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Die DDR -ein Blick aus Wünsdorf. Persönliche Eindrücke eines russischen Offiziers | APuZ 40/1994 | bpb.de

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APuZ 40/1994 Die Etablierung des Marxismus-Leninismus in der SBZ/DDR (1945-1955) War die DDR totalitär? Kein Recht gebrochen?. Das MfS und die politische Strafjustiz der DDR Ein deutscher Sonderweg Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR Die DDR -ein Blick aus Wünsdorf. Persönliche Eindrücke eines russischen Offiziers

Die DDR -ein Blick aus Wünsdorf. Persönliche Eindrücke eines russischen Offiziers

Juri W. Bassistow

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Zusammenfassung

Mit Juri W. Bassistow plaudert ein wichtiger Mitarbeiter der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) „aus dem Nähkästchen“. Dieser Bericht eines Zeitzeugen gibt sowohl Einblicke in das Leben der Sowjets in der DDR als auch in die Beziehungen zwischen der GSSD und den DDR-Funktionären. Daß die DDR nur begrenzt eigenständig handeln konnte, wird ebenso deutlich wie die aktive Rolle der Sowjetunion beim Sturz Walter Ulbrichts. Letztendlich hing das DDR-Regime immer von der Gnade Moskaus ab^

Ein halbes Jahrhundert dauerte der Aufenthalt der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) auf ostdeutschem Territorium. Das Hauptquartier der Gruppe in Wilnsdorf spielte eine bedeutende Rolle in der gesamten Deutschlandpolitik der Sowjetunion. Seit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war die GSSD einer der einflußreichsten Faktoren, die die politische Situation im Lande bestimmten. Die Stationierung sowjetischer Truppen in der DDR wurde zum wichtigsten Mittel für den Machterhalt der SED, zur Stärkung der Positionen des Sozialismus in Europa, zur entscheidenden Voraussetzung für die Unterstützung und eventuelle Entwicklung des „revolutionären Prozesses“ in diesem Schlüsselgebiet der Welt. Über 13 Jahre verlief meine militärische Laufbahn in Deutschland, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Militäradministration in Karlshorst und später beim Oberkommando der GSSD in Wünsdorf. Im Jahre 1959 erhielt ich den Auftrag, die 7. Abteilung in Wünsdorf zu leiten. Dieser spezielle Dienst hatte während des Krieges Propagandaaktionen unter den feindlichen Truppen durchgeführt. Seine Hauptfunktion in der GSSD bestand nun darin, die Beziehungen mit den Staats-und Parteiorganen, den gesellschaftlichen Organisationen und der Nationalen Volksarmee der DDR zu pflegen. (Zugleich behielt die Abteilung ihre alte Funktion bei -die Bereitschaft zur psychologischen Kriegsführung.)

Die GSSD nahm einen besonderen Platz in den sowjetischen Streitkräften ein. Es war die größte militärische Gruppierung außerhalb des Landes, die die wichtigste strategische Position vor den Hauptkräften des NATO-Blocks besetzte. Alle Verbände -die in fünf Armeen zusammengefaßten 20 Panzer-und motorisierten Schützendivisionen, die Luftwaffe und Truppenteile zentraler Unterordnung -waren mit modernsten Waffen ausgerüstet. Einzelne Truppen der GSSD befanden sich Vorabdruck aus: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1994, hrsg. von Hermann Weber u. a., Akademie Verlag Berlin, Berlin 1994. stets in Alarmbereitschaft, sie waren in der Lage, sofort mit Kampfhandlungen zu beginnen.

Im Rahmen von Stabs-und Truppenübungen wurden offensive Operationen im westeuropäischen Raum mit dem Einsatz von Atomwaffen durchgespielt. Eine offensive Frontoperation sah vor, in zehn bis zwölf Tagen den Rhein zu erreichen. Die Zerstörungen und der Grad der radioaktiven Verseuchung des gesamten Kampfgeländes nach dem Einsatz zahlreicher atomarer Sprengköpfe wurden dabei nicht berücksichtigt. Und noch ein kleines Detail: Die Truppen der GSSD wären im Kriegsfall von Kampfgruppen der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) unterstützt worden. Über diese, in der Realität kaum vorstellbare Aktion informierte Herbert Mies den Oberkommandierenden der GSSD vertraulich während eines Empfangs in der sowjetischen Botschaft in Berlin.

Die Einheiten der Gruppe hatten immer einen kompletten Personalbestand und verfügten über Offizierskader bester Qualifikation. Ein großer Teil der Offiziere wurde nach vier-bis fünfjährigem Dienst in der GSSD befördert und in einen Militärbezirk in der UdSSR versetzt. Als frühere Oberkommandierende in Wünsdorf wirkten der Verteidigungsminister, Marschall Gretschko, der Chef des Generalstabs, Marschall Sacharow, die Oberkommandierenden der Streitkräfte des War-schauer Vertrages, die Marschälle Jakubowski und Kulikow und die Stellvertreter des Verteidigungsministers, die Generäle Kurkotkin und Iwanowski. Die GSSD mit ihrem Stab in Wünsdorf war eine ganz besondere Formation. Über zwei Grenzen von Moskau entfernt, ohne sowjetische Partei-und Staatsorgane in unmittelbarer Nähe, war die GSSD wie ein Staat für sich mit einem eigenen System der Versorgung, mit Schulen, Erholungsheimen, Rundfunk und sogar einem Theater.

