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Weltbevölkerung -Wachstum ohne Ende? | APuZ 35-36/1994 | bpb.de

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APuZ 35-36/1994 Weltbevölkerung -Wachstum ohne Ende? Die wachsende Weltbevölkerung. Ursachen, Folgen, Bewältigung Weltbevölkerungswachstum, Entwicklung und Umwelt. Dimensionen eines globalen Dilemmas

Weltbevölkerung -Wachstum ohne Ende?

Charlotte Höhn

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Weltbevölkerung hat sich von 1950 bis 1990 innerhalb einer Generation mehr als verdoppelt. 1994 lebten auf der Welt 5, 6 Milliarden Menschen. Für die weitere Entwicklung ist neben der Geburtenentwicklung in erheblichem Ausmaß der pyramidenförmige Altersaufbau der Weltbevölkerung entscheidend. Während der jetzige Altersaufbau aufgrund jährlich wachsender Zahlen an potentiellen zukünftigen Eltern ein weiteres Bevölkerungswachstum um mindestens 2, 2 Milliarden unausweichlich macht, bestimmt das Ausmaß des zukünftigen Geburtenrückgangs, wie lange die Weltbevölkerung noch wächst. Bei einem Rückgang der durchschnittlichen Geburtenzahl weltweit von derzeit 3, 3 Geburten je Frau auf 1, 7 wüchse die Weltbevölkerung nur noch bis zum Jahr 2025, und zwar auf 7, 8 Milliarden, und ginge danach zurück. Bei einem Rückgang auf 2, 1 Geburten je Frau stabilisierte sich die Weltbevölkerung erst nach einer Verdoppelung im Jahr 2150. Geht das Geburtenniveau auf „nur“ 2, 3 zurück, so wüchse die Weltbevölkerung immer weiter. Entscheidend für die zukünftige Entwicklung ist, wie schnell es zu einem weiteren, oder, im Falle Ost-, Mittel-und Westafrikas, ob es überhaupt zu einem Geburtenrückgang kommt. Dabei ist für die politische Rahmensetzung wichtig zu wissen, ob ein Geburtenrückgang die Folge wirtschaftlicher und/oder sozialer Entwicklung ist oder ob Familienplanungsprogramme und -dienste den Geburtenrückgang wesentlich bestimmen. Erfolgreiche Familienplanungsprogramme erfordern individuelle Motivation, die nur vor dem Hintergrund entsprechender gesellschaftlicher Entwicklung entsteht. Die Bevölkerungsentwicklung und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung hängen in vielfacher Hinsicht voneinander ab, und lösen bei günstigem Verlauf synergetische Effekte aus. Im Entwurf des Schlußdokuments der bevorstehenden Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo ist dieser entscheidende Grundgedanke an einem integrativen Ansatz von Entwicklungs-und Bevölkerungspolitik zu erkennen. Allerdings werden keine quantitativen Ziele zum Geburtenniveau gesetzt; vielmehr soll universeller Zugang zu qualitativ guten Familienplanungs-und Gesundheitsdiensten gewährleistet werden.

I. Szenarien zukünftigen Weltbevölkerungswachstums und politischer Gestaltungsrahmen

Abbildung: Bevölkerungspyramiden der Weltbevölkerung 1950, 1990 und 2025

Mitte 1994, zum Weltbevölkerungstag am 9. Juli und kurz vor der Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) im September in Kairo, betrug die Weltbevölkerung 5, 6 Milliarden Menschen. Derzeit wächst die Weltbevölkerung bei einer Wachstumsrate von 1, 7 Prozent um jährlich rund 95 Millionen. Dieser Zuwachs von 95 Millionen ergibt sich aus dem Überschuß aus jährlich 144 Millionen Geburten minus 49 Millionen Sterbefälle. Jedes Jahr kommen also dreimal mehr Menschen zur Welt als sterben.

Tabelle 3: Bevölkerungsentwicklung nach Weltregionen 1950-1990 und VN-Vorausberechnungen nach drei Varianten für den Zeitraum 2000-2025 (in Millionen) Quelle: United Nations World Population Prospects, 1992 Revision, New York 1992.

