Aufholtendenzen und Systemeffekte Eine Übersicht über Wertunterschiede zwischen West-und Ostdeutschland
Heiner Meulemann
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Zusammenfassung
Im Beitrag werden Umfrageergebnisse für die Werte Gleichheit, Leistung, Mitbestimmung und Akzeptanz zwischen Ost-und Westdeutschland gegenübergestellt. Die politische Verfassung und soziale Wirklichkeit der DDR boten weniger Wahlmöglichkeiten oder „Strukturchancen des Individualismus“ als die der Bundesrepublik Deutschland. Wenn heute im Osten geringere Strukturchancen des Individualismus nachwirken, sollten dort Gleichheit mehr, Leistung weniger, Mitbestimmung weniger und Akzeptanz mehr betont werden; wenn man aber davon ausgeht, daß der Osten Wertwandlungen des Westens nachholt, sollten dort Gleichheit ebenso stark wie im Westen, Leistung stärker, Mitbestimmung weniger und Akzeptanz mehr betont werden. Wenn beide Vermutungen nicht zutreffen, können Systemeffekte der untergegangenen DDR zur Erklärung herangezogen werden. Die herangezogenen empirischen Untersuchungen der Jahre 1990 bis 1995 ergeben, daß im Osten Gleichheit weniger, Leistung mehr und Mitbestimmung weniger betont werden; Akzeptanz ist im Westen stärker, wenn Religiosität, im Osten stärker, wenn Moralität betrachtet wird: Der Osten ist stärker säkularisiert, aber moralisch rigider. Unterschiedliche Strukturchancen des Individualismus erklären also Wertunterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland schlechter als Aufholtendenzen des Ostens; in jedem Fall aber müssen Systemeffekte für die nicht vorausgesagten Unterschiede der Akzeptanz angenommen werden. Abschließend wird versucht, die Aufholtendenzen zu prognostizieren, und die Dauerhaftigkeit der System-effekte diskutiert.
I. Vorbemerkungen
Die Diskussion des Wertewandels in der Bundesrepublik Deutschland war Folge des kulturellen Umbruchs um 1968; und eine materiell saturierte und politisch stabile Republik blieb in der kulturellen Nabelschau befangen, bis die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 die härteren Probleme des Beitrittsgebietes auf die gemeinsame Tagesordnung setzte. Diese können nur gelöst werden, wenn die Menschen vor Ort die Lösungen wollen und anstreben, die mit der Vereinigung vorgezeichnet sind. Sie müssen den Wandel der Institutionen tragen. Daher wurden die Mentalität, die Kultur, die Werte der ostdeutschen Bevölkerung mit Blick auf die Institutionen untersucht, die vom Westen übernommen werden sollen -und mit denen der westdeutschen Bevölkerung verglichen.
Das Thema Wertewandel lebte wieder auf in Gestalt des Wertevergleichs zwischen Ost-und Westdeutschland. Aber wie der Wertewandel ein Sammelbegriff für oft nur kurzfristige Wandlungen von Einstellungen und Meinungen wurde, der alles, was die Öffentlichkeit beunruhigte, erklären sollte, so werden heute alle möglichen Einstellungen und Meinungen zwischen Ost und West verglichen; und die mehr oder minder großen Differenzen dienen als wohlfeile Erklärungen für verschleppte oder unerwartete Entwicklungen. Das Problem -die Einfügung des Ostens in den Institutionenrahmen des Westens -läßt sich offensichtlich nicht so schnell und so einfach lösen, wie erwartet; doch die Erklärung dafür scheint einfach genug: unterschiedliche Werte.
Fünf Jahre Umfrageforschung seit der Wende haben mittlerweile genügend Unterschiede ans Licht gebracht, um ein Resümee zu wagen. Welche Werte sollen für den Vergleich ausgewählt werden? Welche Unterschiede zwischen Ost und West sollte man bei diesen Werten erwarten? Diese Fragen müssen beantwortet werden, bevor die vorliegenden, für beide Landesteile repräsentativen Befragungen auf der Suche nach Unterschieden der ausgewählten Werte durchgesehen und schließlich Erklärungen für die Unterschiede gesucht und einige Prognosen ihrer Entwicklung begründet werden können.
II. Struktur-und Verzögerungshypothese oder Systemeffekte
Werte sind „Vorstellungen des Wünschbaren“ sie geben der Person in unterschiedlichen Situationen gleichartige Orientierungen, und sie dienen der sozialen Integration in die Gesellschaft. Moderne, sich funktional differenzierende Gesellschaften sind vergleichsweise stabil, weil alle Individuen zwei Werte mehr oder minder stark unterstützen, die die soziale Differenzierung rechtfertigen: Gleichheit und Leistung. Die zunehmende Arbeitsteilung erfordert erstens, daß Gleichheit als wünschenswerte Vorstellung für die Gesellschaft anerkannt wird. Nur wenn die Startchancen für alle gleich sind, kann man von jedem erwarten, daß er seine spezialisierten Aufgaben auf Dauer verfolgt. Gleichheit der Chancen rechtfertigt tatsächliche Ungleichheit als Ergebnis unterschiedlicher Leistung. Leistung ist das Ergebnis individueller, nach verbindlichen Gütemaßstäben meßbarer Anstrengung. Sie muß nicht nur individuell gewollt, sondern auch sozial möglich sein. Die zunehmende Arbeitsteilung erfordert also zweitens, daß jeder in seiner spezialisierten Funktion seine Individualität gewinnen kann. Damit die Gesellschaft Bestand hat, muß Leistung als Selbstverwirklichung durch spezialisierte Arbeit ein realistisches Ziel sein.
Gleichheit und Leistung können die Differenzierung zwischen Individuen rechtfertigen. Die zunehmende Arbeitsteilung führt aber nicht allein zur Differenzierung zwischen Individuen, sondern auch zur Bildung relativ autonomer Teilbereiche.
In spezialisierten, vom Alltag abgehobenen Instan-1 * zen werden Entscheidungen getroffen, die für das Leben jedes einzelnen folgenreich sind; wie die Entscheidungen ausfallen, hängt nicht in erster Linie von den Wünschen und Interessen der Individuen, sondern von den Regeln ab, die sich in den ausdifferenzierten Teilbereichen entwickelt haben. Deshalb müssen die Individuen, die von den Entscheidungen zunächst ausgeschlossen sind, ein Recht auf Mitbestimmung haben. Sie müssen die Macht, die sie an funktionsspezifische Entscheidungsträger delegiert haben, kontrollieren können. Das gilt vor allem in der Politik, aber auch in der Wirtschaft und in der familiären oder schulischen Erziehung. Mitbestimmung ist daher ein dritter Wert moderner Industriegesellschaften.
Die Differenzierung zwischen Individuen und Funktionen, die für moderne Industriegesellschaften typisch ist, kann schließlich nicht allein durch spezifische Werte gerechtfertigt, sondern einfach als selbstverständlich hingenommen werden: Man findet etwas wünschenswert, weil es so ist, wie es ist: Dieser vierte Wert soll Akzeptanz genannt werden. Akzeptanz ist ein Residualwert in einem systematischen und einem historischen Sinn: Sie kann soziale Integration ermöglichen, wenn andere Werte versagen; und sie ist gleichsam ein Relikt traditionaler Werthaltungen in modernen Gesellschaften. Akzeptanz kann zur Integration jeder Gesellschaft -unabhängig von ihren Strukturmerkmalen -beitragen; sie kann, aber muß nicht, durch die Religion legitimiert werden.
