Hat der kanadische Nationalstaat eine Zukunft?
Aktuelle Probleme und Herausforderungen kanadischer Innenpolitik
Rainer-Olaf Schultze/Steffen Schneider
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Zusammenfassung
Kanada befindet sich gegenwärtig auf dem Höhepunkt einer akuten Verfassungs-, Repräsentations-und Integrationskrise, die nicht nur die Handlungs-und Steuerungsfähigkeit seines politischen Systems, sondern auch seine staatliche Existenz in Frage stellt. Diese Krise ist zum einen zurückzuführen auf die wirtschaftsund sozialpolitischen Problemlagen, mit denen National-und Wohlfahrtsstaaten seit den siebziger Jahren durch den Übergang zum Postfordismus konfrontiert sind, zum anderen auf spezifisch kanadische, unter den Bundesregierungen Trudeau und Mulroney entstandene oder zugespitzte verfassungspolitische Problemlagen. Das gescheiterte Referendum zur Verfassungsreform im Herbst 1992, die Unterhauswahlen im Herbst 1993 und die Provinzwahlen in Quebec im Herbst 1994 waren die vorläufigen Höhepunkte dieser mehrfachen Krise; in Kürze wird nach 1980 zum zweiten Mal ein Referendum zur Unabhängigkeit Quebecs folgen.
I. Einleitung
Kanada befindet sich seit den siebziger Jahren in einer tiefen Repräsentations-und Integrationskrise, die heute ernsthafter denn je die Existenz des Landes gefährdet. Demnächst wird die Bevölkerung von Quebec zum zweiten Mal innerhalb von 15 Jahren in einem Referendum über die Unabhängigkeit abstimmen und damit über das Schicksal eines der wohlhabendsten Länder der Erde mit fast 130jähriger demokratischer Tradition entscheiden. Diese Situation ist das Resultat einer doppelten Herausforderung an den Basiskonsens der kanadischen Gesellschaft:
Zum einen untergraben Globalisierung, Kontinentalisierung und der ökonomisch-industrielle Wandel vom Fordismus (dem Wirtschaften auf der Basis von Fließband und Massenproduktion) zum Postfordismus den sozialdemokratisch-keynesianischen Konsens zum Wohlfahrtsstaat, der seit der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage kanadischer Innenpolitik und zugleich ein maßgebliches Element der Abgrenzung gegenüber den USA gebildet hatte. Zum anderen wird der ethnisch-kulturelle Ausgleich zwischen den anglo-und frankokanadischen Gründernationen des Landes von verschiedenen Seiten -durch Multikulturalismus in Anglokanada, durch die Ureinwohner sowie vor allem durch den nach Unabhängigkeit strebenden Ethnonationalismus Quebecs -grundsätzlich in Frage gestellt.
Erschwert wird die Suche der politischen Eliten nach Auswegen aus der Krise schließlich dadurch, daß in der Bevölkerung die Akzeptanz der etablierten Formen politischer Entscheidungsfindung auf der Basis von Elitenakkomodation und brokerage politics im Rahmen des kanadischen Parlamentarismus und Föderalismus stark gesunken ist.
Im folgenden werden zunächst Hintergründe und Auswirkungen der Repräsentations-und Integrationsprobleme beschrieben. Dabei wird es nacheinander um die National-und Wohlfahrtsstaats-krise, die Verfassungskrise und den Wandel des kanadischen Parteiensystems gehen; abschließend wird dann nach den Handlungsspielräumen und Zukunftsaussichten kanadischer Innenpolitik gefragt.
II. National-und Wohlfahrtsstaatskrise
Die Desintegrationstendenzen im kanadischen Bundesstaat sind zunächst eine Folge des ökonomischen Strukturwandels und der Krise des sozialdemokratisch-keynesianischen Konsenses. Auf seiner Grundlage war Kanada seit dem Zweiten Weltkrieg der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und ein langanhaltender wirtschaftlicher Aufschwung im Schlepptau der USA gelungen. Doch machte eine doppelte Asymmetrie die kleine und offene Nationalökonomie Kanadas stets extrem verwundbar: Einerseits ist sie abhängig und ungleich in den kontinentalen nordamerikanischen Wirtschaftsraum integriert, der von den zehnmal mächtigeren USA dominiert wird. Kanada wickelt einen Großteil seines Handels (heute jeweils etwa drei Viertel der Im-und Exporte) mit seinem Nachbarn ab; amerikanisches Kapital hat eine beherrschende Position in zahlreichen Sektoren der kanadischen Wirtschaft; drei Viertel der ausländischen Investitionen stammen aus den USA. Andererseits gibt es zwischen den zentralen, bevölkerungsreichen und stark industrialisierten Provinzen Ontario und Quebec und den peripheren, ressourcenorientierten Regionen im Osten und Westen des riesigen Landes erhebliche Disparitäten. Angesichts dieser regional-ökonomischen Unterschiede ist die kanadische Bundespolitik permanent herausgefordert, wirtschaftliche Entwicklung nach außen abzusichern und Wachstumsgewinne zugleich nach innen gerecht zwischen den Regionen zu verteilen, um den Zusammenhalt der kanadischen Gesellschaft zu sichern
