Flucht und Vertreibung in Afrika im Schatten der internationalen Policy-Krise. Das Beispiel Sudan
Carola Reißland
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Zusammenfassung
Der Sudan ist ein arabisch-afrikanischer Mikrokosmos des Kontinents und gleichzeitig flächengrößter Staat Afrikas. Seit über drei Jahrzehnten herrscht im Land Bürgerkrieg. Zur Erklärung dieses brutal ausgetragenen Konflikts werden oft die ethnisch-religiösen Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden des Landes herangezogen. Ethnische Pluralität und verschiedene Glaubensüberzeugungen aber sind typisch für den afrikanischen Kontinent. Diese Vielfalt an sich ist keine Konfliktursache -allerdings können Konflikte geschürt und verschärft werden, indem bestimmten Gruppen das Recht auf gleiche Partizipationschancen verwehrt wird. Die Lage der sudanesischen Zivilbevölkerung ist gekennzeichnet durch Vertreibung, Flucht und die Bedrohung durch den Hungertod. Während für ganz Ostafrika unter Umständen schon in wenigen Wochen mit einer Hungerkrise gerechnet werden muß, die ihrerseits den Zyklus von Vertreibung und Flucht verstärken wird, kommt das Engagement für internationale politische Initiativen oft zu spät. Eine Lösung dieses wie auch anderer Konflikte auf dem Kontinent wird nur zu erreichen sein, wenn es gelingt, einen ausgleichenden Frieden zwischen den kämpfenden Parteien herzustellen. Gefordert ist hier die politische Vorsorge anstelle der humanitären Nachsorge.
I. Einleitung
Wenn Salim A. Salim, Generalsekretär der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), zum 20. Jahrestag des Inkrafttretens der OAU-Konvention über Flüchtlinge am 20. Juni 1994 geschrieben hat, es sei seine feste Überzeugung, das afrikanische Flüchtlingsproblem werde in naher Zukunft eher ein historisches Phänomen sein denn ein fortbestehendes Problem, so entspringt dieser enorme Optimismus vielleicht dem unbedingten Willen, den Kontinent nicht als verloren aufzugeben.
Die Zahlen aber sind niederdrückend. Von weltweit 20 Millionen Flüchtlingen gibt es sechs Millionen in Afrika. Noch alarmierender ist die Entwicklung der Binnenvertreibung in Afrika: Von jenen 25 Millionen Binnenvertriebenen weltweit, die aus unterschiedlichen Gründen keine internationalen Grenzen überschreiten, sind allein in Afrika mehr als 15 Millionen Flüchtende in ihren eigenen Heimatländern vertrieben
Eine Analogie zwischen diesen niedrig geschätzten Zahlen und dem enormen Potential für bewaffnete Konflikte auf dem Kontinent ist unbestreitbar Die meisten Kriege sind heute, anders als in der Vergangenheit, innerstaatliche Konflikte, während bestehende Sicherheitssysteme auf mögliche zwischenstaatliche Auseinandersetzungen gerichtet sind Genauso wie es eine Diskrepanz zwi-sehen Sicherheitssystemen und Realität gibt, existiert eine gewaltige Lücke zwischen dem heute bestehenden Flüchtlingsrecht und der Tatsache, daß die internationale Staatengemeinschaft nur mangelnde Eingriffsmöglichkeiten besitzt, dem massiven Problem der Binnenvertreibung, die auf fremden Territorien verursacht und forciert wird, vorzubeugen.
Die internationale Gemeinschaft -wollte sie denn eine Einmischung erwägen -besitzt mit den Grundlagen des Völkerrechts, so wie es heute existiert, eine nur unzureichende Handhabe, früh-und damit rechtzeitig in innere Konflikte einzugreifen, um künftige Flüchtlingsströme einzudämmen. Setzt dies erst einmal Handlungsbereitschaft voraus, wie sie im Falle Ruandas gefehlt hat, so ist sie dennoch ungenügend vorbereitet für den Zeitpunkt, zu dem sie erkennen muß, daß die humanitäre Nachsorge, die heute betrieben wird, kein Modell mehr sein kann für die Zukunft.
Auf Platz eins der Länder, die Binnenvertriebene hervorbringen, steht der Sudan Dort gibt es eine akute Fluchtkrise -unheilvoll kombiniert mit einer drohenden Hungerkatastrophe. Über dieses Land, obwohl flächengrößter Staat in Afrika, wird immer noch vergleichsweise wenig berichtet. Der Mangel an Öffentlichkeit und Information scheint einherzugehen mit der fehlenden Bereitschaft, notabene in Verantwortung der einzelnen UN-Mitgliedstaaten, einen innenpolitischen Ausgleich zwischen den Bürgerkriegsparteien handelnd einzufordern.
Allein befriedete Verhältnisse im Land böten für die Zukunft eine Grundlage dafür, große interne und externe Fluchtbewegungen zu verhindern. Haben sie erst die Krisenausmaße wie nun in Ruanda erreicht, sind die Auswirkungen der Flucht auch mit humanitärer Hilfe nur schwierig aufzufangen, geschweige denn kurzfristig wieder rückgängig zu machen. Ein Ende der Konflikte zwischen dem muslimisch geprägten Norden und dem animistischen und christlichen Süden ist nicht abzusehen; im Gegenteil, die Menschenrechtssituation hat sich nach einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters Gäspär Birö vom Februar dieses Jahres weiter verschlechtert.
