Die Gemeinschaft Südostasiatischer Staaten (ASEAN): Vom Antikommunismus zum regionalen Ordnungsfaktor
Jürgen Rüland
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Zusammenfassung
Die Gemeinschaft Südostasiatischer Staaten gilt gemeinhin als Paradebeispiel erfolgreicher Süd-Süd-Kooperation. Der ASEAN gehören Brunei, Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand an. Vietnam wird 1995 als siebtes Mitglied hinzukommen. Mit den Veränderungen des internationalen Systems seit dem Ende des Ost-West-Konflikts sieht sich die Gemeinschaft jedoch völlig neuen Herausforderungen gegenüber -im wirtschaftlichen, aber auch im sicherheitspolitischen Bereich. Mit dem vierten Gipfel der ASEAN, der im Januar 1992 in Singapur stattfand, läßt sich daher eine erhebliche Intensivierung der Zusammenarbeit ausmachen. Dazu gehören die Einrichtung einer ASEAN-Freihandelszone (AFTA), Versuche, mit dem ASEAN Regional Forum (ARF) ein multilaterales Sicherheitssystem zu starten, institutionelle Reformen sowie die Erweiterung der Gemeinschaft. Gleichwohl gibt es weiterhin schwerwiegende Hemmnisse, die der Zusammenarbeit im Wege stehen: ein nur rudimentär entwickeltes Gemeinschaftsbewußtsein, ungelöste territoriale Fragen und unterschiedliche Sicherheitsperzeptionen.
I. Einleitung
Die sechziger und siebziger Jahre gelten mit einigem Recht als Gründerzeit des Dritte-Welt-Regionalismus; zahlreiche Regionalorganisationen wurden damals geschaffen. Anfangs war es die Europäische Gemeinschaft (EG), die dabei als Vorbild diente. Attraktiv mußte vor allem die Aussicht erscheinen, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit die Enge der Binnenmärkte zu überwinden, den innerregionalen Handel zu fördern, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen zu stärken und damit letztlich dem Entwicklungsziel einer industrialisierten Gesellschaft näherzukommen.
Mit der Krise modernisierungstheoretisch inspirierter, eurozentrischer Entwicklungsmodelle in den siebziger Jahren stellte sich der Begründungszusammenhang regionaler Organisationen neu dar. Im Lichte der nunmehr einsetzenden Neubewertung der Entwicklungsproblematik erhielten Regionalorganisationen eine militantere, emanzipatorische Ausrichtung: Süd-Süd-Kooperation hieß jetzt die Zauberformel, die zur Bildung von Gegenmacht beitragen sollte, um die asymmetrischen, das Nord-Süd-Entwicklungsgefälle zementierenden Machtverhältnisse aufzubrechen und zu demokratisieren. Zentrales Anliegen war die Schaffung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Regionalorganisationen kam dabei besondere Bedeutung zu, zumal sich globale Strategien des Dritte-Welt-Syndikalismus wie die Blockfreien-bewegung oder die Gruppe der 77 infolge ihrer Heterogenität als wenig effektiv erwiesen
In dem angestrebten kollektiven „self-reliance" (oder dem in Südostasien geläufigeren „regional resilience") freilich kommt ein Kooperationsverständnis zum Ausdruck, das sich grundsätzlich vom westeuropäischen abhebt: Kooperation ist hier nicht notwendigerweise Vorstufe einer späteren Integration, sondern nur Mittel zum Zweck beim Aufbau nationaler Stärke und Eigenständigkeit
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, vor dem Hintergrund dieser notgedrungen kursorischen theoretischen Verortung die Leistungen einer Regionalorganisation zu bewerten, die im Schrifttum gemeinhin als Paradebeispiel erfolgreicher Süd-Süd-Kooperation figuriert: die Gemeinschaft Süd-ostasiatischer Staaten (ASEAN). Dabei wird die These vertreten, daß die ASEAN in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens diesen optimistischen Porträts selbst bei einer organisationsimmanenten Betrachtung allenfalls in Teilbereichen gerecht wurde. Unter dem Eindruck der tiefgreifenden globalen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen nach dem Ende des Kalten Krieges erfuhr die Zusammenarbeit der ASEAN jedoch einen erheblichen Schub. Das vierte Gipfeltreffen der Gemeinschaft, das im Januar 1992 in Singapur stattfand, stellte hierzu die Weichen. Diese neuen Entwicklungen stehen im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen.
II. Phasen der Entwicklung: Vom Antikommunismus zum Regionalismus
Die ASEAN wurde am 8. August 1967 gegründet. Gründungsmitglieder waren Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand. 1984 kam dann noch der ölreiche Zwergstaat Brunei hinzu.
Es war dies bereits der dritte Anlauf zur Formierung einer schlagkräftigen Regionalorganisation in Südostasien. Die 1961 und 1963 gegründeten Vorläufer, die Association of Southeast Asia (ASA) und Maphilindo (Malaysia, Philippiaien, Indonesien) hielten den Belastungen der noch Mitte der sechziger Jahre starken innerregionalen Spannungen nicht stand. Sie zerbrachen an der indonesischen „konfrontasi“ -Politik gegen die neuformierte Malaysische Föderation sowie am Streit zwischen Kuala Lumpur und Manila um das Bor-neo-Territorium Sabah. So stieß denn auch das ASEAN-Experiment auf Skepsis: Von einer „Gemeinschaft der Ungleichen“ war die Rede -mit Blick auf Landesgröße, Bevölkerung, Wirtschaftskraft und Kultur nicht einmal zu Unrecht.
Die Gründung der ASEAN stand weitgehend im Zeichen des Vietnam-Krieges. Mehr denn je kursierte zu jener Zeit in Südostasien das Schreckgespenst der „Domino-Theorie“: die Furcht, daß nach dem Fall Indochinas Staat für Staat, Domino-steinen gleich, kommunistisch würde. So ist denn auch ein strikter Antikommunismus und eine weitgehende Anlehnung an den Westen das einigende Band der ASEAN in dieser ersten Phase (1967-1975) ihres Bestehens gewesen.