Unzufriedenheit mit der regionalpolitischen Leistungsbilanz Ottawas veranlaßte jedoch schon ab den sechziger Jahren mehrere der zehn Provinzen, nach dem Vorbild Quebecs, der einzigen Provinz mit frankophoner Bevölkerungsmehrheit, dem Bund auf wirtschafts-und sozialpolitischem Gebiet konkurrierende Initiativen entgegenzusetzen, die seine Führungsrolle untergruben und einen bis heute ungebrochenen Dezentralisierungstrend einleiteten. 'Zur akuten Bedrohung für die Rolle des Bundes wurde dieser freilich erst, als die kanadische Wirtschaft wie die der anderen westlichen Industrieländer in den siebziger Jahren zunehmend unter Druck geriet und zu Beginn der achtziger Jahre in eine tiefe Rezession stürzte, die nicht nur konjunkturelle Ursachen hatte, sondern im ökonomisch-industriellen Wandel vom Fordismus zum Postfordismus begründet liegt. Arbeitslosigkeit und Inflation schnellten mit Spitzenwerten von 11, 8 Prozent (1983) bzw. 12, 4 Prozent (1981) auf Rekordhöhen, während das reale Wachstum 198 um -3, 2 Prozent fiel 2. Kanada war von dieser Rezession härter betroffen als die meisten anderen OECD-Länder. Auf die Exportwirtschaft, die ein Drittel des Nationaleinkommens erbringt, existentiell angewiesen, zeigte sich das Land im internationalen Wettbewerb schlecht positioniert, zumal die USA auf die Wirtschaftskrise der siebziger und frühen achtziger Jahre zunächst protektionistisch reagierten. Ressourcenorientierung und Technologiedefizite, beides Folgen der ökonomischen Abhängigkeit der kanadischen branch plant economy von den überwiegend amerikanischen multinationalen Konzernen, machten die kanadische Wirtschaft anfällig selbst im Wettbewerb mit den Newly Industrialized Countries
Die liberale Regierung Trudeau (von 1968 bis 1984 mit einer kurzen Unterbrechung durch die konservative Regierung Clark 1979/80 im Amt) versuchte, diesen Strukturproblemen vor allem nach 1980 mit einer zentralistischen und interventionistischen Strategie zu begegnen. Sie sollte den sozialdemokratisch-keynesianischen Konsens und den Wohlfahrtsstaat retten und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sichern helfen. Die Abhängigkeit von den USA hoffte man durch Exportdiversifizierung und durch die Regulierung von ausländischen Investitionen zu vermindern. Durch Großprojekte im Energie-und Technologiesektor (National Energy Program) sollten regionale Ressourcen für die vom Bund vertretenen nationalen, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsund Umverteilungsziele einer just society nutzbar gemacht werden. Die Strategie hatte freilich nicht den gewünschten Erfolg: Sie vermochte weder die Rezession zu verhindern noch eine rasche Normalisierung des Wirtschaftswachstums, der Inflation und insbesondere der Arbeitslosigkeit herbeizuführen. Die Abhängigkeit von den USA bei den Exporten stieg gar noch an, während sich die Lage der Staatsfinanzen drastisch verschlechterte: Zwischen 1980 und 1984 verdreifachten sich die Haushaltsdefizite von 11, 5 auf 32, 4 Milliarden Can-Dollar (4, 2 bzw. 8, 0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts [BIP]); die Schulden verdoppelten sich ebenfalls von 72, 2 auf 160, 8 Milliarden Can-Dollar (26, 1 bzw. 39, 6 Prozent des BIP) Zudem wirkte die Strategie stark polarisierend. Trudeaus zentralistischer und interventionistischer Ansatz traf vor allem auf Widerstand in Quebec wie im erdölreichen Alberta, die nicht bereit waren, ihre regionalen Initiativen nationalen Prioritäten unterzuordnen. Die protektionistischen Elemente des Programms entfremdeten die USA und zugleich die exportorientierten Branchen und multinationalen Unternehmen der kanadischen Wirtschaft.
Die 1984 ins Amt gekommene konservative Regierung Mulroney setzte demgegenüber auf eine dezidiert neoliberale Wirtschaftspolitik. Ihr Kernstück bildete das Freihandelsabkommen mit den USA, das nach heftigen Kontroversen 1989 in Kraft trat und 1994 um Mexiko zur Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) erweitert wurde. Damit sollten der Zugang zum amerikanischen Markt gesichert, die Modernisierung der kanadischen Wirtschaft angestoßen und zugleich innenpolitische Elemente einer neokonservativen Agenda nach britischem und amerikanischem Vorbild festgeschrieben werden, die nach Auffassung der Regierung Voraussetzung für eine kompetitive Position in internationalen Märkten waren. Dazu gehörten eine monetaristische Geldpolitik und eine sparsame Haushaltspolitik. Der Rückzug des Bundes aus Steuerungspositionen zugunsten der Provinzen und des privaten Unternehmertums wurde mit Rationalisierungs-, Deregulierungs-und Privatisierungsmaßnahmen sowie mit Steuerreformen angestrebt. Bis 1990 wurden 15000 Stellen im Öffentlichen Dienst abgebaut, zahlreiche Behörden abgeschafft oder zusammengelegt. Dereguliert wurde insbesondere im Bereich ausländischer Investitionen, im Energie-, Verkehrs-und Finanz-sektor. Bis 1992 waren 24 Staatsunternehmen des Bundes oder Anteile des Staates im Wert von insgesamt rund 4, Milliarden kanadischen Dollar privatisiert, darunter Unternehmen im Energie-und Ressourcen-, Verkehrs-und Telekommunikationssektor sowie zwei Flugzeughersteller und eine Luftlinie. Im Bereich wirtschafts-, sozial-und arbeitsmarktpolitischer Programme wurden angebots-statt nachfrageorientierte Akzente gesetzt, Kürzungen vorgenommen, das Prinzip der Universalität eingeschränkt, Verantwortung und Kosten vom Staat auf den Markt und den einzelnen, vom Bund auf die Provinzen verschoben. 1988 und 1991 wurden Reformen der direkten und indirekten Steuern durchgeführt 5.