Menschenrechtsverletzungen gehören zu den Hauptfaktoren, die Flucht auslösen, sei es über nationale Grenzen hinweg oder aber innerhalb des Landes. Fast 400000 Sudanesen, die in Nachbar-staaten Zuflucht suchen, werden derzeit vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) versorgt Die tatsächliche Anzahl der über die Grenzen geflüchteten Sudanesen dürfte allerdings um einiges höher liegen. Der Sudan beherbergt seinerseits 635000 Flüchtlinge hauptsächlich aus Eritrea, Äthiopien und dem Tschad
Von außen unkontrolliert aber ist das noch schwerwiegendere Problem der Binnenvertreibung in diesem 2, 5 Millionen Quadratkilometer großen Staat. Derzeit gibt es vier Millionen Binnenvertriebene im Sudan -sie sind Flüchtlinge im eigenen Land. Nur in Südafrika, wo eine Jahrzehnte währende Apartheidpolitik Menschen in künstliche Homelands gedrängt hat und wo Vertreibung systematisch verfolgtes Ziel der ehedem weißen Minderheitsregierung war, gehört eine gleich große Anzahl Binnenvertriebener zum Erbe Nelson Mandelas.
Die Lage der sudanesischen Zivilbevölkerung, über die diese Zahlen ein nur anonymisiertes Bild vermitteln -die Situation eines Volkes, das zudem unter den Auswirkungen mehrerer Dürreperioden leidet ist Anlaß für den nachfolgenden Aufsatz. Er soll im ersten Teil die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Sudan beleuchten ein schließlich der vermeintlich ethnischen Wurzeln des innerstaatlichen Konflikts, in dessen Folge große Fluchtbewegungen entstanden sind. Der zweite Teil wird Rekurs nehmen auf die derzeitige Flucht-und Flüchtlingssituation in Afrika sowie Vorschläge unterbreiten, welche politische Entwicklung international eingeleitet werden müßte, um diese globale Herausforderung künftig zu bestehen.
II. Ethnisch-religiöse Identifikationsmuster im Sudan: Pluralität und Fragmentierung
Abbildung 3
Tabelle 1: Flüchtlinge und Asylsuchende in Afrika, die Schutz und/oder Unterstützung benötigen (Stand 31. Dezember 1993)
Tabelle 1: Flüchtlinge und Asylsuchende in Afrika, die Schutz und/oder Unterstützung benötigen (Stand 31. Dezember 1993)
Der Sudan ist siebenmal größer als das vereinte Deutschland. Geographisch gehört er zu Nordostafrika und besitzt acht Landesgrenzen. Im Norden liegt Ägypten; im Osten gibt es mit dem Hafen Port Sudan einen Zugang zum Roten Meer und die Landesgrenze zu Äthiopien; im Süd$n ist er begrenzt durch Kenia, Uganda und Zaire, im Westen durch die Zentralafrikanische Republik und den Tschad, im Nordwesten durch Libyen (vgl. Karte, S. 26).
Einer sudanesisch-regierungsamtlichen Volkszählung von 1992 zufolge wird die Bevölkerung des Sudan auf 27 Millionen Menschen geschätzt. Das Land ist also verglichen mit seiner Größe dünn besiedelt. In der nördlich gelegenen Hauptstadt Khartoum und an ihren Randgebieten existieren große Flüchtlingslager; man spricht allein hier von einer fast 1, 9 Millionen Menschen umfassenden Flüchtlingsbevölkerung
Das Land der „Schwarzen“, was Sudan übersetzt bedeutet, ist immer wieder als afrikanisch-arabischer Mikrokosmos des Kontinents bezeichnet worden. Positiv gefaßt, kann man es als kulturell ungemein vielfältiges Land beschreiben. Das negative Pendant dieser Charakterisierung ist die Struktur der ethnisch stark heterogenen Bevölkerung. Es können 56 Hauptethnien und 597 Unter-gruppierungen unterschieden werden. Repetiert wird immer wieder die Spaltung zwischen dem arabisch-muslimischen Norden und dem afrikanisch-christlichen Süden, was einer groben Verallgemeinerung gleichkommt.
Zutreffender ist, auch wenn bzw. weil die Konfliktlinien nicht klar anhand ethnisch-religiöser „cleavages“ gezogen werden können, daß Sudanesen multikultureller Herkunft sind. Nicht die kulturelle Vielfalt hat zu bestehenden Konflikten geführt, sondern vielmehr schürt und verschärft das Beharren auf vermeintlich klaren Trennungslinien zwischen arabisierten Muslimen und schwarzafrikanischen Animisten und Christen das Konfliktpotential im Land.
Entlang religiöser Identifikationsmuster sind etwa 73 Prozent der Bevölkerung sunnitische Muslime Mag man darauf verweisen, daß dies mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung sind, so ist dennoch um so wichtiger, daß neben dieser muslimischen Mehrheit -aus der bislang alle sudanesischen Regierungen hervorgegangen sind, und zwar sowohl die wenigen religiös-zivilen als auch die Militärregierungen -nahezu 30 Prozent der sudanesischen Bevölkerung (etwa 17 Prozent Animisten, neun Prozent Christen, ein Prozent andere) anderen Religionen angehören. Dieses demographische Verhältnis bedeutet zugleich, daß die Interessen dieser zusammengenommen konfliktstarken Minderheit von keiner noch so starken bzw. repressiven Militär-Zentralregierung ignoriert werden können. Politisch betrachtet, hat dieses Kräfteverhältnis bislang zu einer Patt-oder auch No-Win-Situation geführt.
