Möglichkeiten und Grenzen der Eingliederung von Zuwanderern in den deutschen Arbeitsmarkt
Bernd Hof
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Zusammenfassung
Auch wenn in der aktuellen Konjunktursituation mit 3, 8 Millionen Arbeitslosen kein Zuwanderungsbedarf erkennbar ist, so wird die Bundesrepublik Deutschland langfristig aus Sicht des Arbeitsmarktes doch auf Zuwanderung angewiesen sein. Möglichkeiten und Grenzen dieser Zuwanderung lassen sich vorausschauend jedoch nur dann beschreiben, wenn der Arbeitsmarkt mit seinen Angebots-und Nachfragebedingungen stärker ins politische Blickfeld gerückt wird. Zunächst ist die globale Wirtschaftspolitik gefordert, ein erreichbares Beschäftigungsziel vorzugeben oder eine Vorstellung darüber zu entwickeln, für wie viele Menschen in Deutschland Vollbeschäftigung angestrebt werden soll. Denn der Arbeitsmarkt ist nicht nur Resultante des Produktionsprozesses mit seinem tarifpolitischen Umfeld, sondern hängt auch vom verantwortlichen Handeln staatlicher Instanzen ab. Für geschlossene Integrationskonzepte sind deshalb solche Zielvorgaben notwendig. Auf der Basis der Bevölkerungsentwicklung sind Prozesse beschreibbar, die langfristig die Zuwanderung von außen ratsam erscheinen lassen. Dabei geht es ebenso um die Folgewirkungen der rückläufigen Geburtenentwicklung in der Vergangenheit wie um die Auswirkungen steigender Lebenserwartung in der Zukunft. Dazwischen liegt die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials mit seiner intern nicht mehr umkehrbaren Schrumpfungs-und Alterungstendenz. Zuwanderung erscheint dabei nicht als Allheilmittel, sondern als notwendige Ergänzung für eine weiterhin dynamische Wirtschaftsentwicklung am Erwerbsstandort Deutschland. Denn in einem abgeschotteten Wirtschaftsraum mit sinkender Bevölkerung und alterndem Arbeitskräftepotential gerät das ökonomische Fundament einer ausreichend großen Zahl wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze ins Wanken. Unbegrenzte Zuwanderung schließlich würde eine tragfähige Entwicklung ebenso stören. Um all dies zu vermeiden, sind einwanderungspolitische Entscheidungen erforderlich, die im arbeitsmarktorientierten Teil eine bewußte und für alle erkennbare Steuerung vorsehen, wohlwissend, daß die internationale Wanderungsbewegung auch soziale und humane Fragen stellt. *
I. Vorbemerkungen
Im Tief der Beschäftigungskonjunktur des Jahres 1994 ist nicht viel Spürsinn erforderlich, um einen Zielkonflikt zwischen Arbeitsmarkt und Zuwanderung auszumachen. Während der Fahrt in die Rezession folgte der sinkenden Auslastung der Produktionskapazitäten eine Entlassungswelle, die nahezu alle Wirtschaftsbereiche erfaßte. Binnen zwei Jahren sank allein in den alten Bundesländern die Zahl der Erwerbstätigen um rund 900000 Personen, und zur Jahresmitte 1994 wurden in Deutschland 3, 8 Millionen Arbeitslose registriert. Unter konjunkturellen Gesichtspunkten ist mit diesen Eckdaten die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Eingliederung von Zuwanderern beantwortet. Denn beschäftigungspolitisch geht es zunächst einmal um die Wiedereingliederung der Arbeitslosen, bevor im beginnenden Aufschwung die Personalpolitik auf externe Arbeitsmärkte zurückgreifen muß.
II. Zwei Grundeinsichten
Abbildung 2
Schaubild 2: Bevölkerungsentwicklung von 1960 bis 1993: Früheres Bundesgebiet Quelle: Für die tatsächliche Entwicklung: siehe Schaubild 1; Modell Abschottung: eigene Berechnungen mit Basisdaten des Statistischen Bundesamtes.
Schaubild 2: Bevölkerungsentwicklung von 1960 bis 1993: Früheres Bundesgebiet Quelle: Für die tatsächliche Entwicklung: siehe Schaubild 1; Modell Abschottung: eigene Berechnungen mit Basisdaten des Statistischen Bundesamtes.
1. Zuwanderung und Beschäftigungsentwicklung Aber das Ausmaß der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nicht allein Ausdruck der tiefen Rezession. So sicher die ostdeutsche Arbeitsmarktproblematik mit dem Übergang zur Marktwirtschaft und der anschließenden Suche nach neuen Produktionsstrukturen zusammenhängt, so sehr muß das westdeutsche Arbeitsmarktergebnis im Zusammenhang mit Zuwanderung gesehen werden. Dort nämlich -in den alten Bundesländern -summierte sich der Außenwanderungssaldo über den Zeitraum von 1988 bis 1992 auf rund vier Millionen Personen. Allein im Jahr 1990 lag die Nettozuwanderung von Deutschen bei 665 000 Personen und die von Ausländern bei 376000 Personen, insgesamt also bei gut einer Million (Schaubild 1). Das bedeutet: Die Bevölkerung nahm infolge der Nettozuwanderung durchschnittlich pro Jahr um 800000 Menschen zu, das Arbeitskräfteangebot bei einer Erwerbsbeteiligung der Zuwanderer von gut 60 Prozent um jährlich rund 500000 Personen. Folglich gab es 1992 allein durch die Bewegungen über das Außenwanderungskonto etwa 2, 5 Millionen Erwerbspersonen mehr als 1987. Es leuchtet unmittelbar ein, daß diese heftige Zuwanderungswelle bei einem Arbeitslosen-bestand von 2, 2 Millionen Personen 1987 in den Folgejahren zu Verdrängungseffekten führen mußte. Es ist* keine Arbeitsplatzentwicklung vorstellbar, die unter diesen Bedingungen zur Vollbeschäftigung geführt hätte.