Erst mit der Nixon-Doktrin (1969), der sich abzeichnenden Niederlage der Amerikaner in Vietnam, der Aufgabe der britischen Präsenz östlich von Suez und den Erfahrungen der ersten Ölkrise nahm die Zusammenarbeit der ASEAN deutlichere Konturen an. Der politische Wandel in Indochina beflügelte die bis dato eher zögerlichen Schritte in Richtung einer eigenständigeren Regionalisierungspolitik. Die Kuala-Lumpur-Deklaration von 1971, mit der die ASEAN die Vision einer Zone des Friedens, der Freiheit und der Neutralität (ZOPFAN) für Südostasien ausgab, ist ihr erster spektakulärer Ausdruck.
Mit dem Fall Saigons (1975) begann die zweite Entwicklungsphase (1975-1992): die volle Hin-wendung zum Regionalismus. Der amerikanische Rückzug aus Festland-Südostasien und die Entstehung eines kommunistischen Staatenblocks in Indochina erforderten einen stärkeren Rückgriff auf die eigenen Kräfte und ein Arrangement mit den neuen Machtverhältnissen in der Region. Die beiden Gipfelkonferenzen von Bali (1976) und Kuala Lumpur (1977) -die ersten seit Bestehen der ASEAN -geben ebenso Zeugnis von diesem Kooperationsschub wie der nun einsetzende institutioneile Aufbau der Organisation.
Noch 1976 wurde ein Generalsekretariat in Jakarta eröffnet, zahlreiche Arbeitsgruppen und Ausschüsse entstanden, und auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit nahm konkretere Formen an. Mit dem „Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit“ (1976) legte die ASEAN schließlich einen Verhaltenskodex für die internationalen Beziehungen in Südostasien vor, durch den sie die gemeinschaftsintern geltenden friedlichen Konfliktregelungsmechanismen auf ganz Südostasien ausdehnen wollte. Im Sinne der nach dem japanischen Premier Fukuda benannten Doktrin (1977) war dieser Vertrag zugleich ein Angebot zum Brückenschlag nach Indochina.
Der vietnamesische Einmarsch in Kambodscha im Dezember 1978 setzte dieser Ausgleichspolitik jedoch ein Ende, bevor sie richtig beginnen konnte. Südostasien war erneut zum Schnittpunkt globaler Konfliktformationen geworden: In Kambodscha überlagerten sich der sino-sowjetische Konflikt und der Ost-West-Gegensatz. Gleichwohl schweißte Kambodscha die ASEAN zur Sicherheitsgemeinschaft zusammen. Die vietnamesische Bedrohung wirkte solidaritätsstiftend und half gegensätzliche sicherheitspolitische Wahrnehmungen innerhalb der Gemeinschaft zu überbrücken. Dabei kristallisierte sich eine Arbeitsteilung heraus, die zwar nicht immer reibungslos funktionierte, jedoch vorzüglich den sich wandelnden globalen Rahmenbedingungen angepaßt war.
So war es in der Zeit der neuerlichen Supermachtkonfrontation zu Beginn der achtziger Jahre Thailand, das als „Frontstaat“ die Kambodscha-Politik der ASEAN bestimmte. Im Schulterschluß mit der VR China und mit Unterstützung des Westens verfocht Bangkok einen „hard line“ -Kurs, der darauf hinauslief, die Okkupationskosten für Vietnam so hoch zu treiben, daß am Ende nur der Abzug seiner Truppen stehen konnte
Der Amtsantritt Michail Gorbatschows leitete Mitte der achtziger Jahre eine neue Phase globaler Entspannung ein. Im Anschluß an seine berühmte Wladiwostok-Rede im Juli 1986 verbesserten sich nun auch in Indochina die Aussichten für eine Konfliktlösung. Da erwies es sich als gelungener Schachzug, Indonesien bereits 1984 mit der Rolle des ASEAN-Verhandlungsführers („interlocutor") betraut zu haben. Jakarta konnte dabei auf vergleichsweise gute Beziehungen zu Vietnam bauen, die sich aus historischen Affinitäten und gemeinsamen sicherheitspolitischen Einschätzungen ergaben. Indonesien und Vietnam teilten die Ansicht, daß die Hauptgefahr für Südostasien langfristig nicht von der Sowjetunion, sondern von der VR China ausgehe. Mit den Jakarta Informal Meetings bereitete die ASEAN den Boden für den Abzug vietnamesischer Truppen aus Kambodscha (1989) und den nach zähen Verhandlungen im Oktober 1991 in Paris geschlossenen Friedensakkord.
Ungeachtet der Turbulenzen in Indochina erlebten die ASEAN-Staaten einen atemberaubenden wirtschaftlichen Aufschwung. Seit Ende der sechziger Jahre verzeichnete die Gemeinschaft durchschnittliche Wachstumsraten um die sieben Prozent. Doch anders als im Gründungsdokument, der Bangkok-Deklaration, vorgesehen, war dieses Wachstum nicht das Resultat regionaler Kooperation. Allenfalls indirekt hat die Gemeinschaft Anteil daran -insofern nämlich, als die gemeinsame Sicherheitspolitik intern für ein gewisses Maß an politischer Stabilität sorgte und damit günstige Kapitalverwertungsbedingungen schuf. Im wesentlichen waren es jedoch nationale Eigenanstrengungen, die das Wachstum beflügelten
Dies freilich war nur folgerichtig: Die Komplementarität der ASEAN-Volkswirtschaften war gering, und die von der Gemeinschaft zu Säulen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit erkorenen Programme erwiesen sich als nicht tragfähig. Trotz massiver japanischer Kapitalinfusionen wurden nur zwei von fünf geplanten ASEAN-Industrieprojekten verwirklicht und ein Programm zur Industriekomplementierung versandete in nationalen Egoismen. Auch das 1977 aufgelegte Zollpräferenzprogramm kam über Ansätze nicht hinaus. Eingangs der neunziger Jahre waren zwar über 20000 Produkte für Zollvergünstigungen vorgesehen, doch wertmäßig repräsentierten sie nur fünf Prozent des innerregionalen Handels. Die für den Handel interessanten, aber auch konkurrenzanfälligen -und daher als „sensitiv“ klassifizierten -Güter wurden dagegen durch Ausnahmelisten geschützt So verwundert es kaum, daß sich 1992 der ASEAN-interne Handel mit rund 20 Prozent noch immer auf dem Niveau der späten sechziger Jahre bewegte Als halbwegs erfolgreiche Komponente der Wirtschaftskooperation verblieb damit einzig das in seiner Reichweite jedoch sehr limitierte Joint-Venture-Programm.