Obwohl die Regierung Mulroney die neokonservative Agenda alles in allem nur moderat umsetzte, erwies sich die wirtschafts-und sozialpolitische Wende doch als folgenschwer. Anfang der neunziger Jahre stürzte die kanadische Wirtschaft in die schwerste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise (vgl. Tabelle). Während die Inflation 1992 auf den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten zurückging, stieg die Arbeitslosenquote wieder in den zweistelligen Bereich. Seit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit den USA wurden allein in der verarbeitenden Industrie 400000 Arbeitsplätze durch Verlagerung von Fabriken in die USA oder arbeitskräftesparende Investitionen abgebaut; die Zahl der um ihre Arbeitsplätze besorgten Bürger nahm sprunghaft zu Die ökonomische Krise machte auch die Teilerfolge der Regierung Mulroney bei der Umsetzung ihrer haushaltspolitischen Ziele schnell zunichte. Die Rezession schwächte aber insbesondere die Reste der wohlfahrtsstaatlichen Politiken. Die Entfremdung der Bürger gegenüber Ottawa wuchs mit der Entsolidarisierung und Polarisierung in der kanadischen Gesellschaft. Zwar versuchten die Provinzen einzuspringen, wo der Bund ausfiel, doch vertieften sich damit noch die Dezentralisierungs-und Fragmentierungstendenzen im politischen System. Nicht zuletzt sank auch die Akzeptanz der Finanz-transfers als zentrales Instrument des Bundes, um den Ausgleich der Disparitäten zwischen den Regionen herbeizuführen. Die Provinzen betrieben immer dezidierter die Integration ihrer Ökonomien in den nordamerikanischen Wirtschaftsraum, während sie sich untereinander durch Handels-und Mobilitätshemmnisse abschotteten und Eingriffe des Bundes immer energischer zurückwiesen
III. Verfassungskrise
Im Zentrum der kanadischen Innenpolitik steht seit Ende der sechziger Jahre neben den Ökonomie sehen Strukturproblemen die Frage der Verfassungsreform. Ziel ist es dabei, die innergesellschaftlichen Fragmentierungen, insbesondere den regional-ethnischen Konflikt zwischen anglo-und frankophonem Kanada, und die regional-ökonomischen Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie durch die Modernisierung der Verfassung und insbesondere die Reform des Föderalismus zu entschärfen und dadurch zugleich die nationale Ein-heit des Landes zu stärken. Im Mittelpunkt der Verfassungspolitik stand folglich stets der sprachliche und ethnisch-kulturelle Dualismus zwischen Quebec und Anglokanada, zumal im Gefolge der sogenannten Stillen Revolution nach 1960 in Quebec ein Nationalismus dominant wurde, der in seiner moderateren Version eine dezentralisierte und asymmetrische Umgestaltung des kanadischen Föderalismus anstrebte. Durch einen Sonderstatus und weitreichende Kompetenzen sollte die Provinz als Heimstatt eines der beiden kanadischen Gründervölker anerkannt werden. In seiner radikaleren Version kämpfte dieser Nationalismus seit dem Wahlsieg des separatistischen Parti Quebecois (PQ) 1976 für die Unabhängigkeit Quebecs. Früh mündete daneben die Entfremdung der peripheren Provinzen des Westens gegenüber dem Bund in die Forderung nach einer dezentralisierten, aber symmetrischen Umgestaltung des Föderalismus. Die Gleichheit der Provinzen und ihre stärkere politische Beteiligung sollten insbesondere durch eine Senatsreform erreicht werden.
Allerdings konnte 1980 mit der Niederlage des PQ in dem von ihm angestrengten Unabhängigkeitsreferendum die akute Bedrohung der staatlichen Existenz Kanadas zunächst abgewehrt werden. Die Situation nutzend, verwirklichte die Regierung Trudeau 1982 mit der „Heimholung“ der kanadischen Verfassung aus britischer Verfügungsgewalt und ihrer Ergänzung um einen Grundrechtskatalog, die Charter ofRights and Freedoms, eine Verfassungsreform, die auf die Garantie individueller Rechte einzelner Bürger statt territorial oder funktional definierter kollektiver Ansprüche von Provinzen, Sprach-und sonstigen Bevölkerungsgruppen abzielte. Die ethnisch-kulturellen und anderen Teilidentitäten der kanadischen Gesellschaft sollten so innerhalb eines zentralisierten, vom Bund als Garant der Charter dominierten Föderalismus zu einer landesweit zweisprachigen, multikulturellen Gesamtidentität, einem kanadischen Verfassungspatriotismus zusammengeschweißt werden. Um diese Reform durchsetzen zu können, hatte Trudeau freilich Abstriche hinnehmen müssen. Die angiokanadischen Provinzen erreichten die Verlagerung von Kompetenzen, eine restriktive Verfassungsänderungsformel und eine sogenannte notwithstanding clause, die es ihnen erlaubt, innerhalb ihres Machtbereiches Grundrechtsnormen der Charter aufzuheben. Quebec ratifizierte überdies als einzige Provinz den Constitution Act nicht, der dadurch mit einem schweren legitimatorischen Defizit belastet wurde
Um dieses Defizit zu beheben, unternahm die Regierung Mulroney nach ihrem Amtsantritt zwei im Gegensatz zur Regierung Trudeau von vornherein konsensorientierte Anläufe zu großangelegten Verfassungsreformen. In einer ersten Runde sollten zunächst die von der seit 1985 amtierenden liberalen Provinzregierung formulierten Bedingungen für eine Zustimmung Quebecs zum Constitution Act erfüllt werden. Der von den Bundes-und Provinzregierungen 1987 ausgehandelte Kompromiß, nach dem Konferenzort als Meech Lake Accord bezeichnet, sah vor, Quebec den Sonderstatus einer distinct society zu garantieren, seinen anderen Forderungen aber durch symmetrische Zugeständnisse an alle Gliedstaaten nachzukommen. Im einzelnen waren statt eines konstitutionellen Vetorechts für Quebec die Ausweitung des Einstimmigkeitsprinzips bei zukünftigen Verfassungsreformen, eine Mitwirkung der Provinzen bei der Bestellung der Obersten Verfassungsrichter und Senatoren sowie bei Einwanderungsfragen geplant. Der Einmischung des Bundes in Zuständigkeitsbereiche der Provinzen über die Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben sollte durch ein Rückzugsrecht aus diesen Aufgaben mit finanzieller Kompensation, das sogenannte opting out, begegnet und die gesamte Übereinkunft der elf Premierminister binnen drei Jahren von allen Legislativen ratifiziert werden.