An Hand einer Modellrechnung läßt sich zeigen, wie sich die registrierte Arbeitslosigkeit in Westdeutschland ohne die skizzierte Nettozuwanderung, aber unter sonst gleichen Wachstums-und Beschäftigungsbedingungen entwickelt hätte. Dazu wird die Erwerbsbevölkerung des Jahres 1987 ohne Berücksichtigung der Wanderungssalden, aber unter Verwendung der tatsächlichen Erwerbsbeteiligung der Inländer über die nach außen abgeschottete Erwerbsbevölkerung nach vorne gerechnet. Auf diese Weise entsteht ein fiktives Arbeitskräfteangebot. Konfrontiert man die geschätzten Ergebnisse mit der tatsächlichen Entwicklung der Erwerbstätigkeit, dann hätte 1992 die Arbeitslosigkeit als Differenz zwischen Erwerbs-personen und Erwerbstätigen bei nur noch 550000 gelegen. Tatsächlich waren 1, 8 Millionen Arbeitslose registriert, obwohl die Beschäftigung im gleichen Zeitraum um gut 2, 4 Millionen zugenommen hatte.
Nun kann eine solche Modellrechnung nicht alle Einzelbewegungen verfolgen, und sie ist auch kein Argument gegen Zuwanderung. Aber sie belegt Verdrängungseffekte am Arbeitsmarkt und Über-forderungen des gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungssystems, in einem so kurzen Zeitraum noch mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Andererseits trifft es auch zu, daß ohne die zugewanderten Arbeitskräfte die kurzfristig beachtliche Beschäftigungsmehrung wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte: Zuwanderer sind zumindest bei ihrer Erstvermittlung ausgesprochen mobil, und sie nehmen Tätig-keiten an, die von Einheimischen abgelehnt werden. Aber einen Dauerarbeitsplatz haben viele von ihnen offenkundig dennoch nicht gefunden, denn im Konjunkturabschwung nach 1991 waren vor allem solche Arbeitsmarktregionen von spürbar steigender Arbeitslosigkeit betroffen, die zuvor hohe Zuwanderungsraten aufwiesen Das wirft die Frage nach der dauerhaften und längerfristigen Integration von Zuwanderern auf. 2. Wachstum und Beschäftigungsentwicklung Eine zweite Vorbemerkung scheint notwendig, die sich besonders plastisch an der Äußerung des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, festmachen läßt. Nach seiner Meinung kann Vollbeschäftigung erst bei einer gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate von zehn Prozent erreicht werden. Wozu auch immer eine so vereinfachende Feststellung dienen mag, zunächst wäre zu fragen, welches Arbeitskräftepotential mit dieser Wachstumsformulierung in Deutschland zur Vollbeschäftigung geführt werden soll. Ähnlich ehrgeizige Wachstumsziele werden aber auch häufig im Zusammenhang mit der These genannt, Wirtschaftswachstum löse das Problem der Arbeitslosigkeit nicht und eine konjunkturelle Belebung verbessere die Lage am Arbeitsmarkt kaum.
Läßt man die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials außer acht und konzentriert sich allein auf den Zusammenhang zwischen Wachstum und Beschäftigung, kann zuverlässig gezeigt werden, daß es rückblickend keine Entkoppelung zwischen diesen beiden Größen gegeben hat Der Produktionszuwachs ist der Beschäftigungsmehrung nicht davongelaufen. Vielmehr wurde das wirtschaftliche Wachstum zunehmend beschäftigungsintensiver. Anders formuliert: Um einen positiven Beschäftigungsimpuls auszulösen, war in den vergangenen dreißig Jahren nicht etwa ein immer höheres Wachstumstempo erforderlich, sondern -im Gegenteil -ein zunehmend niedrigeres. Dazu drei Zahlen: In den Jahren 1960 bis 1973 nahm die Be schäftigung im Durchschnitt erst dann zu, wenn die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate die Marke von 3, 7 Prozent überschritt. Im Durchschnitt der Jahre 1973 bis 1980 lag dieser Wert bei 2, 2 Prozent, und in den achtziger Jahren bis 1992 genügte ein jahresdurchschnittliches Wachstum von nur noch 0, 7 Prozent. Mithin sind die Beschäftigungsschwellen spürbar gesunken, und eine Tendenz zu einem neuerlichen Anstieg ist derzeit nicht erkennbar. Deshalb fällt die Entscheidung über die Höhe der künftigen Arbeitslosigkeit vornehmlich auf der Seite des Arbeitskräftepotentials und nicht etwa auf der Seite der Beschäftigung.
Diese differenzierte Betrachtung der beiden Arbeitsmarktseiten ist notwendig. Ohne sie besteht die Gefahr, daß Wachstum und technischer Fortschritt in Mißkredit geraten und die unvollständige Analyse zur falschen Therapie führt. Denn das Ergebnis gesunkener Beschäftigungsschwellen widerlegt die These von der technologischen Arbeitslosigkeit. Weder die Automatisierungswelle der sechziger Jahre noch die Ausbreitung der technologischen Entwicklungslinie Mikroelektronik im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre haben zu einer Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung geführt. Wenn diesem empirischen Befund gelegentlich mit Skepsis begegnet wird, hängt dies mit der Fixierung auf die industriellen Produktionsbedingungen zusammen. Dabei werden die vom längerfristigen Strukturwandel der Wirtschaft insgesamt ausgelösten Beschäftigungswirkungen nicht in der ganzen Breite gesehen. So sind die Rationalisierungsprozesse des primären und des sekundären Sektors der Wirtschaft immer weniger repräsentativ für die Gesamtheit der Wirtschaftsbereiche. Anfang der sechziger Jahre waren noch 60 Prozent aller Erwerbstätigen in der Güterproduktion dieser Bereiche tätig. Anfang der neunziger Jahre sind 60 Prozent aller Erwerbstätigen mit der Produktion von Dienstleistungen beschäftigt.