Der Kooperationsprozeß in der ASEAN folgte mithin grundlegend anderen Pfaden als in Europa. Zur Raison d’tre erwuchs die Sicherheitspolitik. Anders als die EG verschrieb sich die ASEAN jedoch nicht einem integrations-oder interdependenztheoretischen Determinismus, wonach fortschreitende wirtschaftliche Zusammenarbeit eine zunehmende Interessenverklammerung bewirkt, die niemand mehr ohne gravierende Schäden für sich selbst aufbrechen kann. Vielmehr fiel die Wirtschaft als Motor der Zusammenarbeit weitgehend aus. „Spill-over“ -Effekte auf andere Kooperationsfelder blieben so bis Anfang der neunziger Jahre marginal. Dies mag auch daran liegen, daß die von der ASEAN bevorzugte Kooperationskultur vergleichsweise wenig institutionalisiert war. Supranationale Organe entstanden nicht. Entscheidungen unterlagen damit langwierigen intergouvernementalen Abstimmungsprozessen Verankert war dieses Procedere in einem in der Region kulturell tief verwurzelten Konsens-und Harmoniedenken. Keiner der Beteiligten durfte das Gesicht verlieren; lieber vertagte oder tabuisierte man Gegensätze. Entscheidungen erfolgten daher stets auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners.
III. Die ASEAN in den neunziger Jahren: Auf dem Weg zum regionalen Ordnungsfaktor
1. Der Singapur-Gipfel als Meilenstein Trotz unbestrittener Verdienste der gemeinsamen Sicherheitspolitik begann sich eingangs der neunziger Jahre ein Gefühl der Stagnation in der ASEAN breitzumachen. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der Normalisierung der Beziehungen zwischen Peking und Moskau hatten die Bedrohungsängste in der Region merklich nachgelassen. Die Friedensdividende schien einlösbar geworden, ein Südostasien ohne Großmachteinflüsse in greifbare Nähe gerückt zu sein. Nachlassender Druck von außen erweiterte jedoch auch die Spielräume für nationale Interessenpolitik. Es gab sogar Prognosen, daß der Gemeinschaft mit der Friedensregelung für Kambodscha die Zusammenhalt stiftende Klammer verlorengegangen sei. Hinzu kam, daß auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit stagnierte.
Diese Phase der Desorientierung war jedoch nur von kurzer Dauer. Gravierende Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft und neue Bedrohungsszenarien sorgten dafür, daß man wieder mehr die Zusammenarbeit suchte. Vor dem Hintergrund einer vermeintlich zunehmenden handelspolitischen Blockbildung rückte die Absicherung des Wirtschaftswachstums auf die Agenda. In der „Festung Europa“, der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) und den vom Scheitern bedrohten GATT-Verhandlungen glaubte man einen wachsenden Hang der Industriestaaten zum Protektionismus zu erkennen. Doch nicht nur die Exportmärkte gerieten damit in Gefahr, auch die Binnenmärkte sahen sich mit den von den USA und Australien forcierten Liberalisierungsplänen der 1989 gegründeten Asiatisch-Pazifischen Wirt-Schaftskooperation (APEC) zunehmendem Druck ausgesetzt.
Fast zur gleichen Zeit entstanden in China, Vietnam und Indien neue Wachstums-und Billiglohnzentren. Verschärft wird die globale Konkurrenz um Absatzmärkte, Kapital und Technologien durch die Transformation der osteuropäischen Volkswirtschaften, die vor allem in Westeuropa Kapital und Aufmerksamkeit bindet. Und selbst Lateinamerika fand nach dem „verlorenen Jahrzehnt“ der achtziger Jahre mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik zu neuem Wachstum zurück. Freihandelsprojekte wie Mercosur, eine mögliche Erweiterung der NAFTA und zahlreiche bilaterale Abkommen haben auch Lateinamerika wieder zu Attraktivität als Wirtschaftsstandort verholfen.
Hinzu kamen neue sicherheitspolitische Sorgen: Mit der verminderten militärischen Präsenz der USA machte sich die Furcht breit, daß asiatische Großmächte wie China, Indien und Japan in die Fußstapfen der ehemaligen Blockführungsmächte treten und eigene Hegemonialambitionen entfalten könnten. Die militärischen Modernisierungsprogramme Pekings und Neu Delhis mit zeitweiligen Zuwachsraten der Verteidigungshaushalte um 20 Prozent und der zunehmenden Fähigkeit zur Machtprojektion haben Befürchtungen dieser Art genährt. Daraus entwickelte sich ein rasch eskalierender Rüstungswettlauf, an dem sich gerade auch die kleineren Staaten der Region beteiligen. Binnen weniger Jahre mutierte Asien zum größten Umschlagplatz hochmodernen Kriegsgeräts. Dabei werden enorme Mittel in die Modernisierung der Luft-und Seestreitkräfte gesteckt -ein deutliches Indiz dafür, daß es nicht mehr wie früher Counterinsurgency-Operationen, sondern zwischenstaatliche Bedrohungsperzeptionen sind, die das Sicherheitsverhalten bestimmen. Mit der dramatischen Aufrüstung neu ins Blickfeld geraten sind damit auch die bislang eher unter den Teppich gekehrten Irredenten. Es gibt fast keinen Staat in Ost-und Südostasien, der nicht Gebietsansprüche gegenüber Nachbarn geltend macht.
