Arm ohne Ehemann? Sozialpolitische Regulierung von Lebenschancen für Frauen im internationalen Vergleich
Ilona Ostner
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Zusammenfassung
Weibliche Lebenschancen werden in der feministischen Wohlfahrtsstaatsdebatte im Spannungsverhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit diskutiert. Als besonders „frauenfreundlich“ gilt in dieser Perspektive der Wohlfahrtsstaat, der die Individualisierung von Frauen am weitgehendsten fördert. Für diese Unabhängigkeit wird auch eine zumindest zeitweilige Abhängigkeit vom Staat, der Geld zur Überbrückung von Notlagen gewährt und soziale Dienste anbietet, in Kauf genommen. Der Vergleich von Wohlfahrtsstaaten unter dem Aspekt weiblicher Lebenschancen steckt noch in den Kinderschuhen. Der Beitrag stellt deshalb zunächst Konzepte zur Beurteilung der „Frauenfreundlichkeit“ eines Wohlfahrtsstaates vor. Der Hauptteil ordnet einzelne Wohlfahrtsstaaten der Europäischen Union nach ihrem jeweiligen Individualisierungspotential. Unterschieden werden ein „starkes“, ein „moderates“ und ein „schwach“ ausgeprägtes sogenanntes Ernährer-Modell. Deutschland gehört in die erste, Frankreich in die zweite und Schweden in die dritte Kategorie. Eine Entlastung von Familienpflichten durch den Wohlfahrtsstaat geht keineswegs notwendig Hand in Hand mit einem Zuwachs an ökonomischer Unabhängigkeit. Und weibliche Erwerbsarbeit alleine eröffnet noch lange nicht die Freiheit zu gehen. Solche Begrenzungen legen eine differenzierte Verwendung der Begriffe „Unabhängigkeit“ oder „Individualisierung“ nahe. Der Wohlfahrtsstaatsvergleich aus der Sicht weiblicher Lebenschancen sensibilisiert nicht nur dafür, gutgläubig aufgegriffene Konzepte kritisch zu überdenken. Er zeigt auch die Grenzen dessen auf, was Frauen und Männer von ihrem Wohlfahrtsstaat erwarten können.
I. Einleitung: „Fraueneinen Ehemann weit von der Armut entfernt“?
Frauen, sagen amerikanische Feministinnen mit Blick auf die Lebenschancen der meisten Frauen in westlichen Ländern, seien „a husband away from poverty“, „einen Ehemann weit von der Armut entfernt“. „Hast Du einen Mann, der sein Einkommen mit Dir teilt, so bist Du geschützt und versorgt; falls nicht, stehst Du vermutlich wirtschaftlich recht schlecht da.“
Weibliche Lebenschancen werden deshalb in der feministischen Wohlfahrtsstaatsdebatte im Spannungsverhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit diskutiert. Sozialpolitik soll zur Unabhängigkeit von Frauen oder -in der Sprache westdeutscher Sozialwissenschaft -zu ihrer „Individualisierung“ beitragen. Als besonders „frauenfreundlich“ gilt in dieser Perspektive nun der Wohlfahrtsstaat, der die Individualisierung von Frauen am weitgehendsten fördert. Für diese Unabhängigkeit wird auch eine zumindest zeitweilige Abhängigkeit vom Staat, der Geld zur Überbrükkung von Notlagen gewährt und soziale Dienste anbietet, in Kauf genommen. Schließlich, so das Argument von Carole Pateman sind Frauen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat Anspruchsberechtigte; als politische Bürger sind sie zudem an der demokratischen Kontrolle von Verfahren beteiligt.
Der Vergleich von Wohlfahrtsstaaten unter dem Aspekt weiblicher Lebenschancen steckt noch in den Kinderschuhen. Deshalb sollen im folgenden zunächst Konzepte, Variablen und Kriterien für die Beurteilung der „Frauenfeindlichkeit“ eines Wohlfahrtsstaates vorgestellt und dabei kurz aufgezeigt werden, wo diese an übliche analytische Kategorien vergleichender Sozialpolitikforschung anknüpfen und diese überschreiten. Der Hauptteil des Beitrags ordnet einzelne Wohlfahrtsstaaten der Europäischen Union nach ihrem jeweiligen Individualisierungspotential.
Trotz aller länderspezifischen Unterschiede beherrschte die Vorstellung, der Mann solle durch einen ausreichenden Lohn und entsprechende Ersatzleistungen seine Familie allein unterhalten können, die Entwicklung der Sozialpolitik der meisten modernen Wohlfahrtsstaaten. Sie erheben bis heute, wenn auch weniger offen als z. B. in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, diese Vorstellung eines „starken“ Ernährers zur Norm. Die Stärke oder Schwäche dieser Norm gibt rasch Auskunft über Besonderheiten der Erwerbsbeteiligung von Frauen und über die Art ihres Einschlusses in das System sozialer Sicherheit. Mehr noch, die Bedeutung des Ernährers im Modell sagt auch etwas über die der Familie in einer Gesellschaft voraus: ob sie ein Leben lang vorrangig ihre Mitglieder in Kindheit und Alter oder bei Invalidität zu betreuen hat. Man kann idealtypisch „starke“, „moderate“ und „schwache“ Ernährer-Wohlfahrtsstaaten unterscheiden
Will man Individualisierung und Sozialpolitik konzeptionell verknüpfen, dann ist es sinnvoll, zwischen Individualisierung (oder Unabhängigkeit) als Freiheit, den Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, und Individualisierung als Freiheit in der Sorgeverpflichtung gegenüber der eigenen Familie zu unterscheiden. „Freiheit“ bedeutet dabei keineswegs Freisein von jeglichem Zwang und jeder Verbindlichkeit. Das Moment der Freiheit spielt vielmehr auf die Möglichkeit an, trotz des Eingebundenseins in Zwänge und Pflichten über deren Art und Ausmaß mitzubestimmen: z. B. über die Beteiligung an Erwerb und an Familie. Niemand soll unter allen Umständen zur Erwerbsarbeit gezwungen oder auf die Sorge für Kinder, Küche, Mann oder alte Eltern festgelegt werden.
