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Prägungen und Wandlungen ostdeutscher Identitäten | APuZ 41/1994 | bpb.de

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APuZ 41/1994 Prägungen und Wandlungen ostdeutscher Identitäten Identitätsbildung und Geschichtsdidaktik Historisches Lernen im Wandel. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der alten und neuen Bundesrepublik Die DDR-Geschichtsmethodik im Spannungsfeld zwischen äußerer und innerer Disziplinierung

Prägungen und Wandlungen ostdeutscher Identitäten

Dagmar Klose

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Frage nach der Identität, nach den Identitäten der Deutschen in Ost und West ist auch vier Jahre nach der Wiedervereinigung aktuell. Für die Didaktik der Geschichte stellt sich insonderheit die Frage nach der historischen Komponente der je unterschiedlichen Identitäten, deren sich die Menschen in West und Ost zunehmend bewußt werden. Der Beitrag versucht, eine Erklärung für dieses Phänomen zu finden. Er beschreibt, wie historische Bildung und Erziehung im Schulwesen der DDR ausgerichtet waren, wie aber auch die individuellen, je eigenen Sinnfindungs-und Identitätsbildungsprozesse Verschiebungen, Veränderungen und Widersprüche, zugleich auch Kontinuitäten im Bewußtsein von Geschichte hervorbringen. Tiefgehende Wandlungen in diesen Prozessen haben bereits 1985 mit Glasnost und Perestroika eingesetzt, 1989/90 erfuhren sie eine weitere Beschleunigung. Im Beitrag werden die dabei wirkenden psychischen Prozesse und Funktionsmechanismen dargelegt, ohne diese mechanistisch zu begreifen. Im Zusammenhang damit werden verschiedene Verhaltensmuster klassifiziert: beispielsweise Verdrängung, Verbarrikadierung, Lernen/Revision. Im Kapitel „Geschichtsdidaktik nach der Vereinigung“ werden die gegenwärtige Situation der Disziplin und ihre zukünftigen Aufgaben skizziert. Als besonders wichtig erscheint hier die Begründung eines neuen theoretischen Diskurses über eine Revision des historischen Schulcurriculums.

I. Geschichtsbild und Identität

Es ist vernünftig, grundlegende Fragestellungen an die nun wieder gemeinsame Geschichte sowohl aus der west-als auch aus der ostdeutschen Perspektive zu erörtern. Damit soll nicht in erster Instanz ein Gefühl von Gleichberechtigung erzeugt werden; dieses mehrperspektivische Herangehen hat vielmehr seine inhaltliche Notwendigkeit:

Von außen, etwa von einer ethischen Position, können nur einige Schichten unserer unterschiedlichen „Wirklichkeiten“ erfaßt werden, und wir sehen sie stets mit der Brille unserer soziokulturellen Erfahrungen, „färben“ sie also ein. Aber auch die Erinnerung an gelebte Geschichte ist trügerisch, denn sie ist selektiv und mit dem Abstand der Jahre zum Teil vergoldet. Eine Erneuerung lediglich von innen heraus dürfte kaum möglich sein, denn es macht das Wesen historischer Umbrüche aus, daß sich nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, sondern daß sich auch die Wahrnehmungsund Verarbeitungsmuster einschließlich der Kategorien verändern müssen, die bisher der Orientierung in der Wirklichkeit dienten. Dazu sind kontrastierende Denk-, Fühl-und Verhaltensprogramme, andere inhaltliche Füllungen von Kategorien notwendig. Umgekehrt führt eine lediglich äußere Einwirkung -möglicherweise unter Druck und mit negativen existentiellen Sanktionen -kaum zu Lernbereitschaft und -fähigkeit des Individuums, eher zu gegenteiligen Wirkungen wie zu Blockierungen, Widerstand und Aggression bzw. nostalgischer Verklärung.

Indem ich mich der Thematik nähere, ist mir die Waghalsigkeit des Unterfangens bewußt und auch die Vorläufigkeit meiner Äußerungen und Wertungen, die ich als Beteiligte mit diesem geringen zeitlichen Abstand analytisch erfassen und verantworten kann. Denn es ist wohl so, wie Karl-Friedrich Wessel unlängst schrieb, „daß die Gegenw art so gut wie nicht zu erkennen ist und wenn überhaupt, dann nur über die Vergangenheit und die Zukunft“

Wie mag l'liistoire de longue duree, Braudels Geschichte langer Dauer, die 1989 eingeleitete Wende beurteilen?

Geschichtsphilosophische Deutungen können derzeit hinter faktologischen Begründungszusammenhängen erst verhalten versucht werden. Noch schwieriger erweisen sich perspektivische Überlegungen. Die beiden völlig entgegengesetzten Sozialisationsmodelle der Bundesrepublik Deutschland und der DDR konnten nicht „vereinigt“ werden, desgleichen haben sich unterschiedliche Wertvorstellungen und Mentalitäten herausgebildet. Obschon die staatlich verordnete Identität des sozialistischen DDR-Staatsbürgers letztlich nur bei einem geringen Teil fruchtete, entstand doch aus gemeinsamen lebensweltlichen Erfahrungen eine „ostdeutsche“ Identität. Man „erkennt“ sich an vertrauten sprachlichen Wendungen, alltäglichen Gewohnheiten, gemeinsamen Erinnerungen. Die Vergangenheit hat ihre Spuren eingegraben.