Dieser Strukturwandel liefert denn auch das zentrale Argument für die niedrigeren Beschäftigungsschwellen. Dienstleistungsunternehmen brauchen für ihre spezifische Produktion mehr Menschen als Industrieunternehmen. Das bedeutet nicht, daß die Zukunft des Produktionsstandorts Deutschland allein in den Dienstleistungsbereichen zu suchen ist. Vielmehr kommt es darauf an, im weltwirtschaftlichen Strukturwandel über die Informations-und Kommunikationstechnologien eine stärkere Verzahnung zwischen Industrie und Dienstleisungssektor voranzutreiben. Das schafft zusätzliche Arbeitsplätze. Hinzu kommt ein not-wendiger Wandel zu solchen Diensten, die im Zuge der alternden Bevölkerung Bedeutung erlangen werden. Insgesamt verbindet sich mit dem hier in aller Kürze skizzierten Strukturwandel kein Beschäftigungspessimismus. Aber die Tarif-politik muß diesen Veränderungen Rechnung tragen und die Tendenz sinkender Beschäftigungsschwellen durch eine in sektoraler Differenzierung an der Produktivität orientierte Lohnentwicklung stützen.
III. Zum Spannungsbogen zwischen Teilen und Abschotten
Abbildung 3
Schaubild 3: Ausländerarbeitsmarkt von 1960 bis 1993 Quellen: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit Nürnberg, Arbeitsstatistik -Jahreszahlen, verschiedene Jahrgänge; Statistisches Bundesamt (siehe Schaubild 1).
Schaubild 3: Ausländerarbeitsmarkt von 1960 bis 1993 Quellen: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit Nürnberg, Arbeitsstatistik -Jahreszahlen, verschiedene Jahrgänge; Statistisches Bundesamt (siehe Schaubild 1).
Wer sich diesen empirisch abgeleiteten Sichtweisen anzuschließen vermag, wird sich nicht mehr wie ein Rufer in der Wüste fühlen, wenn er über das derzeitige Konjunkturtal hinausblickend auf die Notwendigkeit längerfristig angelegter Denkkonzepte hinweist und bei sinkender inländischer Bevölkerung über Möglichkeiten und Grenzen der Eingliederung von Zuwanderern nachdenkt. Diese Zukunft hat ein französischer Demograph ein wenig sarkastisch, aber immerhin doch treffend, sinngemäß so beschrieben: Künftig sitzen immer mehr alte Menschen in alten Häusern und käuen alte Ideen wieder. Das Bild beschreibt die Sorgen um die Innovationskraft am Standort Europa und am Standort Deutschland. In diesem Kontext sehen die Ökonomen die internationalen Arbeitskräfte-wanderungen grundsätzlich positiv. So einhellig diese Meinung auch verbreitet ist, sie kommt doch nicht an der Tatsache vorbei, daß die weltweit vorhandenen Migrationspotentiale der weniger entwickelten Länder um ein Vielfaches größer sind als die Integrationsmöglichkeiten der Industriestaaten.
Im gesellschaftspolitischen Umfeld ist man sich dieser Grundsituation durchaus bewußt. Die einen sehen in der reichen Bundesrepublik durchaus weitreichende Möglichkeiten der Eingliederung, und sie fühlen sich zum Teilen aufgerufen. Andere rücken die Grenzen in den Vordergrund und plädieren dafür, die Bundesrepublik möge sich statt dessen nach außen abschotten und lieber „klein und fein“ werden. Es geht an dieser Stelle nicht darum, diese beiden Grundpositionen „Teilen aus Mitleid“ oder „Abschotten aus Angst“ gegeneinander auszuspielen. Die eine wie die andere ist zu verstehen. Aber der Spannungsbogen wird so deutlich.
Um so notwendiger ist es, Orientierungshilfen zur Verfügung zu stellen, die an ökonomischen Kriterien festgemacht sind Denn eine dauerhaft erfolgreiche Integration von Zuwanderern wird nur dann möglich sein, wenn die inländischen Arbeitsmärkte ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Dabei wird nicht vergessen, daß die internationalen Wanderungen auch soziale und humane Fragen aufwerfen, die von den Industriestaaten mit tragfähigen Entwicklungsprogrammen vor Ort beantwortet werden müssen. In einem solchen Beziehungsgefüge gibt es keinen Widerspruch zwischen einer mehr ethischen und einer mehr ökonomischen Orientierung, wenn die Konsequenzen des Tuns von allen Beteiligten getragen werden, statt sie zu vertuschen oder auf andere Verantwortungsebenen zu schieben. In diesem Sinne werden nach einer kurzen Darstellung vergangener Wanderungsbewegungen einige ökonomische Orientierungen gegeben.
IV. Die Wanderungsbewegung im Rückblick
Abbildung 4
Schaubild 4: Auswanderungssalden von 1960 bis 2020: Früheres Bundesgebiet sowie Deutschland Quelle: Statistisches Bundesamt; B. Hof (Anm. 4).
Schaubild 4: Auswanderungssalden von 1960 bis 2020: Früheres Bundesgebiet sowie Deutschland Quelle: Statistisches Bundesamt; B. Hof (Anm. 4).