Weitere Konfliktfelder sind die konfligierenden Hoheitsansprüche im Südchinesischen Meer und -ab 1993 -die Nuklearisierung der koreanischen Halbinsel. Und auch in Kambodscha schweigen trotz des Pariser Friedensabkommens und der unter UN-Regie 1993 durchgeführten Wahlen die Waffen nicht. Darüber hinaus treten bislang eher am Rande wahrgenommene Sicherheitsrisiken ihrer grenzübergreifenden Natur wegen verstärkt ins Bewußtsein. So etwa die Piraterie in den Gewässern der Region, der internationale Drogenhandel, Umweltprobleme, AIDS, Arbeitsmigration und der internationale Terrorismus.
Auf ihrem vierten Gipfel, der im Januar 1992 in Singapur stattfand, begann sich die ASEAN ernsthaft mit diesen Trends auseinanderzusetzen. Singapur wurde ein Meilenstein in der Geschichte der Gemeinschaft. Die Staatschefs faßten eine Reihe bahnbrechender Beschlüsse und läuteten damit eine neue Phase intensivierter Zusammenarbeit ein. So einigten sie sich auf die Gründung einer ASEAN-Freihandelszone (AFTA), die Ausweitung des sicherheitspolitischen Diskurses auf die Dialogpartner im Rahmen der ASEAN Postministeriellen Konferenzen (PMK) sowie organisatorische Reformen für das Generalsekretariat Schließlich, im Juli desselben Jahres, verabschiedeten die ASEAN-Außenminister in Manila eine „Deklaration zum Südchinesischen Meer“. Darin wurden die sechs Anrainerstaaten (VR China, Taiwan, Vietnam, Malaysia, Philippinen, Brunei), die territoriale Ansprüche auf das ressourcenreiche Spratly-Archipel erheben, aufgefordert, nach gewaltfreien Lösungen zu suchen. Damit hatte die ASEAN die Weichen für eine erheblich erweiterte Rolle bei der Neuordnung der Beziehungen im asiatisch-pazifischen Raum gestellt. 2. Die ASEAN-Freihandelszone (AFTA)
Das AFTA-Konzept ging von einem stufenweisen Zollabbau über 15 Jahre aus. Bis zum Jahr 2008 sollten die Zölle für alle Industriegüter auf 0-5 Prozent fallen. Auch die nichttarifären Handels-hindernisse sollten'bis dahin aus dem Weg geräumt sein. Agrarprodukte und Dienstleistungen blieben jedoch von der Liberalisierung ausgenommen. Zölle über 20 Prozent sollten einen zweistufigen Abbau durchlaufen: In einer ersten Etappe von fünf bis acht Jahren sollten sie zunächst auf 20 Prozent gedrückt werden; für die folgenden sieben Jahre war dann der weitere Abbau bis auf 0-5 Prozent anvisiert Allerdings eröffnete auch die AFTA die Möglichkeit, besonders konkurrenzanfällige Produkte übergangsweise auf eine Ausnahmeliste zu setzen. Das hätte es krisengeschüttelten Volkswirtschaften wie jener der Philippinen oder Spätentwicklern wie Indonesien ermöglicht, vorerst an einem protektionistischen Kurs festzuhalten
Dies erklärt, warum auch beim AFTA-Projekt die Zweifel am politischen Willen der Gemeinschaft zur vollen Umsetzung des Programms überwogen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Donald K. Emmerson beispielsweise sah in der AFTA nicht viel mehr als einen „Regenschirm für Schlechtwettertage“
Die Kritiker schienen recht zu behalten, als am 1. Januar 1993 nur Singapur und Malaysia den Sprung ins kalte Wasser wagten. Alle anderen wollten von ihrem Recht eines maximal dreijährigen Beitrittsaufschubs Gebrauch machen. Dadurch hoffte man Zeit für die nötigen Struktur-anpassungen der eigenen Volkswirtschaft zu gewinnen, um diese auf den erhöhten Konkurrenzdruck vorzubereiten.
Ein klassischer Fehlstart also. Doch die bevorstehende Ratifizierung der NAFTA und der von verschiedenen APEC-Mitgliedern ausgehende Druck zur Errichtung einer asien-pazifikweiten Freihandelszone sorgten noch 1993 für einen Stimmungsumschwung. Auf ihrer Tagung in Singapur beschlossen die ASEAN-Wirtsehaftsminister im Oktober 1993, bereits am 1. Januar 1994 gemeinsam und unverzüglich mit dem Zollabbau zu beginnen. Die Ausnahmelisten wurden noch einmal durchforstet und gekürzt. Die schließlich vorgelegte, für den Zollabbau vorgesehene Warenliste umfaßt immerhin 80 Prozent der in der ASEAN gehandelten Güter
Der Abschluß der GATT-Verhandlungen und die Vision einer von der APEC eingesetzten hochrangigen Expertengruppe, bereits im Jahr 2000 mit einer das gesamte Pazifische Becken umspannenden Freihandelszone zu beginnen, zwangen die ASEAN unlängst zu einer weiteren Nachbesserung. In einem ungewöhnlich raschen Entscheidungsprozeß beschlossen die ASEAN-Wirtschaftsminister Ende September 1994 in Chiang Mai eine Verkürzung der Zollabbauperiode auf zehn Jahre. Erstmals erörterten sie auch die Einbeziehung von Dienstleistungen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen in den Zollabbauplan; dagegen gibt es jedoch noch starke Vorbehalte. Außerdem kündigten sie die Erarbeitung eines internationalen Standards entsprechenden Patentregimes an
Mit diesen Maßnahmen und der zuletzt von den ASEAN-Regierungen an den Tag gelegten Bereitschaft zu unilateralen Liberalisierungsmaßnahmen hat das AFTA-Vorhaben erheblich an politischer Glaubwürdigkeit gewonnen. Immer mehr entwickelt es sich von einer Rückfallposition in ein Vehikel zur Vorbereitung der Volkswirtschaften der Gemeinschaft auf den Wettbewerbsdruck, der von dem im April 1994 in Marrakesch abgeschlossenen GATT-Abkommen und der APEC ausgeht.