Einflüsse der historischen Bildung auf Identitätsbildungsprozesse zu untersuchen ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Am klarsten lassen sich inhaltliche Merkmale des avisierten, gesellschaftlich wünschenswerten, normativen Geschichtsbewußtseins herleiten und beschreiben. Desgleichen ist die Systematik darstellbar, mit der der autoritäre Staat dieses Bewußtsein bei allen seinen Bürgern zu erzeugen trachtete. Dazu liegt von Wendelin Szalai eine umfassende Darstellung aus der Sicht eines „Insiders“ vor, der ich voll zustimme: Von den Gralshütern der „absoluten“ Wahrheit wurde ein einheitliches Gesellschafts-, Geschichts-und Menschenbild vorgegeben, dessen Aneignung mit „monolithischen Denkstrukturen und polarisierenden Wertehierarchien“ verknüpft war. Die Herausbildung einer einheitlichen Weltanschauung war Leitprinzip der Schulpolitik der DDR. Diese Zielsetzung lag auch den Lehrplänen zugrunde, die mit großer Verbindlichkeit in den Zielen und Inhalten „durchgestellt“ wurden. Der Methodik kam die Aufgabe zu, diese „effektiv und emotional wirksam“ mit allen 'Schülerinnen und Schülern zu erreichen.Historischer Bildung und Erziehung wurde in der DDR ein hoher Stellenwert für die Entwicklung des sozialistischen Staatsbürgers zugewiesen. Geschichtsbewußtsein wurde als gewichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen und individuellen Bewußtseins aufgefaßt, als dessen Kern das Geschichtsbild galt. Ihm wurde Abbildcharakter eines „realen“ Geschichtsprozesses zugesprochen. Auf dem Hintergrund der in diesem Zusammenhang mechanistisch interpretierten Widerspiegelungsund Abbildtheorie ist es auch nicht verwunderlich, daß zwischen den Begriffen „Vergangenheit“ und „Geschichte“ nicht unterschieden wurde, sondern daß diese synonym gebraucht wurden. Weitere dem Geschichtsbild zugesprochene Eigenschaften sind auf der Grundlage dieser Prämisse in sich stimmig. Dieses „erstmals wissenschaftliche“ Geschichtsbild war mit dem Anspruch auf objektive Wahrheit verbunden und präsentierte sich in relativer Geschlossenheit. Es vereinte sowohl historische Tatsachen und „historisch-materialistische“ Deutungen als auch weltanschaulich-ideologische Wertungen. Sein philosophisches Kernstück war der historische Materialismus. Aus ihm wurden Erklärungs-, Deutungs-und Wertungsmuster im Geflecht von Fakten, Prozessen, Ereignissen und Persönlichkeiten rekrutiert.

Wenn vom Geschichtsbild als Kern des Geschichtsbewußtseins gesprochen wurde, so wurden zugleich Gegenwartserlebnisse und Zukunftsvorstellungen als Einflußfaktoren akzeptiert. Sie rangierten jedoch in ihrer Wertigkeit hinter der pragmatischen, systematischen historischen Unterweisung, wobei dem chronologisch aufgebauten schulischen Geschichtslehrgang große Bedeutung beigemessen wurde. Über die Möglichkeiten für die Sinn-und Identitätsbildung eines so verstandenen Geschichtsbildes wird noch zu sprechen sein. Es soll zunächst auf einen Faktor aufmerksam gemacht werden, der schon von der theoretischen Prämisse her diesen Prozeß behinderte. Die in unzulässiger mechanistischer Vereinfachung interpretierte Widerspiegelungs- und Abbildtheorie negierte wesentliche erkenntnistheoretische und psychologische Begründungszusammenhänge. Sie sollte den Automatik-Fetischismus des avisierten Geschichtsbildes und Geschichtsbewußtseins wissenschaftlich legitimieren, boykottierte ihn jedoch in der Realität, denn sie konnte die unterschiedliche individuelle Wahrnehmungswelt der Menschen, individuelle psychische Strukturen und divergierende lebensweltliche Erfahrungen natürlich nicht außer Kraft setzen. Diese theoretische Fehlleistung und die Erschütterung des Geschichtsbildes durch die aktuellen Weltereignisse, die erlebte Praxis selbst, stellen m. E: die entscheidenden Eingriffsstellen für zunehmende Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses Geschichtsbildes dar. Zugleich geben meist unveröffentlichte Arbeiten, z. T. Dissertationen, Einblick in theoretisch-methodologische und empirische Versuche, diese Dogmatik zu unterwandern. Sie haben jedoch keinen Eingang in offizielle Dokumente und programmatische Erklärungen gefunden, so daß sie im Rahmen dieses Beitrages außer Betracht bleiben.

Da das offiziöse Geschichtsbild in der DDR als bekannt vorausgesetzt werden kann, wende ich mich der Frage zu, welche Züge dieses Geschichtsbildes geeignet waren, von der menschlichen Psyche „angenommen“ zu werden. Ich will nicht verhehlen, daß diese Reflexion nicht nur infolge einer Mischung von Beteiligtsein und kritischer Distanz ironisch ausfällt, sondern auch wegen einer gewissen Parallelität von Aneignungsmustern im Westen Deutschlands und deren „Nachwirkungen“ im Osten, auf die später einzugehen ist. Das offiziöse Geschichtsbild in der DDR -und vor allem das den Geschichtslehrgängen zugrunde liegende -war durchaus nicht mit dem fortgeschrittensten Stand der Geschichtswissenschaft zu einzelnen Themen identisch. Es war, wie wir wissen, parteipolitisch instrumentalisiert und, bezogen auf den schulischen Geschichtslehrgang, doppelt indoktriniert, denn die parteipolitischen Forderungen mußten noch den engen Trichter der Schulpolitik passieren.

An erster Stelle, weil in höchstem Maße als sinn-stiftend angesehen, sei die Fortschrittslinie oder -problematik genannt: Sie integrierte historisch-anthropologischen Optimismus und hob die Bedeutung des in diesem Sinne aktiv handelnden Individuums hervor. Somit eröffnete sie eine „reale“ Zukunftsvision und zeichnete das fortschrittlich handelnde Subjekt mit menschheitsfördernder Verantwortlichkeit aus. Der Glaube an die „Vernunft in der Geschichte“ mußte maßgeblich zur Ausbildung von Idealen und zur Bewußtheit der eigenen Verantwortung und natürlich auch des eigenen Wertes beitragen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß von einer einlinigen Fortschrittsauffassung in einigen Arbeiten abgegangen wurde und das Verhältnis von Fortschritt und Rückschritt -bei tendenzieller Durchsetzung des Aufstiegs der Menschheit -z. B. im Bild des Januskopfes Ausdruck fand. Neben dieser linearen geschichtsphilosophischen Auffassung ist auch eine eher zyklische zu finden, die „Geschichtstriade“, die den Aufstieg der Menschheit von der urkommunistischen Gesellschaft über eine relativ kurze Periode der antagonistischen Klassengesellschaften bis zur Herausbildung und Vervollkommnung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft begründet. Geschichte wurde „teleologisch auf einen utopisch „paradiesischen" Idealzustand der Gesellschaft, , Kommunismus 4 genannt, hingedacht. Ziel von Ge genannt, hingedacht. Ziel von Geschichte sollte die Errichtung einer absolut gerechten und absolut sozialen Gesellschaft, gewissermaßen des . Himmelreichs auf Erden* sein.“ 3

Ausgezeichnet wurde der Partizipient dieses Geschichtsbildes auch mit dem Schild der höchsten Moral, die seit Menschengedenken von einigen Fackelträgern (angeführt von Spartacus) punktuell weitergetragen wurde, im Klassenkampf als die Haupttriebkraft der Geschichte wirksam wurde und in den großen Revolutionen als den „Lokomotiven der Geschichte 44 zum Durchbruch kam. Neben der Entwicklung der Zivilisation im Prozeß der Entstehung von Hochkulturen war demzufolge die zweite wichtige menschheitsgeschichtliche Zäsur der Sieg der Oktoberrevolution in Rußland, die diese Fackeln als menschheitsleitendes Feuer zum Lodern brachte. Dagegen mußten sich die Werte der amerikanischen und französischen Revolution als gewisse Errungenschaften, aber letztlich doch begrenzte, klassenbedingte Bemühungen der Bourgeoisie um ihre egozentrischen Interessen erweisen, die letztlich nicht der gesamten Menschheit dienlich sein konnten.

