Weltbevölkerungswachstum, Entwicklung und Umwelt. Dimensionen eines globalen Dilemmas
Herwig Birg
/ 27 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Die Ziele der internationalen Bevölkerungs-, Entwicklung«-und Umweltpolitik wurden bisher auf getrennten UN-Konferenzen jeweils gesondert diskutiert und proklamiert. Die Wechselbeziehungen bzw. die Unvereinbarkeiten zwischen diesen Zielen blieben dadurch eher im Hintergrund der öffentlichen Debatte. So war auf der UN-Konferenz für „Umwelt und Entwicklung“ (Rio de Janeiro 1992) der Komplex „Bevölkerung“ nur ein Nebenthema, und auf der internationalen UN-Konferenz für „Bevölkerung und Entwicklung“ (Kairo 1994) wird der Komplex der „Umwelt“ weitgehend ausgeklammert. Eine die drei Komplexe Bevölkerung, Entwicklung und Umwelt gleichzeitig in ihren Wechselbeziehungen thematisierende UN-Konferenz steht also noch aus. Der Beitrag analysiert die unübersehbaren Zusammenhänge zwischen diesen Zielbereichen und das zwischen ihnen bestehende Handlungsdilemma. Am Beispiel des energiebedingten, anthropogenen Treibhaus-gases Kohlendioxid wird gezeigt, daß sich die Belastungsrelationen der Erdatmosphäre bis 2050 umkehren: Heute ist die Belastung durch die Industrieländer dreimal so groß wie die durch die Entwicklungsländer, obwohl in den Entwicklungsländern drei Viertel der Weltbevölkerung leben. Durch das Bevölkerungswachstum und die wirtschaftliche Entwicklung in der Dritten Welt ändert sich die Belastungsrelation zuungunsten der Entwicklungsländer: Werden die Maßnahmen zur COz-Reduktion in den Industrieländern verwirklicht, dann werden die Entwicklungsländer im Jahr 2050 sechsmal so viel an CO 2 emittieren wie die heutigen Industrieländer.
I. Einführung
In Nordrhein-Westfalen gibt es so viele Autos wie in ganz Afrika -warum gilt dann Afrika im allgemeinen als übervölkert, nicht aber Nordrhein-Westfalen? Liegt die Antwort darin, daß es in Nordrhein-Westfalen gelungen ist, das Wachstum der Wirtschaft und der Bevölkerung mit der natürlichen Umwelt einigermaßen in Einklang zu bringen, so daß das Land eine Entwicklung nehmen konnte, die man heute mit dem schwer übersetzbaren Begriff „sustainable development“ bezeichnet?
Diese Antwort liegt nahe, aber sie stimmt nicht, zumal schon die Frage falsch gestellt ist. Denn Nordrhein-Westfalen ist von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet nicht nur übervölkert, sondern paradoxerweise sogar unbewohnbar: Würde beispielsweise das Kohlendioxid, das durch die Verbrennung von Kohle, Erdölprodukten und Gas entsteht, sich nicht durch Wind und Wetter in der Atmosphäre verteilen, sondern im Land verbleiben, dann würde sich auf dem Territorium Nordrhein-Westfalens Jahr für Jahr eine zwei Meter dicke Schicht dieses Gases ablagern und das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen ersticken. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hinzugefügt, daß dies nicht nur für Nordrhein-Westfalen gilt: Die Menge des in der Bundesrepublik pro Jahr emittierten Kohlendioxids ist so groß, das das ganze Land von einer zwei Meter dicken Schicht bedeckt wäre, nicht nur Nordrhein-Westfalen.
Der Begriff „sustainable development“ wird meist mit den Ausdrücken „tragbare“, „dauerhafte“ oder „nachhaltige“ Entwicklung übersetzt. Keines dieser Adjektive paßt richtig. Daß wir solche Adjektive überhaupt brauchen, zeigt, daß offenbar der Entwicklungsbegriff von diesen Eigenschaften entleert wurde, die zweifellos ja ursprünglich in ihm mitgedacht waren. Das ergibt sich schon daraus, daß sich der in dem Begriff „sustainable development“ zum Ausdruck gebrachte Gedanke in zahlreichen Sinnsprüchen findet, z. B. in der Weisheit, daß man den Ast, auf dem man sitzt, besser nicht absägt; die Kuh, die man melkt, nicht schlachtet oder den Wald, den man dauerhaft nutzen möchte, nicht durch Raubbau oder Schadstoffe ruiniert.
Wenn es mit der Umwelt im globalen Maßstab ständig bergab geht, liegt es nicht daran, daß „wir“ -im Sinne des Plurals, der die ganze Weltbevölkerung einschließt -diese alten Überlebensregeln vergessen haben oder daß wir nicht wüßten, wie wir uns verhalten sollten, sondern daran, daß wir uns gegen unser besseres Wissen anders verhalten, als wir es sollten. Dies ist weithin bekannt, und es wird bis zum Überdruß in den Medien wiederholt. Aber ist es deshalb auch schon in dem umfassenden Sinn richtig, daß sich das Nachdenken darüber nicht mehr lohnt? So wie der scheinbar klare Sachverhalt bezüglich der Übervölkerung von Afrika im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen, so entpuppt sich das vermeintlich sichere Wissen -wenn es um die daraus zu ziehenden politischen oder persönlichen Handlungskonsequenzen geht -meist als gut gemeint, aber als sachlich fragwürdig.
Das Problem ist, daß es zwischen den drei Bereichen „Entwicklung“, „Bevölkerung“ und „Umwelt“ Zusammenhänge gibt, die dazu führen, daß eine schrittweise Annäherung an die Ziele der Entwicklungspolitik ebenso wie an die Ziele einer Begrenzung des Weltbevölkerungswachstums nicht erreichbar ist, ohne daß dadurch die Ziele des Umweltschutzes verletzt werden, so wie umgekehrt ein Mehr bei den Zielen des Umweltschutzes mit einem Weniger bei den Zielen der Entwicklung bezahlt werden muß.
