüber Gedanken zu machen, daß ihrem Land aufgrund seiner stärkeren Poisition in der heutigen Welt auch mehr Verantwortung zufällt. Es hindert die Deutschen daran, ihre Verpflichtungen innerhalb gemeinsamer Sicherheitsorganisationen zu erfüllen. Dieses Denken läßt es nicht, zu, daß Krisen, die sich unmittelbar vor der eigenen Haustür in dem genannten Spannungsdreieck abspielen, wirksam bewältig werden. Es fördert die Tendenz, sich für eine eng definierte Arbeitsteilung einzusetzen, nach der sich Deutschland auf nichtmilitärische Missionen konzentriert und einen kurzsichtigen Moralismus pflegt, mit dem die Bündnispartner immer dann gestraft werden, wenn sie sich mit Herausforderungen im wirklichen Leben auseinandersetzen müssen, die in einer Grauzone liegen.

Ferner steht dieses Denken einer dauerhaften Akzeptanz der amerikanischen Truppenpräsenz seitens der deutschen Bevölkerung im Wege. Die amerikanischen Steuerzahler werden nur dann gewillt sein, eine umfassende US-Truppenstationierung in Deutschland zu finanzieren, wenn sich dies als kosteneffiziente Investition für die Verteidigung der Interessen der Vereinigten Staaten erweist, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der NATO in Europa, sondern auch darüber hinaus.

Und von dort wird die Sicherheit Europas ja schließlich herausgefordert. Wenn sich aber die deutschen Wähler diesem Gedankengang nicht anschließen und nicht akzeptieren können, daß bisweilen angesichts von Aggression oder eklatanter Menschenrechtsverletzungen Gewalt angewendet werden muß, dann wird die US-Truppenpräsenz lediglich als Vorposten amerikanischer Macht angesehen, womit die Amerikaner eine Politik und Interessen verfolgen, die von den Deutschen nicht unbedingt geteilt oder mitgetragen werden.

Die Bündnispartner haben diese Einstellung oft toleriert, weil sich Deutschland durch finanzielle Leistungen aus der Klemme half. Dies ist allerdings in der heutigen Welt nicht mehr akzeptabel. Darüber hinaus wird es auf diese Art und Weise den Deutschen zu leicht gemacht, sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, wo ihre nationalen Interessen liegen, welche Werte sie verteidigen wollen und welche Leistungen sie zu ihrer eigenen Verteidigung erbringen müssen. Es würde überdies bedeuten, daß die Bündnispartner Deutschlands niemals genau wüßten, ob sie sich in einer Krise wirklich auf Deutschland verlassen können.

Es ist eminent wichtig, daß die Vereinigten Staaten helfen, den sich abzeichnenden, aber noch brüchigen Konsens in Deutschland zu fördern, der die Einsicht einschließt, daß das Land seine Sicherheit nicht mehr länger importieren kann, sondern daß man zum Exporteur demokratischer Stabilität werden muß. Dies muß jedoch im stillen und mit Fingerspitzengefühl geschehen, damit man in Deutschland nicht den Eindruck erhält, als sei der deutsche Sinneswandel ein Mittel amerikanischer Politik im eigenen Interesse anstatt nötiger Konsequenz größeren deutschen Gewichts. Die Vereinigten Staaten können eine wichtige Rolle dabei spielen, Deutschland zu helfen, seine vielschichtigen Verteidigungsprobleme zu sondieren und die Zukunftsplanung der zwar kleinen, aber ständig wachsenden Zahl von Strategieexperten mitzugestalten. Eine enge Zusammenarbeit ist erforderlich, wenn die Vereinigten Staaten Deutschland dazu bewegen wollen, seine größere politische Verantwortung in der Welt wahrzunehmen. Der Ton, in dem diese Diskussion geführt wird, wird entscheidend sein. Die allseitige Empfindlichkeit könnte sehr schnell zu Mißverständnissen führen.

VI. Die Neugestaltung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen

Neue sicherheitspolitische Vereinbarungen sind wichtig, aber die gemeinsamen Anstrengungen dürfen sich nicht nur darauf beschränken. Die nationale Sicherheit beruht heutzutage mehr denn je auf der Wirtschaftskraft eines Landes. DieBereitschaft von Europäern und Amerikanern, ihre verteidigungspolitischen Beziehungen neu zu überdenken, muß auch zur Neugestaltung der Wirtschaftsverbindungen führen.