Eine Entlastung von Familienpflichten durch den Wohlfahrtsstaat geht, wie die abschließenden Überlegungen zeigen können, keineswegs notwendig Hand in Hand mit einem Zuwachs an ökonomischer Unabhängigkeit. Und weibliche Erwerbs-arbeit alleine eröffnet noch lange nicht die Freiheit zu gehen.
II. Die Freiheit, zu gehen oder zu bleiben
Abbildung 2
Tabelle 2: ökonomische Abhängigkeit von Frauen in ausgewählten Ländern, gemessen als Einkommensungleichheit im Haushalt (in Prozent) Quelle: B. Hobson (Anm. 4) S. 173
Tabelle 2: ökonomische Abhängigkeit von Frauen in ausgewählten Ländern, gemessen als Einkommensungleichheit im Haushalt (in Prozent) Quelle: B. Hobson (Anm. 4) S. 173
Daß ein Mann vor Armut schützt, gilt bekanntlich oft nur solange, wie Ehe oder Partnerschaft halten. Trennung und Scheidung enthüllen die soziale und ökonomische Verwundbarkeit der meisten Frauen Nach einer Scheidung entziehen sich viele Männer der vereinbarten -manchmal sogar jedweder -Unterhaltszahlung für ihre Familie. Weder die alleinerziehenden Mütter noch der Sozialstaat können den mit einer Trennung verbundenen Verlust an Einkommen und sozialem Status wettmachen. In den meisten westlichen Industrie-ländern unterbrechen oder reduzieren verheiratete Frauen ihre Erwerbsarbeit, um zu Hause für die Kinder zu sorgen Dies rächt sich im Fall der Trennung, da einmal erworbene Qualifikationen entwertet und die Erwerbschancen durch die Konkurrenz mit jüngeren, kinderlosen oder mit Frauen nach der Familienphase am Arbeitsmarkt geringer geworden sind. Die alleinerziehende Frau trägt nun, will sie nicht von Sozialhilfe abhängig werden oder bleiben, ganz auf sich gestellt die zweifache Verantwortung, den Familienunterhalt zu verdienen und für die Betreuung des Kindes oder der Kinder zu sorgen. In dieser schwierigen Situation verspricht die erneute Heirat oder Partnerschaft ein weiteres Einkommen (und Zeit) zum Teilen und damit einen Ausweg.
Die kontinuierliche Erwerbstätigkeit und ein ausreichendes Angebot an öffentlicher Betreuung für Kinder und alte Menschen ermöglich zwar, diesen einen Mann zu verlassen oder die Pflichten gegenüber dieser einen Familie etwas abzuschütteln. Aber sie erhöhen nicht unbedingt die Freiheit, in keiner festen Partnerschaft zu leben. So können, wie im skandinavischen Fall, Art und Höhe der Besteuerung -sie steigt mit der Höhe und dem Umfang öffentlicher Transfers sowie mit der Qualität der Dienste -ein Singledasein recht kostspielig, selten und von vorübergehender Dauer machen
Die angloamerikanische wie auch die skandinavische feministische Wohlfahrtsstaatsanalyse hat am Fall der besonders verwundbaren Gruppe der alleinerziehenden Frauen Gütekriterien für die Beurteilung aktueller und zukünftiger sozialstaatlicher Leistungen entwickelt. Dabei bildet die Norm der Unabhängigkeit den übergeordneten Maßstab. „Unabhängigkeit“ wird zunächst ökonomisch bestimmt als Möglichkeit eigenständiger Existenzsicherung. Ökonomische Unabhängigkeit erhält man in einer modernen Marktwirtschaft am ehesten durch kontinuierliche Erwerbschancen und -im Falle durchschnittlicher Erwerbsrisiken -durch den durch Erwerbsarbeit erworbenen Anspruch auf Einkommensersatzleistungen. Deshalb ist die der männlichen vergleichbare Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt ein zentraler Indikator für weibliche Unabhängigkeit.
Immer mehr jungen, qualifizierten, ungebundenen Frauen gelingt es heute, diese Art von Freiheit eine Zeitlang in ihrem Lebenslauf zu verwirklichen. Abhängigkeiten, in die sie aus dieser unabhängigen Position heraus geraten, scheinen daher bis zum Beweis des Gegenteils frei gewählt zu sein. Schließlich gibt das Erwerbseinkommen der Frau ja die Möglichkeit zu gehen.
Albert Hirschmann entwickelte in seiner klassischen Studie „Exit, Voice and Loyalty“ einen Bezugsrahmen, der im Prinzip auch für die Analyse innerehelicher Machtverhältnisse genutzt werden kann Hirschman definiert „exit“ als „Abstimmung mit den Füßen“, also als Möglichkeit eines Individuums, eine Situation zu verändern: etwa sich scheiden zu lassen. Die Beziehung zwischen „Ausstieg“ (exit) und „Widerspruch“ (voice) ist kompliziert. Fällt das Gehen allzu leicht, wird es z. B. strukturell zu leicht gemacht, lohnt es sich erst gar nicht, „sich zu beschweren“. Umgekehrt kann Widerspruch, falls überhaupt geäußert, in einer Sackgassensituation leicht überhört und totgeschwiegen werden.