Das globale Dilemma zwischen den drei Zielbereichen Entwicklung -Bevölkerung -Umwelt aufzuzeigen erscheint dringend erforderlich, weil diese Bereiche von der internationalen Politik auf der Ebene der Vereinten Nationen bisher auf ge trennten Konferenzen mit unterschiedlichen Tagesordnungen behandelt wurden. Dadurch wurde das entscheidende Problem, das in den Wechselwirkungen bzw. in den Unvereinbarkeiten der drei Zielbereiche besteht, vernachlässigt. Die Weltbevölkerungskonferenzen von Bukarest und Mexiko (1974 bzw. 1984) konzentrierten sich jeweils primär auf den Komplex „Bevölkerung“. Die UN-Konferenz von Rio de Janeiro (1992) thematisierte immerhin schon zwei der drei Sachkomplexe (Internationale Konferenz für Umwelt und Entwicklung). Auch die UN-Konferenz in Kairo (September 1994) widmet sich zwei von den drei Sachbereichen (Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung) und erzielt dadurch im Vergleich zu den früheren, thematisch engeren Weltbevölkerungskonferenzen wesentliche Fortschritte. Aber die entscheidende, alle drei Problembereiche gleichzeitig aufgreifende internationale UN-Konferenz steht noch aus. Auf der UN-Bevölkerungskonferenz von Mexiko wurde der Zielbereich der bevölkerungsorientierten Politik in Form der folgenden beiden Prinzipien fixiert, die meist unter dem Begriff des „demographischen Selbstbestimmungsrechts“ zusammengefaßt werden: „ 1. Unbedingte Achtung der Souveränität der Staaten in bezug auf die Formulierung und Verwirklichung einer nationalen Bevölkerungspolitik, 2. Grundrecht der Ehepaare und des einzelnen, in voller Freiheit und Selbstverantwortung über die Zahl und Zeitpunkte ihrer Kinder zu entscheiden, einschließlich des Grundrechts auf die Verfügung von ausreichenden Informationen und Mitteln zur Verwirklichung dieser Entscheidungen.“ Das „Recht auf eine gesunde Umwelt“ und das „Recht auf Entwicklung“ wurden in der UN-Vollversammlung von 1986, also schon vor der Konferenz von Rio, Verabschiedet und anschließend in einen Forderungskatalog an die Industrieländer übersetzt Damit liegen für alle drei Bereiche -Entwicklung, Bevölkerung, Umwelt -programmatische Zielbestimmungen vor, von deren Verwirklichung die Lebensbedingungen der heutigen, aber mehr noch die der künftigen Generationen abhängen werden. Es ist daher nicht nur eine Frage akademischen Interesses, sich Vorstellungen über die Erfolgsaussichten dieser Politikentwürfe zu machen.
II. Die Erblast der malthusianischen Bevölkerungstheorie
Abbildung 7
Schaubild 2: Alterspyramide der Weltbevölkerung 1990, 2050 und 2100 Quelle: H. Birg/C. Weßel, 1994
Schaubild 2: Alterspyramide der Weltbevölkerung 1990, 2050 und 2100 Quelle: H. Birg/C. Weßel, 1994
Ist Unterentwicklung die Ursache des Bevölkerungswachstums, oder blockiert vielmehr das Bevölkerungswachstum ursächlich die Entwicklung? Wieviel Energie und Scharfsinn wurde nicht schon aufgewandt, um die unbestreibaren Wechselwirkungen zwischen Unterentwicklung und Bevölkerungswachstum in diese falsche Entweder-oder-Alternative zu pressen. Warum ist dies aber so, obwohl doch auch ohne ein sozialwissenschaftliches Studium jedem klar sein müßte, daß es in der Wirklichkeit keine simplen, einsinnigen Zusammenhänge gibt?
Seit Jahrhunderten wird die Bevölkerungswissenschaft in der politischen Auseinandersetzung wegen der zwingenden Logik demographischer Analysen und wegen ihrer überragenden Bedeutung für das menschliche Zusammenleben als eine Waffe gegen den politischen Gegner eingesetzt und dabei trivialisiert und mißbraucht. Auch bei einigen Vertretern der Bevölkerungswissenschaft selbst -insbesondere bei Thomas Robert Malthus (1766-1834), der allenthalben als der wichtigste Klassiker der Bevölkerungswissenschaft gilt -hatte die Demographie in erster Linie diese dienende Rolle.
Malthus war selbst kein Demograph; er nutzte die logische Schlagkraft demographischer Argumente zu einem einzigen politischen Zweck -zu dem wissenschaftlichen Beweis der Unmöglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts überhaupt. Sein Grundgedanke war, daß es bevölkerungsbedingte Probleme gibt -zu denen er vor allem das Ernährungsproblem bzw. das allgemeinere Problem der Tragfähigkeit der Erde zählte -, die die Eigenschaft haben, immer wieder erneut und um so stärker aufzubrechen, je intensiver die Anstrengungen sind, die zu ihrer Lösung unternommen werden. Für diesen von Malthus als „naturgesetzlich“ bezeichneten Mechanismus verwendete er als Musterbeispiel den Zusammenhang zwischen der Geburtenrate der Unterschicht („the lower classes“) und ihren Lebensbedingungen: Politisch durchgesetzte Verbesserungen der Ernährungs-bzw.der allgemeinen Lebensbedingungen erhöhen laut Malthus die Geburtenrate der Unterschicht und senken ihre Sterberate, mit der Konsequenz eines Anstiegs der Bevölkerungswachstumsrate. Die Folge sind Ernährungsprobleme, durch die sich die Sterberate wieder erhöht und die Geburtenrate ver mindert, bis die Überschußbevölkerung beseitigt ist
Aus malthusianischer Sicht sind alle gesellschaftlichen und politischen Probleme bevölkerungsbedingt, nicht nur das Ernährungsproblem. Dabei liegt der Kern des Problems -folgt man Malthus -in der moralischen Minderwertigkeit der Unter-schicht, die (im Gegensatz zur Oberschicht) nicht die sittliche Kraft habe, vernunftgemäß zu handeln und den Geschlechtstrieb zu zügeln. In seinem viele hundert Seiten umfassenden „Bevölkerungsgesetz“ geht Malthus an keiner einzigen Stelle auf die Möglichkeit des Geschlechtsverkehrs ohne Empfängnis ein, obwohl alle Kulturen zu allen Zeiten empfängsnisverhütende Praktiken kannten und anwandten Was Malthus interessant macht und zu ewiger Aktualität verhilft, ist nicht seine triviale, längst widerlegte Theorie, sondern die spezifische Gesinnung, um nicht zu sagen der Geist, der aus dieser in Wahrheit weder bevölkerungswissenschaftlichen noch in irgendeiner anderen Weise wissenschaftlichen Theorie spricht und der den Widerspruch provoziert.
Dieser Widerspruch äußert sich vor allem in der These, daß es überhaupt keine Bevölkerungsprobleme gebe, weil sämtliche gesellschaftlichen Probleme letztlich politisch bedingt seien. Als Idealist ist man versucht, dieser Sichtweise zuzustimmen. Aber um Idealist sein und bleiben zu können, muß man als Realist bestehen, und dies bedeutet, die idealistische Sichtweise abzulehnen, ohne damit Malthus in irgendeiner Weise recht zu geben.
Die Konsequenz der idealistischen Sichtweise kommt auf der Ebene der internationalen politischen Diskussion vor allem in den Dokumenten zum Ausdruck, mit denen die Entwicklungsländer das von den UN proklamierte „Recht auf Entwicklung“ in eine politische und wirtschaftliche Verpflichtung der Industrieländer zur Entwicklungshilfe ummünzen. Diese politischen Strategien, in denen wissenschaftliche Argumente selten zu Gehör kommen, können hier schon aus Platzgründen nicht kommentiert werden. Statt dessen sollen einige der wesentlichen Informationen über die internationale demographische Entwicklung zusammengefaßt werden, die in der Wissenschaft trotz ihrer politischen Brisanz unumstritten sind.