Unterschiede zwischen Ost und West hinsichtlich dieser vier Werte sollte man dort erwarten, wo die politische und soziale Verfassung jedes Landesteils unterschiedliche strukturelle Chancen geschaffen hat, Werte aufzunehmen. Die BRD war und ist eine Marktwirtschaft mit privatem Eigentum an Produktionsmitteln, die DDR war eine Planwirtschaft mit staatlichem Eigentum an allen zentralen Produktionsmitteln In der BRD besteht eine repräsentative parlamentarische Demokratie mit Parteienkonkurrenz, in der DDR herrschte das Monopol der SED. Das System der sozialen Sicherung dient in der BRD dem Schutz gegen Risiken, in der DDR garantierte es eine risikounabhängige Versorgung. Die Öffentlichkeit der BRD ist durch einen Pluralismus der Meinungen und Überzeugungen gekennzeichnet, in der Öffentlichkeit der DDR herrschte der Hegemonieanspruch der marxistischen Weltanschauung. Der Bürger der BRD muß seinen Arbeitsplatz finden, zwischen unabhängigen Parteien wählen, sich um sein eigenes Wohl kümmern und sich in den Moden und Meinungen des Tages zurechtfinden; dem Bürger der DDR war ein Arbeitsplatz garantiert, er gab der führenden Partei oder ihren Ablegern -den Block-parteien -seine Zustimmung, wurde mit betrieblichen Sozialleistungen vom Krippenplatz bis zur Urlaubsfahrt versorgt und riskierte mit öffentlichen Meinungsäußerungen das Odium der Abweichung. In der BRD gibt die Sozialverfassung den Menschen mehr Wahlmöglichkeiten, in der DDR gab sie größere Sicherheit. Aber Wahlmöglichkeiten fordern den Individualismus des einzelnen heraus, Sicherheiten gelten für alle gleichermaßen. Aufgrund unterschiedlicher Sozialverfassungen bot die BRD den Menschen mehr Strukturchancen für Individualismus als die DDR. Individualismus ist mit Differenzierung, Leistung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung verknüpft. Wenn die Strukturchancen tatsächlich auf Werte durchgeschlagen haben, dann sollte heute die westdeutsche Bevölkerung Gleichheit weniger, Leistung mehr, Mitbestimmung mehr und Akzeptanz weniger betonen als die ostdeutsche. Die so erwarteten Differenzen sollen als Strukturhypothese zusammengefaßt werden. Gleichheit, Leistung, Mitbestimmung und Akzeptanz -für die Entwicklung dieser Werte ergab ein Überblick über Erhebungen in der BRD von 1950 bis 1990 folgende Trends: Gleichheit blieb konstant, Leistung ging zurück, Mitbestimmung stieg an und Akzeptanz ging zurück. Alle Wandlungen konzentrieren sich auf den Zeitraum zwischen 1965 und 1975; sie sind von Zeiten der Konstanz umrahmt. Sie lassen sich als ein Säkularisierungsprozeß verstehen: Wenn Lebenssinn in der beruflichen Arbeit und in selbstverständlichen Gewißheiten nicht mehr gefunden wird, dann muß er in der Gestaltung des sozialen Zusammenlebens gesucht werden. Der Wertewandel kann zeitlich eng lokalisiert und als ein Vorgang beschrieben werden, in dessen Verlauf ein „neuer“ Wert an die Stelle eines „alten“ trat: Mitbestimmung verdrängte Akzeptanz.
Wenn nun in der DDR eine Entwicklung unter der Decke gehalten wurde, die in der BRD freien Lauf hatte, dann sollte die westdeutsche Bevölkerung vor dem Wertewandel mit der ostdeutschen heute vergleichbar sein. Die Westdeutschen sollten also Gleichheit so stark wie, Leistung weniger, Mitbestimmung mehr und Akzeptanz weniger als die ost-deutsche Bevölkerung betonen. Die so erwarteten Differenzen sollen als Verzögerungshypothese zusammengefaßt werden.
Struktur-und Verzögerungshypothese widersprechen sich in der Voraussage über Gleichheit und Leistung. Gleichheit sollte im Westen nach der Strukturhypothese geringere, nach der Verzögerungshypothese ebenso starke Bedeutung beigemessen werden wie im Osten. Leistung sollte im Westen nach der Strukturhypothese mehr, nach der Verzögerungshypothese weniger betont werden. Die Differenzen bei Gleichheit und Leistung entscheiden also zwischen beiden Hypothesen. Struktur-und Verzögerungshypothese stimmen aber darin überein, daß Mitbestimmung im Westen mehr und Akzeptanz weniger Unterstützung als im Osten findet. Die Strukturhypothese prognostiziert Wertunterschiede aus den Unterschieden der Sozialverfassung, die Verzögerungshypothese geht nicht auf Unterschiede zwischen den Landesteilen ein. Die Strukturhypothese setzt theoretisch mehr voraus, die Verzögerungshypothese nutzt mehr empirische Vorinformationen. Beide Hypothesen aber konstruieren für den Osten eine Form der Entwicklung, die für den Westen typisch war: Beide nehmen an, daß Werte sich in der Gesellschaft entwickeln, ohne daß die Politik sie präjudiziert. Beide kennen keinen direkten Zugriff der Politik auf die Bevölkerung -wie er in der DDR gegeben war (einen zusammenfassenden Überblick bietet die Tabelle auf Seite 30). Sollten Struktur-und Verzögerungshypothese dort scheitern, wo sie die gleiche Voraussage treffen, dann bleiben überdauernde Effekte des politischen Systems der untergegangenen DDR als nachträgliche Erklärung.
Strukturchancen des Individualismus, Aufholtendenzen auf einer gemeinsamen Entwicklungsskala und Systemeffekte sind also drei Erklärungsmuster für Wertunterschiede zwischen der ost-und westdeutschen Bevölkerung, die sich nach ihrem Anspruch in eine Rangfolge bringen lassen. Sie sollen in dieser Rangfolge an den Daten überprüft werden.
III. Gleichheit und Gerechtigkeit: Stärker im Osten? Nein, stärker im Westen!
Die Alternative „Freiheit oder Gleichheit“ war in der BRD oft Streitpunkt öffentlicher Diskussionen -von Helmut Schelskys Polemik gegen den „betreuten Menschen“ 1975 bis zum Wahlslogan der CSU von 1980 „Freiheit oder Sozialismus“.
Aber mit „Freiheit“ sind sowohl die Freiheitsrechte aller -Meinungs-und Redefreiheit, Freizügigkeit, Presse-und Versammlungsfreiheit etc. -als auch die Selbstentfaltungsmöglichkeiten der einzelnen Person gemeint. Nur die Selbstentfaltungsmöglichkeiten, nicht aber die Freiheitsrechte können mit Gleichheit in einen Gegensatz gebracht werden. Freiheitsrechte müssen für alle gelten: für alle gleich sein -sonst handelt es sich um Privilegien. Und nur wenn die Freiheitsrechte herrschen, kann man über die Gleichheit der Chancen nachdenken, in diesen Freiheiten zu leben. Die Freiheitsrechte implizieren Gleichheit und sind die Voraussetzung für Chancengleichheit; weder im einen noch im anderen Sinn ist „Freiheit oder Gleichheit“ eine Alternative. Aber Selbstentfaltung kann durchaus mit -Gleichheit in einen Widerspruch treten. Wer sich selbst entfalten will, muß faktische Begünstigungen und Rechte gleichermaßen wahrnehmen und kann durch Versuche, gleiche Chancen herzustellen, eingeschränkt oder gehindert werden. In Gegensatz zur Selbstentfaltung treten dann nicht Chancengleichheit oder Gerechtigkeit, sondern Gleichmacherei. Gleichheit hat dabei den Unterton von Unfreiheit.