Informelle intime Beziehungen unterscheiden sich zwar von formellen sachlichen durch ein besonderes Mischungsverhältnis der Verhaltensweisen Verlassen, (Treu-) Bleiben und Widerspruch: Denn Treue zur Beziehung (Loyalität) ermöglicht, der Unzufriedenheit eine Stimme und dem Widerspruch auch Gehör zu verschaffen und dadurch das Verlassen als Ultima ratio in weite Ferne zu schieben. Vermutlich treffen folgende Aussagen jedoch auch auf Paarbeziehungen zu: Je größer die Abhängigkeit einer Seite, um so geringer ist ihre Chance, Unzufriedenheit anzumelden; je geringer ihre Verdienstchance, um so geringer auch die Möglichkeit zu gehen; schließlich gilt, je geringer die Ausstiegsoption, um so eher verstummt der Protest
Als „sozial verwundbar“ gelten deshalb Menschen oder Gruppen mit überdurchschnittlich beschränkten Handlungsmöglichkeiten. So können Alter, längerfristige Krankheit, mangelnde Ausbildung oder die Betreuung hilfsbedürftiger Angehöriger die Verfügbarkeit für und die Wettbewerbsfähigkeit in der Erwerbsarbeit erheblich einschränken und Gruppen oder Personen mit derartigen Merkmalen verwundbar machen. Unter Umständen müssen sie jedwede -auch unwürdige und ausbeuterische -Arbeit ohne Rücksicht auf persönliche und soziale Umstände annehmen oder in einer unerträglichen Ehe und Familiensituation ausharren, weil jeder Ausstieg mit noch höheren „Kosten“ verbunden wäre.
In all diesen Fällen handelt es sich um eine „nicht duldbare asymmetrische Verwundbarkeit“, weil sie die Betroffenen zu ausbeutbar Abhängigen macht und dadurch ihre Vertragsfähigkeit, die Freiheit, einen Arbeitsvertrag einzugehen, ihn aufzulösen oder abzulehnen, wie auch ihre politische Mündigkeit unzulässig einschränkt Selbst ein kleinlicher Wohlfahrtsstaat, wie z. B. der amerikanische, gewährt allen ein Mindestmaß an gleichen Startbedingungen und unter bestimmten Umständen den Verwundbaren ein Existenzminimum in Form von Geld und sozialen Diensten. Deshalb kann man sagen, daß der Wohlfahrtsstaat durch seine Politiken unter bestimmten Bedingungen Ausstiege, in der Regel Ausstiegsmöglichkeiten aus der Erwerbsarbeit, eröffnet, Widerspruch zuläßt und dadurch Bindung und Engagement für die gemeinsame Sache fördert.
Ein Minimum an Ausstiegsoptionen bzw. an Freiheit der Wahl ist nicht nur überlebensnotwendig für jede auf Offenheit und Wandelbarkeit angelegte moderne demokratische Marktökonomie, es ist auch die wichtigste Voraussetzung für kollektives Handeln. Einmal gewährt oder erkämpft, befähigt es die Erwerbstätigen, die Übermacht des Marktes zu begrenzen.
Die feministische Wohlfahrtsstaatsdebatte beansprucht nun staatliche Ausstiegsoptionen für die besondere Situation von Frauen. Lebenschancen für Frauen jenseits vom Ehe-und vom Erwerbs-zwang sind zum ersten Gütekriterium des Vergleichs zwischen Wohlfahrtsstaaten geworden. Im folgenden soll gezeigt werden, wie die herkömmliche vergleichende Forschung „geschlechterblind“ Ausstiegsoptionen und Sozialpolitik mit der Norm kontinuierlicher Vollzeitbeschäftigung verknüpft. Anschließend werden Ansatzpunkte für eine vorläufige Typologie von Wohlfahrtsstaaten vorgestellt, die die sozialpolitisch regulierte Freiheit zu gehen bzw. zu bleiben aus der Perspektive weiblicher Lebenschancen diskutiert und dabei für soziokulturelle Besonderheiten der Interpretation dessen, was solche Chancen sein können, offen-bleibt.
III. Ausstieg aus der/Einstieg in die Erwerbsarbeit: Sozialpolitik und soziale Ungleichheit
Sozialpolitik wird in der herkömmlichen vergleichenden Sozialpolitikforschung zuerst danach beurteilt, welche Optionen des Ausstiegs aus dem Arbeitsmarkt sie für welchen Personenkreis bietet und wie hoch die Lohnersatzleistungen im Falle des freiwilligen oder unfreiwilligen Ausstiegs sind. Je höher diese sind und je länger sie gewährt werden, um so besser „entkommodifiziert“ Sozialpolitik. Die neuere Sozialpolitikforschung vergleicht nun westliche Wohlfahrtsstaaten unter drei Gesichtspunkten: Dabei handelt es sich erstens um den jeweiligen Anteil von Markt, Staat und privaten Haushalten an der Produktion von Gütern und Diensten; zweitens um den Einfluß der Sozialpolitik auf die soziale Schichtung und Ungleichheit; und drittens um die erwähnten entkommodifizierenden Wirkungen
Mit Hilfe der Kategorie „Entkommodifizierung“ unterscheidet Gpsta Esping-Andersen drei „Welfare Regimes“: das liberale, residuale; das konservativ-korporative; und das sozialdemokratische. Die USA (zunehmend auch Großbritannien) entsprechen danach am besten dem ersten, die Bundesrepublik dem zweiten und Schweden dem dritten Typus. Das liberale Modell gewährt nur wenig Ausstiegsmöglichkeiten aus der Erwerbs-arbeit; Lohnersatzleistungen sind niedrig, zielgruppen-und meist strikt bedarfsorientiert -es sei denn, man sichert sich selbst privat ab. Wer nicht arbeiten kann, muß sich auf seine Familie und Nachbarschaft verlassen. Das konservative Modell sichert Status und „Besitzstände“ kausal im Rückblick auf Erwerbsleben und Sicherungsursache relativ großzügig -weniger final im Hinblick auf den aktuellen und zukünftigen Bedarf. Die Familie soll vorrangig die Leistungen erbringen, die ihr naheliegen. Dafür wird sie gesellschaftlich gefördert. Diese Förderung soll die Selbsthilfekraft stärken, nicht die Familie ersetzen. Das sozialdemokratische Modell „entkommodifiziert“ am weitgehendsten, vorausgesetzt alle, Frau oder Mann, Alt oder Jung, beweisen sich gleichermaßen als Arbeitsbürger ihres Landes. Dann erhalten sie beinahe hundertprozentige Lohnersatzleistungen bei Krankheit, Elternschaft oder Erwerbslosigkeit und Eingliederungshilfen aller Art.