Betrachtet man die ethnische Zugehörigkeit, so gibt es schon geringer werdende Mehrheitsverhältnisse im Land: 49 Prozent sind Sudanesen, die sich als „arabisch“ bezeichnen zwölf Prozent insge samt der eigentlich südsudanesischen Bevölkerung gehören dem Stamm der Dinka an, sechs Prozent sind Beja, fünf Prozent Nuer, drei Prozent Azande und jeweils zwei Prozent sind Bari, Für und Shilluk, die Lotuko machen ein Prozent der Bevölkerung aus. Die übrigen ethnischen Gruppen haben Zugehörigkeiten unter ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Während Arabisch von 51 Prozent der Bevölkerung gesprochen wird, sprechen etwa zehn Prozent Dinka. Weitere, von zwischen fünf und zwei Prozent der Bevölkerung gesprochene Sprachen sind Beja, Nuer, Für, Zande. Darüber hinaus existieren noch etwa hundert andere Sprachen im Sudan.
Was außerhalb Afrikas allzu leicht vergessen wird, ist, daß die Identitätsmuster der Bevölkerung nicht entlang nationaler, aus der Kolonialzeit rührender Grenzen verläuft. Wie man jetzt in Ruanda und Burundi erkennen kann, erhält die tribale Zugehörigkeit zu den Tutsi und den Hutu, die in beiden Ländern vertreten sind, je nach politischem Kontext und insbesondere in Konflikten weit stärkeres Gewicht, oder aber sie wird trotz anderer den Konflikten zugrundeliegender Ursachen vorgeschoben. In Krisensituationen sind Fluchtbewegungen in Nachbarländer mit Bevölkerungsanteilen gleicher oder verwandter Stammeszugehörigkeiten wahrscheinlich. Dies trifft auch auf den Sudan zu. Verwandte tribale Gruppen existieren vor allem in Äthiopien, Kenia, Uganda und Zaire -in jenen Ländern also, die heute die meisten sudanesischen Flüchtlinge beherbergen.
Seit der sudanesischen Unabhängigkeit im Jahr 1956 werden ethnische und religiöse Unterschiede immer wieder als einander ausschließende Gruppenkonzepte vorgestellt. Tatsächlich sind Teile der Bevölkerung entlang der unterschiedlichen „cleavages“ miteinander verschmolzen. Dennoch sind zum Beispiel die ethnischen Zugehörigkeiten nicht irrelevant geworden, sondern werden in inneren Konflikten um so stärker in den Vordergrund geschoben. Dies ist mit Unterbrechungen im nunmehr mehr als fünfunddreißigjährigen Bürgerkrieg die Situation im Sudan.
Viele der kleineren Stämme stehen als politische Konfliktgruppe im Hintergrund, teils aufgrund fehlender Organisation, teils weil sie sich wechselnd größeren „Koalitionen“ anschließen. Hierin liegt einer der Gründe, warum sich die beliebte Nord-Süd-Grobunterscheidung so hartnäckig hält: Damit ist weder eine Aussage zum politischen Verhalten der betreffenden Gruppierungen noch zum politischen Kräfteverhältnis im Sudan getroffen. Kleinere Gruppen sind deshalb politisch nicht ohne Bedeutung, da eine nationale oder regionale Politik, die die Interessen dieser Verbände übergeht, durch die spezifischen Loyalitätsbindungen immer wieder an die Grenzen ihrer Durchsetzungsfähigkeit stößt und ihr so die allgemeine Legitimationsbasis entzogen ist
Kleinere Gruppen sind lokalen Autoritäten verpflichtet -eine Tatsache, der vor dem militärischen Engagement in Somalia zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dies wird bei einer pluralen Landesstruktur gerade in Situationen, in denen eine Zentralmacht auseinanderbricht, um so wichtiger. Clan-Chefs zu übergehen, die die Interessen ihrer Gruppen bündeln können, beruht auf einer Fehleinschätzung der Autoritätsbindung -dies gilt auch für militärisch unterstützte humanitäre Interventionenen, in deren Vorfeld geklärt sein sollte, mit wem etwaige Verhandlungen zu führen sind.
Ethnische Heterogenität allein wirkt nicht destabilisierend. Als ethnische Fragmentierung kann sie aber vor allem in Gesellschaften mißbraucht werden, in denen dominante Gruppen (vor) herrschen und ungenügende Garantien für eine politische Partizipation von Minderheiten existieren Lange bevor nationale Grenzen existierten, hat es eine Vermischung von Arabern und autochtoner afrikanischer Bevölkerung gegeben, die über Jahrhunderte hinweg anhielt. Mit der Unabhängigkeit und der Vorherrschaft des arabisierten Nordens wirkt das inklusive Moment der Mehrheitsreligion Islam nicht verbindend, sondern exklusiv, indem es signifikante Minderheiten ausschließt, die der jeweiligen Herrschaftsgruppe nicht angehören.