Wenn man nun die ost-und die westdeutsche Bevölkerung in einer Umfrage vor die Wahl zwischen Gleichheit und Selbstentfaltung stellt, so muß man gemäß der Strukturhypothese erwarten, daß die ostdeutsche Bevölkerung Gleichheit und die westdeutsche Selbstentfaltung bevorzugt; denn im Westen hat Selbstentfaltung die größeren Strukturchancen und ist um 1970 zum dominanten Wert geworden. Genau das ist der Fall. Aus einer Liste von Vorgaben, „was man im Leben wichtig und erstrebenswert finden kann“, wählen 54 Prozent der Westdeutschen und 51 Prozent der Ostdeutschen „Freiheit und Unabhängigkeit“ und 69 Prozent der Westdeutschen und 75 Prozent der Ostdeutschen „soziale Gerechtigkeit“. Zur Wahl zwischen den beiden „gleich wichtigen“ Werten der persönlichen Freiheit und der sozialen Gleichheit gezwungen, also zwischen dem Ziel, „daß jeder in Freiheit leben und sich ungehindert entfalten kann“, und dem Ziel, „daß niemand benachteiligt ist und die sozialen Unterschiede nicht so groß sind“, geben zwischen 1990 und 1994 zu vier Erhebungszeitpunkten bei den Westdeutschen rund 20 Prozentpunkte mehr als bei den Ostdeutschen der Freiheit den Vorzug Freiheit ist im Westen, Gleichheit im Osten wichtiger. Die Formulierungen dieser Fragen lassen zwar mit der Wiederholung des Wortes Freiheit die Bedeutung „Freiheitsrechte“ noch zu, reduzieren aber seine Explikation („Unabhängigkeit“, „ungehindert entfalten können“) auf „Selbstentfaltung“. Würde man Freiheit als Freiheitsrechte verstehen, so müßte man das Gegenteil der Ergebnisse erwarten: Nach der Diktatur einer Partei und dem Monopol einer Weltanschauung sollten die Ostdeutschen „Freiheit“ stärker betonen.
Anders als die Alternative „Freiheit oder Gleichheit“ krankt „Leistung oder Gleichheit“ nicht an einer Doppeldeutigkeit des Antipoden zur Gleichheit. Leistung ist das nach sozialen Gütekriterien meßbare Ergebnis persönlicher Anstrengung. Weil Leistung zugleich einen persönlichen Einsatz und einen sozialen Gewinn bedeutet, kann sie soziale Unterschiede rechtfertigen -aber nur dann, wenn Gleichheit der Chancen besteht. Gleichheit und Leistung bedingen einander; deshalb kann man sie als Alternative sehen und die Gleichheit der Chancen oder die Differenzierung nach Leistung für wichtiger halten. Im Jahre 1990 sollten Ost-und Westdeutsche angeben, „wovon es in einer zukünftigen Gesellschaft mehr geben sollte“; vorgegeben waren eher soziale Ziele auf der einen, eher individualistische Ziele auf der anderen Seite. Die Westdeutschen betonten die sozialen Zielwerte deutlich und die individualistischen nur geringfügig stärker als die Ostdeutschen: „Soziale Gleichheit“ wurde von dem Westdeutschen um 23, „Gesellschaftsreform“ um 14, „Solidarität“ um 12 und „soziale Gerechtigkeit“ um 10 Prozentpunkte häufiger betont als von den Ostdeutschen; „Leistung“ hingegen wurde nur von 10 Prozent und „Selbstverwirklichung“ nur von 7 Prozent der Westdeutschen mehr und „Freizeit“ von 5 Prozent weniger als von den Ostdeutschen gewählt Prozent der Westdeutschen mehr und „Freizeit“ von 5 Prozent weniger als von den Ostdeutschen gewählt 6. Weiterhin empfinden im Jahre 1990 mehr Westdeutsche die Worte Gleichheit und Solidarität, aber mehr Ostdeutsche das Wort Leistung als „sympathisch“. Gerade die Gleichheit und nicht die Leistung liegt den Westdeutschen mehr am Herzen als den Ostdeutschen.
Die beiden Vergleichsmaßstäbe des Wertes Gleichheit führen also zu einem Widerspruch. Verglichen mit Selbstentfaltung ist den Ostdeut-sehen die Gleichheit lieber, verglichen mit Leistung den Westdeutschen. Zwischen den beiden Ergebnissen läßt sich nur entscheiden, wenn man angibt, welche der beiden Alternativen von der Sache her enger mit Gleichheit verknüpft ißt: Selbstentfaltung oder Leistung. Die Antwort hier kann nur lauten: Leistung. Leistung ist der Antipode zu Gleichheit, weil Leistung Ungleichheit legitimiert; Selbstentfaltung aber bekräftigt ohne Legitimation Ungleichheit: Sie wird durch Chancengleichheit eingeschränkt und will sich über sie hinwegsetzen. Selbstentfaltung ist nur ein Impuls, der in Leistung resultieren kann, aber nicht notwendig Anstrengung impliziert oder sich sozialen Gütekriterien unterwirft. Insgesamt ergibt sich also der Schluß, daß Gleichheit nicht im Osten, sondern im Westen stärker betont wird. Im Überblick über alle Ergebnisse zu Gleichheit muß also das Resümee lauten: Die Strukturhypothese ist widerlegt, die Verzögerungshypothese kann zumindest aufrechterhalten bleiben (s. a. die Tabelle).
IV. Leistung: Schwächer im Osten? Nein, schwächer im Westen!
Drei Aspekte des Wertes Leistung wurden zwischen West und Ost verglichen. Erstens kann man das soziale Leben unter der Perspektive Leistung sehen und soziale Ungleichheit durch Leistung rechtfertigen. Im Jahre 1990 gehören „Leistung“ und die „Belohnung von Unterschieden statt der Angleichung von Einkommen“ im Westen in schwächerem Maße als im Osten zu einer „idealen Gesellschaft“ 1990 vor die Alternative gestellt, „Einkommensunterschiede sollten verringert werden“ oder „Für höhere Leistungen müßten größere Anreize geboten werden“, entscheiden sich die Westdeutschen für ersteres, die Ostdeutschen für letzteres 1991 findet der Satz „Soziale Gerechtigkeit heißt für mich, daß jeder den Platz in der Gesellschaft erhält, den er aufgrund seiner Leistungen verdient“ bei 29 Prozent im Westen, aber 50 Prozent im Osten volle Zustimmung 1991 wird Leistung als Verteilungsprinzip in zwei fiktiven Konfliktfällen -Soll ein Vater eine Auslands reise für zwei Söhne nach guter Schulleistung oder Los verteilen? Soll von zwei ansonsten gleichen Sekretärinnen die mehr bekommen, die besser arbeitet? -im Westen weniger unterstützt als im Osten Alle diese Ergebnisse zeigen, daß Leistung als Legitimation von Ungleichheit im Westen nicht mehr, sondern weniger Unterstützung findet als im Osten.
Zweitens kann man das persönliche Leben in der Perspektive Leistung sehen. Ihr „Leben als Aufgabe“ sehen zwischen 1990 und 1993 in fünf verschiedenen Stichproben rund 20 Prozent mehr Ostais Westdeutsche „Fleißig und ehrgeizig sein“ als persönliche Lebensmaxime ist 1990 und 1993 im Westen weniger wichtig als im Osten ebenso „Leistungsbereitschaft“ und „Etwas Wichtiges, Bedeutsames leisten“ „Erfolg“ ist 1990 für die persönliche Wohlfahrt im Westen weniger wichtig als im Osten Schließlich sind die Worte „Leistung“, „Ehrgeiz“ und „Verantwortung“ den Westdeutschen 1990/91 weniger „sympathisch“ als den Ostdeutschen Nach allen diesen Indikatoren dient die Leistung im Osten stärker als Orientierung für das persönliche Leben als im Westen.
Drittens kann man den Lebensbereich Arbeit und Beruf in der Perspektive Leistung sehen. „Einen Beruf, eine Arbeit, die mich ganz begeistert“ halten 1991 weniger West-als Ostdeutsche „für sehr erstrebenswert“. Der Satz „Ich möchte immer mein Bestes im Beruf geben, unabhängig davon, wieviel ich verdiene“ wird von weniger West-als Ostdeutschen unterstützt Eine „sinnvolle, befriedigende Arbeit“ ist 1993 als „Lebensziel“ im Osten wichtiger als im Westen Schließlich ist der „Erfolg im Beruf“ in drei Befragungen 1988/1990, 1993 und 1994 im Westen rund 20 Prozentpunkte weniger wichtig als im Osten Leistung als Inhalt von Arbeit und Beruf ist also nicht im Westen, sondern im Osten ein stärkerer Wert. Überblickt man die Ergebnisse, so hat Leistung unter allen drei Aspekten -soziales Leben, persönliches Leben, Arbeit und Beruf -mehr Anhänger im Osten als im Westen. Die Strukturhypothese, mit der eine größere Leistungsbereitschaft im Westen vorausgesagt wird, scheitert also durchweg; für die Verzögerungshypothese finden sich viele (s. a. die Tabelle).