Dies gelang jedoch nicht. Die Provinzparlamente von Newfoundland und Manitoba zogen die Konsequenz aus der wachsenden öffentlichen Kritik an dem Abkommen und brachten es im Juni 1990 zum Scheitern. Deutlich wurde nun, daß die Charter die kanadische Verfassungskultur modifiziert und die Konfliktstruktur der Verfassungspositionen kompliziert hatte. Sie eröffnete über die Einklagbarkeit von Grundrechten organisierten Interessen jenseits der traditionellen Konfliktlinien Partizipationswege, die sich in den Institutionen des kanadischen Föderalismus und Parlamentarismus, durch Parteien und Regierungen nicht befriedigend vertreten fühlten. Prozedural stieß daher der Prozeß der Elitenakkommodation durch Verhandlungen hinter verschlossenen Türen im Stile der traditionellen federal-provincial diplomacy wegen mangelnder Transparenz zunehmend auf Ablehnung. Inhaltlich war in erster Linie die Privilegierung Quebecs, und sei es auch nur durch ein eher symbolisches Zugeständnis, Stein des Anstoßes. Die Verankerung gruppenrechtlicher und asymmetrischer Elemente in der Verfassung gefährdete nach Auffassung vieler die nationale Einheit des Landes und die Gleichheit seiner Bürger. Frauengruppen, Vertreter der Anglophonen in Quebec, der soge-nannten Allophonen (weder Britisch-noch Französischstämmigen) und anderer Minderheiten in Kanada befürchteten wie die Anhänger der individualrechtlichen Position Trudeaus die Aufweichung der Charter, auf die sie den Kampf um Anerkennung ihrer eigenen Forderungen stützen; Vertreter der Ureinwohner opponierten gegen ihren Ausschluß von den Verhandlungen und dagegen, keine Gruppenrechte zugebilligt bekommen zu haben
In Quebec stieg nach dem Scheitern des Meech Lake Accord die Zustimmung zur Forderung nach Unabhängigkeit sprunghaft; die liberale Provinzregierung beschloß, im Oktober 1992 ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, falls bis dahin kein neues Angebot Restkanadas unterbreitet würde. Dort kam die zweite Runde im Januar 1991 mit einer Konsultationsphase in Gang, die Bürgern Und organisierten Interessen in Kommissionen, Hearings und Konferenzen die Chance zur Darlegung ihrer Standpunkte bot. Die Verhandlungsphase wurde von den elf Premierministern sowie Vertretern der beiden Bundesterritorien und der vier größten Ureinwohnerorganisationen bestritten und mündete im August 1992 in den (gleichfalls nach dem Konferenzort benannten) Charlottetown Accord. Dieser nahm die zentralen Elemente des Meech Lake Accord wieder auf, suchte neben den Forderungen Quebecs aber auch die der Vertreter anderer Verfassungspositionen zu befriedigen. Eine Canada clause sollte den Schutz und die gleichen Rechte aller Regionen, Sprach-und Bevölkerungsgruppen des Landes festschreiben. Das Selbstregierungsrecht der Ureinwohner wurde anerkannt. Die Reform des Senats nach dem Willen des Westens zu einer direkt gewählten, alle Provinzen in gleicher Stärke repräsentierenden Kammer sollte durch eine Vergrößerung des Unterhauses kompensiert werden, von der in erster Linie Ontario und, über garantierte 25 Prozent der Sitze, Qubec profitiert hätten. Die Verlagerung von Kompetenzen auf einzelne Provinzen sollte durch neue Vollmachten des Bundes bei der Sicherung ungehinderter Personenmobilität und eines freien Güter-und Kapitalverkehrs, der Verwirklichung einer echten Wirtschafts-und Sozialunion des Landes, ausgeglichen werden.
Dieses letztlich wieder im gewohnten Rahmen des repräsentativ-demokratischen Systems von den Regierungen ausgehandelte, von einem Großteil der politischen und sozio-ökönomischen Eliten getragene Kompromißpaket wurde im Oktober 1992 in Qubec und Restkanada der Bevölkerung zur direkt-demokratischen Legitimation vorgelegt. 54, 3 Prozent der Kanadier -beteiligt hatten sich in Qubec 82, 8 Prozent und in Restkanada 71, 8 Prozent der Stimmberechtigten -lehnten dabei den Charlottetown Accord ab, darunter neben den Ureinwohnern außerhalb Quebecs (62, 1 Prozent) die Bevölkerung in sechs von zehn Provinzen, nämlich in Quebec (56, 7 Prozent), allen Westprovinzen (zwischen 55, 3 Prozent in Saskatchewan und 68, 3 Prozent in British Columbia) und einer der Atlantikprovinzen (Nova Scotia mit 51, 2 Prozent); in Ontario setzte sich das „Ja“ mit nur 14000 Stimmen Vorsprung durch
Das Scheitern des Charlottetown Accord hat eine Reihe von Gründen. Inhaltlich war er durch die Ausweitung der konstitutionellen Agenda und die Verquickung mit tagespolitischen Themen überfrachtet und dennoch lückenhaft. Infolge des offenkundigen Kompromißcharakters war er in sich widersprüchlich, zumal er zwischen individuell und kollektiv begründeten Geltungsansprüchen und Grundrechten, personaler vs. territorialer Repräsentation, Minderheitenschutz vs. nationaler Identität usw. zu vermitteln versuchte. Inkompatible Elemente wurden kombiniert, ohne die offensichtlichen Konflikte zwischen ihnen aufzulösen. Es ist deshalb nicht sonderlich überraschend, daß sich Vertreter aller konstitutionellen Orientierungen mit zum Teil diametral entgegengesetzten Argumenten zu einer extrem heterogenen Negativ-koalition zusammenfanden, die die Stimmung der Bevölkerung schnell gegen das Abkommen umschlagen ließ. Das Referendum bot den Kanadiern überdies die willkommene Gelegenheit, angesichts des wiederholten konstitutionellen Debakels wie angesichts der Rezession ihre Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment ihre Parteien-und Politikverdrossenheit zu dokumentieren
IV, Repräsentationskrise
Mit dem Verfassungsreferendum war auch der zweite Teil der doppelten Agenda Mulroneys gescheitert. Die Zufriedenheit der Bürger mit dem Premierminister und seiner Regierung sank auf elf Prozent, mit seiner Partei auf 16 Prozent Im Februar 1993 kündigte Mulroney seinen Rücktritt für den Juni 1993 an. Der Unmut der Bevölkerung richtete sich jedoch nicht nur gegen den Premierminister und seine Regierung. In ihm äußerte sich vielmehr die lang aufgestaute Unzufriedenheit mit den etablierten politischen Eliten und den tradierten Handlungs-und Entscheidungsmustern kanadischer Politik. Der Vertrauensverlust betrifft das kanadische politische System in seiner Gesamtheit. Zum Beispiel fiel der Anteil der Bürger, die den Parteien (sehr) viel Respekt entgegenbringen, von 30 (1979) auf neun Prozent (1993); kritisiert werden Machtbesessenheit und Verlogenheit, Ineffizienz und mangelnde Gemeinwohlorientierung der Parteien sowie fehlende Alternativen im Parteien-system. Die Zahl derer, die die ethischen Standards der Abgeordneten (sehr) niedrig einschätzen, stieg zwischen 1982 und 1992 von 39 auf 49 Prozent; (sehr) hohes Vertrauen in das Unterhaus hatten 1979 74 Prozent der Bevölkerung, 1993 nur noch 61 Prozent
In Anbetracht dieser Entfremdungstendenzen verwundert es nicht, daß die kanadischen Wähler seit geraumer Zeit auf der Suche nach prozeduralen, inhaltlichen und personalen Alternativen sind. Dies betrifft nicht zuletzt das etablierte Dreiparteiensystem aus Konservativen, Liberalen und der sozialdemokratischen New Democratic Party (NDP), dessen Integrationsfähigkeit auch in der Vergangenheit nur begrenzt gewesen war. So verfügte die Liberale Partei traditionell im kanadischen Westen nur über eine geringe Wählerbasis, waren die Konservativen in Quebec bis 1980 kaum präsent und konzentrierte sich die Wählerschaft der NDP auf Ontario und den Westen. Erst unter Mulroney gelang zeitweilig die Verbindung der konservativen Wähler des anglokanadischen Westens mit den pro-nationalistischen Wählern Quebecs. Unter dem Eindruck der verfassungspolitischen Kontroversen zerbrach diese höchst widersprüchliche Wählerkoalition jedoch, zumal die etablierten Parteien sich seit Ende der achtziger Jahre der Konkurrenz zweier neuer Protest-formationen, Reform Party and Bloc Queb^cois, ausgesetzt sehen.