Man sollte jedoch nicht glauben, mit der Aufzählung der verschiedenen ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten auch den Schlüssel zur Analyse bestehender Konfliktlinien in Händen zu halten. Diese „cleavages“ sind keine statischen Gebilde, anhand derer bestimmte Überzeugungen oder gar konkretes politisches Verhalten klar abzuleiten wäre Es ist davon auszugehen, daß wechselnde Identifikationsmuster zu wechselnden Koalitionen führen werden, wobei Zweckbündnisse ebenso leicht wieder zerbrechen können. Was nach wie vor fehlt, ist die Etablierung eines pluralen politischen Systems, das sich an den pluralen gesellschaftlichen Verhältnissen orientiert.
III. Wendekreis der sudanesischen Politik
Abbildung 4
Tabelle 1: Flüchtlinge und Asylsuchende in Afrika, die Schutz und/oder Unterstützung benötigen (Stand 31.Dezember 1993) Quelle: U. S. Committee for Refugees, World Refugee Survey 1994, Washington 1994, S. 40.
Tabelle 1: Flüchtlinge und Asylsuchende in Afrika, die Schutz und/oder Unterstützung benötigen (Stand 31.Dezember 1993) Quelle: U. S. Committee for Refugees, World Refugee Survey 1994, Washington 1994, S. 40.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der Sudan in zirkulären Entwicklungen abwechselnd Militärregierungen oder aber exklusive muslimisch geprägte Zivilregierungen hervorgebracht hat: ein Land in permanenter Transition.
Zivile Regime gab es lediglich zwischen 1956 und 1958, zwischen 1964 und 1969 und zuletzt zwischen 1986 und 1989. Die Numeiri-Militärdiktatur hielt sich unter wechselnden Taktiken, wenn es ihr opportun erschien auch unter dem Banner des Islam, zwischen 1969 und 1986 fast 17 Jahre lang an der Macht. Der ihm folgende letzte zivile Regent Sadiq al-Mahdi, Führer der religiösen Ansar-Bewegung, wurde vom Militär unter Umar al-Bashir nach drei Jahren Amtszeit gestürzt. Al-Bashir hält bis heute die Macht in Händen. .
Drei zivile Regierungen, die sich jeweils der Demokratisierung des Landes verschrieben hatten, sind gescheitert. Nie ist es gelungen, ein funktionierendes parlamentarisches System im Sudan aufzubauen. Mit der Forderung nach Demokratie sind zweimal Militärdiktaturen gestürzt worden. Nachfolgende zivile Regierungen -allerdings immer von aus dem Norden stammenden religiösen Bewegungen gestellt -waren erheblich kurzatmiger als das Regiment der Offiziere und erschienen ihrerseits bald so unerträglich, daß sie durch anfänglich von der Bevölkerung sogar begrüßte Militärcoups beseitigt werden konnten.
Keiner Gruppierung ist es gelungen, eine konsens-tragende Verfassung zu entwickeln. Man muß heute bezweifeln, ob daran überhaupt ein Interesse bestanden hat oder ob nicht vielmehr die Erwartungshaltung auf seiten der jeweiligen Potentaten vorgeherrscht hat bzw. vorherrscht, daß eine repressive Politik gegenüber konfliktschwachen Teilen der Bevölkerung auch langfristig durchzuhalten ist. Hier ist ein Grund dafür zu finden, warum einigen Gruppierungen daran liegen muß, bestehende „cleavages“ sowie trennende oder spaltende Elemente der sudanesischen Gesellschaftsstruktur zu betonen. Wie die Bürokratie gehört „divide et impera“ zum kolonialen Erbe.
Eine konstruktive, auf Ausgleich zielende Entwicklung ist daher, wenn dieses Muster nicht durchbrochen wird, auch zukünftig nicht zu erwarten: weder für die enormen wirtschaftlichen Probleme des Landes noch für den in den achtziger Jahren erheblich brutalisierten Bürgerkrieg, noch für die resultierende Flüchtlingskrise und die damit einhergehenden Hungerkatastrophen sowie für den Tatbestand, daß im Jahr 1994 rund 15 Prozent der gesamten Bevölkerung innerhalb ihrer Landesgrenzen vertrieben und entwurzelt wurden.