V. Mitbestimmung: Schwächer im Osten? Ja, aber nicht durchgängig!
Mitbestimmung ist ein Wert vor allem dort, wo um Macht aufgrund von Machtunterschieden gerungen wird: in der Politik. Aber Machtunterschiede gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in der Familie und der Schule. Im folgenden werden daher zwei Formen von Mitbestimmung betrachtet: Teilhabe in der Politik und Egalitarismus in Familie und Schule.
1. Teilhabe an der Politik
Der Wert der Teilhabe kann zunächst aus der Wahrnehmung und dem Verhalten der Menschen erschlossen werden. Die wahrgenommene Wichtigkeit der Politik, das politische Interesse, die Selbsteinschätzung als „politisch engagiert“, die Häufigkeit politischer Unterhaltungen, die Bereitschaft zu politischem Engagement und die berichtete politische Aktivität sind in einer Vielzahl von Untersuchungen -von Ausnahmen im Jahr 1990 abgesehen -in beiden Landesteilen gleich Was das Verhalten betrifft, gibt es allerdings schon 1991 Unterschiede: So ist die Freizeitbeschäftigung, „aktiv in einem Verein, in einer Bürgerinitiative, Partei oder Gewerkschaft mitzuarbeiten“, im Westen mit 15 Prozent doppelt so häufig wie im Osten. Während Wahrnehmung und Verhalten aber nur Schlüsse auf den Wert der Teilhabe zulas-sen, wird er in Schätzungen der Wichtigkeit des politischen Engagements unmittelbar sichtbar. 1992 sind die Lebensziele „soziales Engagement“ und „politische Einflußnahme“ im Westen um rund 10 Prozentpunkte wichtiger als im Osten; 1993 ist „politisches Engagement“ im Westen wichtiger als im Osten Nur 1990 also wird die politische Teilhabe in manchen Indikatoren stärker im Osten, danach aber durchgängig im Westen stärker betont.
Die bisher verwendeten Indikatoren drücken Teilhabe an einer Politik aus, in der widerstreitende Interessen zusammengeführt und Ziele verwirklicht werden sollen. Seit der Mitte der sechziger Jahre hat sich in den westlichen Industriegesellschaften ein Verständnis entwickelt, das die Politik nicht nur als Technik der Selbststeuerung einer Gesellschaft, sondern auch als Instrument der Verwirklichung von Werten sieht: Die Politik soll nicht nur Leistungsansprüche für divergierende Interessen, sondern Wertansprüche für die Gesamtheit erfüllen. Teilhabe an der Politik ist dann weniger durch den Wunsch motiviert, Interessen zu befriedigen als Wertansprüche zu erfüllen. Im Westen kann der Anstieg von Wertansprüchen an der rückläufigen Betonung elementarer oder „materialistischer“ politischer Ziele -wie Wachstum, Inflationsbekämpfung und Vollbeschäftigung -und an der wachsenden Betonung höherer oder „postmaterialistischer“ Ziele -wie Garantie der Meinungsfreiheit, Schonung der Umwelt und Verschönerung der Städte -abgelesen werden. Man sollte also erwarten, daß Wertansprüche an die Politik im Westen, Leistungsansprüche im Osten in stärkerem Maße gestellt werden.
Zunächst zeigt sich an vier 1990 -noch vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober -erhobenen Indikatoren, daß im Osten Leistungs-und Wert-ansprüche häufiger gestellt werden, der Osten also zugleich materialistischer und postmaterialistischer ist als der Westen. In der DDR fanden 1990 folgende Ziele mehr Zuspruch als in der BRD: nach Sicherheit streben, hoher Lebensstandard, Macht und Einfluß, sich gegen andere durchsetzen; aber Phantasie, Kreativität und Toleranz wurden ebenso stark wie im Westen unterstützt. Folgende Aufgaben wurden im Vergleich zur BRD als dringlicher empfunden: Arbeitsplätze schaffen, Verbreit eben bekämpfen, Wirtschaft stabilisieren, Renten sichern und Kampf gegen Rauschgift, aber auch wirksamer Umweltschutz, Bürokratie abbauen, mehr für Frauen tun. Und folgende gesellschaftliche Ziele wurden stärker unterstützt: Wachstum fördern, stärkere Polizei, mehr Leistung, mehr Marktwirtschaft, mehr Belohnung unterschiedlicher Leistung, aber auch stärkere Bevorzugung der Umwelt vor Wachstum und mehr Bürgerentscheidung Da die materielle und die immaterielle Lage schlechter war, wollte die Bevölkerung der DDR sowohl ihre materielle als auch ihre immaterielle Lage verbessern, solange man ihr beide Wünschte offenließ und sie nicht zu einer Wahl zwang. Wenn die politischen Ziele nicht mehr unabhängig voneinander bewertet werden können, sondern in eine Rangfolge gebracht werden müssen, dann schickt sich die ostdeutsche Bevölkerung gleichsam in die sachlich gebotene Abfolge: erst die elementaren, dann die höheren Ziele. Auf allen Erhebungen einer Rangfolge von Werten zwischen 1990 und 1994 sind daher die Westdeutschen stärker postmaterialistisch als die Ostdeutschen Kurzum: Der Osten stellt größere Ansprüche an die Politik; wenn jedoch eine Priorität gesetzt werden soll, zeigt sich, daß Wertansprüche im Westen eine stärkere Position haben als im Osten.
Fassen wir zusammen: Ob Politik als Interessen-vermittlung oder Realisierung von Wertansprüchen verstanden wird, in beiden Hinsichten ist -sieht man vom Ausnahmejahr 1990 ab -Teilhabe im Westen wichtiger als im Osten.
2. Egalitarismus in Familie und Schule
Egalitarismus in Familie und Schule äußert sich zunächst darin, daß die Erziehung stärker auf die Autonomie des Kindes als auf die Wahrung von Konventionen zielt. Erziehungsziele der Autonomie können nur mit Blick auf die Absichten der Person beurteilt werden, Erziehungsziele der Konvention lassen sich schon am Verhalten überprüfen. Wenn jedes Erziehungsziel unabhängig vom anderen bewertet werden konnte, wurden 1991 Autonomieziele -Toleranz, Menschenkenntnis, Wissensdurst -in West und Ost gleich häufig, Konventionsziele -Höflichkeit, Sparsamkeit, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit -im Osten häufiger genannt Aber auch wenn zwischen den Zielen gewählt werden mußte, wurde 1991 „Selbständigkeit und freier Wille“ auf der einen Seite und „Ordnungsliebe und Fleiß“ sowie „Gehorsam und Unterordnung“ auf der anderen Seite in beiden Ländern gleich häufig gewählt Wenn 1992 insgesamt 13 Erziehungsziele in eine Rangfolge gebracht werden müssen, so sind in beiden Landesteilen die drei wichtigsten Ziele solche der Autonomie: Ehrlichkeit, Urteilsfähigkeit und Verantwortungsbewußtsein; die Unterschiede in den folgenden Rangplätzen lassen nur schwach eine Bevorzugung von Autonomie im Westen erkennen Kurzum: Solange nicht Prioritäten erzwungen werden, liegt Autonomie beiden Landesteilen gleich stark, Konvention aber dem Osten stärker am Herzen. Sobald eine Wahl erzwungen wird, belegt Autonomie in beiden Landesteilen die ersten Plätze, danach aber rangiert Konvention im Osten etwas höher. Beide Sichtweisen laufen auf dasselbe hinaus: Autonomie ist in beiden Landesteilen das selbstverständliche Erziehungsziel, aber Akzente werden im Westen eher auf Autonomie, im Osten eher auf Konvention gelegt.
