Als kurzfristiger Einflußfaktor auf Wahlentscheidungen werden aktuell zur Lösung anstehende politische Probleme und die den Parteien zugeschriebene Fähigkeit, diese Probleme innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu lösen, immer wichtiger. Sie beeinflussen vor allem die immer größer werdende Gruppe der potentiellen Wechselwähler. Ausgehend vom Beispiel der deutschen Einheit, die als Thema die Wahlen 1990 sehr stark beeinflußt hat, wird die Veränderung der politischen Agenda seit dieser Zeit dargestellt. Dabei ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild im Osten und im Westen der Bundesrepublik. Die Wichtigkeit der Probleme nähert sich jedoch in beiden Teilen im zweiten Halbjahr 1993 deutlich an: Im Vordergrund stehen Wirtschaftsprobleme und die Bewältigung der Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaftslage im Westen hat sich aus der Sicht der Wähler seit Beginn der Legislaturperiode im allgemeinen deutlich verschlechtert, nicht jedoch die persönliche ökonomische Situation der Befragten. Im Osten wird die allgemeine wirtschaftliche Situation relativ konstant als schlecht beurteilt. Auch hier gibt es eine große Diskrepanz zur Einschätzung der persönlichen wirtschaftlichen Situation, die im Verlauf der letzten drei Jahre sogar als leicht besser eingeschätzt wurde. Die Kompetenz zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Osten hat die Bundesregierung in den Augen der Bürger dort bereits sehr früh nach der Wahl 1990 verloren; zu Beginn des Jahres 1993 sahen dies auch die Westdeutschen so. Schließlich erkannte im Herbst 1993 eine Mehrheit der Bürger auch die Wirtschaftskompetenz für den Westen der SPD zu. Insgesamt eine schlechte Ausgangsposition für die Regierung zu Beginn des Superwahljahres. Im letzten Teil des Beitrags wird auf die politische Agenda des Wahljahres hingewiesen, und zwar sowohl auf die Versuche der Parteien, diese Agenda mit Hilfe der Medien zu beeinflussen, wie auch auf mögliche Reaktionen der Wähler.
1994 ist ein Jahr der Superlative. Dies bezieht sich zunächst auf die Zahl der anstehenden Wahlen, die auf allen Ebenen: der kommunalen, der Landes-, der Bundes-und der Europa-Ebene stattfinden. 1994 könnte aber auch eines der interessantesten und mit vielen Veränderungen gekennzeichneten Wahljahre werden, weil Wähler immer häufiger Regierungen abwählen Es gibt Anzeichen dafür, daß sie 1994 von dieser Möglichkeit über das übliche Maß hinaus Gebrauch machen werden.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer der entscheidenden Gründe, warum dies geschehen wird, liegt darin, daß die Regierungsparteien auf Bundes-und Landesebene das, was die Wähler bewegt, oft nicht oder zu spät erkennen und aus der Sicht der Wähler keine oder zumindest keine zureichenden Antworten darauf wissen, wie den Fragen und Befürchtungen der Bürger begegnet werden soll. Dies betrifft verstärkt die potentiellen Wechselwähler, und diese Gruppe ist im Wachsen begriffen.
Abbildung 8
Abbildung 8: Kompetenz zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Westen nach Einschätzung der Wahlberechtigten (West) (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (West). SPD-Regierung
Abbildung 8: Kompetenz zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Westen nach Einschätzung der Wahlberechtigten (West) (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (West). SPD-Regierung
Bei starken Veränderungen in der Berufs-und Sozialstruktur der bundesrepublikanischen Gesellschaft, bei zunehmend sich auflösenden Milieu-bindungen und damit sinkenden Anteilen treuer Wähler, bei immer geringer werdendem Einfluß der Vorfeldorganisationen der Volksparteien, wie Kirchen und Gewerkschaften, steigt das Potential des Wechsels. Auch die ideologische Bindekraft der Parteien nimmt ab, weil die weltpolitischen Gegensätze wie zum Beispiel der Ost-West-Konflikt verschwinden und damit die polarisierende Kraft solcher politischer Grunddimensionen verlorengeht. Die großen Parteien büßen Möglichkeiten zur Unterscheidung ein, der Wechsel wird leichter. Potentielle Wechselwähler können aber stärker über politische Probleme und deren alternative Lösungen angesprochen werden, und deshalb wird die aktuelle Politik als kurzfristiger Einflußfaktor auf das Wahlverhalten immer wichtiger.
I. Welche Rolle spielen kurzfristige Einflußfaktoren?
Abbildung 1
Abbildung 1: Die wichtigsten Probleme nach Meinung der Wahlberechtigten (West) (in Prozent)Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (West).
Abbildung 1: Die wichtigsten Probleme nach Meinung der Wahlberechtigten (West) (in Prozent)Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (West).