Zum ersten Mal in den vergangenen Jahrzehnten sind wirtschaftliche Anforderungen, die im Rahmen der transatlantischen Beziehungen bewältigt werden müssen, genauso wichtig wie sicherheitspolitische Belange. Globale Wirtschaftsfaktoren wirken sich unmittelbarer und greifbarer auf das Wohlergehen der amerikanischen und europäischen Bürger aus als militärische und sicherheitspolitische Aspekte. Gelingt es nicht, effizientere Instrumente zu entwickeln, um wirtschafts-und währungspolitischen Konflikten zwischen den großen Volkswirtschaften vorzubeugen oder diese zu lösen, werden die Fronten im Zeitalter nach dem Kalten Krieg zwischen den Siegern dieses Krieges selbst gezogen werden.

Die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen stehen vor einem Wendepunkt. Zahlreiche wichtige Ereignisse deuten bereits auf ein neues wirtschaftspolitisches Zeitalter hin: der erfolgreiche Abschluß der Uruguay-Runde der multilateralen Handels-verhandlungen, der Abschluß von NAFTA, der Wandel der Europäischen Gemeinschaft zu einer vertieften und erweiterten Europäischen Union und die jüngsten Bemühungen zur Stärkung der sich abzeichnenden Asiatisch-pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC). Die wirtschaftspolitischen Strukturen, die Washington jetzt mit seinen europäischen Partnern entwickelt, werden für das künftige wirtschaftliche Wohlergehen der Vereinigten Staaten entscheidend sein. Sie werden auch zur Gestaltung von Sicherheitsbeziehungen beitragen und mitentscheiden, ob Washington sich bei der Bewältigung globaler Probleme auf seine Bündnispartner verlassen kann.

Um mit diesen neuen Entwicklungen fertig zu werden, brauchen die Vereinigten Staaten und die Europäische Union eine transatlantische Wirtschaftsstrategie, die umsetzbare und machbare kurzfristige Zielsetzungen in ein umfassenderes und langfristiges Programm einbaut. Dazu sind fünf Schritte erforderlich:

Erstens sollte Washington seine Unterstützung für die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration klar zum Ausdruck bringen. Im Gegenzug müssen die EU-Länder einsehen, daß die europäische Einigung inzwischen in eine Phase getreten ist, in der auch eine Reihe transatlantischer Elemente in die Vertiefung und Erweiterung Europas mit eingebaut werden müssen. Zur Zeit geht von Europa noch eine unklare Botschaft aus: Die Vereinigten Staaten sollen zwar Angelpunkt für die europäische Verteidigung und Sicherheit bleiben, am europäischen Wirtschaftstisch wird ihnen jedoch kein Platz eingeräumt. Diese Position ist unhaltbar. Wird man sie weiter vertreten, werden die USA allmählich zu einer raumfremden Macht.

Zweitens sollten zwischen dem Europäischen Wirtschaftsraum, der NAFTA und APEC Instrumente für regelmäßige Konsultationen und die Beilegung von Streitigkeiten vereinbart werden, damit regionale Integrationsbemühungen das multilaterale Handels-und Finanzsystem ergänzen und nicht mit ihm konkurrieren.

Drittens muß Washington hinsichtlich der kommenden EU-Erweiterung eine konsequente Politik verfolgen. Einerseits ist die EU-Mitgliedschaft wohl der wichtigste Schritt für die Festigung der Demokratien und Marktwirtschaften in Osteuropa; andererseits ist eine schlecht durchdachte Erweiterung ohne Rücksicht auf Konsequenzen für die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen ein Patentrezept für künftige Reibungspunkte. Die Schaffung von gemeinsamen Arbeitsgruppen zwischen den USA und der EU für besonders heikle Bereiche wie Landwirtschaft oder Stahlindustrie wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Viertens sollten die Europäische Union und, die Vereinigten Staaten ihre Beziehungen vertiefen und eine Reihe von mikroökonomischen Vereinbarungen treffen, die die Spielregeln für eine Wettbewerbs-, Industrie-und Technologiepolitik sowie für nationale Verordnungen und Normen festlegen.