Entsprechend unterschiedlich ist das Zusammenspiel von Markt, Staat und privaten Haushalten in jedem der drei genannten Modelle. In dem Maße, wie staatliche Leistungen an die Stelle von Markt und Familie treten, wie im sozialdemokratischen Modell, wechseln die Kriterien der Zuteilung von Gütern von der individuellen Kaufkraft zu öffentlichen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit (Gleichverteilung). Anders im liberalen Modell: hier ist der Markt der zentrale Verteilungsmechanismus von Lebenschancen. Im konservativen wiederum spielen neben dem Markt Standesvertretungen, Verbände, der Staat als Gesetzgeber und Dienstherr sowie die Plazierungsfunktion der Familie eine wichtige Rolle für Statuserhalt und Besitzstandswahrung. Soziale Konfliktlinien verlaufen im liberalen Modell zwischen den vielfältigen ausgegrenzten einkommenslosen Minderheiten und all denen, die sich gegen Risiken aller Art selbst -durch Erwerbsarbeit und private Lösungen -versichern müssen und häufig trotz größter Erwerbs-anstrengung arm bleiben.
Mit Hilfe der drei Gesichtspunkte Ent-Kommodifizierung, soziale Strukturierung und Markt-Staat-Familien-Beziehung lassen sich also unterschiedliche Modelle oder Systeme von Wohlfahrtsstaaten identifizieren und diesen westliche Industrieländer zuordnen. Die skizzierte Typologie ist ein nützlicher Ausgangspunkt für die vergleichende feministische Wohlfahrtsstaatsanalyse. Bringt man den Gesichtspunkt weiblicher Lebenschancen systematisch in sie ein, dann gerät Bewegung nicht nur in die Ausprägung der Dimensionen und in die Zuordnung der Länder.
Die Betrachtung des Zusammenspiels marktförmiger, staatlicher oder familialer Beiträge zur Produktion von Wohlfahrt (Güter und Dienste) hebt meist auf die Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat ab. Die Leistungen der Familie jedoch werden bestenfalls erwähnt und damit ihre geschlechterspezifischen Voraussetzungen, die ungleiche Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann, vernachlässigt. Diese Kurzsichtigkeit folgt unmittelbar aus einer Perspektive, die das Normalarbeitsverhältnis -also die kontinuierliche Vollzeitbeschäftigung und an sie gebundene Ausstiegsoptionen -zum Dreh-und Angelpunkt der Analyse macht. Als Arbeit zählt in dieser verkürzten Perspektive nur die entlohnte Erwerbstätigkeit. Frauen tauchen in der Typologie dann als Erwerbstätige auf oder als Ehefrauen, die von den über ihre Männer erworbenen Sozialleistungen profitieren; ansonsten verschwinden sie als unentgeltlich Sorgende hinter ihrer Wohnungstür Besonders problematisch ist die Kategorie der Ent-Kommodifizierung. Weshalb
Viele Frauen erwarten, daß Sozialpolitik zuerst „kommodifiziert“, daß sie also Dienstleistungen und andere Instrumente bereitstellt, die ihre Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt zunächst erhöht und der der männlichen Bewerber angleicht. Schließlich setzen die meisten Systeme sozialer Sicherung volle Verfügbarkeit für Erwerbsarbeit voraus.
Die Wochenarbeitszeit, die Zahl der Jahre kontinuierlicher Beschäftigung vor Eintritt von Erwerbslosigkeit, -Unfähigkeit oder Verrentung, die Lage von Ausbildungszeiten im Lebensverlauf usw. -derartige Zeitkontingente und Zeitmarken bestimmen über Art und Ausmaß des Einschlusses in das System sozialer Sicherung. „Frauenzeiten“ sind im Vergleich zu „Männerzeiten“ ökonomisch und rechtlich benachteiligt. So dominieren Männer in allen westlichen Ländern das an der kontinuierlichen Vollzeitbeschäftigung orientierte Normal-arbeitsverhältnis, das eine Arbeitszeitflexibilität „nach oben“ durch Überstunden, Schichtarbeit, Nacht-und Wochenendarbeit zuläßt. Die ökonomisch und rechtlich geringer abgesicherten Arbeitszeitformen mit einer Flexibilität „nach unten“ (z. B. Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung, kapazitätsorientierte variable Arbeitszeiten rund um Umsatzspitzen im Handel, Leih-arbeit und befristete Beschäftigung) sind typische Frauenzeiten
Um von den verschiedenen sozialen Sicherungen zu profitieren, müssen Frauen wie Männer zunächst einmal „kommodifizierte“, „vollwertige“ (vollzeitige) Arbeitskräfte geworden sein. Sehr viele Frauen erfüllen aber die Norm des kontinuierlichen, „vollzeitigen“ Erwerbsverlaufs nicht oder nur unvollständig. Die geschlechterspezifische Arbeitsteilung hält Frauen sehr viel mehr als Männer in der Familie fest und steigert dadurch die Verfügbarkeit von Männern für den Arbeitsmarkt; zugleich vefringert sie die kontinuierliche Verfügbarkeit vieler Frauen: ihre JCommodifizierung. Deshalb auch sind Frauen sehr viel häufiger als Männer in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen zu finden. Sie profitieren also weniger als diese von den „entkommodifizierenden“ Wirkungen der Sozialpolitik, dem Schutz und der Kompensation in Fällen typischer Arbeitnehmer-risiken. Statt dessen bleiben sie auch in der nächsten Zukunft auf ein zweites Haushaltseinkommen und auf eine abgeleitete Sicherung im Krankheitsfall oder im Alter angewiesen.