Trotz des großen Interesses, das Wahlen entgegengebracht wird -sei es von seiten der Wähler, sei es von seiten der Parteien und Politiker oder aber von den Medien, die die ablaufenden Prozesse darstellen, illustrieren und manchmal auch analysieren, und trotz der vielen empirischen Untersuchungen im Bereich der Wahlforschung -gibt es keine einheitliche Erklärung für das Zustande-kommen der individuellen Wahlentscheidung. Es lassen sich aber die vielfältigen Ansätze, die es zur Erklärung von Wahlverhalten gibt, in drei Theoriebereiche gliedern: -Es gibt die strukturellen Ansätze, die davon ausgehen, daß die sozialen Verhältnisse das Handeln des Menschen weitgehend bestimmen. Sie gehen davon aus, daß es in einer Gesellschaft gewisse Grundkonflikte gibt, wie zum Beispiel der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, und daß diese sogenannten cleavages die Gesellschaften aufteilen -strukturieren -, aber auch gleichzeitig stabilisieren. -Es gibt die sozialpsychologischen Ansätze, bei denen der Spielraum für individuelle Entscheidungen größer erscheint, die zwar auch von sozialisierten Bindungen an Parteien ausgehen, aber daneben versuchen, die Einflüsse aktueller Politik und auch die, die von Personen ausgehen, zu erfassen, -und es gibt als eine Unterform solcher sozialpsychologischer Erklärungsversuche die sogenannten rationalen oder auch ökonomischen Ansätze, die davon ausgehen, daß die Wähler eine Nutzen-kalkulation anstellen und so wählen, daß ihr eigener Nutzen durch ihre Entscheidung optimiert wird. Bei der Erklärung von Protestwahl und Nichtwahl haben diese rationalen Ansätze eine gewisse Renaissance erfahren.
Trotz unterschiedlichster Schwerpunkte in der theoretischen Begründung von Wahlverhalten können hauptsächlich drei Einflußfelder auf die Entscheidungen der Wähler identifiziert werden: -Es gibt die mittel-oder langfristigen Bindungen an eine Partei, die in der Regel aus der sozialstrukturellen Zugehörigkeit zu einer Gruppe resultieren. Indem eine Partei als politischer Interessen-vertreter einer solchen makrosozialen Gruppe fungiert, entstehen im Zeitverlauf quasi Wähler-Parteien-Koalitionen. Dies führt dazu, daß bestimmte Grundeinstellungen mit den Hauptzielen dieser Partei, wie sie in Programmen oder öffentlichen Auftritten zutage treten, weitgehend in Einklang stehen. -Ein zweites Einflußfeld bezieht sich auf die Personen der Politikvermittlung, also zum Beispiel die Spitzenkandidaten. Sie stehen für eine bestimmte politische Richtung, und sie sind möglicherweise imstande, die hohe Komplexität des politischen Prozesses für die Wähler durch Personalisierung zu reduzieren. Kandidaten können auch den stärker emotionalen Bedürfnissen der Wähler, der Identifikation mit Leitfiguren, entgegenkommen. Die Orientierung an Personen spielt in einer Gesellschaft, in der Politik stark über die Medien, insbesondere die elektronischen Medien vermittelt wird, eine zunehmend größere Rolle. -Als drittes und sehr wichtiges Einflußfeld können die aktuell zur Lösung anstehenden politischen Probleme aus der Sicht der Wähler angesehen werden, ihre eigene Betroffenheit davon und die den Parteien zugeschriebene Fähigkeit, diese Probleme innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu lösen.
Wir werden uns im weiteren Verlauf dieses Beitrags hauptsächlich mit den Fragen beschäftigen, welche Probleme für die Wähler wichtig sind, wie sich diese politische Agenda seit der Bundestagswahl 1990 entwickelt hat und wie sie? sich vermutlich im Wahljahr 1994 entwickeln wird.
Einschränkend für den Einfluß der politischen Probleme und der damit verbundenen Lösungskompetenz einer Partei gilt, daß er nur für Wähler angenommen werden kann, die überhaupt bereit sind, zu wechseln. Stammwähler werden die Fähigkeit, Probleme zu lösen, in der Regel „ihrer“ Partei zuordnen. Verhaltensändernd werden sich politische Probleme auch nur dann auswirken, wenn sie von hoher persönlicher Wichtigkeit für den potentiellen Wechselwähler sind und mit den Parteien in eine eindeutige Beziehung gebracht werden
II. Die Bedeutung des Themas „deutsche Einheit“ für die Bundestagswahl 1990
Abbildung 2
Abbildung 2: Die wichtigsten Probleme nach Meinung der Wahlberechtigten (Ost) (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Ost.
Abbildung 2: Die wichtigsten Probleme nach Meinung der Wahlberechtigten (Ost) (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Ost.
Ein Beispiel des beherrschenden Einflusses eines „Problems“ auf die Wahlentscheidung potentieller Wechsler war die Entwicklung zur deutschen Einheit im Wahljahr 1990. Mit Beginn der Fluchtwelle aus der DDR über Ungarn und die Tschechoslowakei dominierte bereits 1989 das deutsch-deutsche Thema im Bewußtsein der Bevölkerung in immer wieder veränderter Form: zunächst die menschlichen Aspekte der Flucht vor allem junger Ostdeutscher, die Zuspitzung der politischen Lage in der DDR und die gleichzeitige Angst, daß zu viele aus dem Osten kämen; im Frühjahr 1990 dann die Euphorie einer politischen Lösung der „Wiedervereinigung“ bei gleichzeitiger Sorge, daß die Schnelligkeit des Vereinigungsprozesses zu großen individuellen Verunsicherungen und zur Instabilität des Systems führen könnte; schließlich die Befürchtungen von hohen Kosten der Einheit, die den eigenen ökonomischen Status gefährden könnten.