Unterhalb dieser hohen moralischen Schwelle waren wohl weniger edle oder sogar gewalttätige Handlungen möglich bzw. notwendig, denn letztlich garantierte nur die Macht der fortschrittlichen Klasse ein menschenwürdiges Leben. Auf der Gratwanderung des Menschheitsfortschritts sind viele Opfer notwendig, zumal wenn die Macht ausübende Klasse die Interessen einer Mehrheit vertritt und den „Gesetzmäßigkeiten“ der Geschichte endlich zum Durchbruch verhilft. Dies dialektisch zu begründen, erwies sich nicht als schwierig, im Gegenteil: Es wurde ein „Sinn“ in das oftmals so sinnlos anmutende blutige Arsenal der Geschichte hineingelegt.

Sinnstiftende Befriedigung des menschlichen Harmoniebedürfnisses war an relativ eindeutige Wertzuweisungen gekoppelt, und die eigene Orientierung erleichterte ein metageschichtlicher Maßstab. Diese der menschlichen Psyche eher bequemen undifferenzierten Schwarz-Weiß-Schemata, Freund-Feind-Bilder, Gut-Böse-Klassifikationen sind wohl geeignet, ein Massenbewußtsein zu erzeugen und als stabile Aneignungsmuster lange weiterzuwirken. Gleiches gilt für das marxistisch-leninistische Deutungsmuster dieses Geschichtsbildes in seiner geringen Strukturiertheit mit der Abfolge fortschreitender ökonomischer Gesellschaftsformationen als Rückgrat. Es konnte auch von Kindern und Jugendlichen als Ordnungsmuster der Geschichte angeeignet werden. Und schließlich verwies der wissenschaftliche Anspruch dieses Geschichtsbildes gelegentliche, infolge faktologischer Widersprüche hervorgebrachte Zweifel in das Reich der individuellen Unzulänglichkeit. Das heißt, wo das Wissen des einzelnen „nicht ausreichte 44, sollte es durch den Glauben an höhere Autoritäten ersetzt werden.

Ein solches Konglomerat von „Wissenschaftlichkeit“, Mythos, Glaube, Zukunftsoptimismus, Moralität und Handlungsaufforderung kann wohl eine breite Basis finden, zumal im Kindes-und Jugendalter das Bedürfnis nach Affirmation und Vorbild-charakter gegenüber der Geschichte dominiert. Etwa bis zum 13. Lebensjahr wird Geschichte überdies moralisch angeeignet, ist Geschichtsbewußtsein moralisch zentriert. Die in dieser Entwicklungsperiode gewonnenen bzw. narrativ suggerierten Einsichten sind nachweisbar „eingeschreint“.

Wahrscheinlich bewirkten gerade der hohe moralische Impetus und die „wissenschaftliche 44 Begründung eine stabile Langzeitwirkung im Bewußtsein „geschichtsbewußter“'Menschen, so daß die zwar schwer zugängliche, doch mit beinah kriminalistischer Neugier beschaffte Literatur zu den sogenannten „weißen Flecken" eher zur Differenziertheit von Betrachtungsweisen einzelner historischer Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse beitrug, als daß dadurch das Geschichtsbild in seinen Fundamenten erschüttert wurde. Im Zusammenhang mit Perestroika und Glasnost wurde gerade der sozialistische Idealismus derjenigen stimuliert, die an die Realisierbarkeit eines humanistischen Sozialismus nach wie vor glaubten 4.

II. Widersprüche, Brüche und Kontinuität in der Identität

Der Begriff „Identität** ist in der DDR-Kommunikation relativ ungebräuchlich gewesen. Begriffe, die ihm inhaltlich entsprechen, sind die „allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit“ oder „sozialistischer Staatsbürger“. Das damit verbundene Vokabular war gut bekannt und wurde vom Krippenalter an systematisch jeglicher Bildung und Erziehung als ideologische Grundlage unterlegt. Einen spezifischen Ausdruck findet dieser Anspruch in den zehn Geboten der sozialistischen Moral, wie sie im Parteiprogramm der SED von 1963 ausgewiesen wurden

Zuverlässige Aussagen über die Wirkungsweisen dieser Postulate und Normen zu treffen, scheint unmöglich angesichts der Bedingungen empirischer Forschung in der DDR. Zu den allgemein bekannten Schwierigkeiten empirischer Untersuchungen treten noch die folgenden hinzu: Zu DDR-Zeiten wären ehrliche Untersuchungen zu diesem Gegenstand gar nicht möglich gewesen, wie dies auch brisantere Arbeiten des Instituts für Jugendforschung in Leipzig belegen, die noch das Glück hatten, wenigstens in der Schublade verschwinden zu dürfen. Wie übervorsichtig institutionell reagiert wurde, beweist auch ein Beispiel aus meinem engeren Arbeitskreis: Eine Dissertation zum Geschichtsbewußtsein von Abiturstufenschülern, die im wesentlichen normative Ansprüche in der Ergebnisanalyse reflektierte, aber in der Feindbild-position Abweichungen von der Norm erbrachte, wurde mit dem Vermerk'„Vertrauliche Dienst-sache“ nur Lesern zugänglich, die eine ausdrückliche Bescheinigung dafür erhielten -ein Vorgang, der uns heute mehr als lächerlich erscheint. Recherchen, die unmittelbar und in Intervallen nach der Wende einsetzten, haben es daher schwer, den ursprünglichen Zustand von den bereits eingesetzten Wandlungen zu unterscheiden. Auch müssen die Aussagen nach generationsspezifischen und biographischen Gegebenheiten differenziert werden.