IV. Geschlechterordnungen, nationale Pfade und Pfadabhängigkeit der Sozialpolitik
Den Systemen der sozialen Sicherung liegt also meist eine Zeitpolitik zugrunde, die die Mehrheit der Frauen benachteiligt. Dies ist aber nur eine Hürde, die Frauen im Erwerbsverlauf nehmen müssen. Eine weitere Hürde, das eigentliche Nadelöhr, bilden die nationalen Geschlechterordnungen. Sie regeln mittelbar oder unmittelbar, wer -Frau oder Mann -welche Aufgabe in welcher Form für welchen Zeitraum übernehmen soll. Sie formulieren Normen, Erwartungen an die beiden Geschlechter. Wer soll für das kleine Kind sorgen? Wer für die alte Mutter? Wer für beide, wer für den Haushalt usw.? Und wie soll dies erfolgen? Beruflich und bezahlt oder durch persönliche Hilfe zu Hause? Sollen überhaupt alle, Frauen wie Männer, soweit wie möglich erwerbstätig sein? Welche sozialen Kosten welcher Art sollen jeweils in Kauf genommen werden: von den einzelnen, von der Gemeinschaft?
Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich in den Antworten auf solche Fragen. Einige überantworten einen Großteil der erwähnten Aufgaben dem Staat und damit der Solidarität der Steuerzahler; andere überlassen sie dem Geschick und der Selbsthilfe der Haushalte. Wieder andere wählen entsprechende Kombinationen. Sozialpolitik kann durch konkrete Maßnahmen wie auch durch unterlassene Hilfe Frauen und Männern unterschiedliche Aufgaben und Lebenswege zuweisen.
Sozialpolitische Maßnahmen befördern und verfestigen also Erwartungen an die Bürger, wie sie ihren Lebensunterhalt zu verdienen und für ihre Familien zu sorgen haben. Sie beeinflussen Art und Umfang der Abhängigkeit zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Derartige Normalitätsannahmen kristallisieren sich in den verschiedenen sozialpolitischen Institutionen, die das Sozialstaatsmodell einer Nation ausmachen. Diese sind historisch gewachsen, „pfadabhängig“, knüpfen häufig an überkommene Lösungen an, nehmen diese auf und formen sie zeitgemäßer um. Jeweils haben sie die Erwartungen der Bürger an „ihren“ Staat und umgekehrt die einer Gesellschaft an „ihre“ Bürger strukturiert. Weil sie mit der Geschichte des jeweiligen Landes, seinen sozialen Konflikten und Kämpfen verwoben sind, unterscheiden sich die institutionalisierten Regeln des Umgangs mit sozialen Problemen und folglich auch die gewählten Lösungen von Land zu Land. Sie haben eine je spezifische Eigenlogik und -dynamik
Pfadabhängigkeit und kulturelle Besonderheit, wie sie sich im spezifischen Verpflichtungsverhältnis zwischen Geschlechtern und Generationen zeigen, helfen unserer Verwunderung weiter: Wenn schwedische oder finnische Frauen deutschen gegenüber versichern, daß „ihr“ Staat ihre Kinder besser und professioneller zu betreuen wisse, als sie selbst es könnten; daß es vorrangig seine Aufgabe sei, für alte Menschen und Kinder zu sorgen, schließlich zahlten sie ja hohe Steuern; daß sie sich dafür -anders als deutsche Frauen -aber scheuen würden, Putzfrauen zu nutzen (dies sei nun wirklich eine private Aufgabe). Ihr Kind würden die wenigsten deutschen oder niederländischen Mütter und Väter einen ganzen Tag lang, schon gar nicht während der Nacht, staatlich betreuen lassen, wie in den nordischen Ländern. Die Bereitwilligkeit, öffentliche Betreuung zu nutzen, Kinder also weg-zugeben, teilen Französinnen, Belgierinnen und skandinavische Frauen. Engländerinnen und Amerikanerinnen würden es ihnen gleich tun; sie tun dies auch, wenn sie eine preiswerte private Betreuung finden.
Frauen haben aktiv an der Ausgestaltung der jeweiligen nationalen Geschlechterordnung mitgewirkt. So wollte die Mehrheit der frauenbewegten Engländerinnen und Deutschen im späten 19. Jahrhundert ihren häuslichen Bereich in die Gemeinde hinein ausdehnen und sich dort „hausarbeitsnah“, „geistig mütterlich“ um die Sorgen und Nöte der bedürftigen Gemeindemitglieder kümmern. Für diese lokale Partizipation, die ganz in der Logik mütterlicher Sorge verblieb, das allgemeine Wahlrecht, also ein politisches Recht, einzufordern, erschien den meisten Frauen überflüssig. Die aktiven bürgerlichen Frauen beider Länder unterstützten zunächst nur vereinzelt und zögerlich das Frauenwahlrecht. Dies änderte sich in dem Maße, in dem die lokale Ebene aufhörte, der vorherrschende Ort der Erbringung sozialer Leistungen zu sein, und in dem verallgemeinerte und verrechtlichte Formen sozialer Sicherung die lokalen selbstorganisierten Unterstützungssysteme ablösten. Jetzt erst argumentierten die Führerinnen der Bewegung in der Sprache gleicher Rechte
In der Frage, ob Frauen unter gleichen Bedingungen wie Männer oder geschützt als besondere Gruppe in den Fabriken arbeiten sollten, unterschieden sich insbesondere englische und deutsche Frauenbewegungspositionen: Jede Sonderbehandlung der Frau am Arbeitsmarkt mache diese zu einer Schutzbefohlenen und disqualifiziere sie dadurch als Bürgerin -so die englische Auffassung. Demgegenüber wurde nach deutscher Auffassung Mutterschaft als die vornehmste Pflicht der Frau als Bürgerin betrachtet. Daraus erwachse ein Recht gegenüber dem Staat, der sie zu schützen habe Familistische und natalistische Bewegungen in Frankreich argumentierten ähnlich wie die deutsche Frauenbewegung. Die Positionen können sehr vereinfacht als individualisierend bzw. als gemeinschaftsorientiert unterschieden werden. Im einen Fall fordert das Individuum von der Gemeinschaft gleiches Recht auf gleiche Freiheit; im anderen erklärt die Gemeinschaft ihre Verpflichtung gegenüber ihren Mitgliedern, damit diese ihren je besonderen Pflichten nachkommen können. Diese Positionen begründen in der Folge recht unterschiedliche Geschlechterordnungen: Auffassungen darüber, was der rechte Ort von Frauen und Männern und die rechte Aufgabe von Eltern und Kindern, Familie und Staat sei.