IV. Die Lage der sudanesischen Zivilbevölkerung
Abbildung 5
Tabelle 2: Liste ausgewählter afrikanischer Staaten mit signifikanten Bevölkerungen von Binnenvertriebenen (Stand 31. Dezember 1993)
Tabelle 2: Liste ausgewählter afrikanischer Staaten mit signifikanten Bevölkerungen von Binnenvertriebenen (Stand 31. Dezember 1993)
Etwa 1, 9 Millionen Vertriebene, darunter auch viele Südsudanesen, leben in den Elendsbezirken Khartoums oder in Elendssiedlungen außerhalb der Stadt. Ein Großteil von ihnen ist seit Wieder-ausbruch der Kämpfe vor elf Jahren in die Hauptstadt gekommen. Die sudanesische Regierung versucht seit Jahren, diese Binnenvertriebenen aus Khartoum auch mit gewaltsamen Mitteln abermals zu vertreiben. 1992/93 wiesen die sudanesischen Behörden 700000 Menschen aus der Stadt. Der Abriß von Elendssiedlungen durch die Behörden wurde 1993 dadurch aufgehalten, daß es an Benzin für die Bulldozer fehlte
Zehntausende von Südsudanesen wurden nach einer Militäroffensive der Regierungstruppen von Anfang Februar 1994 gegen die oppositionelle Sudan People’s Liberation Army (SPLA) im Süden des Landes von neuem vertrieben. Die Menschen bewegten sich in Richtung kenianische Grenze, und nach Bombardierungen des sogenannten „Drei-A-Dreiecks“, das die Flüchtlingslager Ame, Atepi und Ashwe umfaßt, strömten 60000 Menschen in Richtung Uganda. Hunderttausende wurden innerhalb des Landes vertrieben. Unter den Folgen dieser militärischen Angriffe leidet vor allem die zivile Bevölkerung. Bei einem vergleichbaren Angriff 1993 hatte die Anzahl der Binnenver-triebenen schon um eine Million zugenommen. Im Februar 1994 strömten 1000 Menschen pro Tag in die grenznahen Flüchtlingslager
UN-Schätzungen zufolge hat die südsudanesische Bevölkerung aufgrund von Tod und Vertreibung um 30 Prozent abgenommen. Acht von zehn Südsudanesen sind seit Wiederausbruch des Bürgerkriegs 1983 mindestens einmal vertrieben worden. Der zuständige UN-Sonderberichterstatter warf sowohl der Regierungsarmee (die auf 60000 Soldaten geschätzt wird) als auch den SPLA-Truppen (etwa 40000 Bewaffnete) in den jeweils von ihnen kontrollierten Zonen „ernste und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen“ vor. Diese umfassen außergerichtliche einzelne wie auch Massen-hinrichtungen, „Verschwindenlassen“ und systematische Folterungen. Den Regierungsorganen werden Entführungen vorgeworfen, Frauenhandel, Sklaverei und Vergewaltigung. Kinder in süd-sudanesischen SPLA-Gebieten werden im Waffen-gebrauch trainiert, an die Front geschickt und zu Kundschafterdiensten mißbraucht.
Verhaftungen seitens der Regierung erfolgen, so der Sonderberichterstatter, aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in der SPLA. Betroffen sind unter den Intellektuellen Gewerkschafter, Rechtsanwälte, Journalisten, zivile Beamte und Studenten. Aufgrund dieser Lage empfiehlt das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, bei der Verhandlung von Asylanträgen im Ausland keine Abschiebungen von Südsudanesen nach Khartoum vorzunehmen und auf eine sorgfältige Einzelfallprüfung bei politisch aktiven Personen und Nichtmuslimen aus anderen Landesteilen zu achten
Auch die Ernährungslage hat sich seit Beginn der neunziger Jahre durch wiederholte Dürreperioden und aufgrund der Kämpfe fortdauernd verschlechtert. Beiden Kampfparteien wird vorgeworfen, Nahrungsmittellieferungen der internationalen Hilfsaktion „Operation Lifeline Sudan“ (OLS) gezielt zu behindern und so den Hunger noch zu verschärfen. Wie auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien wird hier sowohl von seiten der Regierung als auch von seiten der SPLA eine Obstruktionspolitik betrieben, die das Massensterben ihrer eigenen Bevölkerung nicht nur in Kauf nimmt, sondern geradezu forciert, sofern es den jeweiligen militärischen Zielen dient. Im Jahr 1992 wurde publik, daß die Khartoumer Regierung Zehntausende von Tonnen Hirse nach Libyen verkauft hatte, um dafür Waffen zu erwerben. Hier liegt eine der Schwachstellen des internationalen Systems: Es gelangen immer noch Waffenlieferungen in Kriegsgebiete -kurzfristig zum finanziellen Vorteil der Exporteure deren Folgen die internationale Gemeinschaft durch massive humanitäre Unterstützung nicht einmal mehr auffangen kann. Die zivile Bevölkerung im Sudan gerät immer wieder zwischen die Fronten und befindet sich dort in Geiselhaft jener Militärfraktionen, die selbst dringend benötigte Hilfe unterbinden, um das Leiden der Bevölkerung als Pfand für ihre Ziele auszunutzen. Sudan ist hier ein Beispiel von mehreren, wo der Genozid der Bevölkerung hingenommen wird.
UN-Schätzungen zufolge sind allein seit 1993 eine halbe Million Zivilisten an Hunger gestorben. Eine Studie von USCR -gibt an, daß seit 1983 mindestens 1, 3 Millionen Südsudanesen infolge von Krieg, kriegsbedingtem Hunger und Krankheit und infolge der von der Regierung verfolgten Politik gestorben sind Etwa vier Millionen sind derzeit akut vom Hungertod bedroht, und insgesamt 6, 5 Millionen Menschen -größtenteils aufgrund kriegsbedingter Ursachen sowie aufgrund von Ernteausfällen -benötigen noch im Laufe dieses Jahres Nahrungsmittelhilfe und humanitäre Unterstützung
V. Afrika zwanzig Jahre nach Inkrafttreten der OAU-Konvention
Als am 20. Juni 1994 der Afrikanische Tag des Flüchtlings begangen wurde, geschah dies möglicherweise kurz vor Ausbruch eines weiteren Massenexodus quer durch den Kontinent, wenn, wie jetzt zu befürchten ist, eine weitere Trockenperiode zu den zahlreichen Konflikten hinzukommt und die Ernte im August ausbleibt. Der 20. Juni ist zugleich der Tag, an dem vor zwanzig Jahren die Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit in Kraft trat. Über die Genfer Konvention von 1951 hinaus, die politisch Verfolgten Schutz verspricht, wird gemäß den OAU-Regelungen auch jenen Asyl gewährt, die infolge von „Aggression, Fremdbesetzung oder Vorherrschaft oder Ereignissen, die die öffentliche Ordnung stören“ *g*ezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen.
