Die Europäische Union und die mittelosteuropäischen Länder: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Optionen
Paul J. J. Welfens
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Zusammenfassung
Nach Jahrzehnten schwacher Außenhandelsbeziehungen mit Westeuropa -gebremst durch den Gegensatz von Markt-und Zentralverwaltungswirtschaften -haben sich die Voraussetzungen für einen fruchtbaren Handelsaustausch und intensivere Kapitalverkehrsbeziehungen erheblich verbessert: Der Systemwandel in Mittelosteuropa hat zu einer Neuordnung und Neuorientierung in den Außenwirtschaftsbeziehungen geführt. Die Europäische Gemeinschaft, die bereits in den späten achtziger Jahren ihre Handelsbeziehungen mit dem RGW neu strukturierte, hat zu Beginn der neunziger Jahre Europa-Abkommen mit den kleineren Ex-RGW-Staaten und Freihandelsabkommen mit den baltischen Staaten geschlossen. Ungarn, Polen und Rumänien (Bulgarien bereitet es vor) haben 1994 bereits ein Beitrittsgesuch bei der EU eingereicht, die seit Anfang 1995 durch ehemalige EFTA-Mitglieder neue Nettobeitragszahler hat. Angesichts der nunmehr offenen Niedriglohnländer in Mittelosteuropa steht die EU vor neuen strukturellen und wirtschaftspolitischen Herausforderungen. Zugleich sehen sich die Transformationsländer nicht nur mit ihren internen Anpassungsproblemen des Systemwandels konfrontiert, sondern auch mit protektionistischen Maßnahmen der EU, die bei wachsender Mitgliederzahl und größerer Heterogenität ihrer Mitgliedsländer politisch -auch wirtschaftspolitisch -schwerer zu führen ist.
I. Europäische Union und gesamteuropäische Marktwirtschaft
Nachdem Europa fast eine Generation lang durch ideologische Gegensätze und Machtrivalitäten geprägt war, bietet sich in den neunziger Jahren erstmals seit 1914 wieder die Chance, eine prosperierende gesamteuropäische Marktwirtschaft zu errichten. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg bestehen auf der politischen Ebene durch die Existenz internationaler Organisationen (IMF, GATT/WTO, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) erprobte Institutionen für multilaterale, an Regeln ausgerichtete Problemlösungen einerseits und andererseits ordnungspolitische Vorgaben für die Transformationsländer. Zudem ist mit der Europäischen Union in Westeuropa eine in Jahrzehnten gewachsene Gemeinschaft mit supranationalen politischen Entscheidungsstrukturen und einer als wirtschaftlicher Liberalisierungsclub ausgeformten Gruppe von marktwirtschaftlichen Industrieländern entstanden.
In der ersten Hälfte der neunziger Jahre, in denen die EU als Integrationsprojekte das Binnenmarkt-programm, die Wirtschafts-und Währungsunion sowie die EFTA-Erweiterungsrunde auf der Agenda hatte hat sich unversehens durch den Kollaps von RGW und UdSSR die Option einer Integration Mittelosteuropas mit der EU ergeben. Es stellt sich die Frage, welche Entwicklungen für das West-Ost-Verhältnis in Europa von besonderer Bedeutung sind, welche neuen wirtschaftspolitischen Anpassungsprobleme sich aus der Öffnung Mittelosteuropas und welche politischen Optionen für eine Neugestaltung der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen sich ergeben. Dabei sind die Veränderungen der EU-Ostgrenze nur ein Teilaspekt der durch den Niedergang des Sozialismus bzw.des Modells der Zentralverwaltungswirtschaft beding-1 ten Umfeld-Krise der EU. Die Südgrenze zu den afrikanischen Maghreb-Staaten, die in Teilen auch Verfechter dieses obsoleten Modells waren, ist gleichfalls stabilisierungsbedürftig, da auch hier 'wachsende Einkommensrückstände gegenüber Westeuropa, steigender Migrationsdruck und politische Radikalisierung drohen.
Für ein stabiles Gesamteuropa gibt es vier Voraussetzungen: In der EU müßte einerseits der wirtschaftliche Problemüberhang der siebziger und achtziger Jahre -vor allem die hohen Arbeitslosenquoten -beseitigt werden, andererseits muß nach der EFTA-Erweiterungsrunde ein neues institutionelles und politisches Gleichgewicht in der EU gefunden werden. Mit Österreich, Finnland und Schweden wurde die EU um Länder erweitert, die historisch und aktuell erhebliche Verbindungen nach Mitteleuropa aufzuweisen haben. In den kleineren Ex-RGW-Ländem müßten die transformationspolitischen Anpassungsprobleme bewältigt und ein dauerhaftes hohes Wirtschaftswachstum zur Befriedigung des steigenden Anspruchsniveaus der Bevölkerung erreicht werden. Schließlich müßten externe Schocks und Störpotentiale eingegrenzt und kontrollierbar bleiben, wobei die Probleme in den Nachfolgestaaten der UdSSR sowie Jugoslawiens die wichtigsten potentiellen Destabilisierungsherde sind. 1. Integrationsdynamik in der EU und Systemtransformation in Mittelosteuropa Mit der Schaffung des EU-Binnenmarktes 1993 ergab sich in der EU ein verschärfter Konkurrenzdruck, und* zwar nicht nur im Industriebereich, sondern erstmals -dank Liberalisierung der Dienstleistungen -auch im Dienstleistungs-bzw. Finanzsektor. Der Druck zur Erwirtschaftung einer marktgerechten Kapitalverzinsung nimmt dadurch zu. Die Liberalisierung des Banken-und Versicherungssektors bedeutet in Verbindung mit der am 1. Januar 1994 begonnenen zweiten Stufe der Währungsunion (Gründung des Europäischen Währungsinstituts, Vorlage von Konvergenzprogrammen im Blick auf die Defizit-Begrenzungskriterien etc.), daß sich in den EU-Ländern der wirt schaftspolitische Autonomiegrad vermindert, so daß traditionelle Mittel der Geld-und Fiskalpolitik nur noch eingeschränkt eingesetzt werden können
Für die mittelosteuropäischen Länder, die bei wachsenden Export-und Importquoten verstärkt vom EU-Konjunktirrzyklus abhängig werden, bedeutet dies besondere Risiken im marktwirtschaftlichen Transformations-und Öffnungsprozeß. Denn anders als in den EU-Wohlfahrtsstaaten sind in den postsozialistischen Ländern die sozialen Sicherungssysteme wenig ausgebaut, und zudem ist das Pro-Kopf-Einkommen vergleichsweise niedrig; die Visegräd-Länder erreichen etwa Pro-Kopf-Einkommen wie Portugal, Irland und Griechenland. Für das Jahr 2010 erwartet die EU, daß die Spitzenreiter Slowenien und Tschechische Republik 80 bzw. 75 Prozent des EU-Durchschnittseinkommens erreichen, Rumänien und Bulgarien allerdings nur 29 bzw. 36 Prozent (Griechenland: 51 Prozent).