V. Unterschiedliche „Ernährer-Modelle“: Vorrang oder Nachrang der Familie
Empirisch lassen sich nationale Geschlechterordnungen mit Hilfe von wenigstens drei Indikatoren ermitteln: erstens dem Ausmaß der (Vollzeit-oderTeilzeit-) Müttererwerbstätigkeit in einem Land; zweitens dem Ausmaß eigenständiger oder abgeleiteter sozialer Sicherung von Frauen; drittens dem Ausmaß und der Art (Geld oder Dienste) öffentlicher Betreüungsleistungen. Mit diesen Indikatoren wird versucht, die durch Sozialpolitik verfestigte Trennung zwischen Erwerbs-und Hausarbeit -oder allgemeiner: zwischen Markt, Staat und Familie -kritisch ins Bewußtsein zu rücken. Sie erlauben Aussagen über den Grad der Kommodifizierung (Marktintegration) bzw. Familiarisierung (Familiengebundenheit) weiblicher Arbeitsvermögen und geben ausreichend Anlaß, vorhandene Typologien zu überdenken.
Gpsta Esping-Andersen hat die skandinavischen Länder und die Niederlande dem sozialdemokratischen Modell zugeordnet, die Bundesrepublik und Frankreich dem konservativ-korporativen. Nimmt man aber die erwähnten Indikatoren zum Maßstab, betrachtet man also die Erwerbsbeteiligung von Müttern, die Stellung von Frauen im System sozialer Sicherung, das Dienstleistungsprofil eines Landes und das öffentliche Angebot an sozialen Diensten für Haushalte, dann rückt Frankreich in die Nähe der skandinavischen Länder, die Niederlande ähneln jedoch der Bundesrepublik.
Bündelt man diese Indikatoren, dann kann man idealtypisch Wohlfahrtsstaaten mit sogenanntem „starkem“, „moderatem“ und „schwachem“ Ernährer-Modell unterscheiden (vgl. Tabelle 1). Idealerweise wäre eine Mutter im stark ausgeprägten Ernährer-Modell verheiratet, sorgte zu Hause selbst für das kleine Kind und würde allmählich, mit dem Schuleintritt des Kindes, wieder eine Erwerbsarbeit aufnehmen, in der Regel eine Teilzeitbeschäftigung. Der männliche Ernährer fängt die Einbußen an Erwerbseinkommen und sozialer Sicherung seiner Partnerin auf; ihre Sicherung ist also eher abgeleitet als eigenständig. Dieses Arrangement erübrigt dann auch ein größeres Engagement des Staates für die Betreuung hilfsbedürftiger Angehöriger. Öffentliche Kinderbetreuung, falls entsprechende Einrichtungen vorhanden sind, findet meist vormittags statt und dient der Vorbereitung der Kinder auf das Leben außerhalb der Familie, nicht der „Kommodifizierung“ der Mütter.
Idealtypen kommen in der Wirklichkeit nur annäherungsweise vor. Das Vereinigte Königreich Großbritannien (DK), die Niederlande (NL), Deutschland (D) oder Irland (IRE) z. B. folgen mehr oder weniger der „starken“ Norm und dies zugleich in einer jeweils spezifisch nationalen Spielart (vgl. Tabelle 1). Die überwiegende Mehrheit der Frauen in diesen Ländern ist diskontinuierlich erwerbstätig und in starkem Maße -vor allem bei Krankheit und im Alter -auf über den Partner erworbene, abgeleitete Sicherungsleistungen angewiesen. Die weibliche Erwerbsbeteiligung sinkt drastisch, wenn ein Kind geboren wird. So blieben im Jahr 1985 in der Bundesrepublik 61 Prozent, in den Niederlanden 75 Prozent und in Großbritannien 61 Prozent der Mütter kleiner Kinder (bis vier Jahre alt) zu Hause. Verheiratete Frauen nehmen eine Beschäftigung anschließend um so früher wieder auf, je mehr Teilzeitarbeit angeboten wird. Dabei scheint -wegen der Kosten für die Kinder -eher ein zu niedriges Haushaltseinkommen als der Zuwachs an verfügbarer Zeit die Müttererwerbsarbeit zu motivieren. In der Altersgruppe 49 bis 64 Jahre sinkt die -teilzeitförmige -Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen auf 30 Prozent in der Bundesrepublik und auf 17 Prozent in den Niederlanden. Im Vereinigten Königreich bleibt sie mit 46 Prozent noch vergleichsweise hoch. Dort stieg in den letzten Jahrzehnten die Zahl der „working poor“ -Familien, die auf zwei Einkommen zur Sicherung eines durchschnittlichen Einkommens angewiesen sind Öffentliche Betreuung ist für Kinder unter drei Jahren in keinem der Länder dieser Gruppe vorgesehen. Folglich hatten 1985/1986 nur drei Prozent der deutschen, ein bis zwei Prozent der niederländischen und zwei Prozent der englischen Kleinkinder bis zu drei Jahren einen Krippenplatz. Die Länder mit stark ausgeprägtem Ernährer-Modell unterscheiden sich allerdings in Art und Ausmaß der Unterstützung von Ehe und Familie. Die Bundesrepublik fördert zwar -durchaus vergleichbar mit Irland und den Niederlanden -immer noch steuerlich und durch beitragsfreie Familiensicherung im Krankheits-und Altersfall den „Ernährer-Ehemann“; sie gewährt darüber hinaus jedoch Zeit und -bedarfsgeprüft -Geld für die Kleinstkindbetreuung. Diese Kinderpolitik entspricht einer für Frauen negativen Arbeitsmarktpolitik. Die anderen Länder dieser Gruppe mischen sich sehr viel weniger in Ehe-und Familienangelegenheiten ein.