Ohne diese OAU-Konvention hätte schon längst der Aufschrei auch durch den industrialisierten Norden gehen müssen. Noch wird wie selbstverständlich darauf vertraut, daß einige der ärmsten Länder der Welt Millionen von Menschen Schutz und Unterstützung gewähren. Doch die Lücken im internationalen Flüchtlingsrecht und im internationalen humanitären Recht werden immer offenbarer. Zwar schützt die OAU-Konvention Menschen, die Bürgerkriegen entfliehen, und es steht nicht zwingend die individuelle politische Verfolgung im Vordergrund, wie sie für die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 maßgeblich ist. Beiden gemeinsam ist jedoch die Prämisse, daß Flüchtlinge internationale Grenzen überschritten haben müssen, bevor sie Subjekt der Konventionen werden und sodann Schutz und Asyl erhalten.
Existieren erst einmal Szenarien wie in Somalia oder heute in Ruanda und in den betroffenen Drittstaaten wie Tansania und Burundi, dann ist die Krise bereits auf ihrem Höhepunkt angelangt. Aus den übervölkerten Staaten wie Ruanda flüchten die Menschen aufgrund der Gewalt in die Nachbarländer. Die UN-Menschenrechtskommission bezeichnete die Greueltaten in Ruanda als „Akte des Völkermords“.
Anmerkung: Die Tabelle umfaßt eine Liste ausgewählter afrikanischer Staaten mit signifikanten Zahlen von Binnenvertriebenen. Sie wurden innerhalb ihrer Heimatländer aufgrund von Konflikten oder erzwungener Umsiedlung vertrieben. Obwohl sie viele Charakterika mit Flüchtlingen teilen, die internationale Grenzen überschreiten, stehen sie gemäß des internationalen Flüchtlingsrechts im allgemeinen nicht unter internationalem Schutz. Weil die Information über Binnenvertreibung bruchstückhaft ist, gibt die Tabelle nur Schätzungen wieder; Gesamtzahlen werden nicht angegeben. Die tatsächliche Anzahl der Binnenvertriebenen in Afrika liegt unzweifelhaft viel höher.
Quelle: Die Zahlen für Afrika wurden der weltweiten Statistik zu Binnenvertriebenen des U. S. Committee for Refugees entnommen (s. Tabelle 1; hier S. 30).
In Flächenstaaten wie dem Sudan durchqueren die meisten Menschen Tausende von Kilometern im eigenen Land, ohne die Staatsgrenzen zu verlassen. Entwurzelte Binnenvertriebene sind aber nicht weniger des Schutzes und der Unterstützung bedürftig als jene, die nationale Grenzen überschreiten. Mehr als 15 Millionen Binnenvertrie bene in Afrika sind potentielle Flüchtlinge. Sollten selbst jene vier Millionen sudanesischer Binnen-vertriebener keinen Ausweg mehr wissen als den, ihre Landesgrenzen zu überschreiten, um Schutz und Unterstützung zu erhalten, steht zu befürchten, daß sie dann auch an die Grenzen jener vielbeschworenen afrikanischen Großzügigkeit stoßen.
In Afrika mischen sich Migrationsprobleme, Flüchtlingskrisen, Vertreibung und Hungerkatastrophen wie auf keinem anderen Kontinent. Ruanda, Burundi, Angola, Mosambik, Liberia und das gesamte Horn von Afrika sind hier nur die augenfälligsten Konfliktherde. Sollte sich in Ostafrika, nachdem bereits im vergangenen Jahr Regenfälle ausgeblieben sind und schon jetzt Nahrungsmittelknappheit herrscht, auch dieses Jahr die Trockenperiode fortsetzen, dann sind quer durch Ostafrika, von Äthiopien bis Tansania, 20 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht, so der Vorsitzende der US-Agency for International Development, J. Brian Atwood Die Auswirkungen dieser Trockenperioden, die an sich schon schwer in den Griff zu bekommen sind, werden durch Kriegssituationen zusätzlich verschärft und beschleunigen so den Kreislauf von Flucht und Vertreibung. Besonders im Sudan, in Somalia und in Ruanda ist die Bevölkerung aufgrund kriegerischer Angriffe dem Hungertod um so näher. Die Tatsache, daß die US-Regierung 1, 5 Milliarden US-Dollar ausgegeben hat, um allein in Somalia Hunger und Anarchie einzudämmen, hat deutlich gemacht, wieviel notwendiger präventive Maßnahmen gegenüber jenen seien, mit denen man, Atwood zufolge, lediglich auf schon eingetretene humanitäre Krisen in Afrika reagiere.
VI. Den Vertreibungskreislauf durchbrechen: Einige Vorschläge zur präventiven Vorsorge
Im Juli 1994 haben die Kämpfe zwischen Tutsi und Hutu in Ruanda Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet Hätten Ressourcen, die für humanitäre Hilfe in Krisensituationen aufgewandt werden, nicht besser in präventive Hilfe investiert werden müssen? Hätte so das Massensterben in Ruanda verhindert werden können? Mögen auch Konjunktivdiskussionen hier müßig sein, so sind doch für kommende Konfliktsituationen Konsequenzen aus den Ereignissen in Somalia und in Ruanda zu ziehen und die Alarmzeichen im Sudan wahrzunehmen.