Im früheren Bundesgebiet hat die Wanderungsbewegung über die Außengrenzen die Bevölkerungsentwicklung maßgeblich bestimmt. Zwischen 1960 und 1992 sind im Schnitt pro Jahr netto rund 250000 Menschen zugewandert. Die Bevölkerung stieg von 55, 4 Millionen im Jahr 1960 zunächst auf 62 Millionen im Jahr 1974 an. Anschließend bis Mitte der achtziger Jahre war sie leicht rückläufig, um danach bis 1993 spürbar auf 65, 8 Millionen anzusteigen (Schaubild 2). Man kann nun den Wanderungseinfluß eliminieren und den Bevölkerungsprozeß allein vor dem Hintergrund von Geburten-und Sterbefällen modellieren. Dazu wird die Ausgangsbevölkerung des Jahres 1960 unter Verwendung der tatsächlichen Geburten-und Sterbeziffern, aber ohne Berücksichtigung von Zu-und Fortzügen über die Außengrenzen des Bundesgebietes fortgeschrieben. Ergebnis: Ohne Nettozuwanderung wäre die Bevölkerung bis in dieerste Hälfte der siebziger Jahre auf gut 59 Millionen angestiegen und danach unentwegt zurückgegangen -bis 1993 annähernd wieder auf das Niveau von 1960. Die Differenz zur tatsächlichen Entwicklung beschreibt die Wirkung der Zuwanderung (Schaubild 2).
Die Lücke von nunmehr annähernd zehn Millionen Menschen zwischen Modell und tatsächlicher Entwicklung macht aber auch auf die tiefe Kluft aufmerksam, die zwischen den Erfahrungen der Bevölkerung und der politischen Rhetorik existiert, wenn es im Bevölkerungsbericht 1994 der Bundesregierung etwa heißt: „Deutschland ist kein Einwanderungsland und soll es auch in Zukunft nicht werden.“
In der Sache deutet die über das Modell entwikkelte Lücke auf den gesamten Regenerationsprozeß der zugewanderten Bevölkerung hin. Sie läßt aber auch die Macht der Netzwerke erahnen, die entstehen, wenn internationale Wanderungsbewegungen erst einmal in Gang gekommen sind. Noch bis Mitte der achtziger Jahre gab es in der Bundesrepublik einen engen Zusammenhang zwischen der Außenwanderungsbewegung und den Beschäftigungsverläufen am Arbeitsmarkt. Dieser konjunkturelle Gleichlauf mit Nettozuwanderung im Aufschwung und Nettoabwanderung im Ab-schwung ist in den achtziger Jahren verlorengegangen (Schaubild 3). Trotz verhaltener Entwicklung der Ausländerbeschäftigung stieg die Nettozuwanderung beträchtlich an. Ein neues Kennzeichen war aber auch, daß sie nicht mehr von der traditionellen Süd-Nord-Wanderung aus den Mittelmeer-staaten der Europäischen Gemeinschaft gespeist wurde. Der Wanderungssaldo war zwischen dem Bundesgebiet und den EG-Staaten im Zeitraum von 1980 bis 1991 bereits negativ.
Das muß auch nicht verwundern, denn die ehemals unterentwickelten südeuropäischen Länder können durch die europäische Integration auf wachsende ökonomische Erfolge verweisen. Vor Ort sind die Beschäftigungsmöglichkeiten spürbar gestiegen, und der Anreiz, sich für eine Beschäftigungsaufnahme nach Deutschland auf den Weg zu machen, nahm Zug um Zug ab. Jedenfalls hat sich im Verlauf des Integrationsprozesses die westeuropäische Migration nicht als Einbahnstraße erwiesen. Zugleich konnte die Bundesrepublik im engen Konjunkturzusammenhang Wanderungserfahrungen sammeln. Jetzt indes geht es vor dem Hintergrund der jüngsten Wanderungswelle um neue Konzepte, wenn mit Blick nach vorne tragfähige Integrationspotentiale aus inländischer Sicht ausgelotet werden sollen.
V. Stabilisierung der Erwerbsbevölkerung
Abbildung 5
Schaubild 5: Bevölkerung: Varianten bis 2020: Potentialorientierte Zuwanderung Quelle: B. Hof (Anm. 4).
Schaubild 5: Bevölkerung: Varianten bis 2020: Potentialorientierte Zuwanderung Quelle: B. Hof (Anm. 4).
Erste Orientierungen dafür liefert die voraussehbare Entwicklung des Arbeitskräftepotentials. Aber Vorsicht ist zunächst angebracht, denn in zurückliegenden Jahren waren Fehlprognosen verbreitet. Die Ursachen dafür lagen nicht im falschen Ansatz der Inlandsentwicklung. Vielmehr wurden in allen nationalen Bevölkerungsvorausschätzungen die Außenwanderungen unterschätzt, auch in den Prognosen für die Bundesrepublik Deutschland. Das muß keineswegs entmutigen, denn es gibt Migrationsdaten, die zuverlässige Gesetzmäßigkeiten aufweisen. So haben die Wanderungsströme insgesamt recht stabile Alters-und Geschlechterproportionen. Diese Information kann man nutzen und die erwünschte Wanderungsbewegung aus der Sicht des Aufnahmelandes an der prognostizierbaren Bevölkerungsentwicklung des Inlands festmachen. Es wird also nicht das Ausmaß der Zuwanderung zu prognostizieren versucht, sondern die Frage beantwortet, wieviel Außenwanderung erforderlich ist, um die Erwerbsbevölkerung zu stabilisieren. Die Einengung auf diesen Bevölkerungsteil entspricht dem Gedanken, daß eine dauerhaft erfolgreiche Integration der Zuwanderer zunächst von der Entwicklung des Arbeitskräftepotentials abhängt. Diese Vorgehensweise ist arbeitsmarktorientiert. Sie bedarf keiner Phantasien über künftige Zuwanderungsgrößenordnungen, und sie liefert ein nachvollziehbares Grunddatum für die gesellschaftspolitische Diskussion.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Im Unterschied zu den sechziger Jahren wird davon ausgegangen, daß die Wanderungsbewegung der Zukunft nicht eine reine Arbeitskräftewanderung, sondern eine Familienwanderung sein wird.