Für die weitere Entwicklung ist neben der Geburtenentwicklung in erheblichem Ausmaß der pyramidenförmige Altersaufbau der Weltbevölkerung und damit die bisherige tatsächliche Bevölkerungsentwicklung entscheidend. Wie die folgende Abbildung verdeutlicht, lebten 1950 2, 5 Milliarden Menschen auf der Welt. Die Weltbevölkerung hat sich bis 1990 wegen des pyramidenförmigen Altersaufbaus und der bis in die sechziger Jahre anhaltend hohen durchschnittlichen Kinderzahlen binnen 40 Jahren mehr als verdoppelt. Erste Anzeichen einer Abschwächung der Bevölkerungsdynamik sind bereits 1990 durch eine relativ schmalere Bevölkerungsbasis erkennbar. In der Tat sind in den sechziger Jahren die Wachstumsraten der Weltbevölkerung am größten gewesen und seitdem rückläufig. Solange die Wachstumsraten aber noch positiv sind, wächst die Bevölkerung in absoluten Zahlen. Die neunziger Jahre sind das Jahrzehnt, in welchem hoffentlich die absoluten Zuwächse am größten sind.

Tabelle 4: Ungedeckter Bedarf, kontrazeptive Anwenderquote und Gesamtnachfrage nach Familienplanung bei verheirateten Frauen in den Entwicklungsländern nach Regionen (in Prozent) Quelle: John Bongaarts, The KAP-gap and the unmet need for contraception, in: Population and Development Review, 17 (1991) 2, S. 301.

Während der Altersaufbau über jährlich wachsende Zahlen an potentiellen zukünftigen Eltern ein weiteres Bevölkerungswachstum unausweichlich macht, bestimmt die zukünftige Geburten-häufigkeit (die durchschnittliche Geburtenzahl je Frau), wie lange die Weltbevölkerung noch wächst.

Je nachdem, ob die durchschnittliche Geburten-zahl von derzeit im Weltdurchschnitt 3, 3 Geburten je Frau auf 1, 7 (untere Variante/Geburtenannahme) oder auf 2, 1 (mittlere Variante) bzw. auf 2, 3 Geburten je Frau (hohe Variante) weiterhin zurückgeht, wird die Weltbevölkerung unterschiedlich stark wachsen. Bei der unteren/niederen Variante wüchse die Weltbevölkerung im Vergleich zu 1994 nur noch um 2, 3 Milliarden auf 7, 9 Milliarden bis zum Jahr 2025 und ginge danach bis zum Jahr 2150 auf 4, 3 Milliarden zurück. Bei der mittleren Variante würde sich die Weltbevölkerung erst nach einer Verdoppelung auf 11, 5 Milliarden Menschen im Jahre 2150 stabilisieren, d. h. danach nicht mehr wachsen, aber auch nicht zurückgehen. Bei der hohen Variante des angenommenen Geburtenrückgangs erreichte die Weltbevölkerung im Jahre 2150 28 Milliarden und würde auch danach weiter wachsen Diese langfristigen Vorausberechnungen der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen machen zweierlei deutlich

1. Ein weiteres Weltbevölkerungswachstum um mindestens 2, 3 Milliarden ist wegen des pyramidenförmigen Altersaufbaus der aktuellen Weltbevölkerung unvermeidlich.

2. Ob die Weltbevölkerung noch weiter wächst, sich also verdoppelt oder gar vervierfacht, hängt ganz entscheidend von der weiteren Geburtenentwicklung ab, also davon, ob sich der Geburtenrückgang in den verschiedenen Regionen der Welt mehr oder minder schnell fortsetzt. Einige Bemerkungen zu den doch sehr langfristigen Vorausberechnungen erscheinen angebracht. Selbstverständlich haben Vorausberechnungen über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren reinen Modellcharakter; im folgenden werden daher die Vorausschätzungsergebnisse nur bis zum Jahr 2025 interpretiert. Über 30 Jahre (dies entspricht dem mittleren Generationenabstand) hinweg hat die Altersstruktur der bereits lebenden und nhchwachsenden Generationen einen bestimmenden Cha-rakter für die Größe der hinzugeschätzten Geburtenjahrgänge. Über einen längeren Zeithorizont gewinnt die Annahme zum Geburtenniveau zunehmend an entscheidender Bedeutung. Die Einschätzung plausibler durchschnittlicher Geburtenzahlen je Frau und deren Veränderungsgeschwindigkeit ist notwendigerweise spekulativ und daher fehleranfällig.