Die mittelosteuropäischen Länder sehen sich neben den eigentlichen transformationsseitigen Anpassungsproblemen also mit marktwirtschaftlichen Konjunkturproblemen konfrontiert, wozu noch die Erfordernisse des strukturellen Wandels treten. Dabei spielt in den Ex-RGW-Ländern (ohne UdSSR) die Landwirtschaft -in der EU ein kostspieliger Subventionsgänger -noch eine relativ große Rolle: Etwa zehn Millionen Menschen (ein Viertel der Erwerbsbevölkerung) ist dort in der Landwirtschaft beschäftigt, während die EU-Anteilswerte bei Beschäftigung und Produktion nur 6 bzw. 2, 5 Prozent ausmachen. Nachdem die kleineren RGW-Länder über Jahrzehnte durch das Wirtschaftssystem und die Vorherrschaft der UdSSR wie durch die Abschottung gegenüber den kapitalistischen Weltmärkten geprägte Spezialisierungsmuster entwickelt haben, ist mit der marktwirtschaftlichen Transformation und der Öffnung zu den OECD-Ländern sowie mit der weitgehenden Abschaffung der CoCom-Liste eine Entwertung vieler Produktionsgüterschwerpunkte, Produktionsstandorte und -verfahren zu erwarten. In dem Maß, in dem sich in Mittelosteuropa wettbewerbliche Anpassungsprozesse entwickeln, wird es zu neuen Spezialisierungsmustern entsprechend den komparativen Vorteilen der Ex-RGW-Länder kommen.
Struktureller Anpassungsdruck entsteht im Zuge der durch den Binnenmarkt verschärften Markt-und Standortkonkurrenz auch in der EU, wo die Preiswettbewerbsfähigkeit bei standardisierten Produkten eine viel größere Rolle als bisher spielen wird. In der EU besteht daher eine Tendenz, bei Standortverlagerungen und Verminderung von Fertigungstiefen -u. a. durch Erhöhung der Importe -gerade auch die neuen Investitions-und Handelsmöglichkeiten mit Mittelosteuropa zu prüfen: Der EU-Anpassungsdruck wirkt also indirekt auf die Transformationsländer ein; der interindustrielle Handel zwischen der EU und den Transformationsländern wächst. Bei ähnlichen Produktionsbedingungen und Einkommensniveaus in den EU-Ländern selbst besteht eine Tendenz zu einem weiter zunehmenden wechselseitigen Handel (mit ähnlichen Produkten) in der Gemeinschaft und verstärkter Ausnutzung von Massenproduktionsvorteilen, wodurch ein Markteintritt für Produzenten aus Drittländern erschwert wird. Als Marktzutrittsschranken wirken auch bestehende und neuentwickelte Technikstandards, die z. B. in der Elektroindustrie weitgehend durch multinationale Unternehmen vereinbart werden. Gleichwohl bedeuten die verschärfte Binnenmarktkonkurrenz und längerfristig erhöhtes Wachstum in der EU, daß die mittelosteuropäischen Transformationsländer Chancen zu stark steigenden Westexporten haben. Die EU-Integration wirkt also handelsschaffend für Gesamteuropa.
Infolge der Abschaffung nichttarifärer Handels-hemmnisse bei gleichzeitiger EU-Erweiterung um die EFTA-Länder kommt es zu einer erheblichen Verschärfung des Standortwettbewerbs und infolgedessen zu Arbeitsplatzverlusten und verminderten Steuereinnahmen in negativ vom Struktur-und Standortwandel betroffenen Regionen Westeuropas. Der Standortwettbewerb verschärft sich zudem dadurch, daß die mittelosteuropäischen Transformationsländer nach Jahrzehnten sozialistischer Autarkiepolitik nunmehr eine Transformation zu offenen Marktwirtschaften durchführen: Dank niedriger Löhne und relativ gut ausgebildeter Arbeitskräfte sowie einer liberalisierten Außenhandels-und Direktinvestitionsgesetzgebung sind sie zu Wettbewerbern bei arbeits-und wissensintensiven Produktionen geworden; ähnlich wie Japan im Verhältnis zu Südostasien und die USA zu Lateinamerika hat die EU nunmehr in unmittelbarer Nachbarschaft eine Niedriglohnregion, was bei verschärftem EU-weiten Wettbewerb zu beschleunigten Standortverlagerungen nach Mittel-osteuropa führen kann. Zwar hatten im Zeitraum 1990-1993 nur Ungarn und die Tschechoslowakei bzw. die Tschechische Republik relativ hohe Pro-Kopf-Direktinvestitionszuflüsse zu verzeichnen, aber Polen, die Slowakische Republik und andere Länder könnten bei Erhöhung der politischen Stabilität rasch aufholen.
2. Neue Arbeitsteilung in Europa
Eine neue effiziente Arbeitsteilung in Europa könnte unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen bei Freihandel und freiem Kapitalverkehr entstehen, so daß Prosperität und Stabilität in ganz Europa zustande kämen; letzteres wird aber kaum möglich sein, wenn es nicht gelingt, das große West-Ost-Wohlstandsgefälle in Europa nachhaltig zu vermindern. An der Wohlstandsgrenze zwischen Deutschland und Polen sind die Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen ähnlich groß wie zwischen Kalifornien und Mexiko, zugleich aber sind die Voraussetzungen für eine Minderung des ökonomischen Gefälles schlechter als in Nordamerika. Historisch-politische Belastungen im Verhältnis zwischen Deutschland und Osteuropa bzw.der Ex-UdSSR sowie ein wachsender ökonomischer Nationalismus in West-und in Osteuropa lassen zum Beispiel eine (West-) Migration osteuropäischer Arbeitskräfte sowie deutsche und andere EU-Direktinvestitionen im Ex-RGW-Raum als komplexere Kanäle für ökonomische Angleichungsprozesse erscheinen als entsprechende Vorgänge in Nordamerika. Um so wichtiger wäre es, die in der EG bewährten Angleichungsmechanismen zum Zuge kommen zu lassen: freien Außenhandel und freien Kapitalverkehr.
