Zukunftsvorstellungen der Menschen als Erklärungsvariable für die Krise in der DDR und die gegenwärtige Situation in Ostdeutschland | APuZ 27/1995 | bpb.de
Zukunftsvorstellungen der Menschen als Erklärungsvariable für die Krise in der DDR und die gegenwärtige Situation in Ostdeutschland
Michael Häder/Peter Ph. Möhler
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Zusammenfassung
Zur Erklärung der gegenwärtigen Situation in den neuen Bundesländern werden in diesem Aufsatz zwei Grundannahmen diskutiert. Demnach ist erstens der Sozalismus in der DDR an den Zukunftsvorstellungen der Menschen, an der von ihnen immer stärker wahrgenommenen Gefahr gescheitert, daß das gegenwärtige Lebensniveau künftig nicht mehr gewährleistet sein könnte. Mit der Vereinigung am 3. Oktober 1990 und der damit verbundenen Übernahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sehen sich die Menschen nun jedoch zweitens mit einer relativ unsicheren Zeitperspektive und -damit zusammenhängend -neuen Problemen konfrontiert. Zunächst werden einige Grundbestandteile zeittheoretischen Denkens Umrissen und dabei drei Kriterien herausgearbeitet, mit deren Hilfe das Zeitbewußtsein und die Zeitperspektive der Menschen in der DDR bzw. -heute -in den neuen Bundesländern beschrieben werden können: 1. Welche Veränderungen sind in der Zukunft zu erwarten? 2. Wie sieht dabei der individuelle Handlungsspielraum der Menschen aus? 3. In welchem Maße wirkt die Zukunft als vorherbestimmt? Im Anschluß daran erfolgt eine Darstellung der Zeit-und Zukunftsvorstellungen der Menschen vor der Wende im Herbst 1989 und danach. Während sich die Analyse der Situation vor der Wende vor allem auf Materialien der SED und auf inzwischen zugängliche Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR stützt, stehen für die Einschätzung der gegenwärtigen Situation repräsentative Ergebnisse aus der Untersuchungsreihe „Leben DDR/Ostdeutschland“ zur Verfügung. Mit dem Ziel, anhand der genannten drei Kriterien Aussagen über das Zeitbewußtsein und die neue Zeitperspektive der Menschen in Ostdeutschland treffen zu können, werden exemplarisch die Bereiche Arbeit und Freizeit betrachtet. Im Ergebnis zeigt sich, daß mit dem Untergang des „vormundschaftlichen Staates“ zugleich der Verlust von Sicherheit, Geborgenheit, Kontinuität und -damit im Zusammenhang stehend -des bisherigen subjektiven Zeitbewußtseins einhergeht. Neue Zukunftsvorstellungen, an denen sich konkretes Handeln orientiert, sind derzeit noch weitgehend unscharf ausgebildet. Schließlich stehen die Ostdeutschen vor dem Problem, unter veränderten Rahmenbedingungen mit weitgehend unveränderbaren, weil gelebten Biographien zurechtkommen zu müssen.
I. Ausgangsgedanken
Eine mögliche Variante des Vorgehens bei der sozialwissenschaftlichen Betrachtung der in Ostdeutschland vor und seit der Wende laufenden sozialen Prozesse ist die Einbeziehung der Zeitdimension Doch fast allen Analysen zum gesellschaftlichen Zusammenbruch und zum Transformationsprozeß ist gemeinsam, daß zeit-soziologische Aspekte weitgehend ausgespart bleiben und dies, obwohl Lawrence K. Frank bereits 1938 feststellte: „Vielleicht hat kein Gebiet die Erforschung der Zeitproblematik so nötig wie das Feld menschlichen Verhaltens, und keines verspricht mehr fruchtbaren Lohn für einfallsreiche Überlegungen, denn alles menschliche Verhalten ... ist bedingt durch die Zeitperspektive.“
Die folgenden beiden Hypothesen sollen im vorliegenden Beitrag näher betrachtet werden:
Erste Hypothese:
Der Sozialismus in der DDR ist an den Zukunftsvorstellungen der Menschen, an der von ihnen immer stärker wahrgenommenen Gefahr gescheitert, daß ihr gegenwärtiges, bisher als gesichert geltendes Lebensniveau künftig nicht mehr gewährleistet sein könnte.
Zweite Hypothese:
Mit der Übernahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wurde zugleich ein anderes -deren -Zeitbewußtsein adaptiert. Die Menschen sehen sich jetzt mit einer relativ unsicheren Gegenwartsperspektive konfrontiert, dafür steht eine offene, nun (mehr oder weniger) selbständig zu gestaltende Zukunft vor ihnen. Die Konflikte, die sie mit der DDR hatten, erweisen sich keineswegs als gelöst, neue -mit der neuen Gesellschaft -sind hinzugekommen.