Erzogen wird nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule; der Schule aber ist auch die Wissensvermittlung aufgetragen. Schulische Erziehungsziele lassen sich wie familiale in Autonomie und Konvention einteilen; hinzu kommt aber eine neue Dimension, die quer zur ersten steht: Wissensvermittlung gegen Persönlichkeitsbildung oder: kognitive gegen evaluative Zielwerte. Unter den evaluativen Zielwerten der Schule -seien es nun Autonomie-Werte wie Selbständigkeit oder Konventions-Werte wie Ordnung -finden sich nur so marginale Unterschiede zwischen den Landesteilen wie für die Autonomie-Werte in der Familie überhaupt. Unter den kognitiven Zielwerten aber bevorzugt der Westen deutlich „eigene Urteilsfähigkeit“, der Osten „gute Kenntnisse“ und „umfangreiches Wissen“; hier also steht im Westen Autonomie, im Osten Konvention an erster Stelle. Auch daß das Wort Autorität 1990 und 1991 dem Osten um mehr als 20 Prozentpunkte „sympathischer“ als dem Westen ist und daß im Osten „mehr Achtung vor Autorität“ um rund 30 Prozentpunkte häufiger „begrüßt“ wird als „Veränderung in der Zukunft unserer Gesellschaft“, spricht für eine stärkere Betonung konventioneller Erziehungsziele in Familie und Schule im Osten Ob man die Familie oder die Schule betrachtet -in beiden Lebensbereichen gilt der gleiche Tenor: Autonomie ist das selbstverständliche Erziehungsziel in beiden Landesteilen; aber Konvention hat im Osten mehr Gewicht als im Westen. Wenn man Autonomie und Konvention als ein Kontinuum nimmt, dann ist -alles in allem -der Westen näher am Pol der Autonomie, der Osten näher am Pol der Konvention. Die Ergebnisse zu Erziehungszielen ähneln den Ergebnissen zu Wertansprüchen. Im Osten ist alles wichtig, Konvention und Autonomie, Leistungs-und Wertansprüche. Nur weil die reale Situation eine Wahl erzwingt und nur wenn die Befragung diesen Wahlzwang simuliert, ergeben sich Differenzen: Der Osten ist aufgrund eines Nachholbedarfes materialistischer und legt mehr Wert auf Erziehungsziele der Konvention. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und zwischen Lehrern und Schülern erfordert von ihrer Aufgabenstellung her ein Machtgefälle, dessen Aufhebung in den Erziehungszielen vorweggenommen wird. Die Beziehung zwischen Mann und Frau enthält ein Machtgefälle von Tradition her, dessen Aufhebung die Norm der Gleichheit fordert. Gleiche Chancen für Männer und Frauen bedeuten, daß berufliche Wünsche der Frau nicht durch Pflichten der Familie eingeschränkt werden. Drei Erhebungen zur Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau in der Familie 1991/92 zeigen nur wenige Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen, solange es um die Beziehung zwischen Mann und Frau geht: Daß „es für eine Frau wichtiger ist, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen“ und daß „die Berufstätigkeit der beste Weg für eine Frau ist, um unabhängig zu sein“, wird in beiden Landesteilen mit gleicher Stärke abgelehnt bzw. bejaht. Sobald es aber um den Konflikt zwischen Kind und Beruf geht, betont der Osten stärker die Gleichheit: Daß „eine berufstätige Mutter ein genauso herzliches und vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Kindern finden“, eine Berufstätigkeit der Mutter „sogar gut für ein Kind“ sein kann, „ein Kleinkind unter der Berufstätigkeit der Mutter nicht leiden“ würde und daß es „für alle Beteiligten nicht besser sei, wenn die Frau sich um den Haushalt und die Kinder kümmert“, diese Ansichten werden im Osten deutlich öfter vertreten als im Westen. In einer weiteren Untersuchung 1991 wird die Berufstätigkeit der Mütter bei jedem Alter der Kinder im Osten häufiger als im Westen bejaht Die stärkere Betonung der Gleichheit im Osten wird in den drei Untersuchungen 1991/1992 schließlich ebenso deutlich sichtbar, wenn es um den Nutzen der Berufstätigkeit der Frau für die Familie geht: Daß „beide, Mann und Frau, zum Haushaltseinkommen beitragen sollen“ und daß „eine verheiratete Frau“ mit einem „Mann, der für den Unterhalt der Familie sorgen kann“, nicht auf den Beruf verzichten solle, um Arbeitsplätze freizumachen, wird im Osten ebenfalls häufiger angegeben als im Westen.
Daß der Osten die Gleichheit der Geschlechter, sobald es um den Konflikt zwischen Beruf und Kind und um den Beitrag der Frau zum Familieneinkommen geht, stärker betont, kann nicht ohne weiteres als größerer Egalitarismus gewertet werden. Die prekäre Arbeitskräftesituation in der DDR erzwang und die bessere Versorgung mit Kindergartenplätzen erlaubte eine stärkere Berufs-tätigkeit der Frau im Osten; die entsprechenden Einstellungen sind noch dem Verdacht ausgesetzt, eher der Not als dem Wunsch nach Selbstverwirklichung entsprungen zu sein. Daß jedoch unter den angespannten Verhältnissen am Arbeitsmarkt der Verzicht auf eine Berufstätigkeit der Frau im Osten stärker abgelehnt wird kann ohne Probleme als Indiz für Egalitarismus in der Familie gewertet werden.
Im Rückblick auf den Egalitarismus in Familie und Schule finden sich keine einheitlichen Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen: Erziehungsziele der Autonomie sind im Westen, die Gleichheit der Geschlechter in der Familie im Osten ein stärkerer Wert; in der Erziehung ist der Egalitarismus im Westen, in der Partnerbeziehung im Osten stärker ausgeprägt. Blicken wir aber noch weiter zurück auf den Egalitarismus in Familie und Schule und auf die Teilhabe an der Politik, so kippt die geringfügig stärkere Identifikation mit der politischen Teilhabe im Westen doch die Balance. Alles in allem wird der Wert der Mitbestimmung im Westen stärker unterstützt; aber der Unterschied ist weder einheitlich noch dramatisch. Struktur-und Verzögerungshypothese werden -im großen und ganzen -bestätigt (s. a. die Tabelle).
VI. Akzeptanz: Stärker im Osten? Im Falle von Moralität ja, nicht jedoch bei Religiosität!
Mitbestimmung und Akzeptanz widerstreiten einander. Mitbestimmung ist das Bestreben, über Traditionen und Autoritäten zu entscheiden; Akzeptanz ist die selbstverständliche Anerkennung von Traditionen und Autoritäten. Traditionen und Autoritäten zu rechtfertigen war und ist eine Aufgabe der Religion; aber die Regeln des Zusammenlebens können auch ohne Rechtfertigungen hingenommen werden. Akzeptanz war in religiöser Praxis und religiösem Glauben enthalten, bevor sie sich als religiös nicht gebundene Werthaltung der Anerkennung von Institutionen denken ließ; Akzeptanz kann daher auch heute noch zuerst an der Bedeutung der Religion, dann an Moralität abgelesen werden.
1. Religiosität
Religiosität ist zunächst institutionell geprägt durch kirchliche Praxis und christlichen Glauben. Eine Vielzahl von Untersuchungen zwischen 1990 und 1994 zeigt, daß kirchliche Praktiken -vom Kirchgang bis zum Gebet, von der Taufe über die kirchliche Trauung bis zum Wunsch nach kirchlicher Beerdigung -und christliche Glaubensüberzeugungen -Gott, Seele, Sünde, das Leben nach dem Tod, die Auferstehung Jesu, die Auferstehung der Toten, Himmel, Teufel und Hölle, Wunder, die historische Wahrheit der biblischen Geschichte, die Bestimmung von Richtig und Falsch durch Gottes Gesetz -im Westen weitaus häufiger sind als im Osten Die christliche Religiosität ist also im Westen stärker verbreitet als im Osten.