Langfristige Vorausschätzungen zeigen aber recht gut, daß der zukünftigen Geburtenentwicklung große Bedeutung zukommt. Man vergegenwärtige sich anhand der Ergebnisse in Tabelle 1, daß höchst unterschiedliche Gesamtbevölkerungen entstehen, obwohl die Geburtenannahmen nur zwischen einer zu erreichenden durchschnittlichen Geburtenzahl von 1, 7 bis 2, 3 Kindern je Frau variieren. Die Auswirkungen dieses bedeutsamen Phänomens der demographischen Dynamik werden bei langfristiger Betrachtungsweise -hier bis zum Jahr 2150 -deutlicher als bei kürzerfristigen Berechnungen, bei denen die vorgegebene Alters-struktur dominanter ist als die Annahme über die durchschnittliche Geburtenzahl. Immerhin ist aber auch im Vergleich der niedrigen und der mittleren Annahme für das Jahr 2025 eine deutliche Auswirkung auf die Altersstruktur (vgl. Abbildung) zu konstatieren, und der Unterschied in der Weltbevölkerung insgesamt macht immerhin gut 900 Millionen und 2050 bereits 1200 Millionen Menschen aus (vgl. Tabelle 1).

Da nun aber die Geburtenentwicklung das einzige demographische Phänomen ist, das von politisch zumindest teilweise gestaltbaren Rahmenbedingungen abhängt, wird durch langfristige Bevölkerungsvorausberechnungen deutlich, daß politisches Handeln jetzt von langfristig großer Bedeutung ist.

So wurde denn auch bei den bisherigen und wird bei der kommenden Weltbevölkerungskonferenz betont, daß die mittlere, besser aber noch die untere Variante der Weltbevölkerungsentwicklung erreicht werden sollte. Das bedeutet keineswegs, daß quantitative demographische Ziele zum Geburtenniveau gesetzt werden. Weder bei der Weltbevölkerungskonferenz 1974 in Bukarest noch bei der Internationalen Konferenz für Bevölkerung in Mexico City 1984, noch bei der Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung 1994 in Kairo werden für die durchschnittlichen Geburtenzahlen quantitative Vorgaben gemacht. Vielmehr wird unausgesprochen ein weiterer Geburtenrückgang auf der Basis des Menschenrechts der Paare und Einzelpersonen, frei, informiert und verantwortlich die Zahl und die Geburtenabstände ihrer Kinder zu bestimmen, erwartet, wobei das politische Ziel darin besteht, einen universellen Zugang zu qualitativ guten Familienplanungs-und reproduktiven Gesundheitsdiensten zu gewährleisten. Damit erhält die Motivation der Paare und Einzelpersonen den ihnen zustehenden hohen Stellenwert. Die politischen Maßnahmen sollen Rahmenbedingungen dafür setzen, daß die individuell gewünschten Kinder („children by choice, not by chance“) geboren werden.

II. Regionale Unterschiede der Bevölkerungsentwicklung

Tabelle 1: Geschätzte und vorausberechnete Weltbevölkerung nach den wichtigsten Annahmenverlängerungen 1990-2150 (in Millionen) Quelle: United Nation:, Long-range World Population Projections 1950-2150, New York 1992.