Die Unterhauswahl vom Oktober 1993 war also ein Verdikt über die Ära Mulroney. In ihr manifestierte sich darüber hinaus aber auch die tiefgreifende Repräsentationskrise im kanadischen Parteiensystem. Mulroneys Nachfolgerin Kim Campbell, die in der konservativen Regierung nach 1990
Justiz-und Verteidigungsministerin gewesen war, fiel die Aufgabe zu, die Konservative Partei vor einem Wahldebakel zu bewahren. Sie war damit überfordert, zumal es ihr in ihrer kurzen Amtszeit nicht gelang, sich mit eigenen Erfolgen zu profilieren. Da sie wie der Parteiführer der Liberalen, Jean Chretien, und ein Großteil der Bevölkerung an einem Wiederaufleben der Verfassungsdebatte kein Interesse hatte, stand im Mittelpunkt des Wahlkampfes die haushalts-und wirtschaftspolitische Bilanz der Ära Mulroney. Während Campbell Erfolge bei der Umsetzung des monetaristischneoliberalen Programms reklamierte und seine Fortsetzung ankündigte, konzentrierte sich Chrtien auf die Sorgen der Bürger vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg. Arbeitsplatzsicherheit war für 49 Prozent der Bevölkerung wichtigstes Thema des Wahlkampfes, Defizitreduzierung nur für 20 Prozent; zugleich aber trauten beim Thema Beschäftigung 61 Prozent und in der Wirtschaftspolitik allgemein 51 Prozent den Liberalen am meisten zu, während beim Thema Defizitreduzierung und bei der Wirtschaftspolitik allgemein mehr Bürger (29 gegenüber 21 Prozent bzw. gegenüber sechs Prozent) auf die Reform Party als auf die Konservativen setzten 14.
Bei der Wahl kam es zum erwarteten politischen Machtwechsel. Als einzige nicht diskreditierte traditionelle Alternative erzielten die Liberalen einen klaren Erfolg. Mit 41, 3 Prozent der Stimmen und 177 der 295 Mandate wurden sie zur mit Abstand stärksten Partei und konnten eine Mehrheitsregierung bilden. Auch regional war dieser Sieg ausgewogener als erwartet. Stärkste Partei wurden die Liberalen (mit Stimmenanteilen zwischen 67, 3 und 32, 1 Prozent) in sieben der zehn Provinzen. In den vier Atlantikprovinzen und Ontario gewannen sie bis auf einen alle Sitze, in Qubec behaupteten sie sich mit 19 und in den Westprovinzen bauten sie ihre Position mit 27 Sitzen erstmals seit langem wieder aus. Konservative und NDP konnten jedoch den angestauten Protest der Bürger gegen unzureichende Problembewältigung durch die politischen Eliten nur ungenügend auffangen. Hatten die drei etablierten Parteien 1984 noch 96, 8 Prozent der Stimmen und 281 der damals 282 Mandate errungen, so waren es jetzt -bei einer zudem von 75, 3 auf 69, 6 Prozent gesunkenen Wahlbeteiligung -64, 2 Prozent und 188 der 295 Mandate. Dieser Verlust ging vor allem auf Kosten der Konservativen und der NDP. Ihr Stimmenanteil schmolz gegenüber ihren Spitzenresultaten 1984 bzw. 1988 auf etwa ein Drittel. Mit zwei bzw. neun Mandaten verfügen beide Parteien über keinen Fraktionsstatus mehr. Das Überleben der Konservativen als einer der beiden traditionellen Volksparteien ist bedroht.