Die Parameter möglicher Eingriffsmöglichkeiten können schon jetzt abgesteckt werden. Sudan ist hier ein Beispiel von mehreren. Erfolgte zum jetzigen Zeitpunkt die dringende Unterstützung, so käme eine multilaterale Hilfskooperation bereits zu einem sehr späten Zeitpunkt.
Die Informationen über menschenrechtsverachtende Praktiken liegen längst vor. Die Verantwortlichen, die ihre eigene Bevölkerung hinwegmorden, können benannt werden. Jeder afrikanische Staat muß daran interessiert sein und auch die internationale Staatengemeinschaft, daß die derzeitige Flüchtlingskrise nicht durch weiteren Massenexodus außer Kontrolle gerät. Schon im letzten Jahr hätte ein Frühwarnsystem ankündigen müssen, daß die Nahrungsmittelkapazitäten aufgrund der Dürre abnehmen. Ein solches System kann aber nur effektiv sein, wenn auf Hochrechnungen entsprechende politische Taten folgen. Bis die Abstimmungsverfahren zwischen den einzel-und zwischenstaatlichen Gremien soweit gediehen sind, daß Einsätze und Hilfsmaßnahmen genehmigt werden, könnte der Massenexitus bereits eingetreten sein.
Gerade was den Sudan anbelangt, kann man zu sehr viel früheren Zeitpunkten Krisen Voraussagen. Auch fehlen hier Abschreckungsmaßnahmen, um die sudanesische Regierung von Bombardierungen wie etwa im Februar 1994 abzuhalten. Das gleiche gilt für die zahlreichen Menschenrechtsverstöße seitens der Regierung und der SPLA oder für die Behinderung internationaler Hilfsgüter-transporte.
Trotz internationalen Kriegsvölkerrechts und der internationalen Rechts-und Völkerrechtsbestimmungen befindet sich die weltweit mehr als 45 Millionen umfassende Flüchtlingsbevölkerung in einer verheerenden Lage. Für die 25 Millionen Binnenvertriebenen ist aufgrund der beschränkten Eingriffsmöglichkeiten auf fremden Territorien selbst humanitäre Hilfe nicht sichergestellt, geschweige denn internationaler Schutz. Für Afrika trifft dies um so mehr zu, als es hier sowohl die meisten Flüchtlinge wie auch die meisten Binnen-vertriebenen gibt. Es gibt kein Land, über das nicht „political risk studies“ existierten, wie sie etwa von der Wirtschaft herangezogen werden, bevor diese dort investiert. Genauso existieren Konfliktstudien zu Ländern, in denen Bürgerkriege herrschen oder auszubrechen drohen. Genauere Analysen zu Ländern, die signifikante Zahlen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen hervorbringen und in denen Menschenrechtsverletzungen weit verbreitet sind, müßten mit politischen Strategiebeschlüssen auf multilateraler Ebene abgestimmt werden. Konkrete Handlungsempfehlungen für jeweils bestimmte Konfliktstadien könnten politisch umgesetzt werden. Immer spektakulärere Hilfsaktionen verschlingen Ressourcen für Schäden, die auch hätten vermieden werden können. Es wird erst dann geholfen, wenn Hunger-und Kriegstote auf westlichen Fernsehbildschirmen entsprechenden Druck produzieren. Nur allzu oft gehen damit keine grundlegenden politischen Initiativen einher, die eine Krisensituation auch dauerhaft lösen. Diese Handlungsweise verrät nicht nur die humanitären Prinzipien, die sich die Welt gesetzt hat, sie ist zudem ökonomisch äußerst bedenklich, betrachtet man die Dinge unter einem rationalen Kalkül. Ein „Ende des Mitleids“ wird auch dadurch heraufbeschworen, daß internationale Hilfsaktionen allzu oft im Krisenmanagement verpuffen und sich womöglich zwei Jahre später die gleiche Katastrophe wiederholt. In Äthiopien kann dies nunmehr erwartet werden.
Entschließt sich ein Land wie die Vereinigten Staaten im Fall Somalia zur Intervention, ist festzustellen, daß nicht nur die Rechtsgrundlagen hierfür brüchig sind, sondern auch der Informationsstand über Bevölkerungsinteressen und Konflikten zugrundeliegende Ursachen unzulänglich ist. Politisches Handeln auf der wackeligen Grundlage einfacher Kausalzusammenhänge und verkürzter Urteile zur ethnischen Fragmentierung stellt die Glaubwürdigkeit eines Eingreifens von außen zudem sehr in Frage. Als die internationale Intervention in Somalia begann, wurden die internen Landesstrukturen nur wenig diskutiert. Die Autorität bestimmter Clan-Führer wurde zu lange ignoriert und unterschätzt. Zu wenig, und dieses Schlagwort ist aus Europa bekannt, wird darauf geachtet, daß Afrika weniger ein Kontinent der durch unzweifelhafte Territorialgrenzen zu teilenden Staaten als vielmehr ein Kontinent der Regionen ist.
In der Reaktion auf die Situation in Ruanda kann man den Eindruck gewinnen, daß dort die tribale Trennung zwischen Tutsi und Hutu ebenso hingenommen wird wie in Bosnien die der christlichen Serben, der muslimischen, serbischen und kroatischen Bosnier. Absehbar ist aber, daß immer mehr territoriale Trennungslinien nicht dafür sorgen werden, daß Frieden einkehrt. Die Tatsache, daß viele Tutsi von den Hutu niedergemetzelt worden sind, weist nicht darauf hin, daß eine Regierung dieser Minderheit über die Hutu-Bevölkerungsmehrheit tragbar oder künftig Morde der Tutsi an den Hutu ausgeschlossen wären. Auf der Grundlage einer Segregation von Volksgruppen und von „ethnischen Säuberungen“ kann kein künftiger Friede entstehen.