In den einzelnen großen Regionen der Welt hat sich die Bevölkerung höchst unterschiedlich entwickelt. Diese Unterschiede lassen sich anhand des Konzepts des demographischen Übergangs erklären. In einer Jahrhunderte andauernden Phase wuchs die Bevölkerung nahezu unmerklich, denn die Sterblichkeit war so hoch, daß selbst hohe Kinderzahlen nicht zu einem nennenswerten Überschuß der Geburten über die Sterbefälle führten. In Europa und der Neuen Welt kam es mit einer Modernisierung der Weltanschauungen (z. B. in der Renaissance, der Aufklärung, der Französischen Revolution) zu Fortschritten in der Medizin und der Hygiene. Das hatte zur Folge, daß die Sterblichkeit sank, und zwar typischerweise am stärksten die Säuglings-und Kindersterblichkeit. Bei noch hohen Kinderzahlen wurde so ein Wachstum der europäischen Bevölkerungen eingeleitet, das sich am stärksten im 19. Jahrhundert bemerkbar machte. Viele europäische Länder wurden im 19. Jahrhundert Auswanderungsländer und setzten damit ihren Bevölkerungsdruck im wesentlichen in die Neue Welt frei.

Die Länder der Dritten Welt haben diesen ersten Teil des demographischen Übergangs, die Senkung der Sterblichkeit bei noch hohen Kinderzahlen, erst im 20. Jahrhundert überwiegend nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Charakteristisch ist dabei, daß es sich bei ihrem Sterblichkeitsrückgang um einen Vorgang handelt, der weitgehend von außen eingeleitet wurde (durch Kolonialherren bzw. durch humanitäre Entwicklungshilfe), also nicht so sehr durch eigene Entwicklung. Da die durchschnittlichen Kinderzahlen in vielen Regionen der Dritten Welt höher waren (und teilweise noch sind) als im historischen Europa, ist der Wachstumsschub aus diesem „importierten“ Sterblichkeitsrückgang entsprechend stärker.

Die zweite Phase des demographischen Übergangs beinhaltet einen Rückgang der durchschnittlichen Geburtenzahlen. Mit Einsetzen eines Geburten-rückgangs wird die Dynamik des Bevölkerungswachstums gebremst, die Wachstumsraten werden allmählich kleiner. Nach mehreren Jahrzehnten hört schließlich das Bevölkerungswachstum auf.

In Europa und der Neuen Welt beginnt die freiwillige, auf individueller Motivation beruhende Begrenzung der Kinderzahl gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Eine solche Begrenzung der Kinderzahl erfolgte ohne die heutigen modernen Methoden der Kontrazeption, vielfach auch gegen staatlichen Widerstand und entgegen der kirchlichen Lehre. Der (ökonomische) Wert der Kinder sank, da Kinder nicht mehr als billige Arbeitskräfte zur Verfügung standen (Schulpflicht, Verbot der Kinderarbeit, Rückgang der arbeitsintensiven Landwirtschaft), da Kinder nicht mehr zur Sicherung der Eltern benötigt wurden (Einführung der Rentenversicherung, Herausbildung des Wohlfahrtsstaates) und da Kinder zunehmend Kosten verursachten (Ausbildung). In neuerer Zeit kommen die sogenannten Opportunitätskosten von Kindern in Form von Zeit (Konkurrenz zu alternativer Zeitverwendung wie Reisen, Freizeit) und entgangenenen Einkommen (Erwerbstätigkeit der Frauen) hinzu. Aus der Sicht der meisten Menschen in den Industrieländern ist es nicht notwendig, Kinder zu haben. Kinder zu haben ist zwar für viele Menschen dort ein sehr wichtiges Lebensziel, doch kann dieses auch mit ein oder zwei Kindern erreicht werden.

Die demographische Folge dieser veränderten Motivationslage ist ein rapider Geburtenrückgang seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Und ein Ende des Geburtenrückgangs in den Industrieländern zeichnet sich auf einem Niveau deutlich unter dem Generationenersatz (das wären durchschnittlich 2, 1 Kinder je Frau) bestenfalls in Umrissen ab. 1985-1990 verzeichneten alle europäischen Regionen und Nordamerika (wie auch Japan, Australien und Neuseeland) weniger als 2, 1 Geburten je Frau. In diesem Zeitraum betrug die durchschnittliche Geburtenzahl für die Industrieländer insgesamt 1, 92.