Zur Verifizierung bzw. Falsifizierung dieser beiden Hypothesen gehen wir folgendermaßen vor: Zunächst werden einige Grundbestandteile zeittheoretischen Denkens Umrissen. Im Anschluß daran wird versucht, die Situation in der DDR vor der politischen Wende im Herbst 1989 (erste Hypothese) allgemein zu beschreiben, um schließlich auf die gegenwärtigen Zukunftsvorstellungen der Menschen (zweite Hypothese) konkreter eingehen zu können. Abschließend soll der Einfluß des individuellen Zeitbewußtseins auf die Einstellungen und das Verhalten der Menschen in den neuen Bundesländern analysiert werden.
II. Grundbestandteile zeittheoretischen Denkens
Abbildung 2
Tabelle 2: Vergleich der Erwartungen von Befragten mit unterschiedlichem Zeitbewußtsein Quelle: Eigene Darstellung.
Tabelle 2: Vergleich der Erwartungen von Befragten mit unterschiedlichem Zeitbewußtsein Quelle: Eigene Darstellung.
Aufgrund der Fülle sozialwissenschaftlicher Publikationen zu dieser Thematik ist es nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrages einen zusammenfassenden Überblick über die Ansätze und Bestandteile des zeittheoretischen Denkens zu geben. Einen Eindruck vermitteln jedoch z. B. die Literaturstudien von Werner Bergmann und der Aufsatz von Karl G. Tismer Im Rahmen der vorgesehenen Betrachtung interessieren insbesondere solche Arbeiten, die dem Problem gewidmet sind, wie Menschen, die mit einer bestimmten -mitunter auch relativ außergewöhnlichen -Zeitsperspektive konfrontiert sind, ihr Verhalten ausrichten
Für Niklas Luhmann ist es „unabhängig ... von allen (ohnehin sehr vordergründig geführten) Kontroversen um , Handlungstheorieoder , System-theorie... unbestritten..., daß der Handelnde nach seinen Intentionen handelt und daß seine Zeitvorstellungen die Struktur seiner Intention bestimmt, etwa die Weite seines Zeithorizontes, seine Risikobereitschaft, seine Bereitschaft zur Vertagung von Befriedigungen“
Im Mittelpunkt der meisten zeittheoretischen Arbeiten steht die Frage, wie das Verhalten der Menschen durch die individuelle Zeitperspektive beeinflußt wird. Dieser Zusammenhang ist unter sehr unterschiedlichen makro-sozialen Rahmenbedingungen untersucht worden. Tismer etwa hat insgesamt 24 Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und verschiedenen Zeitperspektive-Variablen ausgewertet. Als eine Fundamentalkategorie kann dabei das Zeitbewußtsein gelten. Es beinhaltet die Art und Weise, in der ein Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesehen wird. Diese Sichtweise hat elementare Bedeutung für die Bestimmung der Handlungsabsichten. So wird ein Zeitbewußtsein beispielsweise als linear bezeichnet, bei dem die Gegenwart als Ergebnis der Vergangenheit und die Zukunft als Ergebnis der Gegenwart angesehen wird. Für das zyklische Zeitbewußtsein ist dagegen kennzeichnend, daß Veränderungen verneint bzw. lediglich als Wiederholungen -wie z. B.der Lauf der Jahreszeiten -verstanden werden. Während beim letzteren die individuelle Suche nach Handlungsaltemativen überflüssig wird, kommt es beim linearen Zeitbewußtsein darauf an, die eigene Zukunft aktiv zu gestalten. So erklärt letztlich die jeweilige Form des Zeitbewußtseins das Zustande-kommen der Zukunftsperspektive
Rudolff Wendorff zählt im einzelnen eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen dem modernen (linearen) europäischen Zeitbewußtsein und dem vor allem in Entwicklungsländern anzutreffendem eher zyklischen Zeitbewußtsein auf. Für letztere ist beispielsweise ein engbegrenzter, wenig zukunftsorientierter Zeithorizont mit rhythmischen und damit zyklischen Erlebens-und Denkweisen charakteristisch. Die Menschen haben kaum Vorstellungen von einer durch die eigene Kraft kontinuierlich gestaltbaren Zukunft; damit herrscht Zeitgleichgültigkeit mit wenig bzw. eher religiösen Reflexionen über die Zeit, eine ungenau gliedernde Zeitmessung und dementsprechend eine wenig präzise und kaum eingehaltene Zeiteinteilung Aus den hier aufgeführten Arbeiten ergeben sich für unsere Analyse die folgenden drei operationalen Kriterien, nach denen Zeitbewußtsein und Zukunftsperspektive der Menschen in der DDR bzw. -heute -in den neuen Bundesländern konkret beurteilt werden sollen
1. Kriterium: Sind in der Zukunft Veränderungen zu erwarten, oder wird Neues (wahrscheinlich) nicht stattfinden?
2. Kriterium: Besteht für die Gestaltung der Zukunft ein eigener individueller Handlungsspielraum, oder ist dies nicht der Fall?