Das Statut der GSSD wurde offiziell in dem Abkommen zwischen den Regierungen der UdSSR und der DDR vom 12. März 1957 festgelegt. Nach diesem Dokument durften sich die auf dem Territorium der DDR zeitweilig dislozierten sowjetischen Truppen nicht in die inneren Angelegen­ heilen der Republik einmischen. Änderungen der Zahlenstärke und Dislozierung der sowjetischen Truppen sollten Gegenstand von Konsultationen beider Regierungen sein. Dieser Punkt hatte aber rein formalen Charakter. Denn die sowjetische militärpolitische Leitung und das Oberkommando der GSSD trafen solcherlei Entscheidungen selbständig. Die Truppenstärke war ein militärisches Geheimnis. Komischerweise war auch die Dislozierung der Verbände streng geheim, obwohl sogar die Fahrer der Linienbusse wußten, wo dieses oder jenes russische Regiment stand. Als im Magazin „Der Spiegel“ eine Karte erschien, in der die Stationierungsorte der Armeen und Divisionen der GSSD präzise eingetragen waren, gab es in Wilnsdorf eine kleine Verwirrung. Doch die Geheimhaltungspflicht wurde aufrechterhalten -es galt, jederzeit wachsam zu sein.

Das Abkommen von 1957 forderte von allen Personen, die zur GSSD gehörten, daß sie das Recht der DDR respektierten. In Paragraph 5 wurde als „allgemeine Regel“ festgelegt, daß bei Straftaten, die durch Angehörige der GSSD oder deren Familienmitglieder verübt wurden, deutsches Recht zur Anwendung komme. Praktisch bis in die Zeit der Vereinigung Deutschlands wurde dieser Paragraph nicht angewendet. Das galt auch für das im Abkommen erwähnte Recht der DDR, die Abberufung von Personen der GSSD zu verlangen, die deutsches Recht verletzt hatten.

Beide Seiten wurden durch das Abkommen verpflichtet, den materiellen Schaden, der von Militärangehörigen oder deutschen Bürgern verursacht wurde, gegenseitig zu ersetzen. Die Entscheidung über diese Fragen wurde meistens von den Kommandeuren der Truppenteile und den örtlichen Organen an Ort und Stelle getroffen. In seltenen Fällen befaßte sich die deutsch-sowjetische Kommission mit diesen Problemen. Ihr gehörten Vertreter der DDR-Regierung, der sowjetische Botschafter und einer der Stellvertreter des Oberkommandierenden der Gruppe an. Mit dem Abkommen von 1957 war eine formaljuristische Grundlage geschaffen worden, die aber praktisch kaum etwas an den Bedingungen der Stationierung der sowjetischen Truppen änderte. Sie hatten, wie auch früher, Exterritorialrecht, unterlagen nicht der Kontrolle der Grenz-und Zollorgane, ebenso-wenig dem Gerichtsprinzip der DDR.

Die Beziehungen zwischen der GSSD und der deutschen Seite hingen von der Position des Ober-kommandos in Wünsdorf ab, das seinerseits von der Politik Moskaus in der deutschen Frage ausging. Eine bestimmende Rolle spielte die Haltung des Verteidigungsministeriums und der Politischen Hauptverwaltung, die einen Ausbau der Kontakte zwischen der GSSD und der DDR meistens zu bremsen versuchten.

Welche Vorstellungen über die DDR bestimmten die Wünsdorfer Sicht? Der offizielle Standpunkt ging von der Generallinie der sowjetischen Führung unter dem Motto „Brüderliche Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der KPdSU und der SED, den Völkern beider Länder“ aus. Das Oberkommando und die Politische Verwaltung der GSSD entwickelten auf dieser Grundlage das System des politischen Unterrichts in den Truppen. Dessen Inhalt kann man kurz folgendermaßen zusammenfassen: Die Truppen der GSSD haben die hohe Ehre, den Sowjetstaat und sein Volk auf dem Territorium unseres Verbündeten -der Deutschen Demokratischen Republik -zu vertreten. Sie wachen hier über die staatlichen Interessen der UdSSR und der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft und erfüllen ihre patriotische und internationale Pflicht. Damit leisten sie einen bedeutenden Beitrag zur Festigung der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen der Sowjetunion und der DDR. Die Soldaten der Gruppe wissen, daß die DDR ein sozialistisches Bruderland ist. In verschiedenen Varianten, reichlich garniert mit Zitaten aus den Werken der „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus und Reden der Generalsekretäre der KPdSU und der SED, servierte man den Militärangehörigen die gewohnten ideologischen Klischees und bediente sich aller Formen der politischen Einflußnahme.

Die Politische Verwaltung in Wünsdorf veröffentlichte regelmäßig Propagandamaterial über die DDR. Ab 1961 erschien ein Sammelband mit dem Titel „Deutsche Demokratische Republik“ -ein Nachschlagewerk für Offiziere. Neben propagandistischen Artikeln waren in dem Band Auszüge aus offiziellen Dokumenten der Regierungen der UdSSR und der DDR, Angaben über die politischen Parteien, die Bezirke und die Sehenswürdigkeiten der Republik enthalten. Es wurden auch Broschüren mit thematischen Schwerpunkten für die Truppen gedruckt, so z. B. „Die Nationale Kultur und Bräuche des deutschen Volkes“.

