Deutsche Befindlichkeiten im Ost-West-Vergleich. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung
Elmar Brähler/Horst-Eberhard Richter
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Zusammenfassung
Rund 1000 Ostdeutsche und 2 000 Westdeutsche wurden im November 1994 im Rahmen einer repräsentativen Untersuchung befragt; Grundlage waren teils erprobte und teils neu entwickelte Fragebögen. Während sich die Westdeutschen im Gießen-Test eher individualistischer, arroganter, härter und lockerer darstellen, beschreiben sich die Ostdeutschen als sozial offener, bescheidener, weicher und disziplinierter. Die Selbst-beschreibung der Ostdeutschen erscheint positiver als die der Westdeutschen. In einem Fragenkomplex zu Zukunftserwartungen und politischen Einstellungen werden auf beiden Seiten große Sorgen erkennbar. Im Osten noch ausgeprägter als im Westen ist die Erwartung ansteigender Arbeitslosigkeit. Das gilt auch für die ökologischen Zukunftsängste, vor allem unter Jugendlichen. Geläufigen Vorurteilen widersprechen unsere Befunde in drei Punkten. Erstens: Nationalistische Losungen finden im Osten weniger Anklang als im Westen. Zweitens: Im Osten hat die Beschäftigung mit dem Stasi-Problem nicht vermocht, die Erinnerung an die Hitlerzeit in den Hintergrund zu drängen -ganz im Gegenteil. Drittens: Auf beiden Seiten lehnt eine überwiegende Mehrheit der Jüngeren die Wehrpflicht ab. Die Befragung zur Lebenszufriedenheit in Ost und West ergab, daß die Ostdeutschen durch schlechtere Rahmenbedingungen zwar ein Defizit an materiellen Ressourcen aufweisen, aber anscheinend über bessere emotionale Ressourcen verfügen. Geradezu frappierend ist, wie positiv die Ostdeutschen auf ihre Erziehung im Elternhaus zurückblicken, obwohl entgegengesetzte Meinungen bzw. Vorurteile darüber verbreitet sind.
I. Die Untersuchung
Auch fünf Jahre nach dem Mauerfall sind die materiellen Verhältnisse in Ost-und Westdeutschland noch sehr unterschiedlich. Die Kluft ist durch zahlreiche Daten für jedermann sichtbar Fest steht, daß auch die psychische Entfremdung zwischen den Menschen beider Landesteile noch lange nicht überwunden ist. Es werden Unterschiede in der Emotionalität, in den Denkweisen und Verhaltensmustern teils zutreffend erkannt, teils überschätzt oder sogar nur behauptet bzw. phantasiert. Enttäuschungen und Mißtrauen haben Vorurteile wachsen lassen, die als neue Barrieren zwischen den Menschen entstanden sind -daher die Parole von der „Mauer in den Köpfen“.
Abbildung 8
Abbildung 1: Allgemeine Zukunftserwartungen der Untersuchungsgruppe (in Prozent)
Abbildung 1: Allgemeine Zukunftserwartungen der Untersuchungsgruppe (in Prozent)
Manche dieser Vorurteile sind tiefer verwurzelt und dienen nach dem Sündenbock-Muster der Erhaltung des Selbstbewußtseins und Selbstwertgefühls -auf Kosten der jeweils anderen Seite. Andere beruhen aber auch schlicht auf Unkenntnis. Man weiß zuwenig voneinander. Es fehlt an Verständnis im Sinne von Akzeptanz; es besteht ein Mangel an Verständnis im Sinne von Ahnungslosigkeit. Beiderseitige repräsentative Selbstbeschreibungen können der wechselseitigen Einfühlung förderlich sein. Man kann die eigenen Vorurteile besser kritisch überprüfen.
Abbildung 9
Abbildung 2: Zukunftserwartungen der Untersuchungsgruppe (Arbeitslosigkeit; in Prozent)
Abbildung 2: Zukunftserwartungen der Untersuchungsgruppe (Arbeitslosigkeit; in Prozent)
Nun haben wir Ende 1994 1022 Ostdeutsche und 2 025 Westdeutsche im Alter von 14 bis 92 Jahren vergleichend untersucht. Die Erhebung wurde im Auftrag der Universität Leipzig vom Meinungsforschungsinstitut USUMA (Unabhängiger Service für Umfragen, Methoden und Analysen) Berlin durchgeführt. Benutzt wurden der Gießen-Test und ein Katalog von Fragen über Erziehungserfahrungen, gesellschaftliche und politische Einstellungen sowie über das soziale und das körperliche Befinden.