Die Ex-RGW-Staaten lagen 1990/91 im Pro-Kopf-Einkommen hinter Griechenland, und ihre Pro-Kopf-Exporte betrugen kaum ein Achtel des EFTA-Durchschnittswertes. Die hierin zum Ausdruck kommenden verpaßten Entwicklungschancen sozialistischer Wirtschaften bedeuten aber keineswegs, daß Osteuropa und die Ex-UdSSR nicht ein enormes wirtschaftliches und technologisches Potential hätten und unter bestimmten Bedingungen an verschüttete historische Anfangserfolge als Marktwirtschaften anknüpfen könnten. Immerhin lag Finnland im Pro-Kopf-Einkommen 1913 nur 60 Prozent vor Rußland, während es 1991 mit 23980 US-Dollar ein gut fünffach so hohes Pro-Kopf-Einkommen wie Rußland mit 3000 -4000 US-Dollar erreichte (auf Basis von Kaufkraftparitäten sind die Unterschiede allerdings etwas geringer). Hätte Finnland 1991 nur einen Vorsprung von 60 Prozent gegenüber Rußland verzeichnet, so hätte dies für Rußland bedeutet, daß man dort fast das Pro-Kopf-Einkommen Großbritanniens erreichte. Für die Ex-ÖSFR, die in der Zwischenkriegszeit eines der ökonomisch und technologisch führenden europäischen Länder war, könnte ein Wiederanknüpfen an historisch zeitweilig verbaute Entwicklungslinien einer Marktwirtschaft noch weit größere absolute wie relative Pro-Kopf-Einkommensgewinne auf lange Sicht bedeuten. Die Situation in den Ex-RGW-Ländern ist insgesamt vom historischen Hintergrund -wie der aktuellen Entwicklung -her allerdings durchaus recht differenziert.
Für Westeuropa würden sich insgesamt bei einem erfolgreichen marktwirtschaftlichen Entwicklungsprozeß im Ex-RGW-Raum mit seinen rund 350 Millionen Einwohnern Chancen zur Erschließung preiswerter Bezugsquellen für Rohstoffe, Vorprodukte und Industriewaren auf der einen Seite, auf der anderen Seite neue Absatzmärkte und Investitionsstandorte anbieten. Unklar bleibt zunächst, wie das ökonomische Entwicklungspotential des Ex-RGW-Raumes erschlossen werden kann und inwieweit insbesondere die westeuropäischen Staaten dazu beitragen und zugleich davon profitieren können. Sicher abzusehen ist allerdings ohne weiteres, daß erfolgreiche ökonomische Aufholprozesse in Osteuropa und der Ex-UdSSR eine Öffnung zur Weltwirtschaft hin erfordern werden. Das heißt, daß Westeuropa sich neben neuen Märkten vor allem mit neuen Konkurrenten konfrontiert sehen wird. Dies ist solange wenig problematisch, wie es für die von verschärfter Importkonkurrenz negativ in der EU betroffenen Industrien globale Ausweichmöglichkeiten auf der Absatz-wie der Produktionsseite sowie alternative Arbeitsplatzangebote gibt. Von daher sind etwa die Entwicklungsaussichten der Chemieindustrie und des Fahrzeugbaus im Gegensatz zur Stahl-und Textilindustrie eher unproblematisch.
II. Entwicklungen im Verhältnis Mittelosteuropa -Europäische Union*
Abbildung 4
Quelle: Institut der Deutschen Wirtschaft, IWD Mitteilungen, Nr. 32, 12. August 1993, S. 2. Tabelle 2: Arbeitskosten in ausgewählten Ländern (BRD [West] 1992: 100)
Quelle: Institut der Deutschen Wirtschaft, IWD Mitteilungen, Nr. 32, 12. August 1993, S. 2. Tabelle 2: Arbeitskosten in ausgewählten Ländern (BRD [West] 1992: 100)
Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und den Ländern des ehemaligen Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) haben sich seit 1990 im Zuge der mittelosteuropäischen System-transformation dramatisch gewandelt. Die Ex-RGW-Länder haben eine umfassende außenwirtschaftliche Öffnung vorgenommen, wobei sich die regionale Orientierung der kleineren Länder stark zugunsten der EU und zu Lasten der EX-UdSSR bzw.des Intraregionalhandels verändert hat. Ansätze zu einer verstärkten Wirtschaftsintegration mit der EU sind erkennbar, die eine Zollunion (von Handelshemmnissen freier Binnenmarkt mit gemeinsamem Außenzoll der Länder) und darüber hinaus eine Wirtschaftsunion (Politikkoordinierung) darstellt: Die Schranken für den Handels-und Kapitalverkehr zwischen West-und Osteuropa werden schrittweise abgebaut.
Aus außenhandelstheoretischer Sicht kommt es zwischen sich stärker integrierenden Ländern zu einem wohlfahrtsfördernden Handelswachstum (Handelsschaffungseffekt). Dem steht ein negativer Handelsablenkungseffekt gegenüber, der für Drittländer eine Handelsverminderung mit den „Alt-Ländern“ des Integrationsraums bedeutet. Der Gesamtnutzeneffekt von Handelsschaffungsund Handelsablenkungseffekt ist um so eher positiv, je größer das Wirtschaftswachstum im erweiterten Integrationsraum ist. Allerdings bestehen im Ex-RGW-Raum erhöhte politische Konfliktpotentiale, weil erfahrungsgemäß eine sinkende Handelsintensität mit wachsender außen-politischer Konfliktbereitschaft der betroffenen Länder einhergeht. Außenhandelsbeziehungen benachbarter Länder sind im allgemeinen besonders intensiv, schon wegen der relativ geringen bilateralen Transportkosten Infolge der rückläufigen Industrieproduktion und des Fehlens der für den Außenhandel unabdingbaren Reputation und Stabilität inländischer Unternehmen und Banken in Mittelosteuropa ist jedoch der Außenhandel im Ex-RGW-Raum in einigen Sektoren zu gering.