Die Soldaten, aber auch viele Offiziere, verfolgten das Leben in der DDR hauptsächlich aus den Fenstern der Kasernen. Die Truppenteile waren von hohen Zäunen umgeben. Sämtliche Kontakte der GSSD mit der deutschen Außenwelt standen unter ständiger Aufsicht des militärischen Sicherheitsdienstes, dessen Verwaltung ihren Sitz in Potsdamhatte. Die Kontrolle erstreckte sich auf alle Aspekte des Lebens in den Garnisonen. Das Städtchen Wilnsdorf war schrittweise von der deutschen Umgebung abgeriegelt worden. In dem von Offiziersfamilien bewohnten Teil hatte es anfangs eine deutsche Wäscherei und einen Friseursalon gegeben, die jedoch schließlich 1970 ebenfalls hinter den Schlagbaum gewiesen wurden. In den siebziger und achtziger Jahren konnte jeder Soldat während seines Dienstes zwei-bis dreimal an einer Exkursion teilnehmen. Mit Unterstützung der örtlichen Organe und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) wurden Ausflüge in einen volkseigenen Betrieb (VEB), eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) oder in ein Museum gemacht. Die stets von Offizieren begleiteten Exkursionen waren immer kollektiver Art. Auch an Feiertagen herrschte für die Soldaten Ausgehverbot, womit vor allem „unerwünschte Kontakte“ verhindert werden sollten. Die Isolierung der Soldaten betrachtete man als das sicherste Mittel, disziplinarische Verstöße zu vermeiden. Solche Vorkommnisse waren für einen Regimentskommandeur äußerst unangenehm, mit einer dienstlichen Untersuchung und einer nachfolgenden Rüge verbunden. Ein Versuch, die Sache zu verheimlichen, scheiterte meistens, da das Oberkommando in Wünsdorf täglich einen Auszug aus dem Sammelbericht des Ministeriums des Innern erhielt.

Jede Überschreitung der Schranken erregte die besondere Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane. Eine Offiziersfamilie, die mit einer deutschen Familie Bekanntschaft schloß, wurde sogleich unter die Lupe genommen. Nach einem privaten Besuch beim damaligen Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates und Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDUD), Gerald Gotting, haben wir das Ehepaar Gotting zu einem Besuch bei uns zu Hause in Wünsdorf eingeladen. Wie ich später erfuhr, war dieser Besuch einem „wachsamen“ Offizier Anlaß genug, über meine „perönlichen Kontakte mit Vertretern bürgerlicher Parteien“ Bericht zu erstatten, die genauso wie jene zu Vertretern der „Bruderpartei“ nicht erwünscht waren.

Auch jede Liebesgeschichte eines Offiziers mit einer deutschen Frau sorgte bei der militärischen Obrigkeit für größte Aufregung. Die übliche Entscheidung war die sofortige Versetzung des Verliebten in die Sowjetunion. Doch es gab Fälle, wo die jungen Leute nicht bereit waren, zu kapitulieren, und erfolgreich auf dem Recht zum Eheschluß in der Konsularabteilung der Botschaft „Unter den Linden“ beharrten.

Der Blick auf die DDR von seiten der Soldaten und Offiziere der Gruppe unterschied sich in vielen Aspekten vom offiziellen Standpunkt. Großes Interesse zeigte man für den Vergleich der Lebens-niveaus. Dabei tauchte immer die Frage auf, warum die Besiegten besser als die Sieger lebten. Aber antideutsche Stimmungen gab es sehr selten. Für die Masse der Militärangehörigen waren die Deutschen tüchtig und fleißig, ihre Lebensweise beneidenswert. Es ist zu berücksichtigen, daß die große Mehrheit der Offiziere mit ihren Familien in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte. Doch der Dienst in der DDR galt für einen Offizier aus materieller Sicht als der vorteilhafteste. Ein Hauptmann oder Major erhielt ein Monatsgehalt von 800 bis 1000 Mark, dazu kamen 150 bis 250 Mark Zuschuß für die Familie. Das Warenangebot der deutschen Geschäfte stand in krassem Gegensatz zu dem in der Sowjetunion. Ein Aufenthalt von vier bis fünf Jahren in der DDR gab einer Offiziersfamilie die Möglichkeit, nicht nur Kleidung und Wirtschaftswaren zu beschaffen, sondern auch den Teil des in Rubeln ausbezahlten Gehalts zu sparen.

Zur Zeit meiner Ankunft waren die Kontakte mit der deutschen Außenwelt äußerst eingeschränkt. Dies war die Folge des üblichen Mißtrauens des bolschewistisch-sowjetischen Systems gegenüber dem Ausland und seinen Vertretern. Die militärische Spitze, die den Parteiweisungen immer gehorsam folgte, bildete darin keine Ausnahme. Aber der alte „bolschewistische Isolationismus“ bedurfte unter den Bedingungen der „Sozialistischen Staatengemeinschaft“ bestimmter Korrekturen. Die im Ausland dislozierten Armeegruppen konnten diese Notwendigkeit unmittelbar spüren.

Eine der ersten „Schwalben“ in Wünsdorf war die Installierung eines R-Apparates der Regierungszentrale im Büro unserer Abteilung. Die ersten Anrufe mit der Meldung „Hier das Oberkommando der GSSD“ bewirkten unverhohlenes Erstaunen bei deutschen Gesprächspartnern. Allmählich entstanden regelmäßige Kontakte mit deutschen Organen, ähnliche Schritte folgten seitens der Armeen und Divisionen. Im Januar 1960 Unterzeichneten die Politische Verwaltung der GSSD und der Zentralvorstand der DSF den ersten gemeinsamen Begegnungsplan. Er wurde in Wünsdorf sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die „Isolationisten“ glaubten, so etwas sei völlig unzulässig und nur dem Außenministerium gestattet. Dem Abteilungsleiter drohte ein Parteiverfahren, das jedoch nicht eingeleitet wurde.In den folgenden drei Jahrzehnten wurde jeden Monat ein Plan vorbereitet, der reguläre Kontakte -meistens auf kultureller Basis -vorsah. Die Gesangs-und Tanzensembles der Gruppe (es gab ein zentrales in Wünsdorf und eines in jeder Armee) traten öfter vor deutschem Publikum auf. Es wurden Filme ausgetauscht, die Offiziere in Wünsdorf und ihre Familien erhielten Einladungen zu Vorstellungen in der Staatsoper oder im Metropol-Theater in Ost-Berlin. In Wünsdorf sowie in größeren Garnisonen -etwa Dresden, Magdeburg oder Potsdam -hielten deutsche Lektoren Vorträge über die Innen-und Außenpolitik der DDR. Politoffiziere wurden ein-bis zweimal im Jahr zum Empfang durch das Zentralkomitee (ZK) der SED eingeladen. Zu ihnen sprach ein Abteilungsleiter oder Sekretär des ZK, anschließend gab man ein Essen, dann stand ein Theaterbesuch oder eine Bootsfahrt auf dem Programm.