Abbildung 10
Abbildung 3: Zukunftserwartungen der Untersuchungsgruppe (Umwelt; in Prozent innerhalb der Gruppen)
Abbildung 3: Zukunftserwartungen der Untersuchungsgruppe (Umwelt; in Prozent innerhalb der Gruppen)
Tabelle 1 enthält Daten über die Zusammensetzung der Stichprobe.
Abbildung 11
Abbildung 4; Sympathie der Untersuchungsgruppe für die Losung „Deutschland den Deutschen“ (in Prozent innerhalb der Untersuchungsgruppen)
Abbildung 4; Sympathie der Untersuchungsgruppe für die Losung „Deutschland den Deutschen“ (in Prozent innerhalb der Untersuchungsgruppen)
Auffallend an den soziodemographischen Merkmalen der Ost-und Westdeutschen ist folgendes:
Abbildung 12
Abbildung 5; Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit für die Untersuchungsgruppe (in Prozent)
Abbildung 5; Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit für die Untersuchungsgruppe (in Prozent)
1. In Westdeutschland leben fast 42 Prozent ohne Partner, in Ostdeutschland sind es nur 31 Prozent.
Abbildung 13
Abbildung 6: Meinung der Untersuchungsgruppe zur allgemeinen Wehrpflicht (in Prozent)
Abbildung 6: Meinung der Untersuchungsgruppe zur allgemeinen Wehrpflicht (in Prozent)
2. Beim Schulabschluß wird deutlich, daß das Ausbildungsniveau der Ostdeutschen höher ist. Im Osten haben 60 Prozent eine mindestens 10jährige Schulausbildung, im Westen sind es nur 41 Prozent. Aus den Angaben zum Schulabschluß (s. Polytechnische Oberschule) wird auch deutlich, daß unter den westdeutschen Befragten Personen sind, die ursprünglich aus der DDR kommen. Absolut fällt dieser Prozentsatz nicht sehr stark ins Gewicht. Er dürfte weit unter 10 Prozent liegen.
Abbildung 14
Abbildung 7: Die allgemeine Wehrpflicht halte ich für überflüssig (in Prozent innerhalb der Gruppen)
Abbildung 7: Die allgemeine Wehrpflicht halte ich für überflüssig (in Prozent innerhalb der Gruppen)
3. Bei der Berufstätigkeit fällt auf, daß es im Westen prozentual etwa siebenmal mehr Hausfrauen gibt als im Osten. Arbeitslose Frauen bezeichnen sich im Westen offensichtlich vielfach als Hausfrauen, im Osten als Arbeitslose. Auffällig ist auch der sehr hohe Prozentsatz der Personen in Rente und im Vorruhestand im Osten (34, 7 Prozent gegenüber 20, 4 Prozent). Inzwischen sind dort sehr viel weniger Menschen berufstätig als im Westen (41, 7 Prozent gegenüber 50, 6 Prozent). Dies bedeutet, daß die tatsächlichen Arbeitslosenzahlen anders aussehen als die offiziellen. Das Haushaltseinkommen ist erwartungsgemäß im Osten viel niedriger als im Westen.
II. Selbstkonzept in Ost und West
Abbildung 2
Abbildung 2
Abbildung 2
Die folgenden drei Fragenbeispiele in Tabelle 2 sollen einen Eindruck von der Konstruktion des Gießen-Tests vermitteln.
Abbildung 15
Abbildung 8: Meinung der Untersuchungsgruppe zu der Aussage „Dankbarkeit für führende Köpfe“ (in Prozent)
Abbildung 8: Meinung der Untersuchungsgruppe zu der Aussage „Dankbarkeit für führende Köpfe“ (in Prozent)
In 15 der 40 Items, d. h.der Dinge oder Sachverhalte, nach denen gefragt wurde, unterscheiden sich die Antworten der Ost-und Westdeutschen hochsignifikant. In einer Gruppe von fünf Antworten kommt zum Ausdruck, daß die Ostdeutschen mehr soziale Nähe suchen und sich im ganzen als mehr sozial verbunden erleben als die in der sozialen Einstellung distanzierten Westdeutschen (vgl. Tabelle 3).
Abbildung 16
Abbildung 9: Dankbarkeit für führende Köpfe nach Altersgruppen (in Prozent)
Abbildung 9: Dankbarkeit für führende Köpfe nach Altersgruppen (in Prozent)
Die Ostdeutschen leben also deutlich mehr in der Gemeinschaft, während sich die Westdeutschen stärker individuell abgrenzen.