III. Fakten und Trends der internationalen Bevölkerungsentwicklung
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre betrug die Geburtenrate der Weltbevölkerung noch 4, 9 Lebendgeborene pro Frau. In dem folgenden Jahrzehnt bis zur zweiten Hälfte der siebziger Jahre sank die Welt-Geburtenrate auf 3, 8 Lebendgeborene pro Frau und in dem Jahrzehnt bis zur zweiten Hälfte der achtziger Jahre auf 3, 4. Sie fiel schließlich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre auf 3, 3. Für die zweite Hälfte der neunziger Jahre wird ein Rückgang auf 3, 1 angenommen
Trotz des jahrzehntelangen Rückgangs der Geburtenrate stieg die jährliche absolute Zahl der Lebendgeborenen von 1950 bis 1990 von rd. 94 Mio. auf 145 Mio. Die jährliche absolute Zahl der Gestorbenen blieb dagegen mit rd. 50 Mio. nahezu konstant. Dadurch verdoppelte sich der jährliche Bevölkerungszuwachs von 1950 bis 1990 von rd. 45 Mio. auf rd. 90 Mio. Die Weltbevölkerung wächst daher zur Zeit um rd. eine Milliarde pro Jahrzehnt.
Die Weltbevölkerung nahm in den letzten Jahrzehnten trotz weltweit sinkender Geburtenraten so stark zu wie noch nie in der Geschichte der Menschheit: Sie verdoppelte sich innerhalb einer Generation von 1950 bis 1990 von 2, 5 auf 5, 3 Mrd. Unser Jahrhundert ist aus demographischer Sicht einzigartig; es wird als das Jahrhundert der größten Bevölkerungszunahme in die Geschichte eingehen. Bei rückläufigen Geburten-und Sterberaten wuchs nicht nur die absolute Bevölkerungszahl, sondern auch ihre Wachstumsrate (jährliche prozentuale Zunahme) nahm zu -ein Fall, der als „hypergeometrisches Bevölkerungswachstum“ bezeichnet wird. Bliebe die derzeitige Wachstumsrate von 1, 7 Prozent in den nächsten 60 Jahren konstant, so betrüge die Weltbevölkerungszahl schon im Jahre 2050 15 Mrd. Menschen.
Obwohl die Bevölkerungsentwicklung in den letzten Jahrzehnten von starken Umbrüchen geprägt war, erhöhte sich die Genauigkeit demographischer Bevölkerungsprojektionen auf Grund methodischer Verbesserungen beträchtlich: Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen errechnete in ihrer Bevölkerungsprojektion von 1992 für das Jahr 2000 eine Weltbevölkerungszahl von 6. 2 Mrd. Diese Projektion ist heute schon mit großer Wahrscheinlichkeit als richtig zu bezeichnen. Die entsprechende Berechnung, die bereits vor 36 Jahren (1958) veröffentlicht wurde, kam für das Jahr 2000 zu dem fast identischen Ergebnis von 6. 3 Mrd. (mittlere Variante der Bevölkerungsprojektion der Population Division der UN von 1958) Daß dies kein Zufallstreffer war, ergibt sich aus den nahezu ergebnisgleichen Bevölkerungsprojektionen, die zwischen 1958 und 1992 durchgeführt wurden, z. B. aus der von 1982: Das Ergebnis betrug 6, 1 Mrd.
Die Genauigkeit demographischer Zukunftsprojektionen übertrifft die von Wirtschaftsprognosen bei weitem. Dies liegt daran, daß der größte Teil der künftigen demographischen Veränderungen durch die Altersstruktur der Bevölkerung vorprogrammiert ist, so daß eventuelle Wandlungen des generativen Verhaltens bzw. die Erhöhung der Lebenserwartung sich nicht stark auf das Ergebnis auswirken. Außerdem läßt sich der Wandel demographischer Verhaltensweisen analysieren und in die Zukunft projizieren und damit die Genauigkeit der Bevölkerungsprojektionen ständig erhöhen. Die Vernunft gebietet es, die hohe Zuverlässigkeit demographischer Berechnungen zur Kenntnis und ihre Ergebnisse entsprechend ernst zu nehmen.
Dies sollte auch für die demographischen Projektionen der Bevölkerungsentwicklung für Deutschland gelten, deren Ergebnisse auf eine andere Weise alarmierend sind: Ohne Einwanderungen würde die Bevölkerungzahl Deutschlands wegen der niedrigen Geburtenrate der hier lebenden Inimd Ausländer von 1990 bis 2050 von 80 Mio. auf 48 Mio. abnehmen Bisher wurde es noch von niemandem gründlich durchdacht, welche Konsequenzen es hat, wenn Deutschland in den nächsten 50 bis 100 Jahren so wie bisher demographisch von der Substanz anderer Länder lebt, indem es sein Geburtendefizit durch millionenfache Einwanderungen kompensiert oder vielleicht sogar über-kompensiert.
Nach den Bevölkerungsprojektionen der Weltbank und der Bevölkerungsabteilung der UN wird die Weltbevölkerung trotz des unterstellten rapi-den Rückgangs der Geburtenrate bis zum Jahr 2050 auf zehn Mrd. und bis 2150 auf zwölf Mrd. wachsen Im Zeitraum bis 2050 erhöht sich die Bevölkerung der Entwicklungsländer von heute 4, 4 Mrd. auf 8, 6 Mrd., die der Industrieländer dagegen nur von 1, 2 auf 1, 4 Mrd. Bei dieser Bevölkerungsprojektion der Weltbank wurde die Annahme zugrunde gelegt, daß sich die Lebenserwartung der Weltbevölkerung erhöht. Vor allem aber wurde angenommen, daß die Geburtenrate schon bis zum Zeitraum 2050-60 als Ergebnis einer erfolgreichen integrierten Bevölkerungs-, Gesundheits-und Entwicklungspolitik auf das sogenannte Bestandserhaltungsniveau von rd. 2, 1 Kindern je Frau sinkt. Würde der Rückgang der Geburtenrate (Total Fertility Rate) nur zehn Jahre länger brauchen, um auf das Bestandserhaltungsniveau abzunehmen, wäre die Bevölkerungszahl im Jahr 2050 um mehrere Hundert Millionen höher.