Nach dieser Rechnung sind zur Stabilisierung des inländischen Arbeitskräfteangebots bei zugleich unveränderter Erwerbsneigung jährliche Nettozuwanderungsvolumen erforderlich, die von 170000 Personen 1991 auf 800 000 im Jahr 2020 ansteigen (Schaubild 4). Es ist also die Dramatik auf der Zeit-achse, die das am Arbeitskräftepotential orientierte Wanderungsvolumen beschreibt. Verteiltman dieses Volumen, das zeitgleich den alters-strukturellen Verschiebungen folgt, linear auf den Zeitraum 1990 bis 2020, entspricht dies einer jährlichen Nettozuwanderung von 400 000 Personen -Kinder, Arbeitskräfte, Rentner.
Folgt nun die künftige Nettozuwanderung tatsächlich dem an der Stabilisierung des Arbeitskräfte-potentials orientierten Verlauf, so nimmt die Bevölkerung bei niedriger Geburtenentwicklung und steigender Lebenserwartung auf 84, 4 Millionen im Jahr 2020 zu (Schaubild 5). Die erste Orientierung lautet mithin: Wenn es in Deutschland gelänge, die Beschäftigung langfristig auf dem Niveau des Jahres 1990 zu halten, wenn sich darüber hinaus die Beteiligung der Erwerbsbevölkerung am Arbeitsmarkt nicht veränderte, müßten bis zum Jahr 2020 insgesamt 12, 4 Millionen Menschen netto zuwandern. Der Arbeitsmarkt würde unter diesen Voraussetzungen nicht überfordert. Diese Orientierung nach vorne mit der jahresdurchschnittlichen Nettozuwanderung von 400000 Menschen erlaubt zugleich eine Einordnung der unmittelbar zurückliegenden Wanderungsbewegung im Zeitraum von 1988 bis 1993. Sie hatte ziemlich genau den doppelten Umfang. Daran gemessen hieße die Vorgabe für die Zukunft zunächst Zuwanderungsbegrenzung.
VI. Zuwanderung und Auslastung des inländischen Arbeitskräftepotentials
Abbildung 6
Schaubild 6: Arbeitskräfteangebot: Varianten bis 2020 Quelle: B. Hof (Anm. 4).
Schaubild 6: Arbeitskräfteangebot: Varianten bis 2020 Quelle: B. Hof (Anm. 4).
Es liegt auf der Hand, daß diese erste Orientierung ergänzt werden muß durch schrittweise Auflösung zuvor konstant gehaltener Parameter. Da ist zunächst der Versuch, nach Ausgleichsmöglichkeiten Ausschau zu halten, die im Arbeitskräftepotential angelegt sind: Wird es möglich sein, die Erwerbs-beteiligung der Männer und der Frauen so anzuheben, daß der nicht wendbaren demographischen Schrumpfung des inländischen Arbeitskräfte-potentials wirksam begegnet werden kann? Mögliche Veränderungen lassen sich an drei Bereichen festmachen: Beim Arbeitsmarkteintritt sind es die Bildungszeiten der nachwachsenden Jahrgänge, in der Lebensmitte ist es der Familienbildungsprozeß mit der wechselnden Erwerbsbeteiligung der Frauen, und am Ende des Erwerbslebens die zeitliche Gestaltung des Übergangs in Rente.
Die von der demographischen Lücke in Gang gesetzte Dramatik auf der Zeitachse wird Forderungen auslösen, das inländisch verfügbare Arbeitskräftepotential durch Verhaltensänderungen stärker auszulasten. Weil dabei einige Politikbereiche gleichzeitig angesprochen werden, entsteht eine komplexe Querschnittsaufgabe. In der Diskussion befindet sich bereits eine Verkürzung der Bildungszeiten. Beschlossene Sache ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit im Rentenanpassungsgesetz. Breiter Zustimmung schließlich erfreuen sich alle Forderungen zur Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit. Der Versuch, diese drei Bereiche im ganzen zu sehen, führt zu folgender Bewertung: -Die Bildungspolitik sollte sich angesichts schwindender Nachwuchsjahrgänge dem arbeitsmarktpolitischen Druck nicht beugen und die Ausbildungszeiten generell verkürzen. Aber eine Durchforstung der Studienzeiten scheint durchaus angebracht. -Unter personalpolitischen Gesichtspunkten scheint ein generelles Hinausschieben der Ruhestandsgrenze problematisch. Diese Renten-politik müßte belegen, daß die Unternehmen bei der ohnehin programmierten Alterung der Belegschaften weiteren Beschäftigungsbedarf für ältere Arbeitnehmer sehen. Aber flexible Übergänge in Rente mit Überschreiten vorgegebener Ruhestandsgrenzen müssen möglich sein. -Die Suche nach Ausgleichspotentialen konzentriert sich damit auf die Frauenerwerbstätigkeit. Versäumt man dabei jedoch, das familiäre Umfeld für die Berufstätigkeit beider Ehepartner zu verbessern, führt die stärkere Ausschöpfung des Frauenerwerbspotentials entweder zu weiterem Geburtenrückgang, oder sie findet auf Kosten der Kinder statt. Wenn beides vermieden werden soll, sind familienpolitische Entscheidungen unumgänglich. Das schließt die Suche nach familienfreundlichen Arbeitszeitmustern ebenso ein wie die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur, z. B. Kindergärten und Ganztagsschulen.