Abbildung 17
Abbildung 10: Lebenszufriedenheit Ost-West (in Prozent)
Abbildung 10: Lebenszufriedenheit Ost-West (in Prozent)
Aus drei weiteren Angaben im Gießen-Test und der Antwort auf eine Zusatzfrage wird deutlich, daß sich Ost-und Westdeutsche markant in ihrem Selbstwertgefühl unterscheiden. Verblüffend ist jeweils ein Gegensatz zwischen der Selbstbewertung und der Meinung, wie man von außen bewertet wird: Das heißt, die Ostdeutschen sind (erheblich) selbstkritischer als die Westdeutschen.
Man kann das nun so akzentuieren, daß man sagt: Die Ostdeutschen leiden stärker, die Westdeutschen weniger an Selbstzweifeln. Oder so: Die Westdeutschen neigen im Vergleich zu den Ostdeutschen an einer überhöhten Selbsteinschätzung. Oder: Die Ossis machen sich eher schlechter, als sie sind, die Wessis besser. Jedenfalls glauben die Ossis, daß sie von der Umgebung mehr geachtet werden, als sie sich selbst achten. Bei den Wessis ist es genau umgekehrt. Sie sehen sich selbst weniger kritisch, als sie ihrer Meinung nach von außen bewertet werden. Es bestätigt sich also in gewisser Weise der Mythos vom bescheidenen Ossi und dem arroganten Wessi (vgl. Tabelle 4).
Wie die Tabelle 5 zeigt, sind die Ostdeutschen offener für ihre inneren Prozesse und durchlässiger auch nach außen hin. Ihr Ich ist weniger geschützt, vielmehr eher Konflikten und auch Verstimmungen ausgesetzt.Folgt man den Ergebnissen von Tabelle 6, so erleben sich die Westdeutschen ein Stück weit lässiger, mehr „easy going“, während die Ostdeutschen sich angestrengter und disziplinierter einschätzen. Es liegt nahe, darin die Spuren der unterschiedlichen Sozialisation in dem jeweiligen System zu erblikken.
III. Zukunftserwartungen und politische Ansichten
Abbildung 3
Tabelle 2: Gießen-Test (Fragenbeispiele)
Tabelle 2: Gießen-Test (Fragenbeispiele)
Wird das Leben für die nächsten Generationen in Deutschland leichter oder schwieriger werden?
Hier herrscht zwischen Ost und West fast vollständige Übereinstimmung: Es wird schwieriger werden. Werden wir in Deutschland in einigen Jahren wesentlich mehr oder wesentlich weniger Arbeitslose haben?
Beiderseits fallen die Prognosen düster aus: Die Arbeitslosigkeit werde noch beträchtlich zunehmen. Die Befürchtungen der Ostdeutschen übertreffen noch diejenigen der Westdeutschen.
Kann die Umweltzerstörung noch gestoppt werden?
Darüber sind die Meinungen geteilt. Nur die junge Generation ist in beiden Landesteilen übereinstimmend pessimistisch.Wie sympathisch oder unsympathisch wird die Losung „Deutschland den Deutschen“ empfunden?
Beiderseits überwiegt die Antipathie. Die Ablehnung der Ostdeutschen fällt indessen deutlich massiver aus (vgl. Abbildung 4). In beiden Landesteilen übertreffen die jungen Jahrgänge die älteren und die Frauen die Männer in der Zurückweisung der nationalistischen Parole. Mit 37 Prozent am stärksten ausgeprägt ist die Sympathie in der Untersuchungsgruppe bei den 65-bis 74jährigen. Es folgen die 75jährigen und älteren (35 Prozent) und die 55 bis 64jährigen (29 Prozent). Nur 24 bzw. 25 Prozent der Altersgruppen bis 24 Jahre und 25 bis 45 Jahre finden die Losung sympathisch.
Ist es wichtig oder eher unwichtigfür die Deutschen, sich noch mit der Hitlerzeit auseinanderzusetzen?
Es ist wichtig, sagt in Ostdeutschland die absolute und in Westdeutschland eine relative Mehrheit.
Ist die allgemeine Wehrpflicht notwendig oder überflüssig? Hier weichen die Meinungen voneinander ab. Die Ostdeutschen zweifeln an der Notwendigkeit ein Stück mehr als die Westdeutschen (vgl. Abbildung 6). In Ostdeutschland überwiegt bei allen, in Westdeutschland nur bei den jüngeren Jahrgängen der Zweifel an der Notwendigkeit der Wehrpflicht (vgl. Abbildung 7).Wir sollten dankbar sein für führende Köpfe, die uns sagen können, was wir tun sollen.