Aber das Ergebnis hängt nicht nur von der Zahl der benötigten Jahrzehnte bis zum Fall der Geburtenrate auf das Bestandserhaltungsniveau ab, sondern darüber hinaus auch von der Art des Rückgangs: Nach Berechnungen des Verfassers führt ein linearer Rückgang der Geburtenrate auf das Bestandserhaltungsniveau im Vergleich zu einem beispielsweise hyperbelförmigen zu einer Bevölkerungszahl im Jahr 2050 von 11, 4 Mrd. statt 10, 0 Mrd. (vgl. Schaubild 1, Kurve C statt Kurve B). Es ist also nicht nur wichtig, daß überhaupt Erfolge bei der Verringerung der Geburtenrate erzielt werden, sondern daß sie jetzt erzielt werden. Wenn die gleichen Erfolge erst später eintreten, führt das zu einer unvermeidlichen zusätzlichen Erhöhung des Bevölkerungszuwachses, der durch später nachgeholte Maßnahmen der Bevölkerungs-und Familienplanungspolitik nicht mehr wettgemacht werden kann.
Ist es aber wahrscheinlich, daß die Geburtenrate schon bis 2050-60 auf 2, 1 Lebendgeborene pro Frau abnimmt, wie es die Weltbank in ihrer Projektion unterstellt? Zur Beantwortung dieser Frage muß man sich die Lebensbedingungen der Familien in den von äußerst unterschiedlichen Kulturen geprägten Entwicklungsländern vergegenwärtigen. In den Ländern, in denen die tradierte Kultur noch intakt ist, gebieten es die kulturellen Werte und die sozialen Normen und Verpflichtungen, die sich aus den stammesmäßigen, den familialen und den religiösen Geboten ergeben, daß die Frauen möglichst mehr als zwei bis drei Kinder zur Welt bringen. In den Ländern dagegen, in denen die tradierte Kultur zerstört ist, in denen die familialen Unterstützungssysteme zusammenbrechen, weil die Kinder in die Städte abwandern, können mit dem ökonomischen Motiv, Kinder zu haben, auch alle nichtökonomischen, kulturellen Momente an Gewicht verlieren, so daß die Geburtenrate keinen Regeln mehr folgt: In verzweifelten Lebenslagen kann sie sowohl extrem fallen als auch unkontrolliert zunehmen.
Da nur schwer abzusehen ist, wie schnell die Geburtenrate künftig im Durchschnitt aller Länder abnimmt, müssen Bevölkerungsprojektionen unter alternativen Annahmen durchgerechnet werden. Dabei ist eine völlig hypothetische Berechnungsvariante, bei der unterstellt wird, daß die heutige Geburtenrate der Weltbevölkerung im Verlauf nur eines einzigen Jahres auf das Bestandserhaltungsniveau sinkt, besonders interessant: Die Berechnung gibt Aufschluß über die Wucht und Eigendynamik des Weltbevölkerungswachstums, die sich aus der jungen Altersstruktur der Weltbevölkerung ergibt und daher praktisch unbeeinflußbar ist (= Bevölkerungsmomentum). Das Bevölkerungsmomentum der Weltbevölkerung beträgt (auf der Basis von 1990) 1, 4; d. h. die Bevölkerung würde auch bei einem sofortigen Fall der Geburtenrate auf das Bestandserhaltungsniveau um das 1, 4-fache, also um weitere 40 Prozent zunehmen. In den Ländern mit besonders junger Altersstruktur ist das Bevölkerungsmomentum noch größer; es kann Werte von 60 und 70 Prozent annehmen (z. B. Nigeria = 1, 6; Kenia = 1, 7; Mexiko = 1, 7; Algerien = 1, 7).
IV. Eine bevölkerungswissenschaftliche Interpretation des demo-ökonomischen Entwicklungsprozesses
Abbildung 9
Schaubild 4: Demographisch verursachte Problemketten in Industrie-und Entwicklungsländern
Schaubild 4: Demographisch verursachte Problemketten in Industrie-und Entwicklungsländern
Gibt es in den Wechselwirkungen zwischen Bevölkerung und Entwicklung Selbstregulierungsmechanismen, die dafür sorgen, daß das Welt-bevölkerungswachstum „von selbst“ zum Stillstand kommt, wie schon der vormalthusianische Klassiker der Bevölkerungswissenschaft, J. P. Süßmilch, in seinem 1741 erschienenen Werk vermutete Die Theorie der demographischen Transforma-tion, die in unserem Jahrhundert aus dem Studium der historischen Entwicklung der Geburtenrate und der Sterberate in den heutigen Industrieländern während der letzten 200 Jahre entstand, gibt auf diese Frage die folgende Antwort: Jedes Land durchläuft in seiner Entwicklung drei Phasen: In der vorindustriellen Phase sind die Geburten-und die Sterberate hoch und die Wachstumsrate (= Differenz zwischen Geburten-und Sterberate) vergleichsweise niedrig, nämlich rd. ein Prozent. In der zweiten Phase (= Übergangsphase bzw. Transformationsphase) sinkt die Sterberate bei zunächst unverändert hoher Geburtenrate, so daß die Wachstumsrate der Bevölkerung zunimmt. In der dritten, industriellen Phase folgt die Geburtenrate dem Sinken der Sterberate nach, und die Wachstumsrate der Bevölkerung nimmt wieder ab
Die von den Autoren der Transformationstheorie nicht genau beantwortete Frage ist, wie groß die Wachstumsrate am Ende der dritten, industriellen Phase ist. Gerhard Mackenroth, der die Transformationstheorie in der bisher detailliertesten Form ausgearbeitet hat, vertrat die These, daß die Wachstumsrate nahe Null sei, aber nicht negativ werden könne Diese These ist inzwischen durch die tatsächliche Entwicklung widerlegt: Die Geburtenrate ist in nahezu allen Industrieländern unter die Sterberate gesunken, die Wachstumsrate ist also negativ, wenn das Geburtendefizit nicht durch Wanderungen kompensiert wird (d. h., die Nettoproduktionsrate ist kleiner als 1). In den heutigen Industrieländern haben die Selbstregulierungsmechanismen nicht nur zu einer Beendigung des Bevölkerungswachstums, sondern -ohne den Ausgleich durch Wanderungen -zu einer dauernden Bevölkerungsschrumpfung geführt. Dies gilt insbesondere für Deutschland
Läßt sich die Erfahrung der heutigen Industrieländer auf die Entwicklungsländer -die künftigen Industrieländer -übertragen? Die Analogie drängt sich auf, ist aber schon deshalb abwegig, weil die Geburtenrate der heutigen Entwicklungsländer wesentlich höher und ihre Sterberate wesentlich niedriger ist, als dies in den heutigen Industrieländern vor 150-200 Jahren der Fall war. Statt die altehrwürdige und durch die Entwicklung überholte Theorie der demographischen Transformation zu bemühen, sollte die heutige demographische Wirklichkeit analysiert und auf ihre Konsequenzen für die Zukunft untersucht werden. Gehen wir z. B. von einem Entwicklungsland mit hohem Bevölkerungswachstum und beginnender Industrialisierung aus, z. B. von Thailand, Malaysia oder Indonesien (also nicht von einem afrikanischen Land!), dann lassen sich die demo-ökonomischen Wechselwirkungen in bestimmte Wirkungszusammenhänge untergliedern
Beginnen wir mit der Erläuterung der Wirkungszusammenhänge in Schaubild 3 bei der Bevölkerungszahl. Sie steht in einem direkten Zusammenhang mit der Arbeitskräftezahl, wobei wir hier der Einfachheit halber von zusätzlichen Einflüssen der Alters-und Geschlechtsstruktur und des Erwerbs-verhaltens auf die Arbeitskräftezahl absehen (Pfeil 1). Die Arbeitskräftezahl beeinflußt ihrerseits das Bruttosozialprodukt (Pfeil 2) und dieses das Ausmaß des volkswirtschaftlichen Spar-bzw. Investitionsvolumens (Pfeil 3), von dem wiederum die Menge des in der Volkswirtschaft verfügbaren physischen Produktionskapitals (Fabrikationsanla-gen, Infrastruktur) abhängt. Je höher die Menge an Produktionskapital pro Arbeitskraft (= Kapitalintensität) ist, desto größer ist die Menge der hergestellten Güter pro Arbeitkraft (= Arbeitsproduktivität), und desto höher das Pro-Kopf-Einkommen (Pfeil 4).