Es stellt sich die Frage, inwieweit im Zuge des ökonomischen Transformationsprozesses in Mittelosteuropa Anpassungsimpulse entstehen, die das dortige regionale Handels-und Direktinvestitionsdefizit vermindern, oder ob im Gegenteil wirtschaftliche Mechanismen und politische Instabilitäten diesbezüglich einen weiteren Niedergang auslösen. Mit Blick auf die EU stellt sich das Problem, ob diese direkt oder indirekt -etwa über eine Einflußnahme via internationale Organisationen (z. B. eine um Mittelosteuropa erweiterte „neue“ OECD) -im Ex-RGW-Raum politisch und ökonomisch auf mehr Stabilität und letztlich auf ein höheres Wachstum und steigenden intra- und extraregionalen Handel wird hinwirken können. Nur bei internen oder externen Stabilisierungsimpulsen kann eine auch für das Zusammenwachsen von West-und Osteuropa unerläßliche Prosperität in den Transformationsländern entstehen. 1. Entwicklungstendenzen und Probleme in Mittelosteuropa Der RGW und die UdSSR sind 1990/91 zerfallen, und eine Reihe von neuen Staatengründungen im Ex-RGW-Raum sowie im ehemaligen Jugoslawien erschweren den ökonomischen Transformationsprozeß Die Wirtschaftsprobleme der Transformationsländer in Mittelosteuropa zeigen sich vor allem in drei Bereichen: 1. Es gab massive Produktionseinbrüche und stark ansteigende Arbeitslosenquoten -mit Ausnahme der Tschechischen Republik. Nach starken Rückgängen beim Bruttoinlandsprodukt 1990-1992 zeigten sich 1993/94 allerdings erstmals positive Wachstumsraten in Transformationsländern: insbesondere in der Tschechischen Republik und in Polen, das immerhin ein reales Wachstum von fünf Prozent erreichte Die langfristigen Wachstums-chancen sind -politische Stabilität vorausgesetzt -höher als in Westeuropa, weil Mittelosteuropa weitgehend nicht patentgeschützte Technologie-vorsprünge der OECD-Länder nunmehr aufholen könnte; die alte CoCom-Liste existiert nicht länger, die für den Technologietransfer wichtigen Direktinvestoren werden aktiv umworben, und die verbesserten Anreize für eine Weltmarktorientierung werden neue Wachstumschancen erschließen und mobilisieren. Mit der Modernisierung des Kapitalbestandes in Mittelosteuropa dürften aber in der ersten Transformationsphase selbst bei mittleren Wachstumsraten kaum Beschäftigungsgewinne zu erzielen sein, da der Import westlicher Technologien und Anlagen einen Produktivitätsschub in der Industrie bringt. Allerdings entstehen im expandierenden Dienstleistungssektor neue Arbeitsplätze. 2. Produktionsrückgänge und Unternehmenskonkurse -unvermeidliches Nebenergebnis der Priva tisierungsanstrengungen -führen zu massiven Beschäftigungsproblemen, die sich in zweistelligen Arbeitslosenquoten niederschlagen; unter ökonomischen Gesichtspunkten ist die Schließung unrentabler Unternehmen häufig sinnvoll und die von Unternehmen mit früher negativer Wertschöpfung gar ein volkswirtschaftlicher Gewinn. Die Schließung von Betrieben, die Entschlackung der Staatsverwaltung und schließlich der Rüstungsabbau konfrontieren die jungen Demokratien des Ex-RGW-Raumes jedoch mit einem Arbeitslosenproblem, dem sie auf Dauer politisch kaum gewachsen sind. Die im Vergleich zu Westeuropa hohen Erwerbsquoten -insbesondere bei Frauen -wären zu Beginn der neunziger Jahre noch stärker gefallen, wenn nicht durch hohe Inflationsraten, ja Hyperinflation in einigen Transformationsländern, die Reallöhne deutlich reduziert worden wären. 3. Effizienzsichernde Privatisierungen, Demonopolisierungen und Konkurse sind bislang in den Ex-RGW-Ländern nur langsam und partiell durchsetzbar gewesen; dies steht im Gegensatz zu den neuen Bundesländern, wo die Einbindung in die westdeutsche bzw. EG-Wettbewerbsordnung im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1990 erfolgte. Aber auch in Ostdeutschland ist nach jahrzehntelanger Trennung von der Weltwirtschaft ein ökonomisch-technologischer Aufholprozeß -trotz hoher westdeutscher Transfers -erst allmählich zu realisieren; jährliche Wachstumsraten von sieben Prozent, wie sie für eine Verdoppelung des Sozialproduktes in zehn Jahren erforderlich wären, sind von Ex-RGW-Ländern allenfalls längerfristig zu erreichen
Die traditionellen Spezialisierungsmuster der kleineren Ex-RGW-Länder, die dank preiswerter UdSSR-Rohstoffexporte und infolge fehlenden Drucks zur Erwirtschaftung einer positiven Kapitalrendite stark auf rohstoff-und kapitalintensive Produktion ausgerichtet waren, werden auf Dauer nicht haltbar sein Angesichts der besonders starken Entwertung des Realkapitalbestandes in den ehemals sozialistischen Ländern und der sehr geringen Reallöhne ist offenkundig, daß die Transformationsländer kurz-bis mittelfristig komparative Vorteile bei arbeitsintensiven Gütern haben werden, wozu angesichts ebenfalls niedriger Energiekosten -z. T. bedingt durch geringe Umweltschutzauflagen -auch energieintensive Produktgruppen treten können. Hier sind aus westeuropäischer Sicht die größten Produktionseinbußen zu befürchten; der internationale Preisverfall bei standardisierten Gütern könnte mittelfristig in einigen Industrien -nämlich im Zuge des osteuropäischen Kapazitätsausbaus und des Modernisierungsprozesses -eher noch stärker ausfallen als kurzfristig. Langfristig ist nicht ausgeschlossen, daß durch gezielte Forschungs-und Entwicklungs (F& E) -Anstrengungen sowie staatliche Interventionen auch stärker kapital-und wissensintensive Industrien komparative Vorteile für die Transformationsländer darstellen. Im Fall Un-garns, das erhebliche Direktinvestitionen und damit neue Technologien nach der Transformation anziehen konnte, ist diese Entwicklung im Bereich forschungsintensiver Güter verstärkt in den neunziger Jahren zu erwarten. Im übrigen kann erwartet werden, daß die kleineren Ex-RGW-Länder dank guter Humankapitalausstattung und hoher Arbeitsverfügbarkeit eine verstärkte Spezialisierung bei mobilen forschungsintensiven Industrien vornehmen werden, aber auch bei Gütergruppen, die arbeitsintensiv sind.
Wenn Länder wie Polen, die Ukraine oder Ruß-land bestimmte Exporte stark expandieren lassen, so ist mit Veränderungen internationaler relativer Preise (Terms-of-trade-Effekten) zu rechnen, die für Anbieter ähnlicher Güter parallel Preis-, Umsatz-und Gewinneinbußen bedeuten. Diese Entwicklung durch westeuropäischen Protektionismus und Erhaltungssubventionen zu behindern, würde bedeuten, daß Westeuropa letztlich den Transformationsprozeß verzögert und eigene Wachstums-chancen -nämlich steigende Kapitalgüterexporte für expandierende Industrien -behindert.