In den meisten Regionen der Dritten Welt gab es seit 1950 -im wesentlichen seit den " späten sechziger Jahren -ebenfalls einen Geburtenrückgang. So sank die durchschnittliche Geburtenzahl je Frau in den Entwicklungsländern von 6, 19 (1950-1955) auf 3, 9 (1985-1990). Besonders stark war der Geburtenrückgang in Ostasien von 5, 72 (1950-1955) auf 2, 3 (1985-1990) Geburten je Frau, wobei diese Entwicklung von der in China, dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, maßgeblich geprägt ist. Aber auch in Südostasien, in Lateinamerika, im südlichen Afrika, in Südasien (mit Indien), in Nordafrika und in Westasien sind von 1950/1955 bis 1985/1990 mehr oder minder starke Geburten-rückgänge eingetreten. Dagegen ist es in Ost-, Zentral-und Westafrika von 1950/1955 bis 1985/1990 sogar zu einem leichten Anstieg des Geburtenniveaus gekommen. Auf die möglichen Gründe dieser unterschiedlichen Entwicklungen soll im nächsten Abschnitt im Lichte der Erklärungen des Geburtenrückgangs in den Industrieländern eingegangen werden.

Die unterschiedlichen Muster der Geburtenentwicklung in den Großregionen der Welt bis 1985/1990 lassen zweifellos unterschiedliche Annahmen über eine denkbare zukünftige Entwicklung zu. Die Annahmen der Bevölkerungswissenschaftler der Vereinten Nationen in den niedrigen, mittleren und hohen Vorausschätzungsvarianten (siehe Tabelle 2) sind von der „Theorie“ des demographischen Übergangs inspiriert. Dieser „Theorie“ zufolge, der allerdings die empirische Basis fehlt, sollen sich nach Ende des demographischen Über-gangs Geburtenniveau und Sterblichkeit in ein neues Gleichgewicht auf niedrigem Niveau einpendeln, so daß es erneut (vorher existierte ein labiles Gleichgewicht aus hoher Sterblichkeit und hohem Geburtenniveau) zu einem Null-Wachstum der Bevölkerungen kommt. Dies bedeutet das Erreichen eines Geburtenniveaus von 2, 1 Kindern je Frau weltweit.

So werden denn auch für die Regionen der Industrieländer in der mittleren und hohen Variante Anstiege des Geburtenniveaus angenommen. Und für viele Regionen der Entwicklungsländer Rückgänge, die nicht weniger unplausibel sind. Insbesondere für Ost-, Zentral-und Westafrika, aber auch für Westasien erscheinen bestenfalls die Annahmen für die hohe Variante realistisch. Dagegen könnten für die Industrieländerregionen, für Ostasien und Südostasien sowie für Lateinamerika durchaus die Annahmen für die niedrige Variante eintreffen. Die Erfahrung aus der Bevölkerungsgeschichte der Industrieländer lehrt nämlich, daß ein einmal begonnener Geburtenrückgang nicht so schnell zum Stillstand kommt und daß das Bestandserhaltungsniveau keine magische Grenze ist.

Wegen der Unterschiede im Geburtenniveau um 1950 und der unterschiedlichen Veränderungen des Geburtenniveaus bis 1990 wachsen die Bevölkerungen in den einzelnen Großregionen der Weltmit höchst unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die Bevölkerungen der Industrieländer sind mit einer Zunahme auf das l, 45fache (plus 45 Prozent) am langsamsten gewachsen. Grund dafür ist der langanhaltende säkulare Geburtenrückgang, der die Altersstruktur relativ „altern“ läßt, d. h., die Pyramidenform ist einer Säulenform gewichen. Teilweise, so auch in Deutschland, ist die Basis des Bevölkerungsaufbaus (Kinder und Jugendliche) schmaler als die der jungen und mittelalten Erwachsenen.