Die Frage war also, wer aus der nicht widerspruchsfreien Haltung in der Bevölkerung -die sich einerseits in einer hohen emotionalen Befürwortung der Vereinigung ausdrückte, aber gleichzeitig auch in der Sorge, daß die Entwicklung zu schnell gehe -Gewinn ziehen könnte. Die Bundesregierung und der Bundeskanzler ergriffen in den verschiedenen Phasen auf dem Weg zur Einheit immer wieder die Initiative -sei es im Zehnpunkteplan, sei es gegenüber den Alliierten, sei es mit der Durchsetzung der Währungsunion -, während die SPD und ihr Spitzenkandidat immer stärker in eine zögerliche Haltung verfielen. Im Frühsommer 1990 gab es dann die eigentlichen Wählerbewegungen, die die Wahl am 2. Dezember schließlich entschieden. Die Regierung gewann mit dem Schritt zur Währungsunion breite Unterstützung, und die bis dahin bestehenden Unsicherheiten über Geschwindigkeit und mögliche Folgen der Einheit traten in den Hintergrund, die SPD verlor zusehends an Boden.
Aber auch das Wahlverhalten im Osten wurde von keinem Faktor so stark bestimmt wie von der Einheit und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten für die Menschen in der früheren DDR. Die Facetten dieses Themas waren andere als im Westen und mußten wegen der unterschiedlichen Vorbedingungen auch andere sein. Die wirtschaftliche Situation in den neuen Ländern war schlecht, aber die Kompetenz zur Lösung der ökonomischen Pro bleme, zur Ankurbelung der Wirtschaft, auch zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit wurden eher bei den Regierungsparteien gesehen als bei den Oppositionsparteien. Die SPD hatte auch zu diesem Zeitpunkt zumindest für ökonomische Fragen keine alternativen Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Die Warnungen ihres Kanzlerkandidaten vor der Unterschätzung der mit der Einheit verbundenen Probleme fanden im Wahlkampf kaum Anklang, sie waren die negative Botschaft und wurden eher als ein Vorbehalt gegenüber der Einheit empfunden.
Die Hoffnungen auf schnellen wirtschaftlichen Aufschwung waren groß, ebenso die Versprechungen der Politiker im Wahlkampf. Die Einschränkungen der Politiker in bezug auf den zeitlichen Ablauf waren eher dezent und wurden gerne überhört. Die Unerfahrenheit mit westlichen Wahl-kämpfen tat ein übriges. Die Reaktion der Ostdeutschen auf die Probleme erfolgte erst sehr viel später, nachdem die Hoffnungen auf schnelle Veränderungen enttäuscht wurden, vor allem aber auch das Gefühl überhandnahm, daß sich die Politiker nach der Wahl um ihre Versprechen nicht mehr kümmerten.
Der Zeitpunkt der Bundestagswahl war 1990 sicherlich für die Regierungsparteien optimal. Noch getragen von der Euphorie der Mehrheit über die erreichte Einheit der Nation, konnten Unionsparteien und F D P. mit diesem Erfolg die Kompetenz für Wirtschaftsfragen verbinden, die die Zukunft bestimmen würden. Hierauf beruhte letztlich der Gewinn der Mehrheit bei der Wahl am 2. Dezember 1990. Voraussetzung dafür war und ist auch für die Zukunft, daß „der ideologische Parteienraum in Ost-und Westdeutschland weitgehend gleich perzipiert wird“ Das heißt aber auch, daß langfristig andere als wirtschaftspolitische Themen den Parteienraum bestimmen können, obwohl gerade die wirtschaftspolitischen Themen eine gute Chance haben, weiterhin dominant zu bleiben.
Wie aber hat sich tatsächlich die politische Agenda seither entwickelt?
III. Die wichtigsten politischen Probleme seit 1989/90
Abbildung 3
Abbildung 3: Einschätzung der allgemeinen und der eigenen Wirtschaftslage durch die Wahlberechtigten (West) (in Prozent)Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (West).
Abbildung 3: Einschätzung der allgemeinen und der eigenen Wirtschaftslage durch die Wahlberechtigten (West) (in Prozent)Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (West).
Mit einer offenen Frage: „Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste Problem in Deutschland?“ und der Nachfrage: „Und was ist ein weiteres wichtiges Problem?“ erhebt die Forschungsgruppe Wahlen allmonatlich das Meinungsbild einer repräsentativen Stichprobe von jeweils rund 1000 Wahlberechtigten in Ost-und Westdeutschland. Die Frage steht am Anfang des Politbarometer-Fragebogens, um jeglichen Einfluß von anderen Fragebogeninhalten auf die Antworten zu vermeiden.