Als Ergänzung zur AFTA sind die seit 1989 entstehenden subregionalen Wachstumsregionen gedacht. Am weitesten ist dabei das Wachstums-dreieck Singapur-Johor-Riau (Sijori) gediehen. Die anderen -wie das sogenannte „nördliche Wachstumsdreieck“ Penang-Medan-Südthailand oder die East ASEAN Growth Area (EAGA), die Mindanao, Sulawesi, Kalimantan, Brunei sowie die beiden ostmalaysischen Staaten Sabah und Sarawak verflechten will -befinden sich noch im Reißbrett-stadium. Ob sie die anvisierte Komplementärfunktion wahrnehmen können, ist ungewiß. Die Verflechtungen im Sijori-Projekt konzentrieren sich bislang auf die dominante Ökonomie Singapurs. Die Entstehungsgeschichte der subregionalen Wachstumszonen legt überdies den Schluß nahe, daß sie eher Frustrationen über die bis dahin dürftigen wirtschaftlichen Kooperationsleistungen im Sechserverbund der ASEAN zum Ausdruck brachten. Wirtschaftskooperation sollte nun pragmatischere Formen annehmen: weniger ambitiös, kleinräumig und mit weniger Beteiligten. Die neuere Welle von Wachstumszonen hingegen verfolgt im wesentlichen Funktionen der Hinterlanderschließung. Angesichts wachsender innerstaatlicher Entwicklungsdisparitäten verdeutlichen sie die Hilflosigkeit der Zentralregierungen, ihren Peripherien ausreichende Wachstumsimpulse zu vermitteln. 3. Das ASEAN-Regionalforum (ARF)
Trotz dieses Sprungs nach vorn in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit konnte nicht verborgen bleiben, daß sich die ASEAN nur mühsam auf den dynamischen Wandel in der Region einzustellen vermochte. Aus dieser Erkenntnis zog sie Lehren. Zumindest in der Sicherheitspolitik wollte sie das Gesetz des Handelns bestimmen Die Absicht des Singapur-Gipfels, die externen Sicherheitsbeziehungen auszubauen, wurde mit der Gründung des ASEAN Regional Forum (ARF) auf dem 26. Außenministertreffen 1993 in Singapur verwirklicht. ARF soll die Keimzelle eines multilateralen Sicherheitsregimes für den asiatisch-pazifischen Raum werden. 18 Staaten sollen daran mitwirken: neben den ASEAN-Sechs und ihren sieben Dialogpartnern (USA, Kanada, Australien, Neusee-land, EU, Japan, Südkorea) noch die VR China und Rußland sowie Vietnam, Laos und Papua-Neuguinea. Von dem Modell der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) grenzt man sich jedoch ganz bewußt ab. Vordergründig wird darauf verwiesen, daß dieses -wie der Krieg in Bosnien zeige -seinen Tauglichkeitstest nicht bestanden habe. Ein weitaus wichtigerer Grund ist allerdings die Tatsache, daß mit der KSZE weitreichende Verpflichtungen bei Menschenrechten verbunden sind, die man angesichts eines zunehmend selbstbewußten Beharrens auf „asiatischen Werten“ so nicht übernehmen will.
Im Juli 1994 fiel dann auf dem 27. ASEAN-Außenministertreffen in Bangkok der Startschuß für ARF. Der Ertrag blieb indes gering. Eine vertiefte Diskussion der einzelnen Konfliktfelder fand nicht statt. Die Abschlußerklärung blieb entsprechend vage. Von den Brennpunkten der Region wurde nur die gespannte Sicherheitslage auf der koreanischen Halbinsel gestreift. Anmerkungen zum Streit um die Hoheitsrechte im Südchinesischen Meer wußte die VR China zu verhindern. Für sie geht es hier um bilaterale Fragen, die nur von den Konfliktparteien selbst verhandelt werden könnten. Somit haben sich in der ersten ARF-Runde Staaten wie China und Indonesien durchgesetzt, die das erweiterte sicherheitspolitische Terrain vorerst tastend ergründen wollen.
Dabei kann es allerdings nicht bleiben. Brunei als Gastgeber des für 1995 anberaumten zweiten ARF-Treffens wurde denn auch damit beauftragt, Vorarbeiten für einen Katalog Vertrauens-und Sicherheitsbildender Maßnahmen (VSBM) in die Wege zu leiten. Derartige, trotz aller Vorbehalte dem KSZE-Instrumentarium entlehnte Vorschläge waren bereits im Vorfeld des Forums von Indonesien und den Philippinen lanciert worden.
Diese zielen primär auf vermehrte Transparenz im Rüstungssektor. Obwohl der schon 1984 von ASEAN-Seite unterbreitete Vorschlag einer Nuklearwaffenfreien Zone Südostasien (SEANWFZ) bislang an den globalen Interessen der USA scheiterte, herrscht in der Region weitgehende Einigkeit über die Notwendigkeit einer wirksamen atomaren Nichtverbreitungspolitik. Im konventionellen Bereich sollen Militärübungen in Umfang und Anzahl reduziert, ausländische Beobachter zugelassen werden. Des weiteren wird vorgeschlagen, verteidigungspolitische Weißbücher auszutauschen und ein regionales Register über Rüstungsausgaben anzulegen. Alle ARF-Mitglieder sollten ferner dem UN-Register für konventionelle Rüstung beitreten. Sogar die Formierung einer ASEAN Peacekeeping-Truppe und eine engere Anbindung der Gemeinschaft an die Vereinten Nationen wurden angeregt
Um diese auch technisch anspruchsvollen Maßnahmen voranzubringen, bedarf es freilich einer verstärkten Institutionalisierung des ARF-Prozesses. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Formierung eines Senior Officials Meeting (SOM). Außerdem sollen die zunehmend vernetzten Institute für Internationale und Strategische Studien (ISIS) der Region stärker in den ARF-Prozeß eingebunden werden. Diese Denkfabriken stehen seit etwa drei Jahren in einem intensiven Dialog. Viele der oben skizzierten VSBM wurden im Rahmen von ISIS-Konferenzen konzipiert. Mit der Gründung des Council for Security Cooperation in the Asia Pacific Region (CSCAP) haben sich diese Institute Mitte 1993 nun eine regionale Dachorganisation geschaffen. Im Verlaufe dieser sogenannten „track-two“ -Diplomatie, die in inoffizieller Mission akademische Fachleute, Beamte, Diplomaten und Militärs zusammenbringt, ist eine auf den ersten Blick nicht sofort sichtbare institutioneile Infrastruktur entstanden, die aber in geradezu idealer Weise „asiatischen Bedingungen“ gerecht wird. Sie ermöglicht die Erörterung von kontroversen Sachverhalten, ohne daß die Regierungsbeziehungen darunter leiden. Zeichnet sich eine Annäherung der Standpunkte ab, können die Verhandlungen in offizielle Kanäle verlagert werden.