Die Bevölkerungen der Entwicklungsländer haben fast alle noch einen pyramidenförmigen Altersaufbau; sie sind von 1950 bis 1990 auf das 2, 4fache gewachsen. Asien ist wegen der Entwicklung in China, wo über ein Drittel der asiatischen Bevölkerung lebt, mit plus 126 Prozent am langsamsten gewachsen (vgl. Tabelle 3). Am stärksten ist bisher wegen der sehr hohen durchschnittlichen Geburtenzahlen die Bevölkerung Afrikas gewachsen (auf das 2, 9fache).

Je nachdem, welche Variante eintritt, d. h., wie sich das Geburtenniveau entwickeln wird, werden die Bevölkerungen von 1990 bis zum Jahr 2025 sich recht unterschiedlich entwickeln. Die Bevölkerungen der Industrieländer würden nach der plausiblen niedrigen Variante in diesen 35 Jahren nur noch ganz gering um knapp sieben Prozent wachsen. Stärker ist der zu erwartende Bevölkerungszuwachs in Asien und Lateinamerika, wo nach der unteren Variante ein 50prozentiger, nach der mittleren Variante ein ca. 60prozentiger und nach der höheren Variante ein etwa 70prozentiger Zuwachs möglich ist. Man beachte, daß allein in Asien im Jahr 2025 nach der hohen Variante 5, 2 Milliarden Menschen leben werden -so viele, wie 1990 auf der Welt insgesamt.

Am dramatischsten stellt sich die Bevölkerungsentwicklung für Afrika dar. Dort ist 2025 gegenüber 1990 mehr als eine Verdoppelung der Bevölkerung zu erwarten: ein Zuwachs nach der wenig plausiblen niedrigen Variante auf das 2, 3fache, nach der mittleren optimistischen Variante auf knapp das 2, 5fache und nach der hohen Variante auf mehr als das 2, 6fache. Angesichts des verfügbaren Acker-und Weidelands, der bereits in den achtziger Jahren eingetretenen Rückgänge in der Pro-Kopf-Ernährung, der Wasserversorgung, der verbreiteten Armut und des hohen Analphabetisierungsgrades ist ein solches Bevölkerungswachstum in Afrika zu Recht Anlaß zu großer Besorgnis. Aber auch in Asien gibt es Länder wie Bangladesch und Pakistan sowie Regionen in China und in Indien mit bereits heute hoher Bevölkerungsdichte, nicht nur in den ebenfalls überproportional stark wachsenden Millionenstädten und Mega-Cities.

III. Geburtenrückgang durch Familienplanungsprogramme oder/und Entwicklung?

Tabelle 2: Entwicklung der Geburtenhäufigkeit in den Kontinenten und großen Regionen der Welt 1950-1990 und verschiedene Annahmen der Vereinten Nationen zur zukünftigen Entwicklung Quelle: bis 2025 Quelle: United Nations World Population Prospects, 1992 Revision, New York 1992

Entscheidend für die weitere Entwicklung ist, wie schnell es zu einem weiteren oder, im Falle Ost-, Mittel-und Westafrikas, ob es überhaupt zu einem Geburtenrückgang kommt. Dabei ist für die politische Rahmensetzung wichtig zu wissen, ob ein Geburtenrückgang die Folge wirtschaftlicher und/oder sozialer Entwicklung ist oder ob Familienplanungsprogramme und -dienste den Geburtenrückgang wesentlich bestimmen.

Es handelt sich hier um eine keineswegs nur akademische Streitfrage, sondern vielmehr um eine Frage von höchster politischer Bedeutung. Schließlich wird die Ausgestaltung der Entwicklungs-und der Bevölkerungspolitik hiervon entscheidend beeinflußt. Und so hat denn auch diese Frage sowohl auf der Weltbevölkerungskonferenz 1974 in Bukarest als auch auf der Internationalen Konferenz für Bevölkerung 1984 in Mexico City eine große Rolle gespielt, und sie wird auch für die ICPD 1994 in Kairo grundlegend sein.