Ein anderer Wirkungsstrang beginnt ebenfalls bei der Bevölkerungszahl und setzt sich auch bis zum Pro-Kopf-Einkommen fort: Es ist plausibel anzunehmen, daß in einer wachsenden Bevölkerung mit vielen jungen, gut ausgebildeten und mobilen Menschen, die über den neuesten Stand des wissenschaftlich-technischen Wissens verfügen, mehr Erfindungen gemacht und mehr Neuerungen durchgesetzt werden als in einer demographisch alten Gesellschaft, in der die Menschen mehr einen betrachtenden, rückwärtsgewandten Lebensstil pflegen, der die Vorzüge der Gelassenheit, der Reife und des Rückzugs auf das Wesentliche betont. Jedenfalls wäre die umgekehrte Annahme, daß der technische Fortschritt um so intensiver ist, je älter eine Bevölkerung ist -bzw. die Annahme, daß zwischen Altersstruktur und technischem Fortschritt überhaupt kein Zusammenhang existiert -weniger plausibel (Pfeil 5).
Neben zahllosen anderen Einflußgrößen ist der technische Fortschritt auch davon abhängig, welchen Umfang die volkswirtschaftliche Produktion hat (Zwang zu technischen Neuerungen bei großen Stückzahlen, Serienfertigung, Automatisierung usw.). Deshalb führt ein weiterer Pfeil vom Sozialprodukt als Maß für die Menge an produzierten Gütern und Dienstleistungen zum technischen Fortschritt (Pfeil 6). Wir konzentrieren uns in diesem Schema auf die Höhe des Sozialprodukts als Quelle des technischen Fortschritts (weitere sind unter anderem die Qualität der Ausbildung und kulturelle Faktoren wie das Leistungsstreben) und kehren zum Pro-Kopf-Einkommen zurück, das von der Intensität des technischen Fortschritts unmittelbar abhängt (Pfeil 7).
Wir gehen nun von den ökonomischen zu den demo-ökonomischen Wirkungszusammenhängen über, den Zusammenhängen zwischen ökonomischen und demographischen Größen: Je höher das Pro-Kopf-Einkommen in einem Land ist, desto größer ist unter sonst gleichen Umständen (diese Bedingung gilt unausgesprochen immer) das entgangene Lebenseinkommen, wenn eine Frau auf ein eigenes Einkommen durch Erwerbsarbeit verzichtet, um Kinder großzuziehen. Wir bezeichnen dieses entgangene Einkommen als ökonomische Opportunitätskosten (Pfeil 8), wobei der Begriff „Kosten“ im Sinne von „unter anderen Bedingungen möglich erscheinendes Einkommen“ verwendet wird, nicht i. S. von realen Ausgaben.
An diesem Punkt beziehen wir die neuere bevölkerungswissenschaftliche Theorie mit ein, die den bisher ausschließlich im ökonomischen Sinn gebrauchten Begriff der Opportunitätskosten durch die biographischen Opportunitätskosten erweitert: Darunter sind die nur in der Vorstellung der Individuen existierenden, theoretisch möglichen Lebenslaufalternativen und Lebensinhalte zu verstehen, die aus dem Spektrum der biographischen Möglichkeiten ausscheiden, wenn bestimmte Lebenslaufalternativen durch langfristige Festlegungen in Form von Partnerbindungen oder Kindern nicht mehr realisierbar sind. Die Gesamtmenge der biographischen Lebenslaufalternativen (vorgestellte mögliche Lebensläufe einer Person) wird als biographisches Universum bezeichnet. Dieses biographische Universum des einzelnen schrumpft, wenn biographische Alternativen aus der Menge sonst möglicher biographischer Entwicklungsverläufe durch langfristige irreversible Festlegungen im Lebenslauf ausscheiden. Die ausgeschiedenen Alternativen sind die biographischen Opportunitätskosten
Zahl und Art der alternativen Lebensläufe im biographischen Universum einer Person sind je nach Herkunft, Erziehung und sozialem Umfeld von Individuum zu Individuum verschieden; sie hängen auch von einer Reihe von Größen auf der Makro-ebene ab, insbesondere vom technischen Fortschritt: Neue Technologien führen zu neuen Berufen und Tätigkeitsfeldern, im Gegenzug sterben auch Berufe aus. Historisch gesehen verbreiterte sich das Spektrum biographisch-ökonomischer Existenzmöglichkeiten seit der Industrialisierung ständig, d. h., das biographische Universum des einzelnen expandierte. Für die Geburtenrate bedeutete dies, daß „man“ seit Anfang des 20. Jahrhunderts Kinder nicht einfach nur „hatte“, wie sich Thomas Mann einmal zu diesem Thema äußerte, sondern das Kinderhaben wurde zum Gegenstand einer identitätsstiftenden bzw. identitätsbewahrenden Reflexion und einer biographischen Entscheidung.
Die biographische Fertilitätstheorie besagt, daß die Vielfalt biographischer Entwicklungsmöglichkeiten im langfristigen Trend zunimmt und damit die biographischen Opportunitätskosten und Festlegungsrisiken steigen. Das hat zur Folge, daß langfristige Festlegungen vermieden werden, so daß mehr und mehr Geburten unterbleiben und die Kinderlosigkeit zunimmt (Pfeil 9). Hinzu kommt, daß die biographischen Opportunitätskosten gerade in dem für die Familiengründung wichtigen Altersbereich von 20 bis 35 Jahren größer sind als in höherem Alter und von Jahrgang zu Jahrgang weiter zunehmen, so daß der Kinder-wunsch aufgeschoben und dann oft ganz auf Kinder verzichtet wird (Pfeil 10). In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird dieser Prozeß als Wertewandel und als demographischer Wandel thematisiert. Die biographische Fertilitätstheorie steht nicht im Widerspruch zur soziologischen oder ökonomischen Fertilitätstheorie, sondern verbindet sie in einem interdisziplinären Ansatz.