General Jakubowski, der Ende 1959 General Sacharow als Oberkommandierenden abgelöst hatte, zeigte sich recht bald bereit, das Eis in den Beziehungen mit der DDR weiter zu brechen. Im Dezember 1960 folgte er einer Einladung von Bergleuten und besuchte das Kupferkombinat in Lugau. Später wurden Besuche der Vertreter des Ober-kommandos in den DDR-Bezirken zur Tradition. Ihr Geist war typisch für alle Maßnahmen „zur Stärkung der unverbrüchlichen Freundschaft“: ein förmliches Zeremoniell, ohne eine Spur echter menschlicher Beziehungen. Ähnlich verliefen auch die Besuche der Partei-und Staatsführung der DDR in Wünsdorf und in anderen Garnisonen. Die Initiative hierzu kam aus der GSSD-Zentrale. Der offiziellen Einladung wurde freilich trickreich der Weg geebnet: Der Verteidigungsminister erhielt ein chiffriertes Telegramm, in dem der Oberkommandierende meldete, daß die DDR-Führung den Wunsch geäußert habe, die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte zu besuchen. Anschließend wurde gehorsam um Mitteilung gebeten, ob der Minister einverstanden sei. Die Antwort war positiv -was, hätten in der Meldung die tatsächlichen Initiatoren gestanden, keinesfalls sicher gewesen wäre.

Am 6. April 1963 hatte Wünsdorf die Ehre, Walter Ulbricht zum ersten Mal empfangen zu dürfen. Im großen Saal des Offiziersklubs hielt er ein Referat, in dem die sozialökonomische Lage der DDR in rosaroten Farben dargestellt wurde. Der Parade des 69. Regiments, das das Oberkommando bewachte, folgten ein Konzert und ein Essen im engen Kreis. Begleitet wurde Ulbricht nur von den hohen Militärs, das Politbüro mußte zu Hause bleiben.

In den späteren Jahren nahmen die Besuche der deutschen Führung einen kollektiven Charakter an. Zusammen mit Erich Honecker erschien das gesamte SED-Politbüro, und die Vorsitzenden der Parteien der Nationalen Front waren ebenso vertreten. Bei den 8. Sportspielen der Waffenbrüderschaft zwischen der GSSD und der Nationalen Volksarmee (NVA) im Mai 1973 war zum Beispiel die ganze DDR-Obrigkeit zu Gast. Zweimal jährlich -zum Jahrestag der Oktoberrevolution und zum Tag der Sowjetarmee -erschienen in Wünsdorf repräsentative DDR-Delegationen unter der Leitung eines Politbüromitglieds. Diese Höflichkeit wurde zum Tag der Republik aus Wünsdorf erwidert. Gratulationen zu Geburtstagen prominenter Personen vergaß man beiderseits nicht.

Zwischen dem Oberkommando in Wünsdorf und der DDR-Spitze bestanden auch persönliche Beziehungen. Der Oberkommandierende wurde zusammen mit dem sowjetischen Botschafter zur Jagd-partie in die Schorfheide eingeladen, an der nur Mitglieder des SED-Politbüros teilnahmen. Private Familienbesuche waren indes sehr selten. Eine dieser Gelegenheiten ergab sich im Juli 1973 anläßlich des Geburtstages von Marschall Kulikow. Zu der Feier in seiner Villa waren Erich und Margot Honecker mit Tochter sowie Willi Stoph, Heinz Hoffmann und Erich Mielke geladen.

Bei allen Begegnungen auf dieser Ebene begleitete ich meine Vorgesetzten als Protokollchef und als Dolmetscher. So war ich auch dabei, als der neue Oberkommandierende der GSSD, Armeegeneral Kurkotkin, seinen Antrittsbesuch bei Honecker abstattete, und der Staatsratsvorsitzende mir attestierte: „Die Glawkoms (also die Oberkommandierenden) kommen und gehen, Bassistow bleibt!“ Dies war sicherlich übertrieben, doch unter meinen Chefs waren tatsächlich sieben Oberkommandierende. In bestimmten Grenzen erlaubte mir meine Funktion, die DDR-Prominenz kennenzulernen.

Während ihrer 40jährigen Existenz wirkte in der DDR das bolschewistisch-sowjetische System der Kaderpolitik. Die Machtpyramide wurde nach den Vorstellungen der obersten Repräsentanten geformt, und bereitwillige Ergebenheit war das wichtigste Merkmal eines jeden Mitarbeiters. Freies Denken und Urteilen, Begabung und Talent, kurzum alles, was mit Unabhängigkeit und mit Selbstbewußtsein verbunden ist, war im „Arbeiter-und Bauernstaat“ am wenigsten gefragt. Es herrschte der „Kult des Fragebogens“. Schon die Fragen selbst erforderten Anpassungsfähigkeit. Ein „schlechter“ Fragebogen richtete in der DDR viele begabte Leute zugrunde, umgekehrt war ein„sauberer“ Fragebogen Ausgangspunkt mancher erfolgreichen Karriere. Die Fragebogen-Mentalität förderte Konformismus sowie politische und moralische Prinzipienlosigkeit. Mangel an fachmännischer Kompetenz wurzelte meist in der ideologisierten Kaderpolitik.