Verschiebt sich nun das Erwerbsverhalten in einer oberen und in einer unteren Variante mehr oder weniger stark in die angedeuteten Richtungen, nähern sich die Erwerbsbiographien der Frauen denen der Männer an. In den mittleren Altersgruppen zwischen 25 und 35 Jahren kehren die Frauen nur noch vereinzelt dem Arbeitsmarkt den Rücken, um sich der Familienphase zu widmen. Die Erwerbsbeteiligung sinkt nicht mehr ab, sondern sie bleibt auf dem ohnehin erhöhten Niveau. Zum Vergleich: Hatten die Männer zu Beginn der neunziger Jahre im Durchschnitt noch ein um 26 Punkte höheres Erwerbsniveau als die Frauen, werden es in der oberen Variante im Jahr 2020 nur noch 15 Prozentpunkte sein. So sind denn auch in der steigenden Frauenerwerbsbeteiligung die entscheidenden Ausgleichspotentiale zu suchen. Sie werden in der oberen Variante sogar eine Abnahme des weiblichen Arbeitskräfte-potentials verhindern. Dagegen sind die Mengen-effekte verkürzter Bildungszeiten oder späteren Rentenbeginns zu vernachlässigen, weshalb das männliche Arbeitskräftepotential mit Sicherheit abnimmt.
Damit stehen die globalen Entwicklungslinien des künftigen Arbeitsangebots fest (Schaubild 6). Zunächst die Ergebnisse ohne Wanderungsbewegung: -Bei konstanter Erwerbsneigung sinkt das Arbeitskräfteangebot auf rund 31 Millionen im Jahr 2020, -bei steigendem Erwerbsverhalten gemäß der unteren Variante geht es auf gut 33 Millionen zurück und -in der oberen Erwerbsvariante immerhin noch auf gut 34, 5 Millionen.
Damit lautete die zweite Orientierung: Es lassen sich zwar beachtliche Ausgleichspotentiale erschließen, aber durch Verhaltensänderungen kann die demographische Lücke dennoch nicht gefüllt werden. Sie summiert sich zwischen 1990 und 2020 auf etwa acht Millionen Erwerbspersonen auf. Die untere Variante der Erwerbsbeteiligung liefert bis dahin ein Ausgleichspotential in der Größenordnung von insgesamt drei Millionen, die obere Variante eines von 4, 5 Millionen zusätzlichen Arbeitskräften.
Kombiniert man schließlich noch den rein demographisch ermittelten Zuwanderungsbedarf von durchschnittlich 400000 Menschen pro Jahr mit einem Anstieg der Erwerbsbeteiligung entsprechend der unteren Variante, nähme das Arbeitskräftepotential bis auf 42, 5 Millionen im Jahr 2015 zu. Bis 2020 bliebe es auf etwa diesem Niveau (Schaubild 6). Angesichts der zurückliegenden Wanderungsbewegungen bleibt auch ein solcher Erwerbspersonenverlauf wahrscheinlich. Damit stecken die dargestellten Verlaufslinien am Arbeitskräftepotential ausgerichtete Grenzen und Möglichkeiten der Zuwanderung ab. Es stellt sich nunmehr die Frage nach der voraussehbaren Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes und somit nach den künftigen Beschäftigungsmöglichkeiten.
VII. Varianten der Arbeitsplatzentwicklung
Abbildung 7
Schaubild 7: Arbeitsmarktbilanzen: Varianten bis 2020 Quelle: B. Hof (Anm. 4).
Schaubild 7: Arbeitsmarktbilanzen: Varianten bis 2020 Quelle: B. Hof (Anm. 4).
Ausgangspunkt ist der empirische Befund der im Zeitraum von 1960 bis 1992 gesunkenen Beschäftigungsschwellen kombiniert mit dem Ergebnis, daß der Produktivitätsfortschritt je Erwerbstätigen ebenso wie in allen zurückliegenden Perioden hinter dem Produktionswachstum zurückbleibt. Aber es ist ganz sicher der Januskopf dieser Kennziffer, der einerseits bei den unmittelbar Betroffenen lähmende Angst auslösen kann. Andererseits jedoch stellt der Produktivitätsfortschritt jeder Gesellschaft die entscheidenden Antriebskräfte für die Erweiterung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten zur Verfügung. Ob es nun die Ebene der Individualpsychologie oder die der Globalökonomie ist, hier wie dort ist es durchaus verständlich, wenn Veränderungen zunächst Bedrohungen auslösen, die sich in Ängsten verfestigen und schließlich in einen Rückzug einmünden. Auf der anderen Seite bietet jede Veränderung aber auch Chancen, die, wenn sie mutig ergriffen werden, sich in Wachstumsprozesse umsetzen lassen.
Es käme also darauf an, diese Fähigkeiten zu entwickeln und zu stärken. Nun hängt es vom Vermögen des einzelnen wie der Gesellschaft ab, ob sich abzeichnende Veränderungen als Bedrohung erlebt oder als Möglichkeiten für neue Wachstumsprozesse erkannt und genutzt werden. Wenn es gelingt, in Zukunft die Fraktion der Mutigen durch eine Politik des Fortschritts und der Modernisierung zu stärken, die zugleich die ökonomischen Wahrheiten zumutet und dabei auch die Konsequenzen eines schrumpfenden und zugleich alternden Erwerbspersonenpotentials nicht verschweigt, dann wird auch der Zuwanderung das Bedrohliche genommen, und sie kann die internen Wachstumsprozesse flankieren und fortentwickeln helfen.