Diese Aussage wird von den Ostdeutschen mehrheitlich eher abgelehnt, während die Meinung der Westdeutschen noch mehr geteilt ist. Bei dieser Frage gibt es bei den Älteren eher Zustimmung als bei den Jüngeren: Während über 50 Prozent der Altersgruppe bis 24 Jahre die Aussage ablehnen und nur 25 Prozent ihr zustimmen, verhält es sich bei den Altersgruppen 55 bis 64 Jahre, 65 bis 74 Jahre und 79 Jahre und älter etwa umgekehrt (vgl. Abbildungen 8 und 9).
Resümee zu den Abbildungen 1 bis 9
Aus diesem Fragenkomplex werden die großen Zukunftssorgen in beiden Teilen Deutschlands erkennbar. Geradezu resignativ erscheint die beidseitige, im Osten noch ausgeprägtere Erwartung ansteigender Arbeitslosigkeit. Die ökologischen Zukunftsängste der Jugend entsprechen den Befunden zahlreicher schon vorliegender Untersuchungen. Daß die Jugend die älteren Jahrgänge in der Ablehnung der nationalistischen Losung noch übertrifft, erscheint besonders erfreulich, zumal es eine Neigung gibt, von den Anschlägen Jugendlicher gegen Ausländer auf eine spezifische Anfälligkeit junger Menschen für nationalsozialistisches Gedankengut zu schließen. Zwei weiteren geläufigen Vorurteilen widersprechen unsere Befunde ebenfalls, nämlich erstens der Meinung, daß nationalistische Losungen im Osten eher Anklang fänden als im Westen, und zweitens, daß dort die Beschäftigung mit dem Stasi-Problem die Erinnerung an die Hitlerzeit mehr als in den alten Bundesländern in den Hintergrund gedrängt habe. In beiden Fällen ist also das Gegenteil richtig. Zu denken geben sollte schließlich die überwiegende beiderseitige Ablehnung der Wehrpflicht durch die jüngere Generation.
IV. Zur Lebenszufriedenheit in Ost und West
Abbildung 4
Tabelle 3: Wichtige Eigenschaften ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Tabelle 3: Wichtige Eigenschaften ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Es wurde ein Fragebogen eingesetzt, der in 10 Bereichen zu jeweils 7 Einzelfragen eine Bewertung der eigenen Lebenszufriedenheit von „sehr zufrieden“ bis „sehr unzufrieden“ zuläßt. (Es handelt sich bei dem Fragebogen um eine Erweiterung desFragebogens zur Lebenszufriedenheit von Fahren-berg et al. (vgl. Abbildung 10)
In den Bereichen Freizeit, Arbeit, finanzielle Lage sind die Ostdeutschen durchweg unzufriedener, auch mit ihren Wohnverhältnissen, desgleichen mit ihrem Gesundheitszustand. Letzterer Befund deckt sich mit den Ergebnissen einer parallelen Erhebung zur körperlichen Befindlichkeit in einer Beschwerdeliste. Die Ostdeutschen leiden im Durchschnitt unter einem höheren Beschwerde-druck (s. u.).
Im Vergleich mit den Westdeutschen wohler fühlen sie sich indessen in Ehe, Partnerschaft, Sexualität und im Verhältnis zu ihren Kindern -was natürlich nur von denen erfragt werden konnte, die in solchen Beziehungen leben.
Mit Verwandtenkontakten und mit der Unterstützung durch Freunde und Bekannte sind die Ostdeutschen ebenfalls zufriedener. Mehr Mängel empfinden sie indessen in den Bereichen Außen-und Gemeinschaftsaktivitäten und im eigenen gesellschaftlichen Engagement. Hier könnte allerdings erst genaueres Nachfragen ergeben, zu welchen Anteilen einerseits ein Defizit an sozialen Gelegenheiten, andererseits ein Schwund persönlicher Initiative beteiligt sind.
Resümee:
Im Vergleich verfügen die Ostdeutschen zwar durch schlechtere Rahmenbedingungen über ein Defizit an materiellen Ressourcen, aber anscheinend über bessere emotionale Ressourcen.