Idealerweise kontrastiert das „starke“ in allen erwähnten Punkten mit dem „schwachen“ Ernährer-Modell: Frauen -mit oder ohne Kinder -sollen gleich den Männern erwerbstätig sein und damit ihre Existenz eigenständig sichern. So waren im Jahr 1994 in den skandinavischen Ländern 70 bis 80 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre) erwerbstätig gegenüber 51 Prozent in Frankreich, 56 Prozent in Deutschland, 51 Prozent in den Niederlanden und 61 Prozent in England -die altersspezifisch hohe Teilzeitquote in den letzten drei Ländern allerdings nicht eingerechnet Um Mütter und erwachsene Kinder so weit wie möglich für die Erwerbsarbeit zu mobilisieren, übernimmt die skandinavische Gesellschaft Familienleistungen (in geringerem Ausmaß in Norwegen) und verringert dadurch Verpflichtungen zwischen den Generationen und Geschlechtern: Sorgt eine Frau, sorgt ein Mann selbst für das Kind, betreut sie/er den kranken Vater, wird sie/er zusätzlich belohnt. Unterschiede zwischen leiblichen und „sozialen“ (angenommenen) Kindern wie auch zwischen verschiedenen Lebensformen, Ehen, nichtehelichen Partnerschaften, Eltern-und Stiefelternschaft verschwinden.
Der „moderate“ Typ des Ernährer-Modells bezeichnet einen dritten Weg zwischen dem „starken“ und „schwachen“ Modell: zwischen Abhängigkeit vom Mann und Individualisierung. Frauen werden gleichermaßen als Mütter und als erwerbstätige Familienmitglieder, weniger als Individuen behandelt; durch Geld und Dienste wird ihnen die Option eröffnet, als Mütter erwerbstätig zu bleiben oder sich eine Zeitlang aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen. Sie tragen in beiden Fällen zum Familieneinkommen bei. Familie und Gesellschaft helfen, Sicherungslücken zu schließen und Betreuungsmängel zu beheben. Von den skandinavischen Ländern entspricht Finnland (SF) am weitgehendsten dem „schwachen“ Ernährer-Modell; Frankreich entspricht dem „moderaten“.
Britische Frauen sind zwar älter als französische, wenn sie in Rente gehen, aber französische Frauen haben einen sehr viel kontinuierlicheren Erwerbs-verlauf als diese; auch als holländische oder deutsche Frauen. Teilzeitarbeit ist in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich sehr viel verbreiteter als in Frankreich. Französische Mütter verlassen den Arbeitsmarkt nicht, um ihre Kinder zu Hause zu betreuen, während die Rückkehr von Frauen in die Erwerbsarbeit den Anstieg der Frauenerwerbsarbeit in den Ländern des „starken“ Ernährer-Modells erklärt. Mutter und erwerbstätig zu sein widersprechen sich also in Frankreich ebensowenig wie in den skandinavischen Ländern. Jeweils unterstützen öffentliche Einrichtungen die Müttererwerbstätigkeit. Dieses Bild verdüstert sich allerdings wieder: Obwohl französische Frauen nur selten für ihre Familie ihre Erwerbs-arbeit reduzieren oder unterbrechen, also durchaus wie Männer arbeiten, fehlen sie doch, wie die Frauen in den Ländern des „starken“ Ernährer-Modells, und von einigen spektakulären Ausnahmen abgesehen, weitgehend in den Spitzenpositionen von Politik und Wirtschaft Solche Fakten legen nahe, daß Frankreich zwar die arbeitende Familie -und in ihr die erwerbstätige Mutter -, nicht aber das Recht des Individuums Frau auf eigenständige Existenzsicherung und auf die von ihr bevorzugte Lebensform fördert. Der französische Staat anerkennt vielmehr mit der arbeitenden Familie den Wert der Mutterschaft und die Nöte erwerbstätiger Mütter -gleich welcher Familien-form.
Zwar ist es im nordischen „schwachen“ Ernährer-Modell leichter, Erwerbsarbeit und Familie unter einen Hut zu bringen; aber es sind Frauen, die durch ihre Erwerbsarbeit anderen Frauen helfen, erwerbstätig zu sein. Der skandinavische Arbeitsmarkt integriert Frauen durch Segregation: Sie beherrschen die haushaltsbezogene Dienstleistungsproduktion, vor allem im öffentlichen Sektor. Dafür haben Frauen sehr viel weniger Möglichkeiten als in anderen westlichen Ländern, zu Hause bei ihrer Familie zu bleiben. Außer in Finnland arbeiten sehr viele Mütter „lange Teilzeit“, im Schnitt sechs Stunden. Dadurch tragen sie weniger zum Haushaltseinkommen bei, bleiben vielmehr doch -auch wegen der recht hohen individuellen Steuerbelastung -auf ein zweites Einkommen angewiesen. Das Geschlechterverhältnis wurde auf diese Weise kaum berührt, sondern auf skandinavische Weise modernisiert.