Sicherheitspolitische Fortschritte werden sich aber nur schwerlich einstellen, solange nicht wichtige Konfliktparteien in die präventive Diplomatie einbezogen werden. Dies gilt für Nordkorea, aber auch für Taiwan, dessen Mitwirkung jedoch an Pekings Ein-China-Politik scheitern dürfte. Unbedingt eingebunden werden müßte auch der indische Subkontinent Der indisch-pakistanische Konflikt ist angesichts des De-facto-Nuklearstatus beider Kontrahenten einer der weltweit gefährlichsten Konfliktherde. Die Mitwirkung Indiens an dem Forum ist aber schon deswegen eine Conditio sine qua non, weil nur so ein Übergreifen der indisch-chinesischen Rivalität auf Südostasien vermieden werden kann. Das derzeitige Tauwetter in den gegenseitigen Beziehungen verschleiert nur die zwischen beiden Giganten schlummernden Konfliktpotentiale Chinas Präsenz in Birma und seine Ambitionen im Südchinesischen Meer kön-nen in Indien jederzeit ein Gefühl der Einkreisung aufkommen lassen und Südostasien zum Schauplatz eines innerasiatischen Hegemonialkonfliktes machen. 4. Erweiterung Nach Auflösung der alten Konfliktformationen haben sich zuletzt vor allem Vietnam und Laos um eine engere Anbindung an die ASEAN bemüht. Beide waren bereits auf der ASEAN-Außenministerkonferenz 1992 in Manila dem „Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit“ beigetreten. Insbesondere Vietnam hat seither mehrfach seine Absicht bekundet, Vollmitglied der ASEAN zu werden. In der Folge verdichtete sich nicht nur die Besuchsdiplomatie in beiden Richtungen erheblich -es wurden auch erste konkrete Maßnahmen in die Wege geleitet, Vietnam den Einstieg in die Organisation zu erleichtern Die letzte Außenministerkonferenz in Bangkok erzielte nun prinzipielle Einigung über einen Beitritt Vietnams zum bald-möglichsten Zeitpunkt. Im Oktober 1994 stellte Vietnam seinen formellen Beitrittsantrag.
Dessenungeachtet sieht man in manchen ASEAN-Hauptstädten dem Beitritt Vietnams mit gemischten Gefühlen entgegen. Auf thailändischer Seite beispielsweise bestehen historisch begründete Vorbehalte gegenüber dem Erzfeind Vietnam, der trotz seiner 1986 begonnenen marktwirtschaftlichen Öffnung an dem überkommenen sozialistischen Regierungssystem festhält. Unklar bleibt auch, wie die stark geschützte vietnamesische Volkswirtschaft in den AFTA-Prozeß integriert werden soll.
Größer noch dürfte aber die Sorge mancher ASEAN-Mitglieder sein, daß bei einem baldigen Beitritt Vietnams eine Achse Jakarta-Hanoi entsteht und so das Gewicht des ohnehin dominanten Indonesien weiter zunimmt. Nicht ohne Grund warnte der ehemalige malaysische Außenminister Ghazalie Shafie vor dem Entstehen einer „SAARC-Situation“, in der alle dem größten Mitgliedstaat mit Mißtrauen begegnen Auf jeden Falle hat sich mit dem von Indonesien stark protegierten vietnamesischen Beitritt die Sicherheitsperzeption Jakartas durchgesetzt. Der Beitritt Vietnams ist so auch als eine vorbeugende Maßnahme gegen befürchtete chinesische Hegemonialambitionen zu lesen.
Obwohl die Beitritte Kambodschas, Laos’ und Myanmars (Birma) noch Zukunftsmusik sind, deutet einiges darauf hin, daß sie Vietnam in nicht allzu ferner Zukunft folgen werden -allein schon, um das Gewicht Indonesiens auszubalancieren. Die 27. ASEAN-Außenministerkonferenz in Bangkok brachte denn auch in dieser Hinsicht ein Novum. Erstmals saßen alle zehn Staaten Süd-ostasiens an einem Tisch: neben den ASEAN-Staaten noch Vietnam und Laos als Beobachter, Kambodscha als Gast und Birma auf Einladung der thailändischen Regierung. Auch die Dialog-beziehungen wurden ausgebaut: Mit Indien wurde ein sektoraler Dialog in Gang gesetzt, Rußland und China wurden Konsultationspartner 5. Institutionenbildung Trotz stetiger Erweiterung des Aufgabenspektrums blieb die Institutionalisierung der ASEAN schwach. Das Generalsekretariat besaß lange keine nennenswerten Kompetenzen und verfügte auch nicht über das erforderliche Fachwissen, um Entscheidungshilfen für so komplexe und technisch schwierige Materien wie die GATT-, APEC-oder AFTA-Verhandlungen zu erarbeiten. Sein Personal rekrutierte sich im wesentlichen aus Karrierediplomaten -also aus Generalisten statt Spezialisten. Sicherlich muß man nicht die Superbürokratie der Europäischen Kommission mit ihren nahezu 20000 Beamten zum Vorbild erheben, doch mit gerade einmal 40 Mitarbeitern fehlte der ASEAN eine angemessene administrative und wissenschaftlich-technische Infrastruktur. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß man eine Reihe ständiger Ausschüsse und Ad-hoc-Kommissionen schuf; die Problemlösungskapazität der ASEAN in den einzelnen Politikfeldern stand und fiel bisher mit der Fähigkeit der nationalen Ministerialbürokratien, ihre Hausaufgaben zu erledigen.