V. Elterliches Erziehungsverhalten
Abbildung 5
Tabelle 4: Selbstwertgefühl ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Tabelle 4: Selbstwertgefühl ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Geradezu frappierend ist, wie positiv die Ostdeutschen auf ihre Erziehung im Elternhaus zurückblicken, obwohl die Meinung grassiert, daß die Ostdeutschen in ihrer Kindheit durch Krippenerziehung und Berufstätigkeit beider Eltern keine große familiäre Geborgenheit genossen haben könnten. Der Psychosomatiker H. Speidel hat sogar die These von ganzen Generationen von Sozialwaisen aufgestellt, die durch katastrophale familiäre Verhältnisse in den letzten 40 Jahren im Osten entstanden seien Die empirischen Ergebnisse zeigen ein ganz anderes Bild (vgl. Abbildung 11). Was immer man in der Erziehung von den Eltern erfahren und bekommen hat, klingt im Osten freundlicher als auf der westlichen Seite Demnach werden die Eltern als warmherziger und toleranter beschrieben: Sie haben die Kinder näher an sich herangelassen, sie weniger bestraft, weniger geschlagen, weniger beschämt, mehr unterstützt und haben diese weniger mit ehrgeizigen Forderungen gequält. Bei den Bereichen Ablehnung und Strafe sowie Überbehütung und Über-forderung ist der Ost-West-Unterschied größer als der Geschlechtsunterschied, d. h., selbst die Westmütter werden ablehnender gesehen als die Väter im Osten. Den reglementierenden Eingriffen des Staates zum Trotz scheint sich demnach die Familie für die Kinder im Osten als Stütze besser bewährt zu haben, als oft unterstellt wird. In der Familie hatte sich anscheinend vielfach eine hermetische private Gegenkultur entwickelt, die den Kindern positive emotionale Erfahrungen vermittelte. Deren Verinnerlichung dürfte die nun im ostdeutschen Selbstbild Vorgefundenen Merkmale von mehr Offenheit, Gefühl und Weichheit begünstigt haben. Im übrigen bestätigen diese Ergebnisse zum unterschiedlichen elterlichen Erziehungsverhalten die Resultate, die bei einer Voruntersuchung gefunden wurden
VI. Körperbeschwerden in Ost und West
Abbildung 6
Tabelle 5: Befindlichkeit ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Tabelle 5: Befindlichkeit ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Die Körperbeschwerden wurden mit dem Gießener Beschwerdebogen erhoben Der Fragebogen enthält fünf Skalen: Erschöpfungsneigung, Magenbeschwerden, Gliederschmerzen und Herzbeschwerden sowie einen Gesamtwert für körperliche Beschwerden. Die Abbildungen 12 und 13 zeigen die Ost-West-Vergleiche für Männer und Frauen. Es ergaben sich jeweils höhere Körperbeschwerden in den Bereichen Erschöpfungsneigung und Glieder-schmerzen sowie im Gesamtwert. Die Ostdeutschen äußern mehr Körperbeschwerden als die Westdeutschen. Beim Gesamtwert erreichen die Ost-West-Unterschiede die Geschlechtsunterschiede, d. h., die Männer im Osten äußern genauso viele Körperbeschwerden wie die Frauen im Westen. Bei einer entsprechenden Untersuchung im Jahre 1991/92 im Rahmen der Deutschen Herz-Kreislauf-Studie waren die Ergebnisse noch umgekehrt Damals waren die Beschwerden im Osten noch niedriger als im Westen. Hier scheint ein Entwicklungsprozeß im Gange zu sein.
VII. Schlußbemerkungen
Abbildung 7
Tabelle 6: Selbsteinschätzungen ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Tabelle 6: Selbsteinschätzungen ostdeutscher und westdeutscher Befragter
Die Ergebnisse unserer Untersuchung belegen, daß die Befindlichkeiten in Ost-und Westdeutschland sehr unterschiedlich sind. Die Unterschiede sollen damit nicht festgeschrieben werden oder Klischees vertieft werden. Es ist jedoch notwendig, sie zu benennen, um sich besser selbst und gegenseitig zu verstehen. Es sollte auch nicht das Ziel sein, die Unterschiede einzuebnen, schon gar nicht durch eine Angleichung der Menschen im Osten an die im Westen.
Elmar Brähler, Prof. Dr., geb. 1946; seit 1991 Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Körpererleben -ein subjektiver Ausdruck von Leib und Seele, Berlin 1986; (Hrsg, zus. mit Hildegard Felder) Weiblichkeit, Männlichkeit und Gesundheit, Opladen 1992; (zus. mit Jörn W. Scheer, Der Gießener Beschwerdebogen. Handbuch, Bern 19952; (Hrsg. zus. mit Hans-Jürgen Wirth) Entsolidarisierung. Die Westdeutschen am Vorabend der Wende und danach, Opladen 1995. Horst-Eberhard Richter, Prof. Dr. Dr., geb. 1923; Leiter des Sigmund-Freud-Institutes Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u. a.: Eltern, Kind, Neurosen, Stuttgart 1963; Patient, Familie, Reinbek 1970; Die Gruppe, Reinbek 1972; Lernziel Solidarität, Reinbek 1974; Russen und Deutsche, Hamburg 1990; Umgang mit Angst, Hamburg 1992.
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