Ich will zunächst versuchen, generelle Einflußfaktoren im Prozeß der Bewußtseinsveränderungen zu bündeln. Dazu gehören zum einen bestimmte Komponenten der Persönlichkeitsstruktur, wodurch das Individuum bis zur Wende geprägt war, und die unbewußt weiterwirken: -die Souveränität der Persönlichkeit selbst, ihr Persönlichkeitsprofil;

-ihr Sozialisations-, Identifikations-und Integrationsgrad, bezogen auf den Staat DDR, seine Ideologie, sein Geschichtsbild, und -das Geschichtsinteresse und der professionelle Bezug zur Historie.

Als die entscheidenden Faktoren für die jetzt einsetzenden Revisionsprozesse möchte ich heraus-filtern -das Aktionsfeld, das das Individuum seit der Wende zur Gestaltung der eigenen Lebens-situation eingeräumt bekam bzw. das es sich selbst eroberte;

-die Stärke der Persönlichkeit; -das Niveau des Geschichtsinteresses und des Geschichtsbewußtseins; -das sozial-kommunikative Umfeld des Individuums und schließlich -die Intensität der Erschütterung des bisherigen Bewußtseins.

Waren bereits seit 1985 Wandlungsprozesse größeren Ausmaßes in vielen Bevölkerungsschichten in Gang gesetzt worden, so brach spätestens mit der Auflösung der UdSSR, des „sozialistischen Welt-systems“, das gesamte Welt-, Geschichts-und zunehmend auch das Menschenbild zusammen. Aber nicht nur dies: In der nun folgenden intensiven deutsch-deutschen Begegnung kristallisierten sich nach anfänglicher euphorischer Stimmungslage und exotischer Neugier die tiefgehenden Unterschiede in den Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl-, Verhaltens-und Handlungsmustern heraus, die sich die Menschen unter ganz verschiedenartigen soziokulturellen Bedingungen angeeignet hatten, die ihre Persönlichkeitsstruktur ausmachen und in ihrer Gesamtheit deren Identität charakterisieren. Somit wurde in der Ich-Wir-Balance jeglicher Identität nicht nur das WIR erschüttert, mußte der epochale, gesellschaftliche Bezug neu definiert werden; auch das ICH war gezwungen, sich neu zu orientieren.

Fassen wir nach Luc Ciompi das „affektiv-kognitive Bezugssystem“ des Menschen als eine auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen prinzipiell immer wieder gleich organisierte, funktionelle Struktureinheit der Psyche, so wirkt dieses Bezugssystem wie ein vorgegebenes Raster, das alle Wahrnehmungen und Abläufe im gleichen Kontext entscheidend beeinflußt. Damit bestätigen und konsolidieren sich psychische Systeme fortwährend selber

Erst bei Verlust der Selbstverständlichkeit -wenn die Ordnungen und Affekte, die das Bezugssystem charakterisieren, durch Widersprüche massiv in Frage gestellt werden, wie das in der Wende in großem Ausmaß geschah -wird dem Individuum bewußt, daß seine gewohnte Welt keineswegs selbstverständlich war. Gerade diese Selbstverständlichkeit hat jedoch eine Stützfunktion: Sie vermittelt Sicherheit und Kontinuität im Erleben der Wirklichkeit, auf die das Individuum zur adäquaten Lebensbewältigung dringend angewiesen ist. Der Verlust dieser Stützfunktion mußte somit außerordentlich schmerzhaft erlebt und mit dem Wunsch nach schneller Neuorientierung kompensiert werden. Die menschliche Psyche versucht, das Bedürfnis nach Wiederherstellung eines möglichst spannungsarmen Gleichgewichtes zwischen Innen-und Außenwelt auf zwei Wegen zu befriedigen: über den Einbau von Elementen aus der Außenwelt in bereits bestehende innere Strukturen (Assimilation) sowie über die Anpassung dieser bestehenden Struktur an die neu aufgenommenen Elemente (Akkomodation) Über eine gewisse Zeitspanne mußten diese Interaktionen zwischen Innen-und Außenwelt sehr ambivalent sein, da „Ordnungskriterien“ diametral entgegengesetzter Gesellschaftssysteme im Wett-bzw. Widerstreit miteinander lagen. Mit ambivalenten Gedanken und Gefühlen ist jedoch kaum zielgerichtetes Handeln möglich; dies erklärt die psychische Situation vieler Menschen unmittelbar nach der Wende und ihre Veränderung in den folgenden Jahren: von der massiven Irritation bis zu einer in der Tendenz doch schnellen „Sammlung“. Dies erklärt auch, daß Wahrnehmungs-und Verarbeitungsmuster, Denk-und Verhaltensprogramme, Mentalitäten der Menschen in West und Ost noch längere Zeit nicht synchron sein können und gegenseitige Schuldzuweisungen für Mißverständnisse oder „Zensierung“ völlig unangebracht sind.

Ich habe diese psychischen Funktionsmechanismen vorangestellt, um für die individuell sehr unterschiedlichen Revisionsmöglichkeiten des Bewußtseins allgemein und des Geschichtsbewußtseins speziell zu sensibilisieren, die beide in hohem Maße von den eingangs genannten Faktoren beeinflußt wurden und werden. Die Wahrnehmung des Individuums ist immer selektiv, und diese Selektion nimmt es entsprechend seinen Bedürfnissen vor. Im Geflecht der Wirkfaktoren nimmt offensichtlich die aktuelle soziale Lebenssituation dabei eine zentrale Stellung ein.

Zur Erklärung dieses Zusammenhangs erweist sich der sogenannte „Bedürfnisturm“ hilfreich: Nach dem Denkmodell von A. H. Maslow zur Hierarchisierung menschlicher Bedürfnisse sind die Stufen 1 und 2 auf das physiologische Überleben gerichtet; sie beinhalten vitale Grundbedürfnisse, Sicherheit und Geborgenheit. Bedürfnisse der Stufen 3 und 4 beziehen sich auf das psychologische Überleben; gemeint sind: soziale Bedingungen, Zugehörigkeit (Gruppenakzeptanz), Ich-Bedürfnisse wie Status, Macht, Geltung, Anerkennung. Stufe 5 schließlich umfaßt die sogenannten „höhere Ziele“ des Menschen, seine Selbstverwirklichung.

In der Kommunikationspsychologie wird recht einleuchtend beschrieben, welche Mechanismen das Individuum in Gang setzt, wenn bestimmte Bedürfnisse nicht realisiert werden, wenn also ein Mangel-zustand nicht beseitigt wird: Brechen bei einem Menschen die „unteren“ Stufen weg, wird ihm also der physische Boden entzogen, so tangieren ihn die Bedürfnisse der nächsten Stufe nicht. Wessen Sicherheit bedroht ist, der wird sich also nur um seine Sicherheitsbedürfnisse kümmern Er wird beispielsweise den Argumenten von Parteien nur folgen, wenn ihm seine Sicherheit wiedergegeben wird.