Die Zeitreihe der Antworten im Westen zeigt bis zum Herbst 1989 die große Wichtigkeit des Themas Asyl/Ausländer, damals auch noch die Aussiedler umfassend (s. Abb. 1). In dieser Zeit hatten die Republikaner sowohl bei Wahlen (Berlin, Europa, Kommunalwahlen in Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen) ihre bis dahin höchsten Erfolge als auch in Umfragen einen starken Zuspruch. Ab Oktober 1989 zeigt die Grafik die Dominanz des Problems „deutsche Einheit“ zunächst bis zur Bundestagswahl im Dezember 1990 mit all den beschriebenen inhaltlichen Veränderungen und erneut bis zum Sommer 1991, wobei allerdings dann die Lasten der Einheit im Vordergrund der Nennungen standen Arbeitslosigkeit und der Themenkomplex Asyl/Ausländer traten in den Hintergrund bis zu den spektakulären Übergriffen rechtsradikaler Randgruppen auf Asyl-bewerber und Ausländer im Spätsommer 1991 sowohl im Osten wie im Westen, über die die Medien ausführlich berichteten. Diese Übergriffe führten in beiden Teilen Deutschlands zu einer wachsenden Solidarisierung mit Ausländern, die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland stieg deutlich an, und dies wiederholte sich nahezu bei jedem Brandanschlag. Für den politisch rechten Rand wirkten sich diese Ereignisse negativ aus, was vor allem durch den hohen Anteil von Protestwählern im Unterstützungspotential der Rechten erklärt wird. Protestwähler sind in ihrer Mehrheit nicht bereit, Gewalttätigkeiten und Gesetzesübertretungen zur Durchsetzung politischer Zielsetzungen ohne weiteres zu akzeptieren.
Ende 1991 bis zur Mitte des Jahres 1992 wurde das Bild wieder etwas heterogener: Zwar führte noch immer das Thema Ausländer und Asyl die Rangfolge der politisch wichtigsten Fragen an, aber die Bereiche Arbeitslosigkeit und andere ökonomische Teilbereiche wie Mieten und Wohnungsmarkt, aber auch Steuern bzw. Steuererhöhungen, die in der Grafik hier nicht gesondert dargestellt sind, gewannen wieder etwas an Bedeutung. Die Nennungen der Probleme der Vereinigung verblieben etwa auf gleichem Niveau. Mit den Ereignissen in Mölln gewann das Thema Asyl/Ausländer mit seinen unterschiedlichen Facetten, die auch die Ausländerfeindlichkeit als Bedrohüngsmoment für diesen Staat umfaßten, wieder absolute Dominanz. Die Wichtigkeit dieses Themas ging nachhaltig erst seit Mitte 1993 parallel zu den von fast allen Parteien getragenen Entscheidungen im Asylrecht wieder zurück. Bereits seit Anfang 1993 gewann im Westen das Thema Arbeitslosigkeit ständig an Bedeutung. Es steht seit dem Herbst 1993 an der Spitze der politischen Agenda. Damit gibt es zum Jahreswechsel 1993/94 eine weitgehende Angleichung der Sicht der Westdeutschen und der Ostdeutschen in bezug auf die wichtigsten Probleme in Deutschland. Dies war zuvor keineswegs der Fall.
Aus der Sicht der Ostdeutschen war und blieb die Arbeitslosigkeit vom Zeitpunkt der Einheit bis zur Gegenwart das absolut beherrschende Problem, das im letzten Halbjahr 1993 nochmals an Wichtigkeit hinzugewann (s. Abb. 2). Daneben wurden andere ökonomische Probleme wie der Wirtschaftsaufschwung, die Löhne und Preise sowie die Mieten während des gesamten Berichtszeitraums relativ konstant von jeweils einem Sechstel bis zu einem Fünftel der Bevölkerung als besonders wichtiges Thema genannt (in der Grafik nicht dargestellt). Für die Ausländer-und Asylproblematik blieb da kaum noch Platz. In der Tat hat dieses Thema bis zum Sommer 1992 eine völlig untergeordnete Rolle gespielt, auch nach den Ereignissen in Hoyerswerda 1991. Erst im September 1992 wurde Asyl/Ausländer auch im Osten zu einem wichtigen Thema aus der Sicht der Befragten. Allerdings erreichten die Nennungen nie die Wichtigkeitseinstufungen wie im Westen und blieben auch immer in gebührendem Abstand hinter dem Problem Arbeitslosigkeit.
Bei den bisher dargestellten Hauptthemen aus der Sicht der Wahlberechtigten gibt es -mit einer Ausnahme -nur geringe Unterschiede in der Wichtigkeitseinstufung durch die einzelnen Parteianhängergruppen. Die Ausnahme ist das Thema Asyl/Ausländer, und die abweichende Gruppe sind die potentiellen Wähler der Republikaner, und zwar im Westen wie im Osten. Für sie war dieses Problem immer von deutlich größerer Wichtigkeit als für Anhänger anderer Parteien und bleibt im Westen auch jetzt noch das Top-Thema. Im Osten sind im Jahre 1993 die Nennungen dieses Themen-komplexes unter denen, die den Republikanern nahestehen, mehr als doppelt so häufig (34%) wie in der Gesamtheit (16%).