Mit diesen allgemeinen Schlußfolgerungen will ich keinesfalls behaupten, auf den verschiedenen Stufen der ostdeutschen Machthierarchie wären keine klugen, tüchtigen Menschen tätig gewesen. Viele Begegnungen mit Leuten aus allen gesellschaftlichen Schichten der Republik haben mich fest davon überzeugt, daß die Mehrheit von ihnen ganz anders dachte als sie sprach. Ermüdend waren Gespräche mit dogmatischen Parteifunktionären, die ganze Passagen aus Leitartikeln des „Neuen Deutschland“ deklamierten und ihre unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion versicherten. Aber es gab auch nicht wenige, mit denen man bis zu einem bestimmten Grade offen reden konnte.

Der hochgebildete und ironische Lothar Bolz (seit 1968 Präsident der DSF) verheimlichte seine Abneigung gegen den formellen bürokratischen Stil, der das gesellschaftliche Leben in der DDR prägte, kaum. Über seine Vortragsmanuskripte sagte er gewöhnlich: „Ich halte die erste und letzte Seite, alles andere lasse ich weg.“ Ein kluger und interessanter Gesprächspartner war auch Werner Lamberz, Mitglied des Politbüros und damaliger Kronprinz, der bei einem bis heute nicht aufgeklärten Hubschrauberabsturz in Libyen ums Leben kam. Die Erfahrungen der Familie Eberlein während des Exils in der Sowjetunion, das Schicksal seines Vaters, des Mitbegründers der KPD, und vieler deutscher Kommunisten, die vom NKWD verbannt und vernichtet wurden, hatten bestimmt einen großen Einfluß auf Werner Eberlein -einen sachlichen, pragmatisch denkenden Mann, der es bis zur Mitgliedschaft im Politbüro der SED brachte.

Das Enfant terrible der SED-Spitze war viele Jahre der Dresdner Bezirkssekretär Hans Modrow. Er galt auch in Wünsdorf als eine mögliche neue Führungspersönlichkeit in der SED, als ein Mann, der das teuerste deutsche Altersheim in Wandlitz mal in den Ruhestand hätte schicken können. Modrow hoffte, die SED sei reformierbar. Während unseres Treffens Mitte Oktober 1989 in Dresden sagte er zu mir: „Ich fahre nach Berlin und sage den Leuten im Zentralkomitee, was ich von der ganzen Situation halte. Die können mit mir machen, was sie wollen.“

Kontakte mit Wünsdorf hatten auch Vertreter der deutschen Intelligenz. Im Haus der Offiziere traten bekannte Künstler und Wissenschaftler auf, es kam auch zu manchen persönlichen Bekanntschaften, z. B. mit Konrad Wolf.'Ich glaube, daß unter den älteren der ostdeutschen Kulturschaffenden viele waren, die die Instrumentalisierung ihrer antifaschistischen Haltung für die Unterstützung des Regimes erkannt hatten. Doch unter dem verstärkten ideologischen Zwang verringerte sich die Zahl derer, die es wagten, ihre Stimme zu erheben. Viele gingen in die „innere Emigration“, paßten sich lediglich nach außen dem System an. Der Gedanke, daß es nicht veränderbar sei, war sehr verbreitet. Mit dem bekannten Theaterkritiker Ernst Schumacher behandelten wir ganz „theoretisch“ das Thema, wie viele Stimmen die SED bei freien Wahlen erhalten würde. Unsere optimistische Schätzung lag bei zehn bis zwölf Prozent.

Beiderseitige höfliche Zurückhaltung prägte das Verhältnis Wünsdorfs mit den Vertretern der soge-nannten „bürgerlichen“ Parteien. Von sowjetischer Seite wurden sie als gesellschaftliches Dekor, ohne jegliche Bedeutung, angesehen. Man belächelte die regelmäßigen Treffen der Blockparteien im Staatsrat sowie ihr Treuebekenntnis zur SED und ihre Anerkennung der führenden Rolle der Arbeiterklasse. Es schien mir, daß der Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), Manfred Gerlach, am ehesten fähig war, seine Selbständigkeit zu behaupten.

Die Situation in den höchsten kommunistischen Parteigremien war immer von Rivalitäten und Intrigen gekennzeichnet, die allerdings kaum nach außen drangen. Die SED-Führung bildete keine Ausnahme, jeder versuchte, den anderen zu überwachen, keiner vertraute dem anderen. Gruppen-bildung und Verschwörungen gehörten zum Alltag, obgleich für die Außenwelt Einigkeit demonstriert wurde. Der Anti-Ulbricht-Fronde 1971 ging eine sorgfältig vorbereitete Verschwörung im Politbüro voraus. Ohne Zustimmung der KPdSU-Führung konnte Ulbricht aber nicht abgelöst werden. Bekanntlich baten die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros bereits am 21. Januar 1971 in einem Brief an den Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, um Hilfe bei der Absetzung ihres „Oberhauptes“. Die Beseitigung Ulbrichts entsprach den Vorstellungen der KPdSU über die künftige politische Entwicklung in der DDR. Breschnew und seine Umgebung trauten den deutschlandpolitischen Alleingängen Ulbrichts immer weniger. Der Kreml lehnte die „verdächtigen“ Bemühungen Ulbrichts um Kontakte zur Regierung Brandt und zu den Sozialdemokraten ebenso entschieden ab wie das Oberkommando in Wilnsdorf. An Ort und Stelle hatte man ausreichende „Beweise“ für das deutsche Streben nach Verständigung mit den Westdeutschen, über Partei-und Klassengrenzen hinweg. Die wachsende Zahl der Besuche von „drüben“, der millionenfache Transit von und nach West-Berlin, der „Menschenhandel“ und die Verletzungen der Staatsgrenze wirkten in Wünsdorf alarmierend und bestätigten das Erfordernis „hoher Wachsamkeit“.