Politikverdrossenheit im Osten erklärt sich zu einem guten Teil mit der Dominanz der Sicherheitsbedürfnisse vor „höheren“ Stufen der Bedürfnisse und nicht nur aus mangelnder Erfahrung mit der Demokratie. Werden Gruppenzugehörigkeit und -akzeptanz sowie Ich-Bedürfnisse wie Status und Anerkennung permanenten Verunsicherungen oder gar Angriffen ausgesetzt, muß dies zu anhaltenden Frustrationen führen. Wenn man sich nicht akzeptiert und anerkannt fühlt, brechen Dissonanzen auf, entsteht Minderwertigkeitsgefühl. Aus all dem resultiert mangelnde Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit. Dieser neuerliche „Gefühlsstau“ dürfte auf längere Dauer höchst ungesund und möglicherweise gefährlich sein. In Korrespondenz mit einer derzeit weitgehend alternativlosen Gesellschaftsprognose und einem ersatzlos zerfallenen Wertesystem kann man wohl von einer Häufung der Identitätskrisen im Osten Deutschlands sprechen. Der Bewußtheitsgrad der Symptome und die Chancen für Identitätsrevision sind in hohem Maße davon abhängig, ob das Individuum überhaupt eine Perspektive sieht.

Mit einiger Vorsicht sind verschiedene Verhaltensmuster gegenüber dieser Identitäts-Krise klassifizierbar, die sich sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen wiederfinden: 1. Verdrängungsstrategien In der psychologischen Literatur wird das Verdrängen unter den Benennungen Verleugnung, Ungeschehenmachen und Derealisierung im Arsenal der Abwehrmechanismen geführt. Der Vorgang scheint paradox: Der Mensch „vergißt“ Bereiche seines Lebens, die ihn in der Erinnerung zu unbequemen, vielleicht sogar höchst unangenehmen Begegnungen mit der eigenen Persönlichkeit veranlassen könnten. Wer einen Teil seines Lebens als ungeschehen erklärt, muß diesen nicht „durcharbeiten“. Er „erspart“ sich somit einen Lernvorgang, umgeht eine Identitätsprüfung, u. U. die Revision seines bisherigen Lebenssinns, seiner Moral. Er „erspart“ sich somit wirkliche Veränderung. Was aber geht dabei im Unterbewußtsein vor sich? Die mentalen Strukturen bleiben erhalten, versinken in tieferen Schichten, wirken dort als konservierte Denk-, Fühl-und Verhaltensmuster weiter, und sie wirken nachhaltig unter der Oberfläche der aufgesetzten, nicht wirklich erarbeiteten neuen Muster

Diese Verdrängungsstrategie erscheint in unterschiedlichem Gewand, je nach den genannten Faktoren: Wo die gewohnte materielle und soziale Sicherheit, die bisher in Anspruch genommene Autorität massiv bedroht sind, liegt die Bereitschaft zur Verklärung der Erinnerung nahe. Denn niemand kann seinen Lebensinteressen bewußt zuwiderhandeln, jeder trifft seine Entscheidungen, bestimmt seine Handlungen in der Absicht, seine Lebensqualität zu erhöhen. Trifft sich dieser Umstand mit generationsspczifischen Prägungen, beispielsweise mit dem nahtlosen Über-gang vom Pimpf oder HJ-Führer zum FDJ-und SED-Funktionär und den dort trainierten Denkund Verhaltensmustern, so darf nicht verwundern, daß zum eigenen „Überleben“ das alte Freund-Feind-Denken unabdingbar ist. Es findet eine Projektion statt. Der Mangel an eigenem, differenzierten Denk-und Urteilsvermögen, die Unfähigkeit zu Liberalität und Verhaltenskorrektur wird auf die „Gegenpartei“ projiziert: Sie bekommt die Schuldzuweisungen, während die eigene Person zum Widerstandskämpfer, Märtyrer, Charakterdarsteller und Wahrheitsapostel hochstilisiert wird.

Eine andere Form dieser Verdrängungsstrategie äußert sich in der würdelosen Anbetung und kritiklosen Übernahme all dessen, was aus dem Westen kommt, verbunden mit einer Abwertung und Karikierung von Lebensumständen in der DDR, die man damals treulich akzeptiert oder sogar gestützt hatte.

Als eine dritte Erscheinungsform der Verdrängung möchte ich die Aggressivität bezeichnen. Sie erwächst aus Ängsten, Verwirrung, Minderwertigkeitsgefühl, Bindungsverlust, Ohnmacht und manifestiert sich im rechten wie im linken Extremismus. Ihre Basis ist die nichtbewältigte kognitive und emotionale Durchdringung vergangener und gegenwärtiger Lebensumstände in einer Atmosphäre der existentiellen Verunsicherung. Sehr häufig steht die Aggression in Verbindung mit einem niedrigen intellektuellen Entwicklungsniveau, basierend auf einem Mangel an differenziertem. Denk-und Urteilsvermögen. 2. Verbarrikadierung Auf dem Hintergrund zerfallener kognitiver Strukturen, fragwürdig gewordener subjektiver Wertmaßstäbe, damit verbundener Norm-und Regellosigkeit, der Zerstörung von sozialen Lebenszusammenhängen und Gemeinschaften kommt es zum Zusammenbruch des Selbstwertgefühls, ohne daß dem häufig derzeitig etwas Neues, Aufbauendes, Positives entgegengesetzt werden kann. Dialogbereitschaft und -fähigkeit sind blockiert, das Erlernen neuer Denk-und Handlungsmuster ist erschwert. Die daraus erwachsene Verunsicherung vor allem Jugendlicher bildet ein gefährliches Potential für Radikalisierung. Da man die Jugend wohl als Seismographen für das gesellschaftliche Bedingungsfeld auffassen kann, dürften Sinn-und Wertfragen in unserer Gesellschaft in der Perspektive einen sehr hohen Rang einnehmen. 3. Lernen Eine wirkliche Aufarbeitung der gesellschaftlichen wie der individuellen Vergangenheit ist an einen Lernprozeß gebunden, in dem mittels neu erworbenen Wissens, anderer Denk-, Wertungs-und Verhaltensstrategien vorhandene Bewußtseinsstrukturen und Verhaltensmuster kritisch hinterfragt werden. Dieser zunächst nicht schmerzfreie Vorgang schließt wohl eine Zeit der Trauer und der Blockierung notwendigerweise ein