3. Kriterium: In welchem Maße sind künftige Ereignisse und Prozesse als vorherbestimmt zu betrachten?
III. Zu den Zeit-und Zukunftsvorstellungen in der DDR vor der Wende im Herbst 1989
Abbildung 3
Tabelle 3: Vergleich der Handlungsabsichten von Befragten mit unterschiedlichem Zeitbewußtsein Quelle: Eigene Darstellung
Tabelle 3: Vergleich der Handlungsabsichten von Befragten mit unterschiedlichem Zeitbewußtsein Quelle: Eigene Darstellung
Die von der SED propagierte Zeit-und Zukunftsperspektive erfüllt wesentliche Kriterien eines zyklischen Zeitbewußtseins bzw. einer nicht strukturierten Zeitvorstellung Von der Parteiführung publizierte Materialien erweisen sich als eine Fundgrube für zukunftsbezogene Aussagen. Dabei tritt der zyklische (geschlossene) Charakter der Zukunftsperspektive -d. h. die ständige Wiederholung der gegenwärtigen Prozesse -vor allem im politischen Bereich zutage. Folgende Zitate dafür seien angeführt: -„Indem wir das Erreichte resümieren, richten wir unseren Blick mit der daraus gewonnenen Kraft und Zuversicht vor allem auf Gegenwart und Zukunft.“ -„Es war, ist und bleibt unser unumstößlicher Grundsatz, daß die politische Leitung der gesellschaftlichen Prozesse im Sozialismus nur durch eine Partei erfolgen kann, die ... eine kontinuierliche Politik verfolgt.. ,“ -„Was nun schon während mehrerer Fünfjahrpläne den Kurs unserer Partei bestimmt und zur Erfahrung der Menschen geworden ist, wird sich auch künftig bewähren. “
Wendungen wie „war, ist und bleibt“, „wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft“, „jetzt und für immer“ und „wie bisher, so auch künftig“ waren typisch für den Sprachgebrauch der SED-Ideologen. Sie signalisierten den Menschen, daß in der mittelfristigen Zukunft keine grundsätzlichen Veränderungen zu erwarten waren Die gesellschaftliche Entwicklung sollte „planmäßig-proportional“ entsprechend den zentralen Vorgaben verlaufen. Zwar wurde propagandistisch die kommunistische (klassenlose) Gesellschaft als langfristiges Entwicklungsziel dargestellt, konkret ging es jedoch um Tagesprobleme: im Sinne der SED-Ideologie um die „Ausgestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“. Der Kommunismus, in dem jeder nach seinen Bedürfnissen leben sollte, galt demgegenüber als ein zunächst nicht erreichbares Fernziel. Mühler/Wippler sehen in dieser Hinsicht relevante Unterschiede zwischen der Ulbricht-Ära, in der ein Befriedigungsaufschub bis in die lichtere Zukunft des Kommunismus propagiert wurde, und der Zeit der Honecker-Herrschaft: Seit der Machtübernahme Erich Honeckers im Jahre 1971 wurde der Konsum auf Kosten der volkswirtschaftlichen Akkumulation stärker in den Vordergrund gestellt -propagandistisch von der SED-Ideologie als „Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik“ umschrieben
Bis 1989 lassen sich hinsichtlich der Zeit-und Zukunftsvorstellungen, die die DDR-Bürger hatten, folgende zwei Tendenzen unterscheiden: 1. Die individuellen Zeit-und Zukunftsvorstellungen waren mehr oder weniger das Abbild der auf der makro-sozialen Ebene geltenden Voraussetzungen. Damit wurde bestimmten menschlichen Bedürfnissen, wie z. B.dem nach einem geregelten Leben, nach Geborgenheit und Bequemlichkeit, nach vorhersehbaren Zukunftsperspektiven und Sicherheit, entsprochen. Das Leben war für die DDR-Bürger weitgehend berechenbar. Die soziale Sicherheit -insbesondere die Sicherheit des Arbeitsplatzes, aber auch das Leben mit Kindern -schien unabhängig von den Anstrengungen des einzelnen geregelt zu sein. Es herrschte die Auffassung vor, daß das bestehende politische System bis in die Zukunft zementiert sei
2. Die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen waren aufgrund zentraler Vorgaben auf ein vergleichsweise niedriges Niveau beschränkt, mit der Folge einer gewissen Uniformität der individuellen Lebensläufe, wovon insbesondere die Generation der nach dem Zweiten Weltkreig in Ostdeutschland Geborenen betroffen war Die Herausbildung origineller Persönlichkeitsstrukturen konnte oftmals nur entgegen den von Partei und Staat propagierten Vorstellungen von der Entwicklung der Menschen zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ erfolgen. Die gewährte soziale Sicherheit fungierte jedoch als Puffer, durch den das vorhandene Konfliktpotential abgefedert wurde.
Etwa ab Mitte der achtziger Jahre nahm in der DDR die Konfliktbereitschaft gegenüber dem be-stehenden System zu. Die inzwischen zugänglichen Materialien des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) enthalten dazu interessante Hinweise.