Dies erwies sich zunehmend als Hemmnis für die funktionale Zusammenarbeit. Daß die ASEAN etwa bei der Uruguay-Runde eine eher marginale Rolle spielte, ist u. a. hierauf zurückzuführen. Der Singapur-Gipfel zog daraus die Konsequenzen und beschloß eine organisatorische Stärkung des Generalsekretariats. Die Position des Generalsekretärs wurde protokollarisch und kompetenzmäßig aufgewertet, die personelle Infrastruktur erweitert und professionalisiert. Nach Länderquoten frei rekru-tierte Fachleute ersetzen nun die Karrierediplomaten und bilden zunehmend den Rückhalt des ASEAN-Apparates. Bislang hat das Generalsekretariat 31 solcher „Professionals“ eingestellt und damit den Mitarbeiterstab auf über 70 aufgestockt. Zur Professionalisierung des Sekretariats gehören auch Pläne, eine ASEAN-Referenzbibliothek zu errichten, sowie die Vernetzung mit universitären Einrichtungen der Region. Hinzu kommt, daß über die bislang dominanten sicherheits-und wirtschaftspolitischen Themen hinaus ganz systematisch neue Felder der Zusammenarbeit erschlossen werden. So wurden im Zuge der sogenannten „funktionalen Kooperation“ in den vergangenen beiden Jahren Aktionspläne zu den Themen Wissenschaft und Technologie, Umwelt, Kultur und Information, soziale Entwicklung und zur Drogen-problematik erarbeitet. Materiell werden die erweiterten Aktivitäten des ASEAN-Apparates durch eine deutliche Anhebung der von den Mitgliedern zu leistenden Finanzierungsbeiträge abgesichert.
Der wachsende Abstimmungs-und Entscheidungsbedarf schlägt sich in immer häufigeren Ministertreffen einer zunehmenden Anzahl von Fach-ressorts nieder. Auch die bislang sporadischen Gipfeltreffen wurden nun institutionalisiert und sollen in Zukunft in dreijährigem Turnus stattfinden. Selbst auf Außenministörebene ist der Entscheidungsdruck in den letzten Jahren in einer Weise gestiegen, daß ASEAN-Generalsekretär Dato Ajit Singh kürzlich sogar die Abhaltung zweier Ministertreffen pro Jahr anregte. Erstmals ergeben sich damit Anzeichen, daß auch im Falle der ASEAN die neofunktionalisische Logik greifen könnte: daß erfolgreiche Zusammenarbeit in einem Aufgabenfeld „spill-over“ -Effekte auf andere Bereiche produziert.
IV. Grenzen der Zusammenarbeit
Es steht außer Zweifel, daß die ASEAN in der Zeit ihres Bestehens Beachtliches geleistet hat. Dies gilt vor allem für die Sichprheitspolitik; seit dem Singapur-Gipfel haben aber auch die wirtschaftliche und die funktionale Zusammenarbeit sowie die Institutionenbildung Fortschritte aufzuweisen. Mit der AFTA haben die Mitgliedstaaten erstmals auf nennenswerte nationale Kompetenzen verzichtet -auf die Souveränität über ihre Binnenmärkte. Freilich: Mit der „Sechs-minus-X“ -Formel -also einer Möglichkeit, aus Gemeinschaftsbeschlüssen auszuscheren -hat man sich auch hier eine Rückzugsposition erhalten.
Ihrem Ziel, die politische und wirtschaftliche Eigenständigkeit ihrer Mitglieder zu stärken, ist die ASEAN in den letzten Jahren zweifelsohne nähergekommen. Trotz ihres Bezuges auf „regional resilience“ sollte Eigenständigkeit nicht durch Abschottung, sondern im direkten politischen und wirtschaftlichen Kontakt mit den Industrieländern erreicht werden. Nur so sind beispielsweise die umfangreichen Dialogbeziehungen mit den USA, der EU, Japan, Australien, Neuseeland, Kanada und Südkorea zu bewerten. Es ist daher kein Zufall, daß die Gemeinschaft international bedeutend an Statur gewonnen hat. Nichts verdeutlicht dies mehr als die 1992 erfolgte Anerkennung des „Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit“ als Verhaltenskodex für die internationalen Beziehungen in Südostasien durch die UN-General-versammlung. Im Verhältnis zu den westlichen Industriestaaten ist die einst asymmetrische Geber-Nehmer-Beziehung weitgehender Gleichberechtigung und Respekt vor den Leistungen der Gemeinschaft gewichen.
Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es noch immer zahlreiche Kooperationshemmnisse gibt. So hat sich die Art und Weise der Zusammenarbeit auch nach dem Singapur-Gipfel nicht grundlegend gewandelt. Ihr Schwerpunkt liegt weiterhin im intergouvernementalen Bereich -eine supranationale Weiterentwicklung wird auch jetzt nicht angestrebt. Kooperationsschübe waren fast immer das Ergebnis externer Impulse, wie .der VietnamKrieg, die Nixon-Doktrin, die kommunistische Transformation Indochinas und das Ende des Ost-West-Konfliktes sowie des sino-sowjetischen Gegensatzes. Nichtstaatliche Instanzen spielen in der Zusammenarbeit nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle; eine Parlamentarisierung der ASEAN bleibt angesichts heterogener politischer Systeme und der Pflege „asiatischer Werte“ in einigen Mitgliedstaaten illusorisch Es überrascht daher auch nicht, wenn die ASEAN bisher keine ausgeprägte Gemeinschaftsidentität hervorzubringen vermochte. Der Slogan „Think ASEAN“ findet bestenfalls in bürokratischen Elitezirkeln Widerhall; eine gesellschaftliche Tiefenwirkung ist nicht erkennbar.