In einer solchen Konstellation ist es durchaus möglich, daß die Gesamtwirtschaft pro Jahr um gut 2, 5 Prozent wächst, die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen aber mit 1, 7 Prozent deutlich dahinter zurückbleibt. Das wäre eine Wachstums-/Produktivitätsrelation, die sich auf die Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre stützt und die zugleich zu einer weiteren Dienstleistungsorientierung im Verbund mit modernen Industriestrukturen führt. Wenn sich dabei der Wirtschaftsstandort Deutschland dem internationalen Wettbewerb erfolgreich stellt, ist verbunden mit neuen Arbeitszeitmustern jahresdurchschnittlich eine Beschäftigungsmehrung von knapp einem Prozent durchaus vorstellbar. Zur Einordnung: Das wäre nur die Hälfte des Beschäftigungstempos, das in den Vereinigten Staaten nach 1970 realisiert wurde. Ein Wachstumstempo von gut 2, 5 Prozent wäre umweltverträglich, denn es weitet nicht die industrielle Güterproduktion überdurchschnittlich aus, sondern rückt die qualifizierten Dienstleistungen in den Vordergrund, und es trägt zugleich dem Alterungsprozeß der Bevölkerung Rechnung. Denn die Versorgung eines steigenden Anteils älterer Menschen bei gleichzeitig höherem Erwerbsniveau der Familien ist mit finanzieller Absicherung allein nicht zu erzielen. Dafür bedarf es auch eines deutlichen Mehrs an Beschäftigung in den weiten Bereichen der sozialen Dienste. Dennoch ist der so beschriebene längerfristige Wachstumspfad mit einer eher gedämpften Produktivitätsentwicklung eine offensive Orientierung. Diese Kombination setzt geradezu auf den Mut zur Veränderung und überwindet die Angst, der Gesellschaft gehe die Arbeit aus.
Vorstellbar ist natürlich auch ein Wachstumspfad mit einem jährlichen Zuwachs von 2, 3 Prozent und einem Produktivitätsfortschritt von 1, 9 Prozent. Daraus resultiert ein jährlicher Erwerbstätigen-anstieg von knapp einem halben Prozent. Das wäre eine eher defensive Vorgehensweise ohne Lerneffekte. Ihre Beschäftigungsreaktionen entsprächen dem Ergebnis des früheren Bundesgebietes der Jahre 1970 bis 1992.
Beide Varianten -die offensive wie die defensive -sind mögliche Entwicklungen, die ab dem Jahr 2000 Platz greifen könnten, nachdem der vor uns liegende Aufschwung die Beschäftigung wieder auf ein Niveau gehoben hat, wie es in Gesamtdeutsch-land 1991 gemessen wurde. Der Weg von da bis zum Jahr 2000 (Schaubild 7) beinhaltet also die Rezession in den alten Bundesländern samt anschließendem Aufschwung ebenso wie die fortdauernden strukturellen Anpassungsprozesse in den neuen Bundesländern.
VIII. Arbeitsmarktbilanzen
Behält man bei diesen regional unterschiedlichen Begründungen hoher Arbeitslosigkeit den gesamtdeutschen'Arbeitsmarkt im Blick, dann läßt die konjunkturelle Perspektive zunächst keine andere Schlußfolgerung zu als die einer spürbaren Begrenzung der Zuwanderung. Denn selbst wenn das Erwerbspersonenpotential seit 1990 unverändert geblieben wäre und auch weiterhin auf diesem Niveau verharren würde, gäbe es im Jahr 2000 in Deutschland immer noch zwei Millionen Arbeitslose als Differenz zwischen Erwerbstätigen und Erwerbspersonen (Schaubild 7). Das entspräche einer Arbeitslosenquote von rund fünf Prozent. Nach dem Jahr 2000 würde sich bei weiterhin konstantem Arbeitskräftepotential in beiden Wachstumsmustern der ökonomische Prozeß rasch der Vollbeschäftigung nähern.
Völlig anders sieht die Arbeitsmarktbilanz aus, wenn die Erwerbsbeteiligung im Inland gemäß der unteren Variante steigt und gleichzeitig die Netto-zuwanderung pro Jahr eine Größenordnung von 400000 Personen erreicht. Selbst im offensiven Wachstumsmuster würde das Ausmaß der Unter-beschäftigung erst nach dem Jahr 2005 die Zwei-Millionen-Grenze unterschreiten. Im defensiven Wachstumsmuster hingegen wäre dies bei hoher Zuwanderung in keinem einzigen Jahr der Fall, die Unterbeschäftigung läge bis gegen Ende des Projektionszeitraums durchgängig über drei Millionen Personen.
Bei geschlossenen Außengrenzen, aber bei stärkerer Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräfte-potentials gemäß der oberen Erwerbsvariante würden die Unternehmen schon im beginnenden Aufschwung bis 2000 auf Produktionsbehinderung durch Arbeitskräftemangel stoßen. Diese Einschätzung jedenfalls ist aufgrund von nur noch 1, 5 Millionen Arbeitslosen im Jahr 2000 zu erwarten. Die Arbeitslosenquote läge dann knapp unter vier Prozent.
Diese bewußt eingeschränkte Szenarienauswahl setzt somit Orientierungspunkte, die mittelfristig hinsichtlich des Ausmaßes der globalen Zuwanderung zur Vorsicht mahnen. Aber sie macht auch auf einen Zielkonflikt aufmerksam. Unter den konjunkturellen und strukturellen Gesichtspunkten der neunziger Jahre scheint eine Begrenzung der Zuwanderung notwendig. Langfristig hingegen wird zum Ausgleich der Arbeitskräftelücke Zuwanderung erforderlich sein. Das bedeutet, die Zuwanderer der neunziger Jahre werden in Deutschland auf insgesamt schlechte Arbeitsmarktbedingungen treffen. Dennoch verlangt die längerfristige ökonomische Zielsetzung eine Vorsorgehaltung, um bei immer stärker werdender demographischer Schrumpfung vorzeitig reagieren zu können. In jedem Fall ist konsequente Steuerung notwendig. Ohne sie liefe der Wirtschaftsfrachter Deutschland Gefahr, ziellos allein vom Zeitablauf bewegt zwischen den Verlaufslinien inSchaubild 6 hin und her zu trudeln, bis die Folgewirkungen der demographischen Prozesse unübersehbar geworden sind.