Religiosität bezieht sich aber nicht nur spezifisch auf das Christentum; sie äußert sich auch diffus im Selbstverständnis und in der Wertschätzung der Religion im Alltag. Als religiös verstehen sich 1990, 1994 und 1995 rund 55 Prozent der Bevölke-rung im Westen und rund 30 Prozent im Osten, als überzeugte Atheisten rund 5 Prozent im Westen und rund 20 Prozent im Osten „Aus dem Glauben persönlich Trost und Kraft“ ziehen 1990 und 1994 rund 45 Prozent im Westen, rund 25 Prozent im Osten Wenn die Bedeutung der Religion unter einer Vielzahl von anderen Lebensbereichen oder an und für sich eingeschätzt werden soll, ist sie in mehreren Erhebungen 1990, 1991 und 1992 im Westen wichtiger als im Osten Nicht nur die christliche, sondern auch die diffuse Religiosität ist also im Westen stärker als im Osten.
Christliche und diffuse Religiosität lassen sich an der Stellungnahme zu religiösen Grundfragen miteinander vergleichen. Jede Religion gibt Antworten auf die Fragen nach dem Sinn der Welt und dem Sinn des Lebens. Wie drei Erhebungen 1990, 1991 und 1992 zeigen, sind im Westen christlichtheistische Antworten auf diese Fragen deutlich und diffus-deistische etwas stärker, im Osten szientistische Antworten -das Leben als Gesetz der Natur -deutlich und existentialistische Antworten -dem Leben selber einen Sinn geben -etwas stärker verbreitet; Agnostizismus ist jedoch in beiden Landesteilen gleich stark ausgeprägt. Im Westen sind also Antworten häufiger, die sich -in der christlichen oder philosophischen Tradition -auf jenseitige Instanzen berufen; im Osten Antworten, die an die diesseitige Instanz der Natur oder die Aktivität des Menschen appellieren. Im Westen sind konkrete Antworten, die von allen geglaubt werden müssen, stärker vertreten; im Osten formelhafte Antworten, die vom einzelnen mit konkretem Sinn gefüllt werden müssen. Auch an religiösen Grundorientierungen gemessen, ist Akzeptanz im Westen stärker als im Osten.
Ob man also spezifische oder diffuse Religiosität betrachtet -der Osten ist von der Religion weiter abgerückt als der Westen; er ist stärker säkularisiert als der Westen. An Religiosität gemessen, ist Akzeptanz im Osten schwächer als im Westen; das ist -gemessen an der Zahl der Erhebungen und der Größe und Übereinstimmung der Differenzen über eine Vielzahl von Indikatoren -der massivste Unterschied zwischen den Landesteilen. Struktur-wie Verzögerungshypothese scheitern mit ihrer übereinstimmenden Voraussage. Die geringere Akzeptanz im Osten muß durch einen System-effekt erklärt werden. In der Tat ist es nicht schwer, in der massiven Säkularisierung des Ostens die Nachwirkung der Unterdrückung der Kirchen in der DDR zu erkennen.
2. Moralität
Jede Moral verlangt im Ernstfall des Konflikts die Unterordnung eigener Interessen unter „höhere“ Gesichtspunkte, die entweder durch Kollektivgüter oder durch Werte definiert sind; Moralität ist die entsprechende Voreinstellung der Person, also die Bereitschaft, die Selbstentfaltung des Individuums zugunsten der Verpflichtungen für Gemeinschaften oder der Forderungen von Werten zu beschränken. Etwas genauer kann Moralität daran gemessen werden, ob die Person bestimmte Institutionen und bestimmte Gebote für sich anerkennt.
Institutionen verkörpern Werte: Wer sich mit ihnen identifiziert, akzeptiert ihre Werte. Weil Institutionen Werte verkörpern, können sie das Zusammenleben regeln; sie schaffen bestimmte Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung, indem sie andere ausschließen. Die Anerkennung von Institutionen ist vor allem dort ein Indikator für Akzeptanz, wo die Grenze zwischen institutionell legitimierten und nicht legitimen Wegen der Bedürfnisbefriedigung verschwimmt, wo der praktische Nutzen auch ohne die moralische Selbstbindung der Person zu haben ist. Das ist heute auf dem Gebiet des privaten Lebens der Fall; die Anerkennung von Ehe und Familie als Institutionen, die die Geschlechter und Generationen auch jenseits sexueller und emotionaler Gratifikationen aneinander binden, kann daher als Indikator für Akzeptanz gewertet werden.
Die Ehe halten 1990 in beiden Landesteilen rund 13 Prozent für „eine überholte Einrichtung“; umgekehrt wollen 1991 in beiden Landesteilen etwa 30 Prozent die Scheidung erschweren oder unmöglich machen Solange nur die traditionelle Form des Zusammenkommens und Auseinandergehens der Geschlechter angesprochen wird, unterscheiden sich beide Landesteile nicht. Aber wenn die Möglichkeit eines Zusammenlebens ohne Trauschein angeboren wird, ist die Akzeptanz der Ehe im Westen etwas geringer als im Osten. „Daß man heiraten sollte, wenn man mit einem Partner auf Dauer zusammenlebt“, wird im Osten 1991 und 1992 von rund drei Prozent der Befragten mehr bejaht als im Westen -eine geringe, aber in unabhän-gigen Befragungen wiederholte Differenz Die Differenz wird größer, wenn nicht die Ehe, sondern die Familie angesprochen wird. „Daß man eine Familie braucht, um wirklich glücklich zu sein“, bejahen 1991 und 1992 in drei Untersuchungen im Osten rund 15 Prozent der Befragten mehr als im Westen. Noch größer wird die Differenz, wenn man nicht die Beziehung der Geschlechter, sondern der Generationen betrachtet. „Ganz egal, welche Vorzüge und Fehler die Eltern haben, man muß sie immer lieben und ehren“ und „Es ist die Pflicht der Eltern, das Beste für ihre Kinder zu tun, auch wenn sie selbst dafür zurückstecken müssen“ -diese beiden Aussagen werden 1990 bzw. 1991 von rund 20 Prozent mehr im Osten als im Westen bejaht in beiden Richtungen des Generationenverhältnisses stellt der Osten die Verpflichtung gegenüber der Familie häufiger über die Selbstverwirklichung. Bei insgesamt drei Indikatoren also ist die Akzeptanz von Institutionen im Osten größer als im Westen.
Institutionen implizieren -wie die Frageformulierungen zeigen -mehr oder minder deutlich moralische Gebote; Akzeptanz läßt sich daher auch explizit an der Zustimmung zu moralischen Geboten erfragen. Wenn 1990 im Rahmen einer Umfrage 24 moralisch bewertbare Verhaltensweisen auf einer Skala zwischen „darf man unter keinen Umständen tun“ und „ist in jedem Fall in Ordnung“ eingestuft werden müssen, so wertet die ostdeutsche Bevölkerung fast immer strenger als die westdeutsche. Im Westen werden sowohl Verstöße gegen überpersonale Werte (Scheidung, Notwehrtötung, Prostitution, Selbstmord, Geschlechtsbeziehung zwischen Minderjährigen, Homosexualität, Handgreiflichkeit gegen Polizei, Alkohol am Steuer, Mord aus politischen Gründen, Marihuana-oder Haschischkonsum) als auch gegen die Regel der Reziprozität (Lügen für den eigenen Vorteil, gefundenes Geld behalten, Steuern hin-terziehen, Schwarzfahren, unberechtigt Sozialleistungen beanspruchen, gestohlene Waren kaufen) eher akzeptiert als im Osten. In beiden Landesteilen etwa gleich bewertet werden: Euthanasie, Schmiergelder annehmen, Streiks brechen, Beschädigung eines geparkten Autos nicht melden, Abfall auf öffentlichen Plätzen wegwerfen, Spritztour mit gestohlenem Auto. Allein die Abtreibung, die in der DDR bis zum Ende des dritten Monats der Schwangerschaft gesetzlich legitimiert war und nach der Vereinigung aktuell zur Debatte stand, wird im Osten seltener negativ beurteilt. In einer anderen Befragung 1992 werden die Nicht-rückgabe von an der Kaufhauskasse zuviel ausbezahltem Geld und der Betrug der Hausratversicherungen im Westen eher akzeptiert als im Osten. Schließlich sind Verstöße gegen Verpflichtungen am Arbeitsplatz (eigenmächtige Pausenverlängerung, Arztbesuche während der Arbeitszeit, zu Hause bleiben bei Unwohlgefühl etc.) 1991 durchweg im Westen eher akzeptiert
Sowohl an der Anerkennung von Institutionen als auch von Geboten gemessen ist der Wert Akzeptanz also im Osten stärker ausgeprägt als im Westen -wie es Struktur-und Verzögerungshypothese Voraussagen. Die christliche Religiosität, die Akzeptanz in sich trägt, ist jedoch im Osten schwächer als im Westen -entgegen der Struktur-und Verzögerungshypothese. In den beiden Dimensionen der Akzeptanz laufen die Ergebnisse in die entgegengesetzte Richtung. Der Osten ist stärker säkularisiert, aber moralisch rigider als der Westen (s. a. die Tabelle).