Für den Entwicklungsprozeß der Transformationsländer wesentlich wäre es, den Offenheitsgrad der Volkswirtschaften trotz der sozialistischen Erblasten rasch zu steigern Darunter ist aus theoretischer Sicht der Anteil der handelsfähigen, der Weltmarktkonkurrenz ausgesetzten Güter am Sozialprodukt zu verstehen; in pragmatischer Sicht kann auch auf die Exportquote (Exporte vonGütern und Dienstleistungen in vH des Bruttoinlandsproduktes) bzw. die Importquote abgestellt werden, die im Vergleich zu westeuropäischen Ländern vergleichbarer Größe in der Regel unter-dimensioniert erscheinen. 1991 betrug die Export-quote Belgiens, der Niederlande, Österreichs und Spaniens 73, 54, 41 bzw. 17 Prozent, während Bulgarien, Ungarn, die Ex-ÖSFR ünd Polen 63, 42, 34 und 20 Prozent erreichten. Die Export-und Importquoten der Transformationsländer sind seit 1992 z. T. erheblich gestiegen. Wichtiger noch ist, daß es zu einer regionalen Neuorientierung zugunsten Westeuropas gekommen ist.
Da zumindest mittelfristig die komparativen Vorteile der Transformationsländer gerade bei den („sensiblen“) Produkten liegen, die relativ arbeits-, energie-und umweltintensiv sind, ist seitens der OECD-Länder und hierbei insbesondere bei Produzenten in der EU zu befürchten, daß die 1990/91 noch schmale Exportbasis der Transformationsländer rasch und dauerhaft zunehmen wird; die EU-Importe werden weiterhin im Wachstumsprozeß zunehmen. Zudem haben OECD-Umfragen ergeben, daß das Exportpotential der Transformationsländer in vielen Fällen nicht nur wegen EU-seitiger Importbarrieren unterausgelastet und langsam wachsend ist, sondern weil in Mittelosteuropa noch interne Exportbarrieren bedeutsam sind -Es bestehen erst längerfristig behebbare Infrastrukturengpässe in Mittelosteuropa, wo über Jahrzehnte eine starke RGW-Orientierung vorherrschte; diese Engpässe behindern das Wachstum der Exporte entlang der expandierenden West-Ost-Nachfrageachse in Europa. -Die durch den Transformationsprozeß bedingten Unsicherheiten und die durch mangelnde langfristige Stabilität der Wirtschaftspolitik (z. B. in der Geld-und Wechselkurspolitik) verursachten Entscheidungsrisiken beeinträchtigen den Außenhandel, aber auch den Kapitalverkehr und die Kapitalbildung insgesamt. -Unterentwickelte Finanzmarktinstitutionen beschränken die Dynamik der Exporte, für die stabile Währungsbedingungen sowie verläßliche und leistungsfähige Finanzdienstleister eine notwendige Vorbedingung sind. 2. EU-Perspektiven der Transformation Die EU hat mit den kleineren Ex-RGW-Ländern in den Europa-Verträgen einen asymmetrischen Liberalisierungspakt geschlossen, der stufenweise zu Freihandel und freien Direktinvestitionen in Gesamteuropa führen wird. Nichttarifäre Handels-hemmnisse bestehen seitens der EU allerdings in den sogenannten sensiblen Bereichen Landwirtschaft, Eisen und Stahl, Chemie, Textil und Bekleidung, wobei die EU-Länder bei der Ex-ÖSFR auf Selbstbeschränkungsabkommen (SBA) bei Eisen und Stahl zum Schutz der EU-Industrie gedrängt haben. Die sensiblen Wirtschaftsbereiche sind dabei für die EU und den Ex-RGW von unterschiedlicher Bedeutung: Nur zwischen ein und vier Prozent der OECD-Importe stammten 1992 bei sensiblen Produkten aus den Ex-RGW-Ländern, während für einige Ex-RGW-Länder die Anteile sensibler Produkte am Gesamtexport bei fast 50 Prozent lagen. Bei den Exporten in die EU lagen 1992/93 die Anteilswerte der sensiblen Güter im Bereich von 40 Prozent (ÖSFR) und 70 Prozent (Bulgarien), wie Tabelle 1 ausweist.
Wenn die EU-Länder die Exporte der Transformationsländer beschränken, so reduziert dies die Chancen Osteuropas auf ein exportinduziertes Wirtschaftswachstum. Mehr noch -die EU beschränkt dann indirekt ihre eigenen Absatzmöglichkeiten bei Kapitalgütern, die von den Transformationsländern nur bei hinreichenden Devisen-erlösen mit hohen Wachstumsraten aus der EU importiert werden können.
Die mit den kleineren Ex-RGW-Ländern seitens der EG 1992/93 geschlossenen „Europa-Abkommen“ liberalisieren zwar den Warenhandel zwischen West-und Osteuropa, doch unterliegt fast die Hälfte der Exporte der Transformationsländer mengenmäßigen Beschränkungen. Dabei ist zu bedenken, daß die Westexporte Osteuropas von einer niedrigen Ausgangsbasis expandieren, so daß die 1991-1994 verzeichneten Exportzuwachsraten von rund 20 Prozent auf seiten der kleinen Ex-RGW-Länder nicht als so gravierend erscheinen; gerade 3, 8 Prozent der EG-Importe (ohne Intra-EG-Handel gerechnet) entfielen 1992/93 auf Mittelosteuropa, nochmals etwa 3, 5 Prozent für die Ex-UdSSR kamen hinzu. Dieser Anteilswert ist jeweils geringer als die EG-Importe aus der Schweiz. Deutschland repräsentierte dabei fast 60 Prozent der EG-Importe.