IV. Zusammenbruch der DDR und Folgen der Wiedervereinigung
1. Allgemeine Beschreibung
Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 und der damit verbundenen Übernahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik veränderten sich auch die Rahmenbedingungen des Zeitbewußtseins der Menschen: Die soziale Marktwirtschaft bringt es mit sich, daß sie ihr Leben nun in nahezu allen Lebensbereichen selbst organisieren und die offene Zukunft eigenständig planen müssen. Die neuen Rahmenbedingungen für das Verhalten befördern (vgl. die zweite Hypothese) jedoch nicht die Lösung der Konflikte, die sie mit der DDR hatten, sondern spitzen diese noch zu. Es kam und kommt zu dem befürchteten Verlust dreier Werte, die die Identität der DDR-Bürger wesentlich geprägt haben dürften: Geborgenheit, Kontinuität und Sicherheit.
Damit besitzt diese Hypothese Erklärungswert für bestimmte aktuelle soziale Prozesse in Ostdeutschland bis hin zu einer zu beobachtenden DDR-Nostalgie.
Trotzdem war -insbesondere zwischen der Öffnung der Grenzen im November 1989 und der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion am 1. Juli 1990 -eine Aufbruchstimmung zu verzeichnen. Mit dem Zusammenbruch der DDR wurde die Hoffnung verbunden, daß damit die in der DDR existierenden materiellen Probleme (vgl. die erste Hypothese) gelöst werden könnten, ohne allerdings die von den Menschen geschätzten Werte -Geborgenheit, Kontinuität, Sicherheit -zu tangieren. Eine solche allgemeine Euphorie dokumentiert die Erhebung „Leben DDR/Ostdeutschland“ vom Januar 199019. *Diese Studie, die seit 1990 bereits fünfmal wiederholt worden ist, ist den subjektiven Einstellungen der Menschen gewidmet und enthält damit u. a. auch eine Reihe zeitsoziologischer Indikatoren, die im weiteren betrachtet werden. Zuerst soll auf eine im Rahmen dieser Erhebung gestellte Frage eingegangen werden, die auf verschiedene, von den Menschen antizipierte Bedingungen zielte: „Nun interessieren uns Ihre eigenen Erwartungen. Wie werden sich Ihrer Meinung nach folgende Bedingungen in unserer Gesellschaft in den nächsten Jahren ändern? Was wird besser, was schlechter, was so bleiben?“
Der Anteil der Befragten (N= 1528), die eine Verbesserung bzw. Verschlechterung erwarteten, betrug 1990 bei den Bedingungen für demokratisches Handeln in der Gesellschaft 78 bzw. 8 Prozent, bei den Bedingungen für eine natürliche Umwelt 70 bzw. 14 Prozent und bei den Bedingungen für ein gesundes Leben 58 bzw. 7 Prozent. Die gleiche Frage wurde 1993 von den Befragten (N= 1548) deutlich weniger euphorisch beantwortet: Bei den Bedingungen für demokratisches Handeln in der Gesellschaft erwarteten nur noch 26 Prozent eine Verbesserung, 37 Prozent befürchteten eine Verschlechterung. Bei den Bedingungen für eine natürliche Umwelt betrugen die entsprechenden Anteile 46 bzw. 30 Prozent, bei den Bedingungen für ein gesundes Leben 42 bzw. 11 Prozent.
Besonders hinsichtlich der Bedingungen für demokratisches Handeln in der Gesellschaft wurde von mehr Menschen eher eine Verschlechterung erwartet als eine Verbesserung. 1990 war dieses Verhältnis bei allen elf erfragten Lebensbereichen noch umgekehrt. Die Euphorie ist offenbar einer realistischeren Sicht der Bedingungen und damit verbunden einer Transformation der Zeit-und Zukunftsvorstellungen gewichen.
Eine weitere Frage diente dazu, die bevorzugte Form des Zeitbewußtseins zu ermitteln. Dazu wurde mit jeweils einer Vorgabe nach dem linear offenen (A), dem okkasionellen (B), dem zyklischen (C) und dem linear geschlossenen (D) Zeitbewußtsein (in Analogie zu den von Rammstedt 1975 entwickelten Typen) gefragt.
Der Indikator lautete: Im folgenden finden Sie verschiedene Ansichten darüber, wie man sein Leben gestalten kann. Wählen Sie bitte diejenige Aussage, die für Sie am meisten zutrifft. A) Die Zukunft gestalte ich durch mein gegenwärtiges Verhalten. Ich weiß jedoch nicht genau, wie sie konkret aussehen wird. B) Ich lebe vor allem im „Hier und Jetzt“. Bei dem, was ich tue, interessiert mich kaum, was gestern war und was morgen passieren wird. C) In meinem Leben ist eigentlich nichts Neues mehr zu erwarten. Da sowieso nur Sachen passieren, die es schon gegeben hat, ist es letztlich egal, wie ich mich verhalte. D) In meiner Entwicklung bewege ich mich auf ein bestimmtes letztendliches Ziel zu, dessen Erreichen ich durch mein Handeln beeinflussen kann.