VI. Jenseits vom Erwerbs-und Ehezwang?
Wie steht es nun mit den Ausstiegsoptionen in jedem Modell? Wie gut individualisiert das „schwache“ Ernährer-Modell? Was ist, wenn der Ernährer ganz entfällt? Wie frei ist die alleinerziehende Frau? Im letzten Abschnitt wird versucht, eine vorläufige Antwort zu geben.
Das skandinavische und das französische Modell fördern die erwerbstätige Mutter durch öffentliche Betreuungsangebote. Da Trennung und Scheidung dann erwerbstätige Frauen trifft, ist das Risiko, durch dieses Ereignis vom Wohlfahrtsstaat abhängig zu werden, geringer als in Ländern mit „starkem“ Ernährer-Modell: Von staatlichen Leistungen abhängige alleinerziehende Mütter sind vor allem in den USA, aber auch noch in der Bundesrepublik, hier vor allem geschiedene Mütter, sehr viel ärmer als z. B. schwedische Alleinerziehende Das höhere Armutsrisiko diese* Frauen in der BRD, vor allem aber in den USA, zeigt im Umkehrschluß, wie sehr beide Gesellschaften von Müttern erwarten, ihren Lebensunterhalt entweder über den Ehemann und Kindsvater oder über eigene Erwerbsanstrengungen zu sichern. Die Mehrheit der Alleinerziehenden in diesen Ländern ist daher auch trotz vielfach fehlender öffentlicher Kinderbetreuung erwerbstätig.
Selbst in Ländern, die beides bieten -eine aktive Politik der Integration von Müttern in die Erwerbsarbeit, begleitet von großzügigen Entlastungen der Familien von Betreuungsaufgaben bleiben Frauen immer noch zu einem beachtlichen Teil auf ein zweites Einkommen angewiesen.
In Tabelle 2 wird das Ausmaß der ökonomischen Abhängigkeit der Ehefrau in verschiedenen Ländern betrachtet „Abhängigkeit“ wird dabei definiert als Differenz zwischen dem männlichen und weiblichen Beitrag zum Haushaltseinkommen Spalte 1 der Tabelle bestätigt den sehr viel geringeren Beitrag von Frauen im „starken“ Ernährer-Modell zum Haushaltseinkommen, vor allem im Falle der Schweizerinnen, Holländerinnen und der westdeutschen Frauen. Er kommt vor allem durch die vergleichsweise geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen in diesen Ländern zustande. Von allen untersuchten Ländern sind schwedische Frauen am wenigstens, jedoch immer noch in einem recht beachtlichen Ausmaß -selbst als Erwerbstätige -auf ein zweites Einkommen angewiesen. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verringert die definierte Abhängigkeit vor allem für holländische, deutsche und australische Frauen erheblich, nicht so sehr jedoch für die schwedischen. Daß, wie die Spalte 2 nahelegt, dennoch sehr viel weniger Frauen in der Schweiz, Holland oder in Westdeutschland zu gleichen Teilen zum Haushaltseinkommen beitragen, deutet auf geringere Erwerbsanreize hin. Hier kommen soziokulturelle Besonderheiten der jeweiligen Geschlechterordnungen ins Spiel: In diesen Ländern wird von den Frauen ein höherer Beitrag in Form unentgeltlicher Sorgearbeit erwartet; vom Mann, daß er sein Einkommen fair mit der Familie teilt. Tatsächlich sinkt das individuelle Einkommen eines westdeutschen Mannes erheblich durch Umverteilung an Frau und Kinder Ein ausreichend hohes männliches Einkommen und von seiner Erwerbsarbeit abgeleitete Sicherungen sind unabhängig von den Erwerbschancen von Frauen ein negativer Anreiz für Frauen, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Während in keinem der untersuchten Länder die Mehrheit der Frauen davon befreit wird, ihr (kleines) Einkommen durch ein zweites, nämlich das des Partners zu vergrößern, stehen in einigen Ländern mit „starkem“ Ernährer-Modell Frauen nicht unter Erwerbszwang.
Die größere Freiheit der skandinavischen Frauen, erwerbstätig und Mutter zu sein, gründet vor allem auf der Solidarität des Steuerzahlers und -wenn auch zu einem geringeren Teil -auf der des Partners. Deutsche oder holländische Frauen müssen und können zunächst auf die Bereitschaft ihrer Partner bauen, ihr Einkommen zu teilen; deutsche Frauen sind ferner abhängig von der Solidarität derjenigen, die für sie Beiträge zur Kranken-und Rentenversicherung zahlen. Derartige Formen der Solidarität sind auf ihre Art voraussetzungsvoll und zerbrechlich.
Solche Begrenzungen legen eine differenzierte Verwendung der Begriffe „Unabhängigkeit“ oder „Individualisierung“ nahe. Der Wohlfahrtsstaats-vergleich aus der Sicht weiblicher Lebenschancen sensibilisiert nicht nur dafür, gutgläubig aufgegriffene Konzepte kritisch zu überdenken: Wer ist schon für wie lange, zu welchem Preis und auf wessen Kosten unabhängig in einer wettbewerbsorientierten Marktökonomie? Der Vergleich zeigt auch die Grenzen dessen auf, was Frauen und Männer bestenfalls von ihrem Wohlfahrtsstaat erwarten können.
Ilona Ostner, Dr. phil., geb. 1947; Studium der Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München; Professorin für vergleichende Sozialpolitik an der Georg-August-Universität in Göttingen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Frauenarbeit in Familie und Beruf, Umbau des Sozialstaats, Sozialpolitik als Geschlechterpolitik im internationalen Vergleich.
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