Aus EU-Sicht erklärt sich der Charakter der sensiblen Industrien im wesentlichen daraus, daß diese Sektoren seit Jahrzehnten vom Wettbewerbsdruck der Weltmärkte teilweise abgeschirmt waren. Bei Chemieprodukten und in der Stahlindustrie stellt sich die Problematik allerdings anders dar: Bei Standardchemikalien sind die in Mittelosteuropa vorhandenen Produktionskapazitäten und Expansionsoptionen relativ groß, so daß die Öffnung der EU nach Mittelosteuropa und die regionale Neuorientierung dieser Länder im Außenhandel hohe Marktanteilsverluste und massive Gewinneinbußen befürchten läßt, zumal wenn ausländische Direktinvestoren Produktionskapazitäten und den Modernisierungsgrad erhöhen. Furcht vor sinkenden Preisen bzw. Gewinnmargen ist insbesondere ein Grund für den Widerstand der EU-Stahlindustrie gegen eine völlige Importliberalisierung. In die Stahlindustrie sind in den beiden Jahrzehnten nach 1970 rund 120 Mrd. DM an Subventionen geflossen. Die Ex-RGW-Länder Polen und ÜSFR (einzige Visegräd-Länder mit verfügbaren Daten) waren 1992 im Vergleich zum Exportspezialisierungsgrad von Taiwan und Korea noch keineswegs deutlich auf bestimmte Exportproduktgruppen spezialisiert. Dies deutet darauf hin, daß mögliche Massenproduktionsvorteile noch wenig genutzt werden und daß der Wettbewerbsdruck bei begrenzter Privatisierung noch nicht lange genug gewirkt hat, um zur Herausbildung deutlicher Exportschwerpunkte beizutragen. Für EU-Unternehmen, die handelbare standardisierte Güter hersteilen, dürfte von daher längerfristig aus Mittelosteuropa ein dreifacher Anpassungsdruck über die Importkonkurrenz entstehen: Erhöhte Produktionspotentiale, steigende Spezialisierungsgrade und technologische Aufholprozesse werden den Strukturwandlungsdruck in der Industrie erhöhen. Dies gilt auch deshalb, weil im Zuge der Transformation zunächst ein Einbruch bei der Industrieproduktion als Folge des Abschmelzens von unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht rentablen Produktionsbereichen zu erwarten ist, gefolgt von einem einkommensmäßigen Aufholprozeß in den Ex-RGW-Ländern, währenddessen der Anteil des Produzierenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt noch ansteigen kann.
Da in fast allen EU-Ländern hohe Arbeitslosen-quoten und ein hoher Anteil von Langzeitarbeitslosen die Widerstände gegen sektorale Schrumpfungsprozesse verstärken, entstehen durch die außenwirtschaftliche Öffnung in West-und Osteuropa für die EU zumindest temporär erhebliche Probleme. Die Forderungen nach ex-und impliziten Erhaltungssubventionen werden zunehmen. In den EU-Verträgen ist zwar eine Beihilfenaufsicht über nationale Subventionen vorgesehen, es ist aber keineswegs sichergestellt, daß auf der EU-Ebene ähnliche Grundsätze angewendet werden. In dem Maß, wie auf nationaler Ebene die EU-Beihilfenaufsicht sowie die fiskalischen Begrenzungskriterien des Maastrichter Vertrages die Gewährung von Erhaltungssubventionen erschweren, dürfte in Brüssel der Druck auf ein Anwachsen supranationaler Mittel mit ähnlicher Zwecksetzung entstehen. Dies könnte dann besonders kritisch werden, wenn sich durch eine EU-Osterweiterung die ordnungspolitische Balance zugunsten protektionistisch-subventionsfreundlicher Politik-konzepte, ja einer selektiven Industriepolitik, verändern würde.
3. Die Rolle Mittelosteuropas für die EU
Mittelpsteuropa ist für die EU aus wirtschaftlicher Sicht dreifach relevant: Wegen der Notwendigkeit zur Modernisierung des Kapitalbestands sowie der wachsenden Nachfrage nach westlichen Konsumgütern ist die Region ein wachsender Absatzmarkt für EU-Produzenten. Infolge der niedrigen Löhne ist Mittelosteuropa eine für Standortverlagerungen von EU-Unternehmen längerfristig attraktive Region, zumal bei Verbesserung der Ost-West-Infrastrukturverbindungen (insbes. Straßenverkehr, Eisenbahn, Telekom). Schließlich ist die Region als Importquelle von Vor-und Endprodukten zunehmend attraktiv, da sich bei gegenüber der EU deutlich geringeren Preisen die Produktqualität und -diversifikation im Zuge von Privatisierung, Wettbewerbsverschärfung und Kapitalmodernisierung verbessert. Unter scharfem Konkurrenzdruck des EU-Binnenmarkts stehende Unternehmen können durch den Einkauf preiswerter Vorprodukte in Mittelosteuropa ihre Preiswettbewerbsfähigkeit verbessern. Für die EU besteht erstmals die Möglichkeit -ähnlich wie für Japan und die USA seit Jahrzehnten hochwertige Vorprodukte aus einer benachbarten Niedriglohnregion zu importieren. Ob es dieser Region gelingen wird, den asiatischen Tigerländern zu folgen, die ihre Anteile am Weltexport binnen 25 Jahren mehr als vervierfachen konnten, bleibt abzuwarten.
Mittelosteuropa ist langfristig als Investitions-Standort interessant, da die Visegräd-Länder plus Bulgarien und Rumänien bei guter Humankapitalausstattung über den Vorteil sehr niedriger Lohn-kosten und z. T. niedriger Steuersätze verfügen. Die Arbeitskosten in Ungarn als dem Land mit den höchsten Löhnen im Ex-RGW-Raum lagen 1992 nicht einmal bei der Hälfte des Durchschnitts-wertes für die Schwellenländer.
Die Aufhebung der derzeitigen ökonomischen Trennlinien in Europa wird in West-und Osteuropa insgesamt zu massiven Anpassungsproblemen führen, so daß man angesichts begrenzter ökonomischer und politischer Anpassungsfähigkeit eine künstlich verlangsamte, aber gleichwohl progressive Liberalisierung erwägen könnte. Dabei ist die verlängerte Anpassungsfrist in der EU zweckmäßigerweise für eine Verminderung der Arbeitslosenquoten durch eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik in Verbindung mit einer reformierten Arbeitslosenversicherung -mit regional differenzierten, anreizkompatiblen Beitrags-sätzen -zu nutzen Auch für Mittelosteuropa wären differenzierte Beitragssätze, die positiv von der regionalen Höhe und Durchschnittsdauer der Arbeitslosigkeit abhingen, als Anreiz zu vollbeschäftigungskonformer Tarif-und Wirtschaftspolitik sinnvoll. Eine derartige Reform ließe sich allerdings wohl erst nach einer beschäftigungswirksamen Wachstumsoffensive durchsetzen: Bei annähernder Vollbeschäftigung werden die Widerstände gegen eine derartige Reform gering sein, da sich kaum eine Region ex ante eindeutig als überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit gefährdet einordnen kann.