III. Wandlungen im Geschichtsbewußtsein

Faktoren und Mechanismen von Veränderungsprozessen im Bewußtsein lassen sich am günstigsten bei Personen analysieren, deren Geschichtsbewußtsein normativen gesellschaftlichen Parametern nahekommt. Über eine bestimmte Klientel von Studentinnen und Studenten hat Marion Klewitz interessante Fallstudien geschrieben und in diesem Zusammenhang auch eine Skalierung von Revisionskompetenz entwickelt In Verbindung mit meinen eigenen Beobachtungen erscheinen mir folgende Phänomene bemerkenswert: -Revision findet nicht, wie Rolf Schörken meint, in der Weise statt, daß zwei Geschichtsbilder -das alte und das neue -aufeinander bezogen werden Sie können gar nicht bewußt aufeinander bezogen werden, da das alte weitgehend unreflektiert existiert und das „neue“ noch keine Konturen hat. Es findet vielmehr ein wechselvoller Prozeß von Assimilation und Akkomodation statt, d. h., daß bei weitem nicht alle Elemente des alten Geschichtsbildes verworfen und des neuen aufgenommen werden. -Im kognitiv-affektiven Bezugssystem wird am frühesten die Umstrukturierung der Fakten zu veränderten Bedeutungszusammenhängen möglich; resistenter sind die Deutungsmuster und beinahe unantastbar die emotionalen Bewertungen. Letztere können möglicherweise mittels kognitiver Anstrengungen differenziert werden. Ich hege jedoch Zweifel, ob sie gelöscht werden können. Es ist eher zu vermuten, daß sie nur durch stärkere Emotionen abgelöst werden. -Am stabilsten sind solche emotionalen Verankerungen, wenn sie mit persönlichen Erlebnissen, positiven Lebenserfahrungen verknüpft sind, wie sie das Leben in der DDR ja auch bereithielt. Sie wirken zumeist im Unbewußten weiter, sind also unreflektiert. Solche rational nicht begreifbaren Emotionen schlagen nicht selten in Diskussionen auf eine Weise durch, die für das Auditorium unverständlich ist. Sie sind ein Beweis für die stimulierende Kraft der Emotionen bei der Konstituierung von Geschichtsbewußtsein und ein Indiz dafür, wie vielschichtig Geschichte sowohl aufgearbeitet als auch durchgearbeitet werden muß, wenngleich ich der Überzeugung bin, daß die Vergangenheit letztlich nicht zu bewältigen ist.

Wer bisher ohne Geschichtsbewußtsein auskam, also nur gelegentliches Geschichtsverlangen befriedigte, verspürt kein Bedürfnis zur Revision; es besteht auch keine Veranlassung dazu. Geschichte wird nicht als lebensnotwendig und identitätsstiftend reflektiert, obwohl sie unbewußt wirkt. Ähnliches trifft auf passive Rezipienten zu. Sie rezipieren ohne Schwierigkeiten andere Geschichtsversionen und verhalten sich ebenso angepaßt wie früher. Sofern dies Gruppen betrifft, die nicht professionell mit Geschichte beschäftigt sind, mag man dies lediglich bedauern. Bedenklich stimmen jedoch Tendenzen einer unbefriedigenden Auseinandersetzungsbereitschaft.

Es scheint, als hätten solche Geschichtsbilder, die eine Affinität der Rezipienten ermöglichen, eher Chancen, von vielen angenommen zu werden als diskursive und offene, reflexive Vergegenwärtigungen von Geschichte. Das Bedürfnis nach Wahrheiten, Zuweisung von richtig und falsch, nach eindeutigen Antworten ist offensichtlich stark ausgeprägt. Offenkundig aber gibt es historisch-psychologische Wirkungsmechanismen im Aneignungsprozeß. Anders wäre es kaum zu erklären, daß in empirischen Untersuchungen angesichts der diametral unterschiedlichen historisch-politischen Konzepte der Bundesrepublik und der DDR keine entsprechend unterschiedlichen Befunde nachweisbar sind, zumindest nicht, wenn von konkreten Inhalten auf Bewußtseinselemente abgehoben wird.

In der Bundesrepublik Deutschland kamen Friede-burg und Hübner im Ergebnis empirischer Studien 1964 zu dem Schluß, daß das Geschichtsbild der Jugend vor allem von drei Elementen geprägt wird: von übermächtigen Subjekten, personalisierten Kollektiva und stereotypen sozialen Ordnungsschemata Auf nachhaltige Wirkungen der NS-Propaganda verweist Christoph Kießmann. Er konstatiert mit Verblüffung, „wie konstant eine auch an anderen Fragen abzulesende Einstellung zum Nationalsozialismus blieb

Eine vergleichende repräsentative Untersuchung zum Geschichtsbewußtsein von Kindern und Jugendlichen in den alten und neuen Bundesländern unter der Leitung Bodo von Borries’ deutet auf der Ebene erster Auswertungen ebenfalls auf das Wirken solcher historisch-psychologischer Phänomene hin, die unter entwicklungsspezifischem Aspekt noch präzisiert werden können.

Insgesamt gesehen, ist mir keine empirische Untersuchung bekannt, die nicht eklatante Differenzen zwischen den normativen Ansprüchen an das Geschichtsbewußtsein und den realen Befunden offenlegt. Diese zweifellos wegen ihrer z. T. verhängnisvollen Vergangenheit für die Deutschen extrem negativ ausfallenden Prägungen sollten nicht den Blick dafür verstellen, daß andere in ihrer Geschichte weniger gebrochene Nationen auf analoge Elemente ihres Geschichtsbildes durchaus nicht verzichten und auch nicht verzichten können, weil ohne die Beachtung dieser historisch-psychologischen Wirkungsfaktoren wohl kaum ein Nationalbewußtsein als wesentlicher Teil des Geschichtsbewußtseins erreicht werden dürfte.

IV. Geschichtsdidaktik nach der Vereinigung

In der Zeit nach der Wende war in der Geschichtsdidaktik ein intensives Bemühen spürbar, die Teilung durch gegenseitiges Verstehen zu überwinden. Es wurden wesentliche Kategorien der Fach-didaktik unter dem Brennglas der inneren Vereinigung erörtert Eine Novität bzw. eine neue Qualität stellt zweifellos der beginnende West-Ost-Diskurs zur Thematik Geschichtsdidaktik und Psychologie in der Zeitschrift „Geschichte-Erziehung-Politik“ (GEP) dar Das alles sind wichtige Vorarbeiten für den Mutsprung, der meines Erachtens für die Disziplin ansteht: Denn es obliegt ihr, die Entwicklungen in relevanten Bereichen des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens nicht nur zu reflektieren, sondern zu synthetisieren und zu integrieren.