Auch die Wähler ohne Parteibindungen oder die mit sehr geringen Bindungen an die im Bundestag vertretenen Parteien unterscheiden sich in der Rangfolge der Wichtigkeitseinstufungen und im absoluten Gewicht, das sie den verschiedenen Themen zuordnen, nicht von der Gesamtheit aller Befragten.Bei anderen Themen, die nicht zu den herausragenden gehören, gibt es zum Teil interessante Unterschiede in der Sicht einzelner Wählergruppen und auch von Gruppen unterschiedlicher Sozialstruktur. So steht das Problem Rechtsextremismus/Rechtsradikale, das 1993 im Westen immerhin von 12% aller Befragten und im Osten von 10 % als eines der zwei wichtigsten genannt wird, bei den Anhängern von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowohl im Westen (21%) als auch im Osten (17%) deutlich häufiger im Vordergrund. Das Thema wird vor allem auch von jüngeren Wählern sehr viel häufiger genannt als in der Gesamtheit, und es gibt auch einen klaren Zusammenhang von formaler Bildung und Wichtigkeitseinstufung dieses Problembereichs. Dies führt dazu, daß jüngere, formal Hochgebildete diesem Thema die absolut größte Wichtigkeit beimessen, so daß jeder vierte dieser Gruppe im Westen und jeder fünfte im Osten Rechtsradikalismus 1993 als ein Top-Thema empfindet.
Ein weiteres interessantes Thema, das unterschiedlich häufig genannt wird, ist die Politik-oder auch Parteienverdrossenheit, die im Westen 9 % im Jahre 1993 spontan artikulieren, im Osten allerdings nur 4%. Es sind wiederum die Wähler, die den Republikanern ihre Stimme geben wollen, die dieses Thema sowohl im Westen wie im Osten weit häufiger nennen als alle anderen (Westen: 14%, Osten: 8%). Im Westen sind es allerdings auch solche, die nicht wählen wollen (12%). Überproportional häufig kommt dieses Thema im Westen auch von Wählern, die sich seit 1990 nach ihren eigenen Angaben von den großen Parteien abgewandt haben.
Ein anderes Thema, das vor der deutschen Einheit die Agenda für einige Zeit angeführt hatte, ist der Umweltschutz. 9% im Westen setzen dieses Problem an die Spitze, im Osten, wo die tatsächlichen Umweltprobleme sicherlich noch größer und dringlicher zu lösen sind als im Westen, nennen es nur 4%. Das Thema hatte nach der Bundestagswahl 1990 vorübergehend im Westen noch eine kleine Chance, nicht völlig verdrängt zu werden, aber mit dem Aufstieg der Asyl-und Ausländer-problematik bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs von ökonomischen Problemen konnte der Umweltschutz nur noch ein Problem minderer Wichtigkeit sein.
Dies wird nicht von allen Bevölkerungsteilen so gesehen. Die Anhänger von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nennen Umweltschutz im Osten wie im Westen etwa doppelt so häufig wie der Durchschnitt aller Befragten, Frauen im Westen ebenfalls deutlich häufiger als Männer; im Osten tauchen diese Differenzen nicht auf. Die stärkere Relevanz dieses Themas für jüngere Wähler ist jedoch wiederum in beiden Teilen Deutschlands sehr klar zu erkennen. Die Wichtigkeit von Umweltschutz nimmt kontinuierlich ab, je älter dieBefragten sind. Trotz dieser graduellen Unterschiede in einzelnen Gruppen wird deutlich, daß in Zeiten großer ökonomischer Probleme und damit materieller Unsicherheit immaterielle Zielsetzungen, und als eine solche wird Umweltschutz immer noch angesehen, in den Hintergrund treten.
IV. Die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage
Abbildung 4
Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (Ost). Abbildung 4: Einschätzung der allgemeinen und der eigenen Wirtschaftslage durch die Wahlberechtigten (Ost) (in Prozent)
Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (Ost). Abbildung 4: Einschätzung der allgemeinen und der eigenen Wirtschaftslage durch die Wahlberechtigten (Ost) (in Prozent)
Aus dem bisher dargestellten Meinungsbild der Bevölkerung wird deutlich, daß die ökonomischen Probleme und deren Lösung in der Bundesrepublik derzeit sehr stark im Vordergrund stehen.
Die allgemeine wirtschaftliche Lage im Westen, die im Januar 1991 noch 75 % der Westdeutschen als gut bezeichneten, sehen seit Mitte 1993 nur noch etwa 10% als gut an. Die eigene wirtschaftliche Lage wird zwar ebenfalls schlechter beurteilt als zu Beginn der Legislaturperiode, aber hier ist der Rückgang keinesfalls gravierend (s. Abb. 3).
Im Osten zeigen die Einschätzungen über die zurückliegenden drei Jahre vergleichsweise geringe Veränderungen. Die allgemeine wirtschaftliche Lage wird allerdings zu Beginn des Wahljahres 1994 weniger schlecht beurteilt als 1991. Die eigene wirtschaftliche Lage wird über den gesamten Zeitraum tendenziell immer besser eingestuft, wobei dies auf deutlich niedrigerem Niveau als im Westen geschieht (s. Abb. 4).