Im Hauptquartier der GSSD wurde der Besuch Willy Brandts im März 1970 in Erfurt „allseitig analysiert“. Informationen aus dem Stab der 8. Armee in Nora und Nachrichten des militärischen Dienstes des KGB sowie Augenzeugenberichte von Offizieren, die in Zivil von Wünsdorf nach Erfurt entsandt worden waren, belegen deutlich, wie stark der nationale Geist der Deutschen im sozialistischen Staat geblieben war, welch große Begeisterung die Menschen zeigten, die zum „Erfurter Hof“ gekommen waren.

Ulbrichts Selbstbewußtsein, seine Ambitionen, das sozialistische System der DDR und seine Planwirtschaft als Vorbild für die gesamte sozialistische Staatengemeinschaft zu präsentieren, gingen den Genossen im Kreml auf die Nerven. Ich war Augenzeuge des Empfangs der sowjetischen Regierungsdelegation im Staatsrat nach der Herbst-messe 1969. Während der Unterredung berichtete Ulbricht in seiner belehrenden Manier über die Erfolge der DDR-Wirtschaft auf dem Gebiet der „wissenschaftlich-technischen Revolution“. Die hohen Gäste aus Moskau wareiylen Ulbrichtschen Ausführungen sehr abgeneigt. „Schaut mal, der will uns belehren!“, meinte der sowjetische Minister für die chemische Industrie.

In jenem Jahr begleitete ich den damaligen Verteidigungsminister der Sowjetunion, Marschall Gretschko, während seines Besuchs bei Ulbricht. Nach der Unterredung, die in keiner Weise im sonst üblichen „Geiste der vollen Verständigung“ verlaufen war, verheimlichte Gretschko seine Meinung nicht: „Der Alte taugt nichts mehr!“ Nicht sein Gesundheitszustand führte zu Ulbrichts Sturz -viele andere Beispiele belegen, daß selbst schwerkranke Greise noch jahrelang Spitzen-posten in der kommunistischen Hierarchie bekleiden können.

Wie nach dem russischen Sprichwort von den „Spinnen im Glas“ verhielten sich die Prominenten der DDR untereinander. Dem damaligen Jugendführer Honecker hatte Grotewohl seinerzeit einen völligen Mangel an geistiger Entwicklungsfähigkeit attestiert. Der Sicherheitschef Mielke denunzierte seinen Generalsekretär, dem er so ergeben schien, bei Andropow in Moskau. Eine zunehmende Opposition gegen Honecker im Politbüro wurde mit der Person Stoph in Verbindung gebracht. In Sachen Machtkämpfte war Honecker jedoch selbst ein Fachmann. Die Gruppe um ihn hatte sich zum Ziel gesetzt, Ulbricht zu stürzen. Die Tatsache, daß Walter Ulbricht sein politischer Zieh-und Übervater war, hielt Honecker nicht davon ab, ihn zu entthronen.

Die sowjetische Botschaft „Unter den Linden“ war über die Rivalitäten im Politbüro stets gut informiert. Honeckers Machtstreben und die Haltung Moskaus stimmten überein. Das war entscheidend für Ulbrichts Ablösung. In manchen Presseorganen wurde spekuliert, Honecker habe sich persönlich nach Moskau begeben, um Breschnew zu Ulbrichts Sturz zu bewegen. Das ist genauso falsch wie die vom ehemaligen Botschafter Abrassimow in einem Interview geäußerte Behauptung, Moskau habe sich in diese Angelegenheit nicht eingemischt In der Öffentlichkeit ist bislang kaum bekannt, daß die endgültige Entscheidung über Ulbrichts Absetzung nach einer Geheimaktion getroffen wurde, in die nicht mehr als drei bis vier Leute eingeweiht waren. Es handelte sich um den „Blitzflug“ des Politbüromitglieds Werner Lamberz nach Moskau kurz vor dem 1. Mai 1971, der dazu diente, Breschnews endgültigen Segen für den Coup d’Etat in Ost-Berlin einzuholen.

Mein damaliger unmittelbarer Vorgesetzter, Generaloberst Malzew (Chef der Politischen Verwaltung der GSSD), informierte mich über diesen streng geheimen Auftrag, von dem nur der Botschafter und wir beide wissen durften. Lamberz sollte unbemerkt mit einer Militärmaschine nach Moskau geflogen werden. Die gesamte Operation, die nur einen Tag dauern durfte, verlief folgendermaßen: Es wurde ein Besuch Lamberz’ bei der GSSD inszeniert, angeblich um dort einen Vortrag zu halten. An diesem Tag fuhr ich gegen 13 Uhr von Wünsdorf zum Zentralkomitee der SED am Karl-Marx-Platz. Im Beisein der Mitarbeiter von Lamberz besprachen wir den bevorstehenden „Vortrag“ vor den sowjetischen Militärs; Lamberz verabschiedete sich und wir fuhren los. Auch der übliche Begleitschutz eines Politbüromitglieds, ein Offizier der Staatssicherheit, war dabei. In Wünsdorf erwartete uns General Malzew. Beim Kaffee wurde noch einmal besprochen, wo und wann der „Vortrag“ zu halten sei. Man einigte sich auf einen Übungsplatz im Raum Magdeburg und entschied, daß statt der „Tschaika“, eines sowjetischen PKW, ein Militärflugzeug das passende Transportmittel für die Reise sei. Damit war der Begleiter als unerwünschter Zeuge aus dem Spiel; er durfte mit dem Hinweis nach Hause fahren, daß der Genosse Lamberz am nächsten Tag mit einem Wagen aus Wünsdorf nach Berlin zurückgebracht werde.