Die Opposition bilden nun die beiden neuen regionalen Protestparteien, welche die einstige Wähler-basis der Konservativen weitgehend absorbierten und in drei der Provinzen (British Columbia, Alberta, Quebec) auch die Liberalen auf den zweiten Platz nach Stimmenanteilen und Mandaten verdrängten. Die 1988 erstmals bei Unterhauswahlen angetretene Reform Party hatte nur in Anglokanada kandidiert und erzielte dort 18, 7 Prozent der Stimmen. Als Vertreterin rechtspopulistischer, staats-und steuerfeindlicher Positionen und dezidierte Gegnerin der konstitutionellen Forderungen Quebecs sprach sie vor allem Wähler im Westen des Landes an. Dort errang sie zwischen 22, 4 und 52, 3 Prozent der Stimmen und gewann 51 ihrer 52 Mandate. In Ontario kam sie auf 20, 1 Prozent und ein Mandat, in den Atlantikprovinzen ging sie dagegen mit 1 bis 13, 3 Prozent leer aus. Umgekehrt hatte der erstmals angetretene, nach dem Scheitern des Meech Lake Accord von abtrünnigen Mitgliedern der konservativen Unterhausfraktion gegründete Bloc Quebecois nur in Quebec kandidiert. Als Vertreter der separatistischen Option in Ottawa ist er mit seinen 54 Abgeordneten und 13, 5 Prozent Stimmenanteil in Kanada, 49, 3 Prozent in Qubec, nichtsdestoweniger in die Rolle der offiziellen Opposition geschlüpft und versucht sich gegen die Reform Party wie gegen die liberale Regierung als sozialpolitisches Gewissen des Parlaments zu präsentieren
Seit der Unterhauswahl wird die kanadische Politik damit von grundlegend veränderten Parteien-konstellationen bestimmt. Der Aufstieg des Bloc Quebecois und der Reform Party ähnelt den Transformationsprozessen in der Vergangenheit, als insbesondere unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise neue soziale Konflikte zum Entstehen von regional konzentrierten Protestparteien führten, vor allem der Cooperative Commonwealth Federation, aus der später die NDP hervorging. Diese Veränderungen im Parteiensystem bestimmten die kanadische Innenpolitik dann bis in die achtziger Jahre hinein; sie waren der Ausgangspunkt für die Sozialstaatsreformen seit Ende des Zweiten Weltkrieges und sicherten die Dominanz der Liberalen Partei. Man wird abwarten müssen, ob von der Wahl von 1993 ebenfalls langfristige Wirkungen ausgehen. Allerdings spricht der Erfolg der Reform Party und des Bloc Quebecois dafür, daß die regionale, ethnische und ideologische Aufsplitterung des kanadischen Parteiensystems, das gegenwärtig weiter denn je von der Zweiparteienstruktur des Westminster-Modells entfernt ist, sich zu einem dauerhaften Zustand verfestigen könnte. Auf jeden Fall verkörpern die beiden Parteien die zunehmende Fragmentierung der kanadischen Gesellschaft und erschweren die innenpolitische Konsensbildung
V. Handlungsspielräume kanadischer Innenpolitik
Die Regierung Chretien steht vor schweren Aufgaben. Sie muß das Vertrauen der Bürger wie der Provinzen in die Handlungs-und Reformfähigkeit des Bundes wiederherstellen und zugleich der drohenden Abspaltung Quebecs entgegenwirken. Sie versucht dies konsequent durch eine Strategie des good government, die die Verfassungsproblematik wie schon im Unterhauswahlkampf weitgehend ausspart. Man will die Leistungsfähigkeit des Bundes vielmehr vor allem durch Erfolge bei der Belebung der Wirtschaft, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Konsolidierung der Staatsfinanzen demonstrieren.
Das liberale Regierungsprogramm (im sogenannten Red Book, dem Wahlhandbuch, zusammengefaßt Verknüpft über hundert konkrete Einzelvorschläge zu einer integrativen und konsensorientierten Reformstrategie, deren Verwandtschaft mit Trudeaus just society und elfer Agenda Clintons unverkennbar ist. Einerseits will man durch Dezentralisierung und Deregulierung die Entflechtung der Regierungsebenen wie die Eigeninitiative und privates Unternehmertum fördern. Andererseits aber soll der Staat gegenüber Kapital und Arbeit, der Bund gegenüber den Provinzen Rahmenbedingungen setzen, Koordination und Kooperation unterstützen, um soziale Sicherheit, einheitliche Lebensverhältnisse und die Wettbewerbsfähigkeit der kanadischen Wirtschaft zu gewährleisten. Im Zentrum des Red Book stehen dabei innovations-und beschäftigungspolitische Maßnahmen, die Umstrukturierung der kanadi-sehen Wirtschaft hin zu wissensintensiven Zukunftsbranchen, die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, die Schaffung von Technologie-netzwerken zwischen Industrie, Bildungs-und Forschungssektor, ferner eine Arbeitsmarktpolitik, die verstärkt auf die aktive Vorbereitung von Arbeitslosen und Berufsanfängern auf höherwertige neue Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen setzt. Angestrebt wird in diesem Zusammenhang die Reform der Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe sowie der Schul-, Berufs-und Weiterbildung. Abhängig ist das liberale Reformprogramm allerdings von der Konsolidierung der Staatsfinanzen. Das Wahl-und Regierungsprogramm formuliert als ehrgeiziges Konsolidierungsziel die Senkung des Haushaltsdefizits auf drei Prozent des BIP bis 1996/97.
Die Regierung Chrtien ist jetzt seit Monaten im Amt. Bisher genießen die Liberalen nach Auskunft der Demoskopen hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung, in den letzten Monaten zwischen 60 und 70 Prozent 18. Dennoch ist zur Zeit noch offen, ob die erst begonnenen Anpassungsleistungen Früchte tragen und der Strategie damit zu einem dauerhaften Erfolg verhelfen werden. Die Aussichten dafür scheinen auf den ersten Blick nicht schlecht zu sein. Die wirtschaftliche Erholung hat inzwischen an Schwung gewonnen (vgl. Tabelle); die Exportkonjunktur, unterstützt durch die starke Abwertung des kanadischen Dollars seit 1992 sowie durch Produktivitätssteigerungen, wird zunehmend durch die Belebung der Investitionstätigkeit und der Binnennachfrage ergänzt Mit geschätzten Wachstumsraten von 3, 8 und 2, 5 Prozent für 1995 und 1996 bei anhaltend niedriger Inflation von etwa 1, 8 Prozent steht Kanada mit an der Spitze der Industrieländer. Im historischen Vergleich wie im Vergleich mit den USA ist dieser Aufschwung freilich zurückhaltend und risikobehaftet. Ein Kernproblem bleibt dabei die Beschäftigungslage, obwohl die Arbeitslosenquote seit Ende 1994 wieder knapp unter zehn Prozent liegt.
Das zentrale Problem der kanadischen Wirtschaftspolitik bleibt aber die mittlerweile weit über dem Durchschnitt der OECD-Länder liegende Verschuldung von derzeit 73, 2 Prozent des BIP. Besonders bedrohlich ist, daß allein die Auslands-verschuldung rund 44 Prozent des jährlichen BIP beträgt. Steigende Handelsüberschüsse können deshalb in nächster Zeit allenfalls zu einer leichten Verbesserung der Leistungsbilanz des Landes beitragen. Das Mißtrauen der internationalen Finanzmärkte schlägt sich in fortgesetztem Druck auf den kanadischen Dollar und hohen Zinsen nieder. Diese Entwicklung engt den Handlungsspielraum der Regierung mittelfristig stark ein, indem sie trotz des Aufschwungs den Schuldendienst, auf den derzeit gut ein Viertel der Gesamtausgaben entfallen, verteuert und den Zwang zum Sparen erhöht.