In beiden Teilen Deutschlands gibt es danach eine große Diskrepanz zwischen der Sicht der allgemeinen wirtschaftlichen Situation und der Beurteilung der persönlichen wirtschaftlichen Lage. Welche dieser beiden Einschätzungen letztlich bei der Wahlentscheidung die größere Rolle spielt, ist ein unentschiedener Streit. Ebensowenig eindeutig ist, ob Wähler retrospektiv entscheiden oder ob sie sich von Erwartungen lenken lassen
Man kann argumentieren, daß die vertrauenswürdigeren Informationen für die Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Lage vorliegen, nämlich die eigenen Erfahrungen. Bei der Bewertung der allgemeinen Situation ist man weitestgehend auf Fremdinformationen durch die Medien oder andere mehr oder weniger glaubwürdige Vermittlungsagenten angewiesen, zum Beispiel die Parteien oder auch die Regierung, die sich wiederum durch die Medien mitteilen. Dies würde eher für eine Orientierung an der persönlichen Situation als Entscheidungskriterium sprechen. Wenn jedoch die Wähler ihre eigene wirtschaftliche Lage und vor allem deren zukünftige Entwicklung sehr stark in Abhängigkeit von der allgemeinen Prosperität sehen, dann wird es vor allem darauf ankommen, wer als kompetent für die Bewältigung der ökonomischen Probleme angesehen wird. Rund die Hälfte der Wähler im Osten wie im Westen sieht ihre eigene ökonomische Lage nicht in Abhängigkeit davon, wer in Bonn regiert (Politbarometer Januar 1994). Es verbleibt aber immerhin die andere Hälfte, für die es einen gewissen (33%) oder sogar großen (13%) Unterschied macht, welche Regierung die Entscheidungen in Bonn fällt.
Ohne Zweifel gilt für den Einfluß der ökonomischen Probleme auf die Wahlentscheidung, daß Elemente, die sich aus der Bilanz der bisherigen Leistungen der Parteien bzw.der Regierung und Opposition ableiten, Ausstrahlung haben auf die zugeschriebenen Kompetenzen für die Lösung anstehender oder erwarteter Probleme und daß das Ergebnis sowohl auf die allgemeine als auch auf die persönliche Lage projiziert wird.
Was die Bewältigung von wirtschaftlichen Problemen anbelangt, bestand in der Vergangenheit die mehrheitliche Meinung, daß diese eher von den Christdemokraten und von den Liberalen gelöst werden könnten als von den Sozialdemokraten. Aber gerade dies hat sich geändert.
Zunächst aber soll als eine Einflußkomponente die Zufriedenheit mit den Leistungen von Regierung und Opposition in den abgelaufenen drei Jahren seit der Bundestagswahl 1990 dargestellt werden. Dieses Globalurteil durch die Wähler fällt für beide -Regierung und Opposition -ziemlich schlecht aus (s. Abb. 5). Die positive Beurteilung der Leistungen der Regierung ging unmittelbar nach der Wahl 1990 stark zurück, nachdem deutlich wurde, daß die im Wahlkampf gemachten Versprechungen nicht zu halten waren. Die Abwärtsbewegung vollzog sich im Osten noch rascher als im Westen. Daß die Opposition daraus Nutzen ziehen konnte, entsprach dem normalen Wechsel in einer funktionierenden Demokratie -die Regierung verliert, die Opposition gewinnt. Mit Beginn des Jahres 1992 setzte jedoch eine bis dahin unbekannte Entwicklung ein: Die Leistungsbeurteilung für die Regierung wurde immer schlechter, aber nahezu parallel dazu fiel auch die für die Opposition. Eine SPD-geführte Regierung wurde also nicht mehr als Alternative betrachtet. In dieser Zeit stieg auch die Zahl derjenigen, die angaben, sich nicht mehr an der Wahl beteiligen zu wollen, und die Bereitschaft, der Unzufriedenheit mit den großen Parteien durch die
Unterstützung von Parteien am Rand des politischen Spektrums Ausdruck zu verleihen 6.
Seit 1993 kann die Opposition ansatzweise von der Schwäche der Regierung profitieren, trotzdem bleibt die Bilanz eine sehr unbefriedigende Beurteilung beider Alternativen. Dies bestätigen die Antworten auf eine andere Frage zur Leistungsbeurteilung: Im Januar 1994 sind 61 % der Bundesbürger der Meinung, die Bundesregierung mache ihre Sache eher schlecht (eher gut: 34%). Aber nur 29% aller Deutschen meinen, eine SPD-geführte Regierung würde ihre Sache besser machen; 57 % meinen, es würde sich nichts ändern (Politbarometer 1/94).
V. Die Einschätzung der Wirtschaftskompetenz
Abbildung 5
Abbildung 5: Zufriedenheit mit Regierung und SPD Opposition (Mittelwerte auf +/— 5-Skala) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer.
Abbildung 5: Zufriedenheit mit Regierung und SPD Opposition (Mittelwerte auf +/— 5-Skala) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer.
Das vorherrschende Urteil am Jahresanfang 1994 über die Regierungsparteien und die SPD als Alternative ist eher negativ. Die Frage ist, ob dies auch im Hinblick auf die zu lösenden wirtschaftlichen Probleme im Osten wie im Westen gilt, die ja aus der Sicht der Wähler die derzeit wichtigsten überhaupt sind.