Im weiteren werden diese Antworten -als zunächst provisorisches Kriterium -dazu benutzt, um die Befragten anhand der von ihnen am stärksten bevorzugten Form des Zeitbewußtseins zu gruppieren. Folgende Verteilung wurde 1993 ermittelt:
Ein linear offenes Zeitbewußtsein (A) hatten 50 Prozent, ein linear geschlossenes (D) 29 Prozent, ein zyklisches (C) 14 Prozent und ein okkasionelles Zeitbewußtsein (B) hatten 7 Prozent der Befragten. Hier zeigt sich zunächst, daß die Menschen in Ostdeutschland (inzwischen) zu fast 80 Prozent eine Form des linearen Zeitbewußtseins bevorzugen. Nach unseren Hypothesen ist eine Korrelation der unterschiedlichen Typen des Zeitbewußtseins mit einer entsprechenden Form der Bewältigung der sozialen Transformation in Ostdeutschland zu vermuten. Damit liegt eine konkretere Beschreibung dieser Typen nahe.
In Tabelle 1 wird zunächst die Lebenszufriedenheit in den genannten Gruppen dargestellt. DasErgebnis läßt sich mit unserer zweiten Hypothese vereinbaren und erklären. Danach haben die mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland veränderten Rahmenbedingungen bei den meisten Menschen zunächst zu einem Umdenken in Richtung auf ein linear offenes Zeitbewußtsein geführt. Diese Art der Veränderung wird von den Menschen zwar rational vollzogen, aber als erzwungen wahrgenommen und erfordert damit -auf Kosten der Lebenszufriedenheit -von ihnen beträchtliche Anpassungsleistungen. Noch unzufriedener sind jedoch jene Befragten, die (wahrscheinlich noch) auf dem DDR-typischen zyklischen Zeitbewußtsein beharren, dieses jetzt jedoch nicht mehr mit der Wirklichkeit ihres Lebens vereinbaren können. Am besten werden dagegen jene Menschen mit der sozialen Transformation fertig, die für ihre Entwicklung ein bestimmtes letztendliches Ziel sehen, auf das sie sich zubewegen, die also ein linear geschlossenes Zeitbewußtsein besitzen. Die wenigen Vertreter eines okkasionellen Zeitbewußtseins, die Vergangenheit und Zukunft in ihrem Denken weitgehend ausblenden, fühlen sich von den stattfindenden Veränderungen ebenfalls weniger betroffen. Für sie bedeutet die Veränderung der äußeren Zeitperspektive durch die Übernahme der Marktwirtschaft -ebenso wie für Personen, die ihr Leben einem bestimmten Ziel gewidmet haben -keinen so tiefen Einschnitt wie für jene, die sich auf die verlorene Sicherheit und Geborgenheit zurück-orientieren.
2. Die Bereiche Arbeit und Freizeit
Im folgenden sollen die Bereiche Arbeit und Freizeit unter zeitsoziologischen Aspekten mit dem Ziel betrachtet werden, anhand der o. g. drei Kriterien Aussagen über das neue Zeitbewußtsein und die neue Zeitperspektive der Menschen in Ostdeutschland treffen zu können. a) Bereich Arbeit 1. Kriterium: In der Zukunft zu erwartende Veränderungen Die Einführung der sozialen Marktwirtschaft und der Verlust der Garantie des Arbeitsplatzes haben zu neuen Rahmenbedingungen auch des Zeitbewußtseins und der Zeitperspektive der Menschen geführt. Die Berufstätigkeit etwa kann nun nicht länger als ein von jeglicher wirtschaftlicher Entwicklung unabhängiger Prozeß betrachtet werden, woraus ein für die Ostdeutschen bisher unbekannter Leistungsdruck resultiert. Künftige Entwicklungen, vor allem auf dem Arbeitsmarkt, sind nur schwer absehbar. Schließlich entfällt die direkte, staatliche Einmischung (Planwirtschaft) in alle Angelegenheiten der Arbeit. Ein immenser Bedarf an beruflicher Weiterbildung sowie die Notwendigkeit beruflicher und territorialer Mobilität zeichnen sich ab.