VII. Erklärungen und Prognosen
Wie bewähren sich Struktur-und Verzögerungshypothese, wenn man alle vier Werte überblickt? Bei Gleichheit und Leistung, den beiden Werten, die zwischen den beiden Hypothesen entscheiden, wird die Strukturhypothese widerlegt: Gleichheit ist im Westen und Leistung im Osten wichtiger; die Verzögerungshypothese hingegen ist mit der größeren Bedeutung von Gleichheit im Westen vereinbar und hatte die größere Bedeutung von Leistung im Osten vorausgesagt. Bei Mitbestimmung und Akzeptanz, wo beide Hypothesen übereinstimmen, werden beide nur partiell bestätigt: Mitbestimmung ist wie erwartet im Westen etwas stärker; Akzeptanz ist entgegen der Erwartung im Westen stärker, wenn religiöse Einstellungen betrachtet werden, und wie erwartet im Osten stärker, wenn moralische Einstellungen betrachtet werden. Die Strukturhypothese scheitert also überall, außer bei der Mitbestimmung; die Verzögerungshypothese hingegen ist mit allen Unterschieden zumindest vereinbar, außer denen der religiösen Einstellungen. Daß entgegen Struktur-wie Verzögerungshypothese religiöse Einstellungen im Osten schwächer sind, verlangt eine nachträgliche Erklärung: Ursache ist ein fortwirkender Effekt des untergegangenen Systems der DDR.
Von den drei eingangs dargestellten Erklärungsmustern des Vergleichs scheitert das anspruchsvollste -die Strukturhypothese -fast auf der ganzen Linie, und auch das weniger anspruchsvolle -die Verzögerungshypothese -greift nicht richtig, so daß auf die anspruchsloseste Erklärung -durch Systemeffekte -nicht verzichtet werden kann. Aufholtendenzen und Systemeffekte -damit können Wertunterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland erklärt werden; damit müssen Prognosen begründet werden (s. dazu im einzelnen die Tabelle).
Daß Gleichheit im Westen stärker betont wird, widerspricht der Struktur-wie der Verzögerungshypothese. Die Ergebnisse werfen an der Begründung der Strukturhypothese Zweifel auf: Die Strukturchancen des Individualismus werten Gleichheit nicht ab, sondern auf; statt einer naturwüchsigen Selbstentfaltung Raum zu verschaffen, schärfen sie den Sinn für die Bedingung von Individualität: die Gleichheit der Chancen. Die Sozial-verfassung der BRD hat die naturwüchsige Selbstentfaltung gefördert, aber sie war auch der Chancengleichheit verpflichtet. Sie förderte beide Komponenten des Individualismus, die Selbstentfaltung und ihre Voraussetzung Chancengleichheit: Die Marktwirtschaft war liberal und sozial, das private Eigentum geschützt und sozial gebunden, das Bildungswesen „naturwüchsig“ differenziert und zu Chancengleichheit verpflichtet. In der DDR hingegen wurde die Gleichheit der Ergebnisse so stark betont, daß die Gleichheit der Chancen als Ursache und Rechtfertigung von Ungleichheit aus dem Blick geriet. So erklärt sich das größere Gewicht der Gleichheit im Westen. In der BRD hat sich der Wert Gleichheit nicht gewandelt, so daß auch in Westdeutschland heute kein Wandel erwartet werden sollte. In Ostdeutschland aber sollte mit der Einübung in die neue Sozialverfassung und mit der zunehmenden faktischen Ungleichheit auch das westliche Verständnis von Gleichheit verbindlich werden; die Gleichheit der Chancen sollte auf Kosten der Gleichheit der Er gebnisse gewinnen. Auf die Dauer sollten sich die beiden Landesteile durch eine Anpassung des Ostens annähern.
Daß Leistung im Osten stärker betont wird, entspricht der Verzögerungshypothese. Im Westen sind bis 1989 die Strukturchancen für Leistung sicherlich gewachsen: Die Technisierung hat den Schwerpunkt der Arbeit von der Objektbearbeitung auf die Kontrolle, von der Einzelaktivität auf die Kooperation verschoben; die Ausführung von Routinen wurde weniger, die flexible Anwendung von Prinzipien auf wechselnde Sachprobleme mehr gefordert Dennoch ist im Westen die Identifikation mit Leistung seit 1970 deutlich zurückgegangen. Gliedert man in mehreren Befragungen zwischen 1956 und 1981 die Bevölkerung nach Alterskohorten -also nach Gruppen fester Geburtsjahrgänge, die zwischen 1956 und 1981 älter werden -, so stellt sich der globale Rückgang als Effekt der Kohortensukzession dar: Jede jüngere Kohorte ist weniger leistungsorientiert, aber alle Kohorten bleiben auf ihrem Niveau, so daß mit der natürlichen Folge der Generationen Leistung an Boden verliert Die Konstanz jeder Kohorte in der Zeit aber deutet daraufhin, daß der Rückgang des Wertes nicht mit einem Rückgang des Leistungsverhaltens, sondern mit einem Wandel der Rhetorik verbunden ist: Leistung ist weniger ein Stereotyp, dem die Person sich unterwirft („Leben als Aufgabe“), als ein Maßstab, der aus der Umwelt abgelesen werden muß; sie verpflichtet weniger zur Aufgabe des Selbst, als zum Erfolg in der Sache. Mit weniger Emphase kann deshalb das Mehr „geleistet“ werden, das der strukturelle Wandel fordert. Der Individualismus zeigt sich nicht im Streben nach Selbstaufopferung ohne Erfolgsdruck, sondern in begrenzten Engagements mit sachlichen Erfolgskriterien; nicht in der bedingungslosen Hingabe, sondern im kalkulierten Einsatz der Person. Wenn aber der Rückgang der Leistungswerte im Westen ein versachlichtes Selbstverständnis spiegelt, dann sollte die stärkere Identifikation des Ostens mit Leistungswerten sich daraus ergeben haben, daß an der emphatischen Leistungsrhetorik festgehalten wurde. Aber die Strukturen der Arbeitswelt werden im Osten in Zukunft sich in der gleichen Weise wandeln wie im Westen in der Vergangenheit; und die Menschen im Osten werden in der gleichen Weise reagieren wie die im Westen. Mittel-bis langfristig werden im Osten wohl die Leistungsindikatoren an Zustimmung verlieren, ohne daß das Leistungsverhalten erodiert. Es ist also eine Anpassung des Ostens zu erwarten, die den Individualismus nicht zurückschraubt, sondern -im Einklang mit strukturellen Anforderungen -vorantreibt: vom unbedingten Wollen der Person zum sachlich bedingten Erfolg. Auf die Dauer sollten sich die beiden Landesteile durch eine Anpassung des Ostens annähem.