Im Osten ging der Kompetenzvorsprung der Regierung zur Lösung der dortigen wirtschaftlichen Probleme, der bei der Bundestagswahl 1990 ein mit-entscheidender Einflußfaktor war, sehr schnell verloren, ohne daß die Opposition danach eindeutig als die kompetentere Kraft angesehen worden wäre. Erst seit Mitte 1992 meinen die Ostdeutschen, durch eine SPD-geführte Regierung könnten die Probleme eher gelöst werden. Gleichzeitig nahm aber auch die Zahl derjenigen zu, die davon ausgehen, daß weder die jetzige Regierung noch die Opposition in der Lage sind, die Probleme zu lösen. Diese Gruppe ist zeitweilig sogar die stärkste überhaupt gewesen. Im Januar 1994 ist allerdings der Kompetenzvorsprung einer SPD-geführten Bundesregierung (38%) vor der jetzigen Bundesregierung (21%) etwas deutlicher geworden (s. Abb.
Die Westdeutschen haben die Lösungskompetenz der alternativen Regierungen für die wirtschaftlichen Probleme in Ostdeutschland lange Zeit anders beurteilt. Bis Frühjahr 1992 sah man diese eindeutig bei der Bonner Koalition. Ab diesem Zeitpunkt näherten sich die Kompetenzzuschreibungen an die beiden alternativen Regierungen stark an, gleichzeitig meinten aber auch mehr Westdeutsche als zuvor, die anstehenden Probleme könne keine lösen. Erst seit Sommer 1993 sehen auch die Westdeutschen eine SPD-geführte Regierung als besser geeignet an, die wirtschaftlichen Probleme im Osten zu lösen (s. Abb. 7).Der dritte und sehr wichtige Faktor der Beurteilungen betrifft die wirtschaftlichen Probleme im Westen, deren Relevanz in den Antworten auf die offene Frage nach den Problemen in Deutschland deutlich geworden ist. Bis zum Sommer 1993 blieb ein Kompetenzvorsprung der jetzigen Bundesregierung für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Westen vor einer SPD-geführten Regierung bestehen, wenngleich dieser Vorsprung zeitweise nur noch gering war. Seit Herbst letzten Jahres verändert sich dieses Bild.
Einer SPD-geführten Regierung wurde im September 1993 von den Westdeutschen erstmals mehr Problemlösungsfähigkeit in der Wirtschaft zugetraut, und seit Dezember ist dieser Vorsprung signifikant. Im Januar 1994 meinten 41 % der Befragten im Westen, die wirtschaftlichen Probleme hier seien eher von einer SPD-geführten Regierung zu lösen, 30% sahen die Kompetenz eher bei der jetzigen Regierung, 12 % trauten weder der einen noch der anderen Regierung eine Lösung zu, 7% sahen keinen Unterschied in den Fähigkeiten der angebotenen Alternativen, und 9% konnten oder wollten die Frage nicht beantworten (s. Abb. 8). Das ist noch nicht die Morgenröte für die Sozialdemokraten, aber es signalisiert eine schlechte Ausgangsposition für die Regierung zu Beginn des Superwahljahres.
Bei den letzten drei Bundestagswahlen hat sich die Beurteilung der Wirtschaftskompetenz in der Schlußphase vor der Wahl immer zugunsten der Koalitionsregierung entwickelt, allerdings wurde die Gesamtsituation für die Regierungsparteien auch immer sehr viel günstiger beurteilt als derzeit.
Noch befindet sich die Bundesrepublik nicht in dieser Schlußphase vor der Wahl, aber bei den vielen Urnengängen dieses Jahres ist letztlich permanenter Wahlkampf in Deutschland. Dieser Wahlkampf wird beherrscht sein von Situationsdeutungen aller Beteiligten, insbesondere aber der Parteien und der Medien -und was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, wird deren Deutung von der Beschönigung bis zur Schwarzmalerei reichen. Dies wird weitgehend unabhängig davon sein, wie sich die Wirtschaft tatsächlich entwickelt. Einem deutlichen Aufwärtstrend sind angesichts der Weltmarktsituation und deren Ausstrahlung auf die Bundesrepublik, der strukturellen Arbeitsmarktprobleme in Deutschland und der Notwendigkeit anhaltender Transferzahlungen in den Osten Grenzen gesetzt. Für einen Großteil der bisherigen Anhänger der Regierungsparteien könnte aber bereits die begründete Vermutung für eine positive Wirtschaftsentwicklung genügen, um in den Schoß der Gemeinde zurückzukehren. Aufkommender Optimismus (war auch schon im Januar zu erkennen: 32% der Westdeutschenmeinen, daß es mit der Wirtschaft wieder aufwärts geht (vor einem halben Jahr waren das nur 13 %), und unter den Anhängern der Regierungsparteien ist es schon fast die Hälfte, die den Silberstreifen am Horizont zu erkennen glaubt. Konterkariert wird diese Entwicklung durch die Erfahrung der einzelnen mit höheren Sozialausgaben, höherer Arbeitslosigkeit, höheren Preisen und durch sinkende Einkommenserwartungen zu Beginn dieses Jahres. Der Time-lag zwischen allgemeiner Wirtschaftsentwicklung und Entwicklung der persönlichen wirtschaftlichen Situation, der immer besteht, wirkt in dieser Phase nicht entlastend für die Regierung. Andererseits sind die Wähler durch die zurückliegende Diskussion über notwendige persönliche Einschränkungen vorbereitet; sie akzeptieren weitgehend diese Einschränkungen, und die Reaktionen werden deshalb nicht zu heftig sein.