In der Folge muß von einer Differenzierung der -unter planwirtschaftlichen Bedingungen relativ einheitlichen (weil leistungs-und berufsunabhängigen) -Zukunftserwartungen ausgegangen werden. Das gilt auch für alle mit der Arbeit zusammenhängenden Bedingungen, die nicht mehr festgeschrieben sind Besonders kritisch wurden 1990 die Bedingungen der Lohn-und Preisgestaltung bewertet: 80 Prozent der Befragten in der Untersuchungsreihe „Leben DDR/Deutschland“ waren diesbezüglich unzufrieden bzw.sehr unzufrieden. Demzufolge waren die Erwartungen an Verbesserungen in der Zukunft besonders stark ausgeprägt 61 Prozent erwarteten damals eine Verbesserung, nur 9 Prozent der Befragten glaubten an gleichbleibende Konditionen. Auch hier läßt sich deutlich ein inzwischen eingetretener Wandel hinsichtlich der Zukunftsvorstellungen erkennen: 1993 meinten nur noch 31 Prozent, daß es zu Verbesserungen dieser Bedingungen kommen werde; 30 Prozent vertraten die Auffassung, daß keine Veränderungen eintreten würden. Diejenigen Befragten, die bei der Frage nach dem Zeitbewußtsein die Antwortvorgabe gewählt haben, die Indikator für ein linear geschlossenes Zeitbewußtsein ist, erwarten in der Zukunft am stärksten Verbesserungen der mit der Arbeit zusammenhängenden Bedingungen. Am wenigsten positiv blicken die Vertreter eines zyklischen Zeitbewußtseins in die Zukunft, da sie offenbar die gegenwärtige Krise für nicht überwindbar halten. In Tabelle 2 sind diese Ergebnisse dargestellt.
Anhand der Daten aus Tabelle 2 kann eine grundlegende Umstrukturierung der individuellen Zukunftserwartungen in bezug auf die Arbeit nachgewiesen werden. (Selbst im Vergleich zum Januar 1990 kann von einem solchen Wandel gesprochen werden.) Die neuen zeitlichen Rahmenbedingungen werden heute differenzierter beurteilt. Zugleich wird eine Abhängigkeit der Beurteilung der Zukunft vom jeweiligen Zeitbewußtsein deutlich.
2. Kriterium: Ausmaß der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten Die ehemals im wesentlichen auf Arbeitsplatzwechsel und Berufswahl beschränkten Gestaltungsmöglichkeiten haben sich zunächst formal stark erweitert, da die planwirtschaftlichen Reglementierungen entfallen sind, die dem einzelnen die Verantwortung für seine berufliche Entwicklung und damit die Verpflichtung zu selbstbestimmtem Handeln weitgehend abgenommen haben. Heute sind es andere Umstände, die individuelle (auch mittelständisch unternehmerische) Initiativen erschweren, so daß die eigene Zukunft -soweit es Arbeit und Beruf betrifft -wiederum nur bedingt gestaltbar erscheint. Das Entwerfen von Zukunftsbildern wird zudem durch die in der DDR erworbenen und damit nicht selten entwerteten Bildungsabschlüsse erschwert.
Die Ergebnisse der empirischen Studie „Leben DDR/Ostdeutschland“ zeigen, daß die individuellen Gestaltungsbemühungen stark ausgeprägt und zunächst unabhängig von der Bewertung der zukünftigen Bedingungen sind. So ist der Anteil jener Befragten, die sich „in sehr hohem Maße“ und „in hohem Maße“ darum bemühen, „den Anforderungen in der Arbeit gerecht zu werden“, sowohl 1990 als auch 1993 sehr hoch. Er betrug 1990 91 Prozent und 1993 sogar 93 Prozent Ein Vergleich dieser Bemühungen unter Befragten, die zukünftig entweder eine Verbesserung oder eine Verschlechterung bzw. keine Veränderungen in den Arbeitsbedingungen erwarteten, zeigte 1990 keine wesentlichen Unterschiede. Es kann also davon ausgegangen werden, daß die sehr differenzierten Zukunftserwartungen zum Bereich Arbeit und Beruf zunächst ohne Bezug zu den durchgängig stark ausgeprägten Gestaltungsabsichten waren. 1993 konnte jedoch ein signifikanter Unterschied in den Handlungsabsichten in beiden Gruppen festgestellt werden; danach gaben jene Personen stärkere Handlungsbemühungen an, die auch die zukünftige Entwicklung positiver sehen.
Bezieht man an dieser Stelle wieder das Zeitbewußtsein in die Betrachtung ein, so zeigt sich bei Befragten mit einem linear geschlossenen Zeitbewußtsein erneut eine stärkere Ausprägung der Bemühungen, „den Anforderungen in der Arbeit gerecht zu werden“, „einen den Preisen entsprechenden Lohn zu erhalten“ und „Bildung und Wissen zu erweitern“. Sie unterscheiden sich insbesondere von Befragten, die ein zyklisches Zeitbewußtsein besitzen und die von allen vier Typen die -folgerichtig -am wenigsten intensiven Bemühungen angeben (vgl. Tabelle 3, S. 26).