Nach einigen Minuten kam die Meldung vom Kontrollpunkt Zossen: Die „Tschaika“ hatte den Schlagbaum passiert, man konnte mit dem „Vortrag“ beginnen. Wir fuhren eilig zum Militärflugplatz Sperenberg, wenige Kilometer von Wünsdorf entfernt. Eine zweimotorige AN-24 stand auf der Startbahn abflugbereit. Es ist zu erwähnen, daß die Mannschaft keine Ahnung hatte, wer ihr einziger Passagier war. Am nächsten Tag kam das Flugzeug -wie erwartet -aus Moskau zurück. Lamberz war in guter Stimmung und teilte kurz mit, daß alles gut verlaufen und die Entscheidung gefallen sei. Direkt vom Flugplatz begleitete ich Lamberz nach Berlin, wo wir im Sekretariat des ZK Eindrücke über den gelungenen „Vortrag“ austauschten. Es wurde der Wunsch geäußert, die leitenden Genossen aus dem Zentralkomitee der SED öfter bei den Truppen der GSSD zu sehen. Wenige Tage später, auf der 16. Tagung des ZK der SED am 3. Mai 1971, wurde Walter Ulbricht von der Funktion des Ersten Sekretärs der Partei entbunden, was angeblich seinem Wunsch entsprach. Honecker wurde zu seinem Nachfolger gewählt.

Heute wird erneut die Frage aufgeworfen, inwieweit Honecker selbständig handeln konnte. Er selbst behauptete, daß er nur den Willen Moskaus erfüllt habe. Abrassimow bezweifelt dies und meint, Honecker und seine Umgebung pflegten immer höflich zuzuhören, aber wenn es ihnen nicht paßte, faßten sie eigene Entscheidungen und handelten entsprechend. Eine kleine Episode zeigt meines Erachtens deutlich, wie es in Wirklichkeit aussah. Im Sommer 1973 besuchte das Politbüro gemeinsam das sowjetische Armeemuseum in Berlin-Karlshorst -die Gedenkstätte der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945. Die deutschen Gäste wurden von Botschafter Abrassimow und dem Oberkommandierenden, Armeegeneral Iwanowski, begleitet. Während des Rundganges im Museum bat mich ein Offizier der NVA, die Über-setzung eines Dokumentes ins Russische zu prüfen. Es handelte sich um eine von Honecker Unterzeichnete Urkunde über die Verleihung des Kampfordens der DDR an das Museum. Nichtsahnend informierte ich Armeegeneral Iwanowski über die in wenigen Minuten beginnende Zeremonie. „Melden sie es auch dem Botschafter“, meinte Iwanowski. Abrassimow geriet in Rage: „Das ist völlig unmöglich“, entschied er. „Ohne Genehmigung der KPdSU dürfen keine ausländischen Auszeichnungen von sowjetischen Institutionen in Empfang genommen werden.“ (Ich habe mich immer gewundert, warum unser unvergeßliches Zentralkomitee es für nötig hielt, solche und ähnliche Kleinigkeiten selbst zu entscheiden.) Meinen Einwand, daß es sich um eine auf höchster DDR-Ebene getroffene Entscheidung handle, wies er ab: „Sie müssen dem Genossen Honecker mitteilen, daß die Verleihung des Ordens nicht stattfinden kann“ und fügte hinzu: „Er sollte es eigentlich selbst wissen.“

Wenig erfreut über den Auftrag näherte ich mich dem Generalsekretär und Vorsitzenden des Staatsrats, bat um Entschuldigung und berichtete über „existierende Formalitäten“, um deren Einhaltung wir leider bitten müßten. Honecker reagierte ärgerlich, zuckte mit der Schulter und erklärte schroff: „Also gut, der Orden wird nicht verliehen.“ Die Besichtigung des Museums war damit beendet, aber es stand noch der Besuch der in Karlshorst stationierten sowjetischen Berlin-Brigade bevor. Schweigend stiegen die hohen Besucher in die Wagen ein. In der Garnison wurde das Oberhaupt der souveränen Republik mit allen militärischen Ehren empfangen.

Während der siebziger und achtziger Jahre wandelte sich Honeckers Verhalten gegenüber der Sowjetunion. Die besonderen Beziehungen mit def UdSSR bestanden zwar weiter; der sowjetische Botschafter behielt die in keinem diplomatischen Protokoll vorgesehene exklusive Position im Lande. Aber die kleinliche Bevormundung durch Moskau irritierte Honecker immer mehr. Immer öfter kam es zu Uneinigkeit und Meinungsverschiedenheiten. In der DDR hielt man beispielsweise den wachsenden Strom der Besucher aus der Bundesrepublik für nützlich, da er Valuta einbrachte. Die sowjetische Führung hingegen, ihren Auffassungen treu, setzte die Politik der Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik fort. Auf bestimmte Weise wiederholte sich die Situation wie zu Ulbrichts Zeiten: In Moskau wurden alte Befürchtungen wach, die Deutschen könnten hinter dem Rücken der Sowjetunion eine gemeinsame Sprache finden. Dies konnte von der DDR-Spitze nicht unbemerkt bleiben.