Die Politik der Regierung Chrötien blieb im ersten Amtsjahr widersprüchlich. Zwar wurden mit dem Budget 1994/95 einige der Wahlversprechen eingelöst. Ein auf zwei Jahre angelegtes Infrastruktur-programm, zu dem Bund, Provinzen und Gemeinden jährlich je eine Milliarde kanadische Dollar beitragen sollen, wurde ebenso auf den Weg gebracht wie verschiedene innovations-und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Die Mittel für Forschung und Entwicklung wurden angehoben, Beschäftigungs-, Aus-und Weiterbildungsprogramme für Arbeitslose eingeführt. Doch wurden kaum Elemente der Mittelstandsförderung oder sozialpolitische Maßnahmen in die Wege geleitet. Die Haushaltskonsolidierung fiel halbherzig aus; das Defizit wurde im Haushaltsplan von 42 auf 39, 7 Milliarden und real auf 35, 3 Milliarden Can-Dollar zurückgeführt. Allein ein Drittel der Kürzungen entfiel auf restriktivere Bestimmungen bei der Arbeitslosenversicherung; gespart wurde daneben vor allem bei Ausgaben für Verwaltung und Verteidigung, bei Transfers an die Provinzen und bei der Regionalhilfe. /t
Die Senkung des Haushaltsdefizits auf drei Prozent des BIP, 24, 3 Milliarden Can-Dollar, erfordert freilich drastische Einschnitte. In ihrem Budget 1995/96 macht die Regierung Chrtien daher Ernst mit der Konsolidierungspolitik. Obwohl sich der Schuldendienst durch unerwartet stark gestiegene Zinsen gegenüber den Projektionen des Budgets 1994/95 um rund fünf Milliarden Can-Dollar verteuert hat und sich das Wirtschaftswachstum etwas verlangsamen wird, will man das Etappenziel einer Defizitreduzierung auf 32, 7 Milliarden Can-Dollar erreichen. In den nächsten drei Jahren sollen 45000 Stellen im Öffentlichen Dienst abgebaut, die Etats der meisten Ministerien um bis zu 50 Prozent, Subventionen an den Privatsektor um 60 Prozent gekürzt und insgesamt 29 Milliarden Can-Dollar eingespart werden. Neben der Rationalisierung der Verwaltung sind auch die Kommerzialisierung von Regierungsprogrammen und die Privatisierung weiterer Staatsunternehmen, unter anderem im Transport-und Kommunikationssektor, geplant. Drastischen Ausgabensenkungen stehen dabei nur marginale Steuer-und Abgabenerhöhungen gegenüber. Besonders betroffen von den Sparmaßnahmen sind neben den Bereichen Verteidigung, Regional-und Wirtschaftsförderung die sozialen Leistungen. Reformen der Arbeitslosen-und Rentenversicherungen sowie der Transfers an Provinzen sind für 1996 angekündigt. Während der Finanzausgleich der Provinzen zunächst unangetastet bleibt, sollen die Mittel des Bundes für sozial-, gesundheits-und erziehungspolitische Gemeinschaftsaufgaben ab 1996/97 unter weitgehendem Verzicht auf Normierung durch Ottawa en bloc an die Provinzen überwiesen, zugleich aber schrittweise reduziert werden. Damit ist das im Oktober 1994 vorgestellte Konzept des Sozial-und Arbeitsministers Lloyd Axworthy für einen Um-statt Abbau des Wohlfahrtsstaates Makulatur. Der Bund überantwortet zentrale Bereiche seiner Tätigkeit dem Markt oder den Provinzen. Zwar begründete Finanzminister Martin die Weichenstellungen des Budgets mit dem keynesianischen Argument, die Staatsverschuldung antizyklisch gerade in Zeiten des Konjunkturaufschwungs zurückführen zu müssen, doch gibt die Regierung Chretien mit dem weitgehenden Verzicht auf eine aktive Wirtschafts-und Sozialpolitik den Kern ihrer ursprünglichen Agenda auf und schwenkt von einer Wiederbelebung der just society zur neokonservativen Strategie des „schlanken Staats“ um.
Bei der Provinzwahl vom September 1994 feierte der separatistische PQ das seit der Verfassungskrise erwartete Comeback und löste die liberale Provinzregierung ab, die nach neun Jahren an der Macht verbraucht, durch verfassungs-, wirtschaftsund sozialpolitische Mißerfolge und ihre Nähe zur Regierung Mulroney diskreditiert war. Der PQ erreichte mit 44, 7 Prozent der Stimmen nur eine knappe relative Stimmenmehrheit, aber 77 der 125 Mandate im Provinzparlament. Die neue Regierung hat die Unabhängigkeit Quebecs wieder unmißverständlich zum Kernstück ihres Programms gemacht, das daneben eine Erneuerung des interventionistischen und korporatistischen Entwicklungsmodells der Provinz vorsieht. Als unabhängiger Staat träte Quebec mit etwa sieben Millionen Einwohnern dem Bruttosozialprodukt nach als 16., pro Kopf als 13.der OECD-Länder auf Restkanada stünde damit der Gefahr der Zersplitterung gegenüber und würde möglicherweise teilweise oder vollständig von den USA aufgesogen. Verändern würden sich auch die Machtverhältnisse in Nordamerika. Die Provinzregierung hat bereits einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, über den sie die Bevölkerung Quebecs zwischen Anfang Februar und Anfang März 1995 in lokalen Kommissionen beraten ließ;'noch in diesem Jahr soll die Bevölkerung in einem Refe-rendum über das Gesetz zur Souveränität Quebecs abstimmen.