Die Transformation zur Marktwirtschaft in Mittel-osteuropa schafft enorme Anpassungsprobleme, bietet aber auch neue Expansionschancen. In den Transformationsländem gibt es ein erhebliches Expansionspotential für eine Reihe von Dienstleistungen und Gütern, die in der Zentralverwaltungswirtschaft von den staatlichen Planern systematisch vernachlässigt und bei denen chronische Versorgungsmängel bekannt wurden; dies gilt etwa für den privaten Wohnungsbau bzw. die Bauwirtschaft insgesamt, für den Gesundheitssektor, den Tourismus sowie für Banken und Versicherungen.
Angesichts der sozialismustypischen Vernachlässigungen von Dienstleistungen ergibt sich in den Transformationsländem ein erhebliches Wachstumspotential für private, soziale und industrielle Dienstleistungen. Industrielle Dienstleistungen dominieren in Westeuropa und sind dabei häufig durch Auslagerung von Dienstleistungen entstanden, die herkömmlich innerhalb von Industrieunternehmen erbracht worden waren. Die Privatisierung der Industrie in den Reformländem dürfte hier Expansionsimpulse für spezialisierte Dienstleistungsanbieter erbringen. Die Expansion relativ arbeitsintensiver Dienstleistungen dürfte den Ost-West-Immigrationsdruck in Europa vermindern, während Westeuropa zugleich von Hardware-Importen und dem Entstehen neuer Joint-venture-Partner profitieren könnte.
III. Optionen für eine Integration Mittelosteuropas mit der EU
Die Europäische Union steht vor der historisch einmaligen Herausforderung, nach einer erfolgreichen Integration Großbritanniens, Irlands und Dänemarks 1973, einer Süderweiterung in den achtziger Jahren und einer erfolgversprechenden EFTA-Erweiterungsrunde in den neunziger Jahren zu Ende dieses Jahrhunderts West-und Mittel-osteuropa ökonomisch und politisch in eine Gemeinschaft zu integrieren, die Frieden, Stabilität und Prosperität anstrebt. Hierfür gibt es verschiedene Optionen, die von einer vollen Mitgliedschaft bis zu weniger anspruchsvollen Integrationsformen reichen. Die Funktions-und Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft sollte dabei im Eigeninteresse sowohl der EU wie auch der mittelosteuropäischen Länder nicht gefährdet werden.
Betrachtet man eine gesamteuropäische Marktwirtschaft als ein internationales Kollektivgut mit positiven externen Effekten (Technologie-Spillovers; Friedenserhaltungsimpuls), so stellt sich allerdings das Problem, daß nicht ohne weiteres alle EU-Staaten die für ein „politisches Allokationsoptimum“ notwendige, zunächst kostspielige Unterstützung der Transformation in Mittelosteuropa erbringen werden. In der Tat ist es z. B. erstaunlich, daß Großbritannien zwar über den Know-how-Fund der Regierung Beträchtliches an technischer Hilfestellung für die Visegräd-Länder gewährt, doch das Engagement der britischen Industrie bei Direktinvestitionen und im Außenhandel ist viel geringer als in Deutschland, Italien oder Frankreich; dies gilt in ähnlicher Weise sogar für den Finanzdienstleistungssektor, in dem britische Unternehmen mit führend sind. Hier zeigt sich eine gewisse Problematik eines Wirtschaftssystems, das -aus marktwirtschaftlich durchaus vernünftigen Effizienzgründen -Staatsuntemehmen und -beteiligungen weitgehend abgestoßen hat, dem aber bei strikter Trennung von Staat und Wirtschaft die Möglichkeit fehlt, außenwirtschaftsund sicherheitspolitisch zweckmäßige Direktinvestitionsengagements in bestimmten Zielländern nachhaltig zu fördern.
1. EU-Osterweiterung und institutioneller Reformbedarf
Eine EU-Erweiterung um einige mittelosteuropäische Staaten wird schon Ende der neunziger Jahre ein Thema auf der Brüsseler Agenda sein. Könnten etwa die Visegräd-Länder Vollmitglied werden, so bedeutet dies für die EU eine Erweiterung auf 19 Mitgliedsstaaten -ein Quanten-sprung gegenüber der ursprünglichen Sechser-Gemeinschaft, so daß eine institutionelle Reform unumgänglich wird. Für die mittelosteuropäischen Länder bedeutet eine EU-Mitgliedschaft, daß sie mit erheblich höheren Direktinvestitionszuflüssen rechnen können, sofern Standortpolitik und Wirtschaftspolitik marktgerecht sind Spanien und Portugal konnten nach dem EU-Beitritt starke Zuwächse bei den Direktinvestitionen verzeichnen, und zwar im Gegensatz zu Griechenland, wo Inflation, eine überdimensionierte Staatswirtschaft, Infrastrukturdefizite und eine instabile Wirtschaftspolitik Auslandsinvestoren fernhielt.
Neben den EU-Institutionen, die mit jeder Erweiterung schwerfälliger werden, ist auf seiten der EU bei einer Osterweiterung die fiskalische Schwerpunktsetzung auf der Ausgabenseite zu verändern. Denn die beträchtlichen Agrarproduktionen in Bolen und Ungarn würden unter Status-quo-Regelungen für die EU kaum verkraftbare Belastungen bedeuten und zudem den agrarbezogenen Ausgabenanteil noch weit über 50 Prozent anheben. Eine Reform der EU-Agrarpolitik wird mithin unumgänglich. Hingegen würde man unter ökonomischen Gesichtspunkten Ausgabenschwerpunkte auf supranationaler Ebene eher in den Bereichen Verteidigung, Umwelt sowie F& E-Projekte erwarten, nämlich in den Bereichen mit EU-weiten Spillover-Effekten bzw. bei internationalen öffentlichen Gütern mit EU-weitem Bezug Um einem Ausufern von Subventionen vorzubeugen, müßte eine Subventionsberichterstattung in der EU eingeführt werden, so daß -getrennt nach Erhaltungssubventionen und Neugründungshilfen -die pro Unternehmen bzw. Wirtschaftsaktivität gewährten Gesamtsubventionen erkennbar wären.