IX. Schlußfolgerungen
In einer solchen Situation des Abwartens lassen sich Möglichkeiten und Grenzen der Eingliederung von Zuwanderern kaum aufzeigen. Zunächst jedenfalls hängt der Zuwanderungsbedarf davon ab, wie erfolgreich eine konsequente Wirtschaftspolitik für mehr Beschäftigung die globalen Arbeitsmarktungleichgewichte der Gegenwart beseitigen hilft. Längerfristig wird diese Politik aller Voraussicht nach an Sachkapitalmangel nicht scheitern. Sorge bereitet vielmehr das Humankapital mit seiner wachsenden Bedeutung für eine strukturell veränderte ökonomische Entwicklung. Denn die natürliche Regeneration des deutschen Arbeitskräftepotentials ist in zunehmendem Maße gefährdet. Aufgrund der internen demographischen Prozesse nimmt der Arbeitskräftenachwuchs im Alter zwischen 15 und 25 Jahren in Westdeutschland schon seit Mitte der achtziger Jahre ab, in Deutschland bis zum Jahr 2020 von gegenwärtig 6, 5 auf dann 4 Millionen. Demgegenüber steigt die Zahl der über 55jährigen Arbeitskräfte von 4 Millionen heute auf 5, 5 Millionen. Der damit verbundene Alterungsprozeß gefährdet die breite Fundierung neuen technologischen Wissens. Deshalb ist es auch keine geeignete Strategie, dem Arbeitskräftenachwuchs bei ohnehin programmierter Verknappung eine Verkürzung der Ausbildungszeiten abzuverlangen. Das könnte langfristig produktivitätsmindemde Effekte haben. Wenn die Ausbildung aufgrund des Arbeitsmarktdrucks an Quantität und Qualität verliert, würde die Bundesrepublik genau das aufs Spiel setzen, was ihr in der Vergangenheit international stets Wettbewerbs-vorteile gebracht hat.
Arbeitsmarktorientierte Zuwanderung sollte auch die Möglichkeit eröffnen, die demographische Lücke am unteren Rand des Erwerbspersonenpotentials auszugleichen. Aber dieser Ausgleich stellt sich nicht im Selbstlauf ein. Die Bundesrepublik müßte ihre in der Vergangenheit erworbene Wanderungserfahrung durch tragfähige Integrationskonzepte ergänzen. Zunächst einmal ginge es dabei darum, die Ausbildungsbeteiligung der bereits anwesenden ausländischen Jugendlichen spürbar zu erhöhen, um die bereits vorhandenen Potentiale auch qualitativ besser auszuschöpfen. Für die längerfristige Wanderungszielsetzung wird es im arbeitsmarktorientierten Teil wahrscheinlich unumgänglich sein, bereits bei der Einreise gewisse Qualifikationsstandards zu setzen und ein gewisses Maß an Sprachkompetenz abzuverlangen. Denn eine so aufwendige Begleitung durch Sprach-und Qualifizierungskurse, wie sie deutsch-stämmigen Aussiedlern zuteil wurde, ist auf Dauer für das gesamte Zuwanderungspotential kaum vorstellbar.
Insgesamt zeigt sich, daß einwanderungspolitische Entscheidungen erforderlich sind, wenn die Bundesrepublik Deutschland ein leistungsfähiger Erwerbsstandort bleiben will. Deren Akzeptanz steigt in dem Maße, wie ihre Grundsätze nach innen wie nach außen für alle erkennbar offengelegt werden. Die hier vorgestellten längerfristigen Orientierungen mahnen rechtzeitige Weichenstellungen an, damit Überforderungen vermieden werden. Aber sie bedürfen der Ergänzung um die kurzfristige Orientierung, die den aktuellen Arbeitsmarktgegebenheiten Rechnung trägt. So könnte eine periodisch aufgelegte Gesamtschau den längerfristigen Rahmen ergänzen. Je nach konjunktureller Situation könnten der Einwanderungspolitik am aktuellen Arbeitsmarktgeschehen ausgerichtete Orientierungspunkte zur Verfügung gestellt werden. Denn nur ausgewogene und transparente Wanderungsproportionen nehmen Bedrohungen weg und steigern das Vermögen, im toleranten Miteinander die Chancen zu erkennen, die die zuwandernden Menschen für die inländische Entwicklung bedeuten. Das heißt Öffnung und Austausch, aber auch Zumutung und Abgrenzung. Beides wird notwendig sein, denn der sich selbst regulierende konjunkturelle Wanderungszusammenhang ist endgültig verloren.
Bernd Hof, Dr. rer. pol., geb. 1945; Leiter des Referats Bevölkerungs-und Arbeitsmarktökonomie, langfristige Prognosen, im Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Veröffentlichungen u. a.: Arbeitsmarkt bei verringertem Produktivitätszuwachs. Empirische Analyse und wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen, Köln 1987; Für mehr Verantwortung. Langzeitarbeitslosigkeit und soziale Marktwirtschaft, Beiträge zur Wirtschafts-und Sozialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Köln 1991; Europa im Zeichen der Migration. Szenarien zur Bevölkerungs-und Arbeitsmarktentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft bis 2020, Köln 1993; zahlreiche Veröffentlichungen zu globalen und strukturellen Zusammenhängen zwischen Bevölkerungs-und Arbeitskräfteentwicklung, zwischen Wirtschaftswachstum, Arbeitszeit und Beschäftigung.