Der Wandel des generativen Verhaltens ist somit das ungeplante, ungewollte und unvermeidliche Ergebnis des sozio-ökonomischen Entwicklungsprozesses. Je weiter ein Land in seiner Entwicklung fortgeschritten ist, desto stärker wirken sich die Einführung und der Ausbau von kollektiv finanzierten wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen wie Alters-und Krankenversicherung (demnächst auch die Pflegeversicherung) als zusätzlicher Faktor zu den biographisch-individuellen Faktoren aus. Im Ergebnis weicht dann die Geburtenrate um so mehr von dem für die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderlichen Niveau ab, je größer der individuelle Wohlstand und die kollektive Wohlfahrt sind (Pfeil 11). Mit der Geburtenrate sind wir im Schaubild 3 wieder am Beginn der Betrachtung angelangt -der Kreis schließt sich in der Weise, daß die niedrige Geburtenrate zu einer Verlangsamung des Wachstums oder sogar zu einem Schrumpfen der Bevölkerung führt (Pfeil 12), wie dies z. B. in der Bundesrepublik der Fall ist. Die Überlegungen lassen sich auch auf die Entwicklungsländer anwenden, in denen der Industrialisierungsprozeß den demographischen Wandel fördert. Dies gilt insbesondere für einige Länder und Stadtregionen in Asien, wo die „Revolution des generativen Verhaltens“ bereits zu einem drastischen Rückgang der Geburtenraten führte
Wir hatten die Betrachtung mit der Frage begonnen, was geschieht, wenn die Bevölkerung wächst. Die durch das Wachstum ausgelösten Wirkungen führen nach dem Durchlauf durch das demo-ökonomische System zu Rückwirkungen, die das ursprüngliche Bevölkerungswachstum dämpfen. Haben wir es also mit einem sich selbst regulierenden System zu tun, das dafür sorgt, daß die Bevölkerung „endlich, ohne gewaltsame und außerordentliche Mittel zu einem Stillstand von selbst kommen müsse“, wie Süßmilch schon 1741 vermutete, während Malthus diesen wachstumsbegrenzenden Mechanismus leugnete?
Nach allem, was wir heute wissen oder vermuten können, existiert eine teilweise Selbstregulation der Bevölkerungsveränderung durch demo-ökonomische Regelkreise und Rückkopplungen. Aber wir dürfen nicht einfach hoffen, daß durch die Selbstregulation sowohl das drastische Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern als auch die drohende Schrumpfung in den Industrie-ländern verhindert und ein Gleichgewichtszustand erreicht wird. Es ist wahrscheinlich, daß die Selbstregulation zwar wirkt, aber nicht in ausreichendem Maße: -In den besonders armen Entwicklungsländern sind die demo-ökonomischen Wirkungszusammenhänge durch die existentielle Not der Menschen stark beeinträchtigt oder sogar ganz außer Kraft gesetzt. Dort gilt: Je größer das Elend ist, desto stärker ist die Bevölkerungszunahme, so daß von einer Selbstregulation der Bevölkerungsentwicklung nicht gesprochen werden kann („Zirkel der Armut“). -In den besonders reichen Industrieländern ist die Selbstregulation aus den umgekehrten Gründen fraglich: Nichts deutet darauf hin, daß die Bevölkerungsschrumpfung anders aufgehalten werden könnte als durch dauernde massenhafte Einwanderungen („Zirkel des Reichtums“).
Und wie steht es mit der Weltbevölkerung insgesamt? Bevölkerungswachstum in den armen Ländern und Bevölkerungsschrumpfung in den reichen gehen nicht in einem problemlosen Gesamtdurchschnitt auf. Deshalb muß die Politik den Versuch unternehmen, die demo-ökonomischen Prozesse zu steuern. Die entscheidende Frage ist dabei, ob die Geburtenrate in den Entwicklungsländern durch eine integrierte Entwicklungs-, Bevölkerungs-, Gesundheits-und Familienpolitik so schnell verringert werden kann, daß die zivilisatorische Entwicklung mit dem Bevölkerungswachstum zumindest Schritt hält und wir den Wettlauf gegen die Zeit nicht verlieren.
V. Das Dilemma zwischen Umwelt und Entwicklung am Beispiel des Treibhausgases Kohlendioxid
Abbildung 10
Schaubild 5: Prinzipielle Zusammenhänge zwischen Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung und Energieproduktion bzw.den energiebedingten C 02-Emission um 1990 Quelle: H. Birg, 1994.
Schaubild 5: Prinzipielle Zusammenhänge zwischen Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung und Energieproduktion bzw.den energiebedingten C 02-Emission um 1990 Quelle: H. Birg, 1994.
Theoretisch gesehen hätte die Weltgemeinschaft -vorausgesetzt, es gäbe sie -die Macht, die wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten und das ökonomische Potential, um die Erde unter größtmöglichstem Schutz der Natur in ein Paradies zu verwandeln. Daß dies nicht geschieht, liegt bekanntlich daran, daß es eine Weltgemeinschaft oder die Menschheit als Handlungssubjekt nicht gibt. Die zentralen menschlichen Akteure sind das Individuum, die Familie, die soziale Gruppe, der Stamm und allenfalls die Nation. Machtvolle supra-bzw. internationale Handlungssubjekte, die die Menschheit zur Lösung ihrer globalen Probleme benötigen würde, gilt es erst noch zu entwickeln. Wie sind die Aussichten, daß dies gelingt?
Daß so etwas wie eine Weltgemeinschaft außerhalb der Köpfe und Herzen von Träumern und Idealisten (noch) nicht existiert, besagt bereits, daß wir es trotz der naturwissenschaftlich-technischen Dimension der Umweltprobleme in erster Linie mit einem sozialen Problem zu tun haben, das somit durch Anstrengungen auf sozialem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet -also letztlich auf dem Feld der Kultur -gelöst werden muß, damit es ökonomisch und technisch bewältigt werden kann. Erst aus dieser kulturellen Perspektive wird verstehbar, warum die globalen Umweltprobleme -die Klimaveränderung, das Artensterben, die Zerstörung der schützenden Ozonschicht und die Vernichtung sensibler terrestrischer und mariner Ökosphären -diese spezifische, allgemeine Bedrückung hervorrufen: Unser Wissen, daß sich diese Probleme im Prinzip vermeiden oder technisch lösen ließen, macht uns bewußt, daß unser Versagen kulturell bedingt ist.