3. Kriterium: Vorhersehbarkeit der Zukunft Vor allem aufgrund des Wegfalls der Arbeitspiatzgarantie ist aus der in der DDR im wesentlichen vorhersehbaren Zukunft eine offene Perspektive geworden. Nur bedingt vorhersehbar sind heute insbesondere die beruflichen und territorialen Mobilitätserfordernisse, die zu tiefen Eingriffen in die Lebensgestaltung der Menschen führen können.
b) Bereich Freizeit
1. Kriterium: In der Zukunft zu erwartende Veränderungen Die Freizeitgestaltung kann heute unabhängig von staatlichen Vorgaben erfolgen. Beschränkungen wie in der DDR -vor allem der Mangel an Waren und Dienstleistungen sowie die fehlende Reisefreiheit -gibt es nicht mehr. Damit sind die vor der Wende notwendigen Bemühungen zur Kompensation der Mangelwirtschaft entfallen, die auch die Freizeitkultur in der DDR geprägt hatten. Die Freizeitgestaltung wird jetzt ungleich stärker von den materiellen bzw. finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Haushalte beeinflußt und ist damit eng mit der beruflichen Situation der Haushaltsmitglieder verbunden. Daraus resultiert, daß zukünftige Veränderungen in der Freizeitgestaltung von entsprechenden Veränderungen im Haushaltsbudget abhängen und diese im wesentlichen von der Einkommens-, also von der Arbeitssituation.
Ein interessanter Indikator sind in diesem Zusammenhang die Vorstellungen über die Verbesserung/Verschlechterung des Lebens mit Kindern. Hierin kommen verschiedene Aspekte einer langfristigen Lebensplanung zum Ausdruck. 1990 nahmen 35 Prozent der in der Untersuchungsreihe „Leben DDR/Ostdeutschland“ befragten Personen an, daß es zu Verbesserungen der das Leben mit Kindern betreffenden Bedingungen kommen werde, 22 Prozent gingen von Verschlechterungen aus. 1993 hat sich die Zahl der Befragten, die entsprechende Verbesserungen erwarteten, fast halbiert, während sich die Anzahl derjenigen mit negativen Erwartungen verdoppelte. Dies und nicht zuletzt auch der Rückgang der Geburtenzahlen verdeutlichen das Ausmaß der zukünftig erwarteten Veränderungen bzw.der Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Lebensbedingungen.
2. Kriterium: Ausmaß der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten Formal resultieren aus den verbesserten äußeren Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung auch bessere eigene Handlungsmöglichkeiten. Angebots-mängel sowie ideologische Vprgaben schränken den Gestaltungsspielraum nicht mehr ein. Dafür gewinnt die eigene finanzielle Situation für die Freizeitgestaltung entscheidend an Gewicht. Die neue Reisefreiheit sowie die zahlreichen anderen hinzugekommenen Möglichkeiten können zumeist nur in Abhängigkeit vom Einkommen genutzt werden. Auch hier läßt sich -wieder anhand der empirischen Daten der Untersuchungsreihe „Leben DDR/Ostdeutschland“ -ein Zusammenhang zwischen den eigenen Bemühungen um die Gestaltung der Freizeit und den zukünftig erwarteten Veränderungen herstellen. Wie schon im Bereich Arbeit und Beruf bestand 1990 zunächst kein Zusammenhang zwischen der Art der Zukunftserwartungen und der Ausprägung der Handlungsabsicht. Anders 1993: Diejenigen Befragten, die eine Verbesserung der Bedingungen erwarteten, gaben jetzt signifikant höhere Handlungsabsichten an.
3. Kriterium: Vorhersehbarkeit der Zukunft Die Freizeit kann unter den neuen Bedingungen relativ spontan gestaltet werden. Zukunftsbilder hängen nun im wesentlichen von den individuellen Wünschen und Neigungen sowie von den materiellen Möglichkeiten der Haushalte ab. Damit ist auch im Freizeitbereich die Zukunft relativ schwer vorhersehbar bzw. offen. Da insbesondere reli-giöse Weltanschauungen eine gewisse Vorhersehbarkeit der Zukunft unterstellen, die Bevölkerung in Ostdeutschland aber stark säkularisiert ist, wird auch unter diesem Aspekt die Zukunft von den meisten Menschen kaum als vorhersehbar betrachtet werden. Trotzdem gaben 1993 immerhin 29 Prozent der Befragten an, sich in ihrem Leben auf ein bestimmtes letztendliches Ziel zuzubewegen.
V. Fazit
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands sind die Menschen aus der DDR zugleich mit einem neuen makro-sozialen Zeitbewußtsein konfrontiert worden. Der Umgang mit Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit muß nun von ihnen neu erlernt werden. Diese völlig veränderte Situation läßt sich wie folgt beschreiben:
Erstens: Der Untergang des „vormundschaftlichen Staats“ ging zugleich mit dem Verlust von Sicherheit, Geborgenheit und Kontinuität einher, wodurch eine allgemeine Bequemlichkeit und Passivität gefördert worden waren. Außerdem ist der Verlust relativ scharf umrissener, klarer Zukunftsvorstellungen, die von Vorhersehbarkeit, Fremd-bestimmtheit und Fortschreibung der Gegenwart geprägt waren, zu konstatieren. Hypothetisch kann damit vom Verlust der DDR-Identität gesprochen werden.