VI. Die politische Agenda 1994
Abbildung 6
Abbildung 6: Kompetenz zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Osten nach Einschätzung der Wahlberechtigten (Ost) (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (Ost).
Abbildung 6: Kompetenz zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Osten nach Einschätzung der Wahlberechtigten (Ost) (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (Ost).
Was die Wähler bewegt, sind Ereignisse, die ihre Situation oder ihre Interessen berühren. Sie entnehmen sie in der Regel den Medien, vor allem dem Fernsehen, bei höherem politischen Interesse und höherer formaler Bildung stärker den Print-medien, zum kleinen Teil auch dem Radio; in den seltensten Fällen erleben die Wähler diese Ereignisse selbst. Die Konkurrenz der Medien und der Akteure sorgt dabei für eine einigermaßen objektive Berichterstattung. Die Trennung von Darstellung und Interpretation, von Information und Meinung bleibt ein grundsätzliches Problem dabei. Insbesondere die politischen Akteure versuchen, die Agenda zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Regierung hat dabei normalerweise die größeren Möglichkeiten, Anlässe zu schaffen und Themen zu setzen. Die Volksparteien versuchen, Probleme, die die Klientel der Parteien trennen könnten -sogenannte position issues -zu vermeiden, weil sie diese nicht ausreichend steuern können, oder sie zumindest in sogenannte valence issues umzudeuten. Bei dieser Art von Problemen geht es dann nicht mehr um die grundsätzliche Verfolgung oder Ablehnung dieses Ziels, sondern nur um den Weg, wie ein Ziel erreicht werden kann. Bei all diesen Versuchen und sicherlich auch objektiven Möglichkeiten der Einflußnahme wird es den Parteien 1994 kaum gelingen, eine grundsätzliche Veränderung der Agenda zu erreichen.
Man darf davon ausgehen, daß die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland im Wahljahr 1994 die öffentliche Diskussion nachhaltig beschäftigen werden. Insbesondere die strukturellen Probleme der Arbeitslosigkeit und die daraus erwachsenden Fragen der Verteilung der Arbeit werden kaum durch andere, von den Parteien in den Vordergrund gerückte Probleme verdrängt werden. Die Gerechtigkeitsdiskussion um die Verteilung der Lasten aus der Einheit wird ebenfalls anhaken. Auch die Fragen der Zuwanderungen in die Bundesrepublik werden nicht von der Tagesordnung verschwinden, wenn sie auch nicht mehr die Brisanz des Jahres 1992 erreichen werden. Die Zunahme der Kriminalität, die objektiv aus vielfältigsten Ursachen heraus im Steigen begriffen ist und subjektiv in den letzten beiden Jahren als Bedrohung des einzelnen stärker empfunden wird als je zuvor, wird ein wichtiges Feld der Auseinandersetzung sein. Aus Anlaß der Europawahl wird auch der Prozeß der europäischen Integration und der für die Bundesrepublik daraus erwachsende Nutzen neu und schärfer diskutiert werden. Auch die Probleme der gewachsenen Verantwortung eines größeren Deutschlands in der Welt werden Teil der politischen Agenda sein, ohne wirklich eine wichtige Rolle zu spielen, wenn es nicht noch zu unvorhergesehenen, die Bundesrepublik involvierenden außenpolitischen Ereignissen kommt.
Personaldiskussionen werden die großen Parteien vermeiden, weil sie dem politischen Gegner zuviel Angriffsfläche bieten; außerdem bringen sie zeitlich keine allzu große Entlastung von den unvermeidlichen Themen. Für die Wähler haben Auseinandersetzungen um Personen durchaus einen Unterhaltungswert, insbesondere wenn sie über das Medium Fernsehen präsentiert werden, aber keinen lang anhaltenden Informationswert, wenn der Konflikt nicht mit Themen verbunden ist, die sie berühren.
Die Parteien werden versuchen, die wichtigen Themen zeitlich so zu lenken, daß sie diese mit positiven Zuordnungen zu ihren Kandidaten verbinden können und diese möglichst oft auch über die elektronischen Medien anbieten Es wird ein reiches Informationsangebot geben, viele mit Unterhaltungselementen vermischte Informationen, sogenanntes Infotainement, und sicherlich auch eine höhere Mobilisierung der Wählerschaft, als dies die Daten zu Beginn des Wahljahres anzeigen. Trotzdem werden sich die Wähler auch in diesem Bombardement der versuchten Einflüsse zu schützen wissen, indem sie schon aus ökonomischen Gründen nur die Informationen aufnehmen, zu denen bereits Aufnahme-und Verarbeitungsraster vorhanden sind, die wiederum von ihren Interessen und persönlichen Zielen gesteuert werden.
Dieter Roth, Dipl. -Volksw., Dr. phil., geh. 1938 in Ludwigshafen; Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen e. V., Mannheim; Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Die deutsche Einheit und die Wahlen der Jahre 1989-1992 in: Handbuch der deutschen Einheit, Bonn 1993; (Hrsg. zus. mit Wilhelm Bürklin) Das Superwahljahr. Deutschland vor unkalkulierbaren Regierungsmehrheiten?, Köln 1994.
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