Die Aufgabe besteht also primär darin, zunächst die kulturell bedingte Problemlösungsfähigkeit zu gewinnen, damit die Probleme real bewältigt werden können. Wir berühren hier eine Frage, die in der öffentlichen Diskussion bisher im Hintergrund blieb: Wie wirkt der Wandel der demographisch relevanten Verhaltensweisen der Individuen auf dem Umweg über die dadurch ausgelösten Folgen für das Gesellschafts-und Wirtschaftssystem auf die ethischen Grundlagen des individuellen Handelns zurück? Mit anderen Worten: Haben die im vorangegangenen Abschnitt auf eine technische und abstrakte Weise beschriebenen demo-ökonomischen Wirkungszusammenhänge kulturelle und ethische Nebenwirkungen, die die demographische Basis der Gesellschaft destabilisieren?
Daß die Länder mit schrumpfender Bevölkerung und die Länder mit wachsender Bevölkerung ihre Gesellschaftssysteme auf eine je eigene Weise demographisch gefährden, liegt auf der Hand. Die diesbezüglichen demographisch bedingten Probleme haben eine Folgerichtigkeit, welche kommentierende Erläuterungen überflüssig erscheinen lassen, deshalb sollen diese Probleme hier nur in Form eines Katalogs benannt werden (s. Über-blick in Schaubild 4). In dieser Übersicht nehmen die grenzüberschreitenden Umweltprobleme die letzte Stelle ein, sie sind aber in Wahrheit die folgenreichsten Zukunftsprobleme überhaupt. Diessei im folgenden an Hand eines Beispiels, der Gefahr der anthropogenen Klimaänderung durch das Treibhausgas Kohlendioxid, veranschaulicht.
Nach Untersuchungen der Bundestags-Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ beträgt die Menge des energiebedingten, von den Industrieländern emittierten Treibhausgases CO 2 zur Mitte der neunziger Jahre 18, 4 Mrd. Tonnen, die von den Entwicklungsländern emittierte Menge dagegen nur 5, 6 Mrd. Tonnen. Pro Kopf ist die Diskrepanz zwischen Industrie-und Entwicklungsländern noch wesentlich größer
Industrieländer: 14, 7 Tonnen pro Kopf und Jahr Entwicklungsländer: 1, 3 Tonnen pro Kopf und Jahr Welt: 4, 2 Tonnen pro Kopf und Jahr
Die Gefahren des anthropogenen Treibhauseffekts werden in den Medien häufig genug beschrieben, daher genügt es hier, Stichworte aufzuführen: Meeresspiegelanstieg, Niederschlagsänderungen, Änderungen der Windgeschwindigkeiten und der Häufigkeit von Stürmen, Verschiebung der Vegetationszonen, Schwund des Permafrostes, veränderte Schädlingshäufigkeit, Ausbreitung von Krankheiten usw. Die Klimaänderungen haben eine Fülle von Auswirkungen auf die Wirtschaft, insbesondere die Landwirtschaft, die Ernährung, die Verkehrs-und Siedlungssysteme usw. Aus der Fülle der von der Enquete-Kommission genannten Beispiele sei hier das folgende ausgewählt: „Gebiete mit relativ geringem landwirtschaftlich nutzbaren Flächenanteil, die gleichzeitig nach Klimamodellrechnungen mit reduzierter Bodenfeuchte zu rechnen haben, sind: Maghreb, Westafrika, Horn von Afrika, südliches Afrika, Westarabien, Teile Südostasiens, Mexiko, Mittelamerika, Teile Ostbrasiliens...“ Die Regionen, die Getreide exportieren, müssen besonders betrachtet werden; so ist z. B.der größte Teil des Inneren Nordamerikas nach den Ergebnissen der Klimamodelle von einerreduzierten Bodenfeuchte -und damit von erheblich niedrigeren Ernten -betroffen
Bei den internationalen Bemühungen um eine Begrenzung der energiebedingten C 02-Emissionen gibt es zwei Hauptprobleme: 1.der steigende Energiebedarf durch den wirtschaftlichen Wachstumsprozeß der Entwicklungsländer, 2. die extremen Diskrepanzen zwischen den Pro-Kopf-Emissionen der Industrie-und der Entwicklungsländer. Die Verwirklichung des von den UN proklamierten „Rechts auf Entwicklung“ kollidiert mit dem gleichzeitig proklamierten „Recht auf eine gesunde Umwelt“, und beide gemeinsam werden vom „Recht auf demographische Selbstbestimmung“ beeinträchtigt, falls dessen Verwirklichung bedeutet, daß sich die Bevölkerungswachstums-rate nicht oder nicht schnell genug verringert. Das Dilemma ist in Schaubild 5 durch zwei Zusammenhänge veranschaulicht: Die zwei wichtigsten Indikatoren für den Entwicklungsstand eines Landes sind das „Pro-Kopf-Einkommen“ und die „Lebenserwartung“. Beide korrelieren positiv mit den energiebedingten „Pro-Kopf-Emissionen von CO 2“. Eine Eindämmung der CCVEmissionen in den Entwicklungsländern bzw. eine Verhinderung ihres Anstiegs müßte mit einer Einbuße ihrer Entwicklungsziele bezahlt werden.
Nach dem Gerechtigkeitsprinzip müssen den Entwicklungsländern die gleichen Pro-Kopf-Emissionen an C 02 zugestanden werden wie den Industrieländern. Stellt man gleichzeitig die Forderung auf, daß die C 02-Emissionen weltweit zumindest nicht weiter zunehmen dürfen, dann lassen sich beide Forderungen nur erfüllen, wenn z. B. die Pro-Kopf-Emission der Entwicklungsländer verdoppelt und die der Industrieländer um 85 Prozent reduziert wird. In Schaubild 6 (Mitte) ist dieses Szenario dargestellt (= „Welt-I-Szenario“). Im Jahre 2050 betrüge die Pro-Kopf-Emission unter diesen Annahmen in beiden Ländergruppen einheitlich 2, 27 Tonnen pro Jahr. Das Szenario würde zwar keine Reduzierung, aber immerhin eine Stabilisierung der weltweit wachsenden absoluten C 02-Emissionen bedeuten. Das Welt-I-Szenario ist wahrscheinlich unrealistisch, und zwar aus zwei Gründen: Erstens erscheint eine 85prozentige Reduktion der Pro-Kopf-Emission in den Industrie-ländern als nicht durchsetzbar und zweitens reicht eine nur auf das Doppelte wachsende Pro-Kopf-Emission in den Entwicklungsländern nicht aus, um die angestrebte Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens und das dafür nötige Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Wenn es trotzdem gelänge, das „Welt-I-Szenario“ zu verwirklichen, dann würden die Entwicklungsländer auf Grund ihrer hohen und wachsenden Bevölkerung im Jahr 2050 20 Mrd. Tonnen CO 2 emittieren und die Industrieländer 3, 3 Mrd. Tonnen -zusammen wären dies rd. 23 Mrd. Tonnen gegenüber 24 Mrd. Tonnen heute (s. unterer Teil von Schaubild 6). Dies würde bedeuten, daß sich die Belastungsrelationen umkehren: Heute ist die Belastung durch die Industrieländer mehr als dreimal so groß wie die durch die Entwicklungsländer; im Jahr 2050 wäre die Belastung durch Entwicklungsländer sechsmal so groß wie die durch die Industrieländer.