Zweitens: Mit dem durch die Einführung der sozialen Marktwirtschaft entstandenen Bruch des bisherigen subjektiven Zeitbewußtseins wurde die individuelle Suche nach neuen Zukunftsvorstellungen, an denen sich auch die konkreten Handlungsabsichten orientieren, notwendig. Sie sind derzeit noch weitgehend unscharf, nebulös und unentwickelt.
Drittens: Die Menschen stehen heute vor dem Problem, daß mit dem bereits zurückgelegten Leben und den bisher getroffenen Entscheidungen, z. B. für einen bestimmten Beruf, die Zukunft weitgehend determiniert ist. Ihre Entscheidungen sind unter völlig anderen Bedingungen zustande gekommen als die der Bürger der alten Bundesländer. Die Ostdeutschen müssen jedoch unter den veränderten Rahmenbedingungen mit ihren weitgehend unveränderbaren, weil gelebten Biographien zurechtkommen.
Viertens: Ein großer Teil der Bevölkerung der früheren DDR hat sich bereits ein linear offenes Zeitbewußtsein angeeignet. Dies ist jedoch nicht zugleich auch jener Personenkreis, der mit den veränderten Bedingungen am besten umzugehen versteht. Das ergab sich bei der Betrachtung solcher Variablen wie Lebenszufriedenheit, optimistische Zukunftserwartungen und Handlungsbemühungen. Danach haben Befragte mit einem (z. B. noch nicht umgestellten) zyklischen Zeitbewußtsein die niedrigste Lebenszufriedenheit, die pessimistischsten Zukunftserwartungen und -wahrscheinlich aufgrund ihres höheren Alters -im Bereich Arbeit und Beruf die geringsten Handlungsbemühungen. Offenbar ermöglicht ihnen ihr zyklisches Zeitbewußtsein, d. h. die damit verbundene zyklische Betrachtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nur schwer eine Neu-Sozialisation unter den veränderten Bedingungen.
Den Gegenpol bildet die zahlenmäßig kleinere Gruppe der Untersuchungspersonen mit einem linear geschlossenen Zeitbewußtsein. Es ist zu vermuten, daß ihnen eine Umstellung ihrer zeitlichen Lebensgestaltung erspart geblieben ist, da sie auch unter den gesellschaftlichen Bedingungen der DDR ein bestimmtes Lebensziel -beispielsweise in bezug auf eine berufliche Karriere -anzustreben versucht hatten. Interessant ist, daß Personen mit okkasionellem Zeitbewußtsein, die nach dem Zusammenbruch der DDR ebenfalls nicht unbedingt eine Veränderung ihres Zeitbewußtseins vornehmen mußten, den Personen mit linear geschlossenem Zeitbewußtsein am ähnlichsten sind. Offenbar ist es mehr oder weniger unverändert möglich, sowohl „in den Tag hinein“ zu leben als auch weiterhin bestimmten idealen Lebenszielen anzuhängen. Probleme haben besonders jene Menschen, die sich -vor allem in der Zeit seit der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion -auf ein linear offenes Zeitbewußtsein umstellen mußten, noch stärker aber diejenigen, die eine solche Umstellung ablehnen. Das Zeitbewußtsein wird so zu einer Elementar-kategorie mit hohem Beschreibungswert im Rahmen der Einstellungsforschung und macht Grundhaltungen zur sozialen Transformation in Ostdeutschland plausibel. Der bevorzugte Typ des subjektiven Zeitbewußtseins erklärt auch grundlegende individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen während des sozialen Umbruchs in Ostdeutschland. Aus der Interpretation des veränderten Zusammenhangs zwischen dem eigenen Verhalten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ergeben sich Impulse für die Überprüfung übernommener Wertpräferenzen, für Strategien zur Erhaltung des individuellen Wohlbefindens und schließlich für die Entwicklung und Begründung von Handlungsstrategien.
Michael Häder, Dr. sc. oec., geb. 1952; Studium der Soziologie in Berlin; Projektleiter am Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Denken und Handeln in der Krise. Die DDR nach der Wende. Berlin 1991; (zus. mit Sabine Häder) Turbulenzen im Transformationsprozeß. Die individuelle Bewältigung des sozialen Wandels von 1990 bis 1992, Opladen 1995. Peter Ph. Möhler, Prof. Dr., geb. 1945; Studium der Soziologie, Philosophie und Mediävistik an der Universität in Frankfurt am Main und Gießen; Direktor des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: Abitur 1917 bis 1971, Reflexionen des Verhältnisses zwischen Individuum und kollektiver Macht in Abituraufsätzen, Frankfurt am Main 1978; (Hrsg.) Blickpunkt Gesellschaft 3. Einstellungen und Verhalten der Bundesbürger, Opladen 1994; (Hrsg. zus. mit J. Borg) Trends and Perspectives in Empirical Social Research, Berlin 1994.
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