Die globalen Wunden und Probleme verlangen sicherlich auch nach dem Sorgetragen um die „Eine Welt“. Ein geschichtsbewußter heutiger Mensch muß sich als Weltbürger fühlen, aber auch als Europäer und als Deutscher. Die Tabuisierung des Nationalen als Folge historischer Scham führt jedoch offensichtlich zu einem Vakuum in der Bedürfnisstruktur von Erwachsenen sowie Kindern und Jugendlichen. Rudolf von Thadden erörtert in Anlehnung an Braudel einen Nationen-Begriff, der integrativ und nicht aussondernd, geschichtsträchtig und zugleich weltoffen ist. Dementsprechend sollten wir im Sinne von Wolfgang Thierse für einen „nichtnationalistischen Begriff von Nation“ plädieren.

Daß Geschichtsschreibung und -rezeption letztlich Grundprobleme des Lebenssinns zum Inhalt haben, dürfte über die Jahrhunderte hindurch bei aller Verschiedenheit der Antworten nicht strittig sein. Ich denke aber, daß wir an einer historischen Schwelle angelangt sind, wo diese Frage erneut gestellt werden muß -ist doch Perspektivität der geschichtswissenschaftlichen Forschung und Vermittlung untrennbar mit gesellschaftlichen und individuellen Zukunftsvorstellungen und Sinnfindungen verknüpft. Zweifellos bildet der Mangel an Zukunftsvisionen auch einen günstigen Nährboden für Zukunftsängste. Die Folgerung der Posthistoire, das Ende der Geschichte sei gekommen, enthält aber nicht nur destruktive, sondern auch konstruktive Momente, z. B. nachzudenken über eine andere Geschichte; über die Hinwendung zum Individuum, zum Diskurs, in der sich zwischenmenschliche Kommunikation vollzieht

Eine Vielfalt von Forschungsstrategien prägt seit einigen Jahrzehnten die geschichtswissenschaftliche Landschaft. Sozialwissenschaft, Alltags-geschichte, Mentalitätsgeschichte, historische Anthropologie, Geschlechtergeschichte haben sich neben den tradierten Gegenständen des 19. /20. Jahrhunderts etabliert. In das Schulcurriculum haben Elemente dieser Richtungen wohl Einzug gehalten, aber letztlich ohne eine inhaltliche Konzeption und, was wohl noch schwerwiegender ist, ohne daß aus der jeweiligen Forschungsstrategie didaktisch angemessene Vermittlungs-und Aneignungsstrategien entwickelt wurden. Die gegenwärtigen, häufig überarbeiteten Rahmenpläne Geschichte sind Patchwork-Pläne. Sie führen eher zur Auflösung des Curriculums als zu seiner Innovation.

Die seit längerem anstehende grundlegende Revision des Schulcurriculums tut sich auch schwer -wenn wir einmal die dazu in erster Linie notwendige politische Willensbildung ausklammern -, weil Geschichte als Unterrichtsfach auch von den Rahmenbedingungen abhängig ist, die gegenwärtig zwar der Kritik unterworfen sind, aber wenig durchgreifende Alternativen bieten. Zu erörternde Probleme sind beispielsweise: -Entspricht das tradierte epochale Wissen noch den gegenwärtigen Erfordernissen?

-Entspricht die Art der Wissensvermittlung den veränderten Kommunikationsbedingungen?

-Ist der gültige Fächerkanon noch geeignet, die Funktion von Schule zu gewährleisten?

-Welche Gesellschafts-und Menschenbilder sollen als Angebot unterbreitet werden? Welcher Wertepool müßte als Wahlmöglichkeit angeboten werden?

Eine Reihe von Desiderata hat die Geschichtsdidaktik jedoch selber zu verantworten. So ist noch immer der Anspruch an eine Lernstruktur und Entwicklungslogik, wie dies Bodo von Borries einforderte, nicht eingelöst.

Der Mangel an empirischen Untersuchungen zu kontrastierenden Vermittlungs-und Aneignungs-Strategien würde jegliche grundlegende curriculare Revision als Experiment charakterisieren. Zugleich muß man anmerken, daß kein Lehrplan bislang vorher wenigstens in Teilen auf seine Wirksamkeit hin erprobt wurde. Die vergleichenden Untersuchungen quantitativer Art in den alten und neuen Bundesländern geben nun wahrlich nicht zur Euphorie Anlaß. Im Gegenteil scheint es erwiesen zu sein, daß der inhaltliche und lernpsychologische Zuschnitt der Rahmenpläne revisionsbedürftig ist.

Experimentelle Untersuchungen wären dringend erforderlich, um einem neuen Curriculum Wirkungschancen einzuräumen. In diesem Zusammenhang müßten alternative Konzepte und Unterrichtsmodelle in viel stärkerem Maße empirisch überprüft werden, als dies bei dem gegenwärtig tradierten, relativ einheitlichen Unterrichtszuschnitt üblich ist. Eine experimentelle Überprüfung wäre vor allem deshalb unerläßlich, weil es sich m. E. bei der Curriculum-Revision um wirklich gravierende Einschnitte handeln müßte.

Solche alternativen Konzepte könnten u. a. bei folgenden Gedanken ansetzen: -Läßt man die vorherrschende lineare Darstellung des Geschichtsverlaufes zurücktreten und favorisiert hingegen -bei Wahrung der Großchronologie -einen Zeitbegriff in Anlehnung an Le Goff oder Braudel, so käme man zur Schichtung eines geographischen Raumes: als fast stationäre Zeit (la longue duree), einer langsameren Zeit der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen (conjunctures) und einer schnellen Zeit der politischen Ereignisse. In der Schichtung einer solchen großen „Insel“ hätten auch Mentalitäten und Alltagserfahrungen Platz, könnten historisch-anthropologische Fragestellungen untersucht werden bis hin zu Ansätzen geschichtsphilosophischer Reflexionen. Es wäre ein Brückenschlag zwischen Makro-und Mikrogeschichte möglich