So bekämpfen sich im Sudan nicht nur der Norden und der Süden; beide Landesteile sind entlang vielfältiger „cleavages“ in sich gespalten und gleichzeitig aufeinander angewiesen. Die sudanesische Rebellenarmee SPLÄ ist keine homogene Kampftruppe. Doch die Spaltung der SPLA allein mit tribalen Rivalitäten zwischen Dinka, denen der Rebellenführer John Garang angehört, und anderen Stämmen zu erklären, bietet keine Grundlage für politisches Handeln von außen. Wenige Informationen gibt es über konkrete Forderungen regional gebundener Bevölkerungsteile, die ihnen eine sichere Lebensgrundlage zur friedlichen Koexistenz böten. Auch der Norden ist nicht entlang des religiösen Identifikationsmusters geeint. Nicht nur die südsudanesische Bevölkerung wendet sich gegen die Anwendung islamischer Scharia-Gesetze, sondern auch muslimische Gruppierungen opponieren gegen Hudud-Strafen, denen zufolge die Amputation von Gliedmaßen noch immer erlaubt ist.
Die Sezession, die vom Süden oft gefordert worden ist, wäre für die Probleme des Landes keine Lösung. Heute werden Territorialgrenzen immer unwichtiger; schon gar nicht sind sie ein Garant für friedliche Koexistenz. Die größten Probleme des Kontinents -Krieg, Flucht, Vertreibung, Dürren und Hunger -machen vor nationalen Grenzen nicht halt. Flüchtlingsströme destabilisieren Aufnahmeländer mit ohnehin knappen Ressourcen und verstärken so den Zyklus von Konkurrenz und Gewalt. Die Regime, die Flüchtlinge und Binnen-vertriebene hervorbringen, müssen in die Verantwortung für ihre eigenen Völker genommen werden.
Anhand der derzeitigen Lage in Afrika, für die jene der sudanesischen Zivilbevölkerung nur stellvertretend ausgeführt wurde, lassen sich einige Vorschläge in Richtung einer verantwortungsgemäßen strategischen Politik der Staatengemeinschaft in bezug auf Flüchtlingsprobleme und Binnenvertreibung diskutieren. Für ein zu verfeinerndes Konzept der Strategischen Vorsorge seien hier folgende zehn Punkte aufgeführt:
1. Entwicklungszusammenarbeit müßte an die Friedfertigkeit und den Verantwortungsgrad der Regierungen gegenüber der eigenen Bevölkerung gekoppelt werden. Dies beinhaltete auch den Stopp von Waffenlieferungen.
2. Entwicklungshilfe müßte noch stärker regionalisiert und unter Zusammenarbeit mit lokalen Autoritätspersonen ausgehandelt werden und nicht zur Verteilung vornehmlich an Regierungsstellen gelangen.
3. Das Potential für gewaltsame Konflikte in Krisengebieten muß in Länderanalysen jeweils auf den neuesten Stand gebracht werden.
4. Ein Datenaustausch zwischen den von den einzelnen Regierungen zu berufenden Länder-referenten hätte in regelmäßigen Jours fixes dafür Sorge zu tragen, daß bei allen der gleiche Informationsstand herrscht.
5. Auf dieser Grundlage sollten verschiedene Handlungsszenarien zu verschiedenen möglichen Eskalationsstufen entwickelt werden.
6. Entwickelte Konzepte sind von den Regierungen der „Interventionsstaaten“ zu verabschieden. Festgelegte Handlungsschritte müßten, tritt eines der Szenarien ein, binnen einer kurzen, festzulegenden Frist, z. B. 48 Stunden, umgesetzt werden.
7. Ein Investitionsfaktor für die Krisenvorsorge könnten die zu erwartenden Kosten der Nach-sorge sein. Ein interessanter Vorschlag zur Erschließung neuer Finanzierungsquellen -internationale Devisentransfers mit beispielsweise 0, 05 Prozent zu besteuern und in einen flexiblen Fonds einzuzahlen -wurde bei der kürzlichen Vorstellung des UNDP-Berichts gemacht.
8. Handlungszwang besteht bei der ersten erreichten Eskalationsstufe.
9. Konsultationen sollten mit den unterschiedlichen Gruppierungen in den Ländern erfolgen, die viele Flüchtlinge und Binnenvertriebene hervorbringen. Dabei wird auch deren Grad an Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung bewertet sowie die Kooperationsbereitschaft bei der Beseitigung von Mißständen.
10. Ein „droit de regard“, ein Recht zur Beachtung (betreffs Einhaltung der internationalen Menschenrechtsstandards), muß im Völker-recht verankert werden. Einmischung erfolgt beispielsweise aufgrund von Genozid und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch einzeln abgestufte, im vorhinein geplante Handlungsschritte.
Carola Reißland, Dipl. -Pol., geb. 1962; Studium der Politikwissenschaft und Islamkunde in Hamburg sowie der Nahostpolitik in Kairo; journalistische Ausbildung/Volontariat bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; zuletzt Consultant beim Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) in Bonn für die Redaktion des ersten deutschsprachigen Weltflüchtlingsreports 1994.