Ab Mitte 1985 erhielten die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR einen ganz neuen Charakter. Die Wende, die der Gorbatschow-Kurs mit sich brachte, stieß bei der SED-Führung auf völlige Ablehnung, vor allem bei Honecker. In der „Perestroika“ und besonders in „Glasnost“ erblickten die Machthaber der DDR -mit vollem Recht -eine akute Gefahr für den Bestand ihres Regimes.

Bei einem Treffen im September 1992 erzählte mir der frühere Präsident der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Erich Mückenberger, daß Honecker schon in den Jahren 1982 bis 1984 immer mehr Ärger mit Moskau gehabt habe. Informationen über die Tätigkeit der Gesellschaft brachten ihn leicht auf, und er beendete solche Berichte mit den Worten: „Laß mich in Ruhe mit Deiner Freundschaft.“

Während meiner DDR-Besuche nach 1985 bemerkte ich in allen Schichten der Bevölkerung ein deutlich wachsendes Interesse an den Vorgängen in der Sowjetunion. Diesmal waren sie mit dem tatsächlichen Wunsch verbunden, dem Beispiel des „großen Bruders“ zu folgen. Doch für die SED-Obrigkeit galt das früher so oft gebrauchte Prinzip: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ nicht mehr. Sie zog sich hinter ihre eigenen dogmatischen Schranken zurück und wollte die neuen Realitäten nicht wahrhaben.

Im August 1988 hatte ich ein langes Gespräch mit dem Minister für Nationale Verteidigung, Politbüromitglied Heinz Keßler. Wir kannten uns seit vielen Jahren, gemeinsame Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ verbanden uns. Bei gegenseitigem Vertrauen konnte man offen seine Meinung äußern. Diesmal war es ein schwieriges Gespräch, denn alle Versuche meinerseits, ihn davon zu überzeugen, daß unser kommunistisches System sich nicht bewährt habe und reformiert werden müsse (damals glaubte ich selbst, man könne dem „realen Sozialismus“ ein menschliches Antlitz geben), prallten leider an einer dogmatischen Wand ab, die mit alten Parolen überzogen war.

In den achtziger und beginnenden neunziger Jahren waren meine wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen mit der Entwicklung in Deutschland eng verbunden. Als Historiker und Vizepräsident der Sowjetischen Gesellschaft für Freundschaft mit der DDR, später der Gesellschaft „Rußland-Deutschland“, war ich ziemlich häufig auf deutschem Boden, traf meine alten Bekannten und Kollegen. Einige meiner Auftritte mit Vorträgen über die „Perestroika“ waren in dieser Zeit von zahlreichen Vorsichtsmaßnahmen begleitet. Es wurden Zuhörerlisten angefertigt, den Teilnehmern empfahl man, dem Referenten „harte“ Fragen zu stellen, um seine Äußerungen in Zweifel zu ziehen. Doch die Leute wollten mehr hören und wissen. Meine Bekannten lasen die von mir mitgebrachten Exemplare der Zeitschrift „Sputnik“ und fühlten sich schon wie Verschwörer. Die SED-Führung verschärfte die Zensur, „Glasnost“ sollte in der DDR nicht aufkommen. In Wünsdorf berichtete man mir von einem russischen Stabsoffizier, der eilig in die Sowjetunion versetzt worden war, weil es die deutsche Staatssicherheit gefordert hatte. Ihm wurde zur Last gelegt, mit Deutschen Gespräche über die Erneuerung in der UdSSR geführt zu haben. Dies war der einzige Fall, in dem ein sowjetischer Offizier von den DDR-Behörden zur „Persona non grata“ erklärt wurde.

Den 40. Jahrestag der DDR-Gründung beging ich in Berlin. Die Lage war äußerst angespannt, das ganze Land brodelte, aber in Honeckers Rede im Palast der Republik wurden die üblichen Siegesparolen ausgegeben. Wir kannten schon die Worte Gorbatschows, von denen, die zu spät kommen und vom Leben bestraft werden. Aber Honecker und seine unmittelbare Umgebung konnten nicht begreifen, daß sie alle Termine längst versäumt hatten. Sie waren Geiseln des Systems und der eigenen ideologischen Irrtümer.

Vielleicht war die GSSD in den Augen der Bewohner von Wandlitz die letzte Hoffnung, doch an der Macht zu bleiben? Könnte man nicht den Juni 1953 wiederholen und den Aufstand mit russischen Panzern niederschlagen? Aber aus Wünsdorf kam eine absolut eindeutige Erklärung: Die Truppen der westlichen Heeresgruppe bleiben in den Kasernen, sie mischen sich in die inneren Angelegenheiten der DDR nicht ein. Ein entsprechender Befehl aus Moskau bestätigte die Haltung Wünsdorfs. Damals, im Jahr 1953, waren es einzelne sowjetische Soldaten, die sich geweigert hatten, das Feuer auf unbewaffnete Deutsche zu eröffnen, und dafür mit ihrem Leben bezahlen mußten. Jetzt war es die auferstehende russische Demokratie, die nicht mehr Henker eines anderen Volkes sein wollte. Der historischen Wende auf deutschem Boden stand nichts mehr im Wege. Es war mein letzter und entscheidender Blick auf die DDR aus Wünsdorf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. War Honecker ein Spielzeug in den Händen Moskaus?,

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Juri W. Bassistow, Dr., geb. 1921; Oberst a. D.der Sowjetarmee (in der SBZ/DDR stellv. Leiter der Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration in Detftschland [SMAD]); Professor emeritus für Politologie an der Universität St. Petersburg.