Darüber hinaus gibt es sozio-kulturelle Barrieren der Zusammenarbeit: In fast allen größeren asiatischen Kulturen leben alte ethnozentrische Traditionen und politische Lehren fort, die der Außenwelt mit Mißtrauen, ja zuweilen offener Feindseligkeit begegnen. Die Erfahrung des Kolonialismus und der daraus gespeiste Nationalismus sowie die . anschließenden Prozesse des Nation-Building haben diese Selbstbezogenheit ebenso gestärkt wie der asymmetrische Bilateralismus, der sich aus den in Indien, China und Japan weiter tradierten Hegemonialdoktrinen ergibt. Das Ergebnis sind Politik-muster im Sinne der realistischen Schule, wonach Nationalstaaten die handelnden Akteure eines internationalen Systems sind, das durch tendenziell anarchische Zustände geprägt ist und in dem Macht zum gestaltenden Element wird. Nationales Eigeninteresse und Selbsthilfe sind dabei die handlungsleitenden Kategorien. Der in vielen Staaten der Region existente Einfluß des Militärs auf die Außenpolitik verstärkt diese Wahrnehmungen
Daß die internen Strukturen einer Gesellschaft auf ihr Außenverhalten ausstrahlen, ist unbestritten. Dies gilt auch für die lange Tradition klientelistischer Sozialstrukturen, die in der Außenpolitik asiatischer Staaten dazu führen, den unmittelbaren persönlichen Kontakt besonders hoch zu schätzen. Angesichts des Kalten Krieges, der hier -weit mehr noch als in Europa -zu einer jahrzehntelangen Abschottung der Regierungseliten voneinander führte, steht diese so wichtige Form der persönlichen Vertrauensbildung in Asien erst am Anfang. Trotz fortschreitender Modernisierung und damit einhergehendem sozialem Wandel behaupteten sich in Asien Elemente patrimonialer Beziehungsmuster gegenüber einem okzidentalen legalistisch-rationalen, vom unpersönlichen Amts-gedanken getragenen Politikverständnis. Während letzteres -von Noordin Sopiee als kartesianisches Modell bezeichnet -auf Verfassungen, umfangreichen Vertragswerken, Mehrheitsentscheid und einem hohen Grad an formaler Institutionalisierung beruht, vertraut man in Asien stärker auf den unmittelbaren persönlichen Kontakt, auf Konsensbildung, Harmonie und Informalität. Direkte Konfrontationen und Gesichtsverlust, die sich zwangsläufig aus dem Nichteinhalten formeller Verträge ergeben, lassen sich durch die dieser Kultur immanente Flexibilität abfedern.
Kooperation und Integration werden damit in Asien eine grundsätzlich andere Qualität erlangen als in Europa. Sie werden in jedem Falle langsamer voranschreiten. Die Bereitschaft zur Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an überstaatliche Einrichtungen ist weitaus geringer ausgeprägt, vertragliche Kooperationsabkommen werden wohl nie die Dichte der europäischen erreichen. Damit können allerdings auch die zunehmend innovationshemmenden Bürokratismen der EU vermieden werden. Ob nun die EU oder die ASEAN-Variante das zukunftsträchtigere Modell regionaler Zusammenarbeit darstellt, wird sich also in der Zukunft erst noch zeigen müssen.
Dessenungeachtet gibt es weitere Problemfelder, die sich retardierend auf die Kooperation auswirken Immer deutlicher kristallisiert sich ein Gegensatz zwischen Indonesien und den anderen, kleineren Mitgliedstaaten heraus. Die indonesische Rolle wird als zu dominant empfunden. Bereits in der Kambodscha-Frage wurden derartige Irritationen vor allem auf thailändischer Seite deutlich. Sie traten auf subtile Weise auch in der Erweiterungsdiskussion hervor. Die Entstehung einer Achse Jakarta-Hanoi innerhalb der ASEAN wird in Thailand als Versuch gesehen, seine eigenen Vormachtambitionen auf der indochinesischen Halbinsel einzuhegen. Aber auch zwischen Malaysia und Indonesien knistert es: Während Indonesien gegenüber China eine Politik der Abgrenzung betreibt, sucht Kuala Lumpur das Arrangement. Deutlich wurden Gegensätze dieser Art aber auch, als Jakarta im Juni 1994 Druck auf die philippinische und die thailändische Regierung ausübte, in Manila und Bangkok geplante Konferenzen über das 1976 von Indonesien besetzte und zur 27. Provinz erklärte ehemals portugiesische Kolonialterritorium Ost-Timor zu verbieten.
Auch die Territorialprobleme innerhalb der ASEAN bleiben vorerst ohne Aussicht auf Beilegung: so die Streitigkeiten zwischen Indonesien und Malaysia um die Inseln Ligatan und Sipatan in der Makassar-Straße, zwischen Malaysia und Singapur um Batu Putih sowie der Konflikt zwischen Malaysia und den Philippinen um Sabah. Dem Vorschlag Malaysias, den Streit um Sipatan und Ligatan dem Internationalen Schiedsgericht in Den Haag zur Entscheidung zu überantworten, vermochte Indonesien nicht zu folgen. Jakarta will zur Lösung des Disputs lieber die bislang allerdings noch nicht erprobten Streitschlichtungsmechanismen der ASEAN einsetzen.
Diese Differenzen bzw. Gegensätze machen deutlich, daß die ASEAN trotz aller Kooperationsfortschritte noch beileibe kein konsolidierter Regionalverbund ist. Auch weiterhin wird daher viel Fingerspitzengefühl im Umgang miteinander vonnöten sein -insbesondere dann, wenn im Zuge der Erweiterung neue zentrifugale Kräfte auf den Regionalverbund einwirken.
Jürgen Rüland, Dr. phil., geb. 1953; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Rostock. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Gerald Braun, Ulrich Fänger und Klaus von Schrötter) Krisenherde in der Dritten Welt, Freiburg 1986; Politischer und sozialer Wandel in Thailand 1973-1988, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/89; Europa -ein Modell für Asien, in: Außenpolitik, 41 (1992) 4; Urban Government and Development in Southeast Asia. Regional Cities and Local Government, Boulder 1992; (zus. mit M. L. Bhansoon Ladavalya) Local Associations and Munieipal Government in Thailand, Freiburg 1993; Neue Wege der Zusammenarbeit in Südostasien, Rostock 1994.
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