Hinsichtlich des Wertes Mitbestimmung zwingen die Ergebnisse dazu, Teilhabe an der Politik und Egalitarismus im Privatleben getrennt zu betrachten und beim Egalitarismus zwischen Erziehung und Partnerschaft zu unterscheiden. Die Teilhabe an der Politik hatte in der westlichen Konkurrenz-demokratie größere Chancen als in der östlichen Einparteienherrschaft -und steht daher auch als Wert im Westen höher als im Osten. Daß politische Teilhabe im Westen stark aufgewertet wurde, ist ein Argument für die Prognose, daß politische Teilhabe auch im Osten gewinnen wird -aktueller Apathie und Wahlmüdigkeit zum Trotz. Auf die Dauer sollten sich die beiden Landesteile durch eine Anpassung des Ostens angleichen.
Daß sich die Hochschätzung politischer Teilhabe in Egalitarismus in der Erziehung übersetzt, trifft wohl nur für die Bundesrepublik zu; in der DDR hat die staatliche Führung gleichermaßen eine für sie folgenlose Teilhabe wie eine in ihrem Sinne disziplinierte Erziehung gefordert und durchgesetzt. Deshalb haben im Westen Autonomie-Werte über Konventions-Werte in stärkerem Maße die Ober-hand gewonnen als im Osten. Deshalb sollte im Osten für die Erziehung in der Familie wie in der Schule sich das gleiche Kräfteverhältnis hersteilen; da auch im Osten die Autonomie-Werte recht hoch rangieren, sollte die Angleichung an den Westen vor allem aus einer Abwertung der Konventions-Werte resultieren. Auf die Dauer sollten sich die beiden Landesteile durch eine Anpassung des Ostens angleichen.
In der Partnerschaft hingegen hatte der Individualismus in der DDR, wo flächendeckende öffentliche und betriebliche Einrichtungen die Frauen von Familienarbeit entlasten sollten, mehr Strukturchancen als in der alten BRD. Der Egalitarismus der Partnerschaft ist daher im Osten stärker und wird sich nicht zurückschrauben lassen -wie die Debatten um die Arbeitslosigkeit von Frauen und die Gesetzgebung zur Abtreibung zeigen. Im Westen hingegen ist der Egalitarismus der Partnerschaft seit den sechziger Jahren angestiegen, so daß ein höheres Niveau im Osten zusätzlichen Schwung für eine weitere Entwicklung in die gleiche Richtung liefern kann. Anders als für alle zuvor betrachteten Werte wird also keine Anpassung des Ostens an den Westen erwartet. Vielmehr überdauert ein Systemeffekt des Ostens, so daß zum ersten Mal ein Wandel im Westen zur Debatte steht. Der frühere Trend im Westen weist in die gleiche Richtung wie der Systemeffekt des Ostens: Die Zunahme des Egalitarismus der Partnerschaft im Westen sollte durch den Vorsprung des Ostens zusätzlich Schwung bekommen. Auf die Dauer sollten sich die beiden Landesteile durch eine Anpassung des Westens angleichen.
Beim Wert Akzeptanz zwingen die Ergebnisse dazu, Religiosität und Moralität getrennt zu betrachten. Gemessen an christlicher Religiosität, ist Akzeptanz im Westen stärker als im Osten. Weder führen -wie die Strukturhypothese nahelegt -die größeren Chancen des Individualismus im Westen zu einer stärkeren Lösung von Christentum und Kirche; noch wurde -wie die Verzögerungshypothese nahelegt -eine Entwicklung im Osten aufgehalten. Wenn überhaupt eine gemeinsame Tendenz die Entwicklungen in den beiden Landesteilen bestimmt hat, dann wurde sie im Osten nicht aufgehalten, sondern forciert: Der Westen hat sich um 1970 stark säkularisiert, aber der Osten ist heute stärker säkularisiert. Die Säkularisierung des Ostens war staatlich erzwungen; die Säkularisierung des Westens erfolgte „heimlich“ und ungesteuert. Wie sollte heute der Westen, der sich zuvor freiwillig säkularisiert hat, den Osten dazu bringen, die erzwungene Säkularisierung zurückzunehmen? Und wie sollten heute im Osten Impulse für eine christliche Religiosität aufkommen, die im Westen zuvor versiegt waren? Man muß erwarten, daß die Säkularisierung des Ostens Bestand hat. Die Politik hat einen langfristig beständigen Systemeffekt geschaffen. Wiederum stellt sich mit einem Systemeffekt des Ostens die Frage nach einer Prognose für den Westen. Wiederum ziehen die eigenständige Entwicklung wie der Vorsprung des Ostens den Westen in die gleiche Richtung: in die eines weiteren Rückgangs der Religiosität. Aufdie Dauer sollten sich die beiden Landesteile durch eine Anpassung des Westens angleichen.
An Moralität gemessen, ist Akzeptanz im Westen schwächer als im Osten. Das läßt sich von beiden Seiten her erklären. Im Westen bieten die Garantie der Freiheitsrechte, die Konkurrenz der Parteien und der Pluralismus der Kultur strukturelle Chancen, daß Überzeugungen in Konflikte geraten, die nur mit übergreifenden Begründungen gelöst werden können. Konkrete moralische Gebote verlieren an Autorität zugunsten der Prinzipien, nach denen sich über Gebote entscheiden läßt. Aber in Bevölkerungsumfragen werden moralische Einstellungen an konkreten Geboten und nicht an abstrakten Prinzipien abgefragt. Daß im Westen die Akzeptanz von Institutionen und Geboten schwächer ist als im Osten, resultiert vielleicht daraus, daß der Schwerpunkt der moralischen Diskussion sich auf eine abstraktere Ebene verlagert hat. Im Osten hingegen beanspruchte die marxistische Weltanschauung das Recht, alleinverbindlich moralische Gebote zu begründen; sie drängte die Kirchen als konkurrierende Mächte zurück und erstickte genau jene Auseinandersetzungen, die von der Akzeptanz konkreter Gebote zu ihrer Begründung durch Prinzipien führen können. Sie schuf eine säkulare, aber rigide Moral, die sich in der höheren Akzeptanz aller moralischen Gebote im Osten widerspiegelt. Nicht nur die Säkularisierung, sondern auch die Moralität des Ostens ist also ein Systemeffekt. Anders als beim Egalitarismus der Partnerschaft und der christlichen Religiosität aber läuft bei der Moralität der Systemeffekt des Ostens in die entgegengesetzte Richtung zur Entwicklung im Westen: Im Westen hat sich die Moralität von Geboten auf Prinzipien zubewegt, im Osten wurde sie auf der Ebene von Geboten angehalten. Ein Systemeffekt gegen die Entwicklung aber wird langfristig kaum überleben. Auf die Dauer sollte die Moralität des Ostens zurückgehen. Auf die Dauer sollten sich die beiden Landesteile durch eine Anpassung des Ostens angleichen. Überblickt man die vermuteten Wege der Annäherung, so ist nicht zu übersehen, daß der Osten stärker auf den Westen als der Westen auf den Osten zukommen sollte. Das ergibt sich auf der Basis der Prognosen, der wachsenden Erfahrung des Ostens mit der heute gemeinsamen, aber dem Westen schon lange vertrauten Sozialverfassung. Nur dort, wo die DDR Systemeffekte geschaffen hat -beim Egalitarismus der Partnerschaft, der Religiosität und der Moralität -, kommt für den Westen die Möglichkeit der Anpassung auf. Nur dort, wo die Systemeffekte die Wiedervereinigung überdauern, könnte diese Möglichkeit auch Realität werden: beim Egalitarismus der Partnerschaft und der Religiosität. Bei allen übrigen Werten, insbesondere beim für moderne Industriegesellschaften zentralen Wertepaar Gleichheit und Leistung und bei der Teilhabe an der Politik, sollte sich der Osten dem Westen anpassen.
Heiner Meulemann, Dr. phil, geb. 1944; Professor für Soziologie, Direktor des Instituts für angewandte Sozialforschung der Universität zu Köln. Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Bildungssoziologie und des sozialen Wandels, zuletzt: Die Geschichte einer Jugend -Lebenserfolg und Erfolgsdeutung ehemaliger Gymnasiasten zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr, Opladen 1995.
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