Bei der Weltbevölkerungskonferenz 1974 in Bukarest vertraten mehrere Entwicklungsländer -darunter China und Brasilien -die Auffassung, Entwicklung sei das beste Verhütungsmittel. Die Industrieländer -darunter insbesondere die USA -priesen die Möglichkeiten umfassender Familienplanungsprogramme an. Gerade die USA haben in den siebziger Jahren und in der ersten Hälfte der achtziger Jahre solche Familienplanungsprogramme oft in Kombination mit Mutter-Kind-Gesundheitsdiensten bilateral in vielen Entwicklungsländern gefördert; auch der 1969 gegründete Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) widmet sich dieser Aufgabe mit multilateralen Mitteln. Fast alle Entwicklungsländer haben mittlerweile ein Bevölkerungsprogramm, und in den erfolgreichen Fällen ist dieses in das allgemeine Entwicklungsprogramm eingebettet. Es würde hier zu weit führen, auf konkrete Beispiele einzugehen

Abgeleitet aus diesen Beispielen läßt sich verallgemeinern, daß Familienplanungsprogramme dort erfolgreich sind, wo es auch eine soziale Entwicklung, also ein steigendes Bildungsniveau und eine Tendenz zur Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frau gibt. Familienplanungsprogramme müssen, das lehrt auch die westliche historische Erfahrung, auf hierfür motivierte Paare und Einzelpersonen treffen. Nur wenn es den sogenannten „ungedeckten Bedarf“ oder -wirtschaftswissenschaftlich formuliert -eine latente Nachfrage gibt, wird das Angebot angenommen.

Das Interesse an einer Begrenzung der Kinderzahl („limiting“) oder an einer Planung von längeren Geburtenabständen („spacing“) kann durch Befragungen ermittelt werden, z. B. im Rahmen des in sehr vielen Entwicklungsländern durchgeführten World Fertility Survey (WFS) in den siebziger und frühen achtziger Jahren und des noch laufenden Demographie and Health Survey (DHS). Diese Angaben zum „ungedeckten Bedarf“ in Kombination mit der kontrazeptiven Prävalenz sind auch die Grundlage für die Kostenschätzungen in der Zukunft, wobei die zu erwartende Bevölkerungsentwicklung, die schon vorhandene Infrastruktur und das erforderliche Personal in die Berechnungen mit eingehen.

Tabelle 4 ist in vielfacher Hinsicht interessant. In Asien und Nordafrika und in Lateinamerika ist die Kontrazeption Ende der achtziger Jahre bereits weit verbreitet. Wenn der ungedecke Bedarf an einer Begrenzung der Kinderzahl und Verlängerung der Geburtenabstände (letztere führt tendenziell ebenfalls zu einer Verringerung der Kinderzahl, aber auch zu einer Verbesserung der Gesundheit der Mutter und ihrer Kinder) in diesen beiden Großregionen gedeckt würde, so würde die Gesamtnachfrage nach Methoden der Familienplanung schon fast der in den Industrieländern entsprechen. Das bedeutet, daß das Geburtenniveau sich dem der Industrieländer, nähern würde. In Afrika südlich der Sahara betrug die kontrazeptive Anwenderquote Ende der achtziger Jahre nur 13 Prozent; entsprechend hoch ist das Geburten-niveau, das aber -und hier liegt das Problem -nur unwesentlich höher liegt als die gewünschte Kinderzahl. So ist denn auch in Afrika südlich der Sahara der ungedeckte Bedarf an einer Verlängerung der Geburtenabstände größer als der an einer Begrenzung der Kinderzahl. Viele Kinder zu haben erscheint in diesen Ländern aus traditionellen und wirtschaftlichen Gründen (Kinder als billige Arbeitskräfte, zur Alterssicherung) sowie für den Status der Frau (viele Söhne!) aus individueller Sicht durchaus sinnvoll. Die Motivation zur Begrenzung müßte also erst durch entsprechende gesellschaftliche Entwicklung geweckt werden. So würde denn eine Deckung des Gesamtbedarfs an Familienplanung in Afrika südlich der Sahara bestenfalls ausreichen, um überhaupt die hohe Variante der Bevölkerungsvorausschätzung zu erreichen.