Anknüpfend an die lebensweltlichen Bedürfnisse und Interessen von Kindern und Jugendlichen, die in der Regel zunächst bevorzugt auf pralles Menschenleben, auf Einzelschicksale gerichtet sind, gäbe es erheblich größere Chancen als bisher, Pfade für aufgeklärtes und kritisches Reflektieren von Vergangenheit zu eröffnen. Denn um ein Menschenschicksal verstehen zu können, ist wohl die Vorstellung von der mit dem Lern-und Lebensalter zunehmend differenzierteren gesamten „historischen Lebenswelt“ unabdingbar. -Die didaktische Bearbeitung der Vielfalt von Forschungsstrategien in der Geschichtswissenschaft würde zur Differenzierung von Aneignungsstrategien führen und gerade das forschend-fragende Lernen inhaltlich bereichern. Denn die hauptsächliche didaktische Innovation wird aus der Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft gespeist. Beim näheren Hinsehen ist zu bemerken, daß die Integration von Methoden anderer Wissenschaftsdisziplinen in die Geschichtswissenschaft bereits intern einen „interdisziplinären“ Trend enthält, von dem es eigentlich nicht mehr weit bis zu der Einbeziehung verschiedener Richtungen pädagogisch-psychologischer Bearbeitung im engeren Sinn ist. In diesem Spektrum hätten ganz verschiedene psychologische Ansätze Platz: Warum sollte bei der Analyse einer dichten Beschreibung (z. B. Text über ein Einzelschicksal) nicht auch die tiefenpsychologische Methode Anwendung finden neben der heuristischen? Und würden nicht gerade die Entwicklungen in der konstruktivistischen Psychologie unseren Auffassungen zu personalen Sinnfindungs-und Sinnbildungsprozessen sehr entgegenkommen?

Wir sollten die Wende als eine Chance begreifen, mit Hilfe einer differenzierten Aneignung von Geschichte zur Souveränität des Individuums beizutragen. Eine Souveränität, die so konsistent ist, daß wohl ständig über Widersprüche Selbstentwicklung stattfindet, aber letztlich die Identität des Individuums nicht zerstört werden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl-Friedrich Wessel. Über die den Individuen möglichen Vermittlungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart -Oder: Gibt es eine individualisierte Geschichte?, in: Dagmar Klose/Uwe Uffelmann (Hrsg.), Vergangenheit -Geschichte -Psyche. Ein interdisziplinäres Gespräch, Idstein 1993. S. 24.

  2. Wendelin Szalai, Wie funktionierte Identitätsbildung in der DDR?, in: Uwe Uffelmann (Hrsg.), Identitätsbildung und Geschichtsbewußtsein nach der Vereinigung Deutschlands. Weinheim 1993. S. 67.

  3. Vgl. Dagmar Klose, Geschichtsbewußtsein zwischen zwei Gesellschaftssystemen, in: Herbert Raisch (Hrsg.), Auf dem Weg zur Einheit. Aspekte einer neuen Identität, Idstein 1994, S. 9-23.

  4. Vgl. W. Szalai (Anm. 2), S. 66ff.

  5. Vgl. Luc Ciompi, Außenwelt. Innenwelt. Die Entstehung von Raum, Zeit und psychischen Strukturen, Göttingen 1988, S. 168.

  6. Vgl. ebenda, S. 177f.

  7. Vgl. Vera F. Birkenbihl, Kommunikationstraining, München 1992, S. 48ff.

  8. Vgl. Helmut Dahmer. Derealisierung und Wiederholung, in: Psyche, 44 (1990), S. 142.

  9. Vgl. Dagmar Klose, Reflexionen ostdeutscher Abiturienten über Geschichte. -Seismograph für das gesellschaftliche Bedingungsfeld, in: U. Uffelmann (Anm. 2). S. 120ff.

  10. Vgl. Marion Klewitz. Geschichtsbewußtsein im Umbruch -Interviews mit Studierenden aus der DDR im Fach Geschichte an der Freien Universität Berlin, in: D. Klose/U. Uffelmann (Anm. 1), S. 73-100.

  11. Vgl. Rolf Schörken, Wohin mit dem Marxismus-Leninismus?, in: Hans Süssmuth (Hrsg.), Geschichtsunterricht im vereinten Deutschland. Auf der Suche nach Neuorientierung (Teil 1), Baden-Baden 1991. S. 137-144.

  12. Vgl. Ludwig von Friedeburg/Peter Hübner, Das Geschichtsbild der Jugend. München 1964, S. 11.

  13. Christoph Kießmann, Geschichtsbewußtsein nach 1945: Ein neuer Anfang, in: Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Materialien zur Spurensuche einer Nation, Köln 1989, S. 127.

  14. Vgl. dazu den Beitrag von Uwe Uffelniann in diesem Heft.

  15. Vgl.ders., Psychologie historischen Lernens und Geschichtsunterricht, in: Geschichte -Erziehung -Politik. 5 (1994) 6, 7/8; Dagmar Klose, Joachim Lompscher, ebd., Heft 9.

  16. Vgl. Rudolf von Thadden, Nation muß sein -aber wozu?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 45 (1994), S. 341-346.

  17. Vgl. Wolfgang Thierse. Wahl '94: Was tun?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15/94, S. 20.

  18. Vgl. Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 87ff.

  19. Vgl. G. Iggers, ebd., S. 46, sowie Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Band 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt 1993; Werner Röhr, Posthistoire. Realität oder Perspektive -Erfahrung oder Interpretation, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 42 (1994) 4, S. 319-330; Jörn Rüsen, Zeit und Sinn, Strategien historischen Denkens, Frankfurt 1990; Hans Süssmuth (Hrsg.), Historische Anthropologie, Göttingen 1984; Otto Ulbricht, Mikrogeschichte. Versuch einer Vorstellung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 45 (1994), S. 347-367.

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Dagmar Klose, Dr. phil. habil., geb. 1944; seit 1992 Professorin der Geschichtswissenschaft mit Schwerpunkt Didaktik der Geschichte an der Universität Potsdam. Vorstandsmitglied der Konferenz für Geschichtsdidaktik; Direktoriumsmitglied des Zentrums für Lern-und Lehrforschung an der Universität Potsdam. Veröffentlichungen u. a.: Historisches Lernen und Psychologie -„Zugänge“ zum Verstehen, in: Dagmar Klose/Uwe Uffelmann (Hrsg.), Vergangenheit -Geschichte -Psyche: Ein interdisziplinäres Gespräch, Idstein 1993; Reflexionen ostdeutscher Abiturienten über Geschichte -Seismograph für das gesellschaftliche Bedingungsfeld, in: Uwe Uffelmann (Hrsg.), Identitätsbildung und Geschichtsbewußtsein nach der Vereinigung Deutschlands, Weinheim 1993; Geschichtsbewußtsein im Spannungsfeld zweier Gesellschaftssysteme, in: Herbert Raisch (Hrsg.), Auf dem Weg zur Einheit. Aspekte einer neuen Identität, Idstein 1994.