Die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ schlägt ein viel drastischeres Reduktionsszenario vor, bei dem die Gesamtemissionen der Welt von 24 Mrd. Tonnen (1995) auf zehn Mrd. Tonnen (2050) zurückgehen: Bei diesem Szenario sollen zwar die Industrieländer ebenfalls die Pro-Kopf-Emissionen um 85 Prozent verringern, aber auch die Entwicklungsländer müßten ihre Pro-Kopf-Emissionen zurückschrauben, und zwar von 1, 3 (1995) auf 0, 81 Tonnen im Jahr 2050 (s. „WeltII-Szenario“ in Schaubild 6). Durch den Vorschlag der Kommission wäre das Umwelt-Ziel zwar besser erfüllt, aber dies stünde im Widerspruch zum Recht auf Entwicklung bzw. zum Gerechtigkeitsziel (gleicher Anspruch auf Pro-Kopf-Emissionen). Das Dilemma ist unlösbar.
VI. Ausblick
Abbildung 11
Schaubild 6: Zusammenhänge zwischen der Bevölkerungsentwicklung in Industrie-und Entwicklungsländern und den energiebedingten (^-Emissionen Quelle: H. Birg, 1994.
Schaubild 6: Zusammenhänge zwischen der Bevölkerungsentwicklung in Industrie-und Entwicklungsländern und den energiebedingten (^-Emissionen Quelle: H. Birg, 1994.
Die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf die Umwelt lassen sich in eine quantitative (Menschenzahl) und eine qualitative Komponente (Verhaltensweisen) differenzieren. Die Frage, welche der Komponenten das größere Gewicht hat, ist für den Entwurf von Lösungsstrategien von direkter Bedeutung. Bei industriell erzeugten Gütern und beim Verbrauch kommerziell erzeugter Energie liegt der Pro-Kopf-Verbrauch an Ressourcen und die Pro-Kopf-Emission umweltschädigender Substanzen in den Industrieländern um mehr als das Zehnfache über den entsprechenden Pro-Kopf-Zahlen der Entwicklungsländer. Es liegt daher auf der Hand, daß in den Industrieländern mit umweltorientierten Sofortmaßnahmen begonnen werden muß. Die entsprechenden Forderungen richten sich z. Zt. primär auf eine Erhöhung der Energieeffizienz bzw. allgemein der Ressourcen-effizienz der industriellen Volkswirtschaften. Eine allgemeine ökotechnologische Revolution der Pro-duktions-und Konsumweisen soll den Verschwendungswohlstand der Industrieländer beenden und in einen für die Entwicklungsländer kopierbaren Wohlstand transformieren (E. U. von Weizsäcker). Für die Verwirklichung dieser Ziele ist die Berücksichtigung der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Bereichen Bevölkerung, Umwelt und wirtschaftlich-wissenschaftlichem Fortschritt von grundlegender Bedeutung
Diese Vorschläge basieren vor allem auf der qualitativen, verhaltensbedingten Komponente der Umweltauswirkungen der Bevölkerung. Sie versprechen sofortige Erfolge und sollten mit höchster Priorität umgesetzt werden. Aber wenn es um die langfristig nötigen Umweltverbesserungen geht, die die Lebensinteressen künftiger Generationen mitberücksichtigen, gewinnt die quantitative Komponente der Umweltauswirkungen durch das Bevölkerungswachstum ein entscheidendes Gewicht. Infolge seiner großen Bevölkerungszahl und seines stürmischen Wirtschaftswachstums könnte z. B. China schon in zehn Jahren der zweitgrößte Emittent an Kohlendioxid nach den USA sein. Bei der Emission von Schwefeldioxid ist China schon heute im Begriff, die USA zu überholen
Das schlimmste Szenario ist, daß die negativen Umweltauswirkungen des quantitativen und die des qualitativen demographischen Faktors kombi niert auftreten und sich multiplizieren. Genau dies ist bereits im Gange. Die Menschen in den Entwicklungsländern haben verständlicherweise das Ziel, den gleichen Weg des Konsumwohlstandes, den wir als Irrweg erkannt haben, so schnell wie möglich ebenfalls zu beschreiten. Sie werden genau das zu tun versuchen, was wir an uns selbst kritisieren: so viel wie möglich zu konsumieren. Nichts spricht dafür, daß die Menschen in den Entwicklungsländern bessere Menschen sind als wir oder daß sich die hinduistische, konfuzianische oder islamische Kultur im Hinblick auf die globalen Umweltprobleme der abendländischen als überlegen erweist. Ich bin eher vom Gegenteil überzeugt, denn die Idee der Menschenrechte und der Gedanke der Verantwortung des einzelnen und der Nationen gegenüber der Menschheit als Ganzes sind Ideen, die in der abendländischen Kultur entstanden. Bei der Eindämmung der globalen Umweltprobleme werden sie sich noch als existentiell wichtig erweisen. Es kommt allerdings darauf an, sie zu verwirklichen. Dazu müssen wir dem gesellschaftlichen Fortschritt, der nach Malthus aus demographischen Gründen unmöglich ist, weltweit zum Durchbruch verhelfen.
Trotz der langfristig steigenden Bedeutung des demographischen Faktors für die Umwelt wird die Menschheit nicht an ihren Bevölkerungsproblemen zugrunde gehen; wesentlich größer sind die Gefahren, die sich aus der Art des intellektuellen und politischen Umgangs mit ihnen ergeben. Dabei ist die einseitige Betonung des demographischen Faktors genauso von Übel wie dessen Verharmlosung oder Ignorierung.
Herwig Birg, Dr. rer. pol., geb. 1939; seit 1981 Direktor am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik sowie Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bielefeld; Co-Leiter des Funkkollegs „Humanökologie -Weltbevölkerung, Ernährung, Umwelt“; vormals stellv. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e. V., Wiesbaden; Mitglied der International Union for the Scientific Study of Population und der Akademie für Raumforschung und Landesplanung Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Zur Interdependenz der Bevölkerungs-und Arbeitsplatzentwicklung, Berlin 1979; Der Bevölkerungsrückgang in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt-New York 1987; Biographische Theorie der demographischen Reproduktion, Frankfurt-New York 1991; Migrationsanalyse, Bonn 1993; „Eigendynamik des Weltbevölkerungswachstums“, in: Spektrum der Wissenschaft, (1994) 9.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).