Mit zunehmender Mitgliederzahl ergeben sich in der EU wachsende Probleme, eine effiziente Entscheidungsfindung herbeizuführen. Dem könnte einerseits durch eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf die nationale Ebene (bzw. nachgeordnete Gebietskörperschaften) begegnet werden, andererseits wären Reformen der Institutionen und Abstimmungsregeln im EU-Club denkbar. Erwägenswert wäre es, die Konsensbildung durch Anreize zur Blockbildung zu erleichtern, während die Stimmenzahl für kleine Länder im Ministerrat zugleich für den Fall isolierter Stimmabgabe reduziert werden müßte: Wenn kleinere Länder als Ländergruppe abstimmen (z. B. Benelux, Skandinavische Gruppe, Visegrad), dann könnte der jeweiligen Ländergruppe eine Zusatz-stimme zuerkannt werden. Die kleineren Länder hätten von daher einen Anreiz, sich zu stabilen Aktionsgruppen zusammenzuschließen, so daß bei einer Abstimmung letztlich wieder nur eine geringe, überschaubare Zahl von Ländern bzw. Ländergruppen um die jeweiligen Mehrheiten ringen müßte.
Eine EU-Osterweiterung wird im Ministerrat unter Status-quo-Ländergewichten dazu führen, daß das politische Gewicht der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs auf ein Drittel des Wertes von 1958 zurückgeht. Mit der Zersplitterung der Macht in der EU droht nicht nur eine Aufweichung der deutsch-französischen Politik-achse, sondern auch das Risiko von Entscheidungsschwäche in Situationen, in denen EU-Handlungsfähigkeit stärker als früher erforderlich ist. Dem wäre durch Veränderung der Stimmengewichte vor einer Erweiterung um mittelosteuropäische Staaten Rechnung zu tragen. Auch eine Verfassungsdiskussion mit Blick auf die Einführung eines Zwei-Kammersystems ist erwägenswert. Schließlich ist auch das Demokratiedefizit in der EU ein wichtiges, aber bei EU-Erweiterung noch schwieriger zu lösendes Problem. Immerhin zeigen rückläufige Wahlbeteiligungen bei Europawahlen in einigen Mitgliedsländern, daß das Interesse an der EU-Integration sinkt. Dieses Problem wird sich verschärfen, wenn bei einer EU-Osterweiterung zunehmend komplexe Politikprobleme mit sinkender Transparenz für die Wählerschaft behandelt werden, während gleichzeitig eine ansteigende EU-Steuerbelastung -als Folge erhöhter Strukturfonds-und Agrarmarktausgaben -zu bewältigen wäre. Schon mit dem Maastrichter Vertrag und dem Schritt zur Wirtschafts-und Währungsunion wurde in der EU ein schwieriger Integrationsschritt unternommen, für den politische Unterstützung in den Mitgliedsländern nur schwer zu gewinnen ist.
Es ist im Eigeninteresse der 15er-Gemeinschaft, aber auch der neuen Beitrittsländer, daß die EU durch eine Erweiterung nicht an Handlungsfähigkeit verliert. Gelänge es der EU zunehmend weniger, innerhalb der Gemeinschaft problemgerechte und marktkonforme Lösungen zu verabschieden und im Außenverhältnis als verläßlicher und engagierter Verhandlungspartner aufzutreten, dann könnte der internationale Einfluß der EU zurückgehen, das Ausmaß an internen Konflikten zunehmen und die politische Legitimität der EU-Integration geschwächt werden.
2. Modifizierte EWR-Mitgliedschaft
Mittelosteuropäische Länder könnten alternativ zu einer EU-Vollmitgliedschaft zunächst in die schwächere Integrationsform des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) aufgenommen werden, der die wirtschaftlichen Vorteile von Freihandel und freier Faktormobilität bietet. Jedoch gewährt dieser weder den Anspruch auf EU-Strukturfondsmittel noch die Möglichkeit zu expliziter Teilhabe an den EU-Entscheidungen. Für die EU hätte dies, abgesehen vom ausbleibenden Anwachsen der EU-Institutionen und der damit verbundenen Entscheidungseffizienz-Probleme, kaum Vorteile, da der wirtschaftliche Anpassungsdruck aus Mittelosteuropa die EU unvermindert treffen würde und man zugleich auf Einwirkungsmöglichkeiten verzichtete, die sich bei einer EU-Mitgliedschaft durch die disziplinierende Wirkung der Mitglieds-statuten (z. B. Beihilfenaufsicht) wie auch den Einfluß auf die aktuelle Politik ergeben.
Kaum vorstellbar seitens der EÜ ist wohl, daß Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber Transformationsländem mit großem Abstand zum EU-Durchschnittseinkommen gewährt werden kann. Zu groß sind bei den meisten Ex-RGW-Ländem die ökonomischen Unterschiede an der Ost-West-Schnittfläche. Ein neues EWR-Konzept, nämlich mit begrenzter Arbeitnehmerfreizügigkeit, könnte für die EU wie für einige Länder in Mittelosteuropa sinnvoll sein. Eine großzügig kontingentierte Gastarbeitnehmerregelung wäre dabei erwägenswert, denn Gastarbeiter aus dem Ex-RGW-Raum beseitigen Arbeitsengpässe in Westeuropa; zugleich könnten Gastarbeiterüberweisungen -so wie vor Jahrzehnten bei spanischen oder italienischen Gastarbeitern in Deutschland -helfen, Zahlungsbilanzprobleme der Transformationsländer zu überwinden. Die EWR-Mitgliedschaft könnte also als eine Art Qualifikationsstufe für den Aufstieg in den EU-Club ausgestaltet werden.
Eine Integration Osteuropas mit Westeuropa kann dauerhaft nur erfolgen, wenn die EU den Struktur-wandel beschleunigt und Anreize für eine Expansion kapital-und dienstleistungsintensiver Sektoren einerseits und zu Höherqualifikation der Arbeitnehmerschaft andererseits gibt. Neue produktivitätssteigernde Infrastrukturprojekte und Qualifikationsinitiativen sind dazu erforderlich.
Paul J. J. Welfens, Dr. rer. oec., geb. 1957; 1990/91 McCloy Distinguished Research Fellow am AICGS/The Johns Hopkins University, Washington (D. C.); danach Professor für Europäische Wirtschaftspolitik/Internationale Wirtschaft an der Universität Münster. Seit 1995 Professor für Wirtschaftspolitik, insbes. internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Potsdam; Präsident des Europäischen Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen. Veröffentlichungen u. a.: Internationalisierung von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, Heidelberg 1990; Market-oriented Systemic Transformations in Eastern Europe, New York 1992; Privatization and Foreign Direct Investment in Transforming Economies, Aldershot 1994; (Hrsg. zus. mit Richard Tilly) European Economic Integration as a Challenge to Industry and Government, Heidelberg 1995; European Monetary Integration, New York 19953; Grundlagen der Wirtschaftspolitik, Heidelberg 1995; (Hrsg.) Economic Aspects of German Unification, New York 19952.
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