Gegenwärtig ist ein neuer Höhepunkt des Prozesses festzustellen, der mit den politischen und sozial-ökonomischen Modernisierungserfolgen der Stillen Revolution ab 1960 begonnen hat Der Diskurs des Ethnonationalismus ist in der Provinz seither bestimmend geworden. Alle Provinzregierungen haben daran gearbeitet, die Staatsqualität Quebecs als Heimstatt einer Quebecer Nation gegenüber Ottawa auszubauen, und sich dabei auf einen breiten Konsens der frankophonen Eliten und Bevölkerung gestützt. Quebec, und nicht Kanada, ist für die Eliten der Provinz zur Macht-, für die Bevölkerung zur Identifikationsbasis geworden. Dies erklärt das Paradox, daß den Separatisten die Verwirklichung ihres Hauptziels in einem Moment gelingen könnte, in dem von Diskriminierung der frankophonen gegenüber der anglophonen Bevölkerung in Kanada keine Rede mehr sein kann und zugleich, abgesehen von der Sprache, die kulturellen Unterschiede der ethnischen Gruppen zunehmend verschwimmen. Die Unabhängigkeitsoption wird heute immer weniger von Wahrnehmungen der Schwäche im Vergleich zu Restkanada genährt -diese dämpfen eher die Neigung, den riskanten Schritt zu wagen -, sondern von Wahrnehmungen der Stärke. Nicht weil Quebec immer noch unterdrückt oder benachteiligt wäre, ist es den Separatisten gelungen, wieder in die Offensive zu gehen, sondern gerade weil es soweit aufgeschlossen und sich angeglichen hat. Der Provinz-staat Quebec ist zu einer glaubwürdigen Alternative zum kanadischen Bundesstaat geworden. Der PQ propagiert die Unabhängigkeit als Konsequenz der kanadischen Verfassungs-, aber auch der Nationalstaats-und Wohlfahrtsstaatskrise; denn ein kleiner, „schlanker“ Staat erscheint ihm im neuen internationalen wirtschaftlichen Kontext nicht nur als überlebensfähig, sondern sogar im Vergleich zum kanadischen Bundesstaat als besser geeignet, den Herausforderungen des Postfordismus zu begegnen. Die Föderalisten Qubecs fordern daher immer energischer positive Signale aus Ottawa, um die Quebecer von der Alternative zur Unabhängigkeit überzeugen zu können. Auch von den Signalen der Regierung Chrtien wird es abhängen, wie das Referendum letztlich ausgeht. Noch deuten Umfragen eher darauf hin, daß das „Nein“ erneut, allenfalls etwas knapper als 1980, obsiegen wird (damals hatten sich nur 40 Prozent für das „Ja“ ausgesprochen). Seit Monaten erhält das „Ja“ in Umfragen nur zwischen 40 und 45 Prozent Doch ist der Anteil unentschiedener Bürger sehr hoch, und kurzfristige Ereignisse könnten durchaus größere Stimmungsumschwünge bewirken.
VI. Ausblick
Mindestens bis zum Referendumstag in Quebec, der voraussichtlich auf den Juni 1995 festgesetzt wird, dürfte die kanadische Innenpolitik voll und ganz im Banne des Referendums zur Unabhängigkeit stehen. Wie die kanadische Politik am Tag danach aussehen wird, ist mehr als ungewiß. Sollte sich die Mehrheit der Quebecer für die Unabhängigkeit entscheiden, ist offen, -wie der Prozeß des Auseinanderdividierens des Landes, insbesondere der Staatsschulden, vor sich gehen wird, -ob sich Restkanada auf jene Kooperationsformen mit Quebec einlassen wird, die den Separatisten vorschweben, also insbesondere eine Währungs-und Wirtschaftsunion, doppelte Staatsbürgerschaft und gemeinsame Verteidigung, -ob der Zusammenhalt Restkanadas groß genug sein wird, um die Balkanisierung des Landes und Anschlußbestrebungen an die USA zu verhindern.
Doch selbst wenn sich die Quebecer Bevölkerung mehrheitlich für den Verbleib im kanadischen Bundesstaat entscheiden sollte, wird die Regierung Chretien einer Verfassungsdebatte nicht ausweichen können. Ein Zurück zum Status quo und ein „Weiter so!“ dürfte jedenfalls keine zukunftsträchtige Strategie sein, der Reformbedarf ist zu drängend. Die Regierung hat zudem bereits selbst auf wirtschaftspolitischem Felde Akzente gesetzt, die eine Wiederaufnahme dieser Debatte erzwingen werden. Es wird vor allem darum gehen, welche politischen Systemebenen im kanadischen Föderalismus auf welchen Politikfeldern die Kompetenzen für den Umbau des kanadischen Sozialstaates erhalten werden. Die Reformnotwendigkeiten ähneln dabei in mancher Hinsicht den Strukturproblemen in den anderen postindustriellen Ökonomien der Ersten Welt. Sie sind aber aufgrund des besonderen Nachbarschaftsverhältnisses zu den USA und der strukturellen Abhängigkeit der noch immer stark ressourcenorientierten kanadischen Wirtschaft auf besondere Weise definiert. Folglich wird die Frage der zunehmenden Nord-Süd-Integration auf dem nordamerikanischen Kontinent für alle Akteure ein entscheidendes Kriterium für ihre politischen Zielsetzungen und Handlungsmuster bilden. Ob die kanadische Politik überhaupt reformfähig ist, die Anpassung an die Herausforderungen des Postfordismus leisten und ihre Repräsentations-und Integrationskrise entschärfen kann, wird sich indes erst zeigen, wenn mit dem Referendum die Fronten geklärt sind und sich entschieden hat, ob Kanadas staatliche Einheit über den Tag hinaus gesichert werden kann.
Rainer-Olaf Schultze, Dr. phil., geb. 1945; Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Instituts für Kanada-Studien der Universität Augsburg. Veröffentlichungen zur empirischen Wahlforschung, der vergleichenden Systemlehre und der Föderalismusforschung; Mitherausgeber des siebenbändigen Lexikons der Politik. Steffen Schneider, M. A., geb. 1968; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Romanistik in München, Quebec und Augsburg; Doktorand und Mitarbeiter am Institut für Kanada-Studien der Universität Augsburg. Veröffentlichungen u. a.: Staat und regionale Entwicklung. Zur Theorie, Strategie und Praxis subnationaler Industriepolitik am Beispiel Quebecs, Bochum 1994; (zus. mit Rainer-Olaf Schultze) Quebec: Nation -Provinz -Staat in Kanada und Nordamerika, in: Zeitschrift für Kanada-Studien, 14 (1994) 2; (Hrsg. zus. mit Rainer-Olaf Schultze) Kanada in der Krise. Analysen zum Verfassungs-, Wirtschafts-und Parteiensystemwandel in den 80er und 90er Jahren (i. E.).
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