Die wichtigsten Initiativen müssen im Investitionsbereich liegen. In den letzten zehn Jahren war die Zuwachsrate für Auslandsinvestitionen dreimal so hoch wie der Welthandelszuwachs und viermal so hoch wie die Zuwachsrate der gesamten Weltproduktion. In den transatlantischen Beziehungen sind Investitionsflüsse zum wichtigsten und am schnellsten wachsenden Faktor geworden. Bis einschließlich 1992 beliefen sich die US-Investitionen in Europa auf insgesamt 239 Milliarden US-Dollar, ein Betrag, der über den gesamten US-Investitionen in der übrigen Welt liegt und der die US-Investitionen im pazifischen Raum weit in den Schatten stellt. Die EU-Investitionen in den USA betrugen insgesamt 249 Milliarden US-Dollar, d. h. mehr als die Hälfte der gesamten EU-Investitionen weltweit. Aber es gibt keine verbindlichen Vereinbarungen für den Investitionsbereich, die diese Flüsse regeln und Mißbrauch verhindern könnten. Ein Regelwerk für US-EU-Auslandsinvestitionen wäre der beste erste Schritt. Damit würde auch die Region in den Vordergrund treten, in der Erwartungen zufolge in den nächsten fünf Jahren die meisten Arbeitsplätze geschaffen würden.Eine engere Abstimmung der Währungspolitik ist das fünfte unabdingbare Element eines neuen transatlantischen Verhältnisses. Eine verbesserte Kompatibilität der finanz-und währungspolitischen Maßnahmen unter den Mitgliedern der G-7 ist heute notwendiger denn je. Die Koordinierung hängt von der künftigen Ausgestaltung der europäischen Währungsintegration ab. Die Schaffung einer Europäischen Zentralbank im Herzen einer Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion wirkt sich auch wesentlich auf die Vereinigten Staaten aus. Der Bundesbank fällt eine entscheidende Rolle zu. Die USA sollten die finanz-und währungspolitische Abstimmung der G-7 erneut beleben, solange sich das europäische Währungssystem in einer Übergangsphase befindet. Die europäische Währungsintegration würde dann eine Abstimmung innerhalb der G-7 stärken und nicht schwächen.

VII. Ausblick

Dieses umfassende Konzept stellt die transatlantische Partnerschaft auf eine neue Grundlage. Sein Ziel ist ein geeintes, freies, florierendes und friedliches Europa und die Einbindung der östlichen Demokratien in westliche Strukturen. Dieses Konzept ist die Grundlage für ein dauerhaftes und aktives Engagement der Vereinigten Staaten in Europa, und es erlaubt die Bildung neuer Koalitionen über den Atlantik hinweg. In allen angesprochenen Bereichen sollten die deutsch-amerikanischen Beziehungen den Fortschritt vorantreiben.

Bei der Gestaltung einer neuen transatlantischen Partnerschaft müssen die Vereinigten Staaten die Federführung übernehmen. Aber in einer neuen Welt sieht diese Führungsrolle anders aus als früher. Es zeigt sich heute immer deutlicher, daß sich Koalitionen zusammenfinden müssen, die willens sind, sich mit schwierigen Problemen auseinander-zusetzen. Die Diffusion der Macht, stärkere Freunde, globale Problemstellungen und brennende innenpolitische Probleme, all dies zwingt zum gemeinsamen Handeln. Dies wird nicht einfach sein, denn Bündnispartner verlangen mehr Mitspracherechte, zumal angesichts größerer Lasten.

Die Vereinigten Staaten werden wahrscheinlich ihr Verhalten erst dann ändern, wenn auch die Europäische Union dazu bereit ist. Wenn man aber die Verhaltensänderung des anderen stets zur Voraussetzung für eigene positive Veränderungen macht, kommt man nicht weit. Wir werden nicht um eine gemeinsame Verhaltensänderung herumkommen. Auf beiden Seiten des Atlantiks genügt es nicht mehr, einfach zur Tagesordnung überzugehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Daniel Hamilton, Ph. D.; verantwortlich für das Programm „Europa und die Vereinigten Staaten“ am Carnegie Endowment for International Peace in Washington, D. C.; 1982-1990 stellv. Direktor des Aspen Instituts Berlin; Berater der U. S. -Botschaft in Bonn. Veröffentlichungen zur amerikanischen Außenpolitik. Zuletzt erschien: Beyond Bonn: America and the Berlin Republic. Es skizziert die möglichen Konturen einer neuen US-amerikanischen Deutschland-und Europapolitik.