Erfolgreiche Familienplanungsprogramme erfordern individuelle Motivation, die nur auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklung entsteht. Sie kann durch noch so ausgeklügelte Beratung oder Medienberieselung nicht künstlich geschaffen werden. Natürlich können solche Maßnahmen zur schnelleren Annahme von Familienplanung als Teil der Lebensplanung entscheidend beitragen. Sie können latenten und daher nicht immer offenkundigen Bedarf befriedigen. Aber eine direkte Steuerung des Kinderwunsches durch die Politik ist kaum möglich; selbst den drakonischsten Maßnahmen, die natürlich abzulehnen sind, wird sich eine Bevölkerung mittelfristig, wie verschiedene Beispiele zeigen, entziehen. Das Menschenrecht lautet: Die Zahl und die Geburtenabstände der Kinder können frei, verantwortlich und informiert bestimmt werden. Familienplanungsprogramme müssen sich diesem Grundsatz fügen und dieses Menschenrecht als oberstes Gebot beachten.

Familienplanung fand im historischen Europa ohne moderne Mittel und ohne Familienplanungsprogramme statt. Eine breite Auswahl moderner Verhütungsmethoden und eine umfassende Beratung zu den jeweiligen Vor-und Nachteilen machen die Qualität von heutigen Familienplanungsprogrammen aus. Ihre Akzeptanz wird verbessert, wenn einheimische, vertraute Personen als Personal tätig und die Wege zu den einzelnen Stellen nicht zu weit und zu mühsam sind. In dieser Hinsicht ist noch vieles zu leisten. Ein wirklicher Erfolg aber tritt nur dann ein, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich günstig entwikkeln. Der beste Indikator dafür ist, daß die Menschen für die erhaltenen Leistungen etwas zahlen wollen, weil diese ihnen etwas wert sind. Alle Industrieländer und manche Entwicklungsländer haben diese Phase erreicht. Zur Zeit werden aber bereits 80 Prozent der für Familienplanungsprogramme erforderlichen Kosten von den Entwicklungsländern selbst aufgebracht, nur noch 20 Prozent von den Geberländern. Aber die Bevölkerungen wachsen weiter, und auch der ungedeckte Bedarf wächst. Deswegen müssen die Geberländer in Kairo ihre Bereitschaft, weiterhin und mehr Mittel zu geben, bekräftigen.

Genauso wichtig wird es in Kairo sein, den integrativen Ansatz der Entwicklungs-mit der Bevölkerungspolitik zu bekräftigen. An allen „strategisch“ wichtigen Stellen des Entwicklungsprozesses -bei der Hebung der Bildung, bei der Gleichstellung der Frau, bei der Armutsbekämpfung, bei der Senkung der Säuglings-, Kinder-und Müttersterblichkeit sowie bei der Schaffung universellen Zugangs zu Familienplanungs-und Gesundheitsdiensten -muß gleichzeitig angesetzt werden. Die Bevölkerungsentwicklung und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung hängen in vielfacher Hinsicht voneinander ab und lösen bei günstigem Verlauf synergetische Effekte aus. Im Entwurf des Schlußdokuments von Kairo ist dieser entscheidende Grundgedanke an den vielen Wiederholungen über diese Wechselwirkungen zu erkennen. Das rechtfertigt es, von einer Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung zu sprechen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. United Nations, Long-range World Population Projections 1950-2150, New York 1992.

  2. Vgl. ebd.

  3. Vgl. Stanley Johnson, World Population -Turning the Tide, London 1994.

Weitere Inhalte

Charlotte Höhn, Dr. phil. habil., geb. 1945; Studium der Wirtschaftswissenschaften in Frankfurt am Main; Direktorin und Professorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Rainer Mackensen) Determinants of Fertility Trends, Liege 1982; Der Beitrag der Bevölkerungswissenschaft zur Politikberatung, Wiesbaden 1988; Aktuelle Bevölkerungsfragen in Europa und in den anderen Industrieländern, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 16 (1992) 3.