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Von Mao zu Deng: Chinas Wandel vom Totalitarismus zum Autoritarismus | APuZ 50/1995 | bpb.de

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APuZ 50/1995 Veränderungen in einem „strategischen Dreieck“ Zum gewandelten Verhältnis Chinas gegenüber Rußland und den USA Die Volksrepublik China und Taiwan. Die Gratwanderung zweier chinesischer Staaten zwischen Politik und Wirtschaft Die stille Revolution von unten Wandlungsprozesse im ländlichen Raum Chinas Von Mao zu Deng: Chinas Wandel vom Totalitarismus zum Autoritarismus Politische Opposition innerhalb und außerhalb Chinas. Programme, Ziele und Rolle

Von Mao zu Deng: Chinas Wandel vom Totalitarismus zum Autoritarismus

Xuewu Gu

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Deng Xiaopings Pragmatismus und Materialismus haben zur Erosion der drei Säulen der maoistischen Herrschaft -die totale ideologische Indoktrination, die totale politische Gleichschaltung und die totale Nachrichtenkontrolle -geführt und Chinas politisches System von einer totalitären in eine autoritäre Diktatur umgewandelt. Der wesentliche Unterschied zwischen der totalitären Herrschaft von Mao Zedong und der autoritären Herrschaft von Deng Xiaoping besteht darin, daß der Mensch unter der Herrschaft von Mao sowohl im Denken als auch im Handeln unfreiwar, während er unter dem Regime von Deng weitgehende innere Autonomie und begrenzte Freiräume des Handelns besitzt. Der autoritären Herrschaft unter Deng fehlt die Kraft, tief ins menschliche Denken einzudringen; sie muß einen -allerdings sehr begrenzten -gesellschaftlichen Pluralismus hinnehmen. Eine chinesische Transformation vom Autoritarismus zur Demokratie ist noch nicht in Sicht.

I. Vorbemerkung: Was für ein politisches System hat China heute?

Am 9. September 1976 starb der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas: Mao Zedong. Mit seinem Tod endete die Zeit der „permanenten Revolution“ in der Volksrepublik China. Im Juli 1977 ergriff Deng Xiaoping, der zweimal von Mao Zedong entmachtet worden war, die Macht. Eine neue Ära brach an.

Unmittelbar nach seiner Machtergreifung begann Deng Xiaoping, das maoistische China zu reformieren. Seine „Politik von Reform und Öffnung“ (Gaige Kaifang) machte das Reich der Mitte zu einem der wirtschaftlich dynamischsten Gebiete der Welt. Geschäftsleute und Politiker aus aller Welt pilgern seither nach Peking, um sich ihren Teil an den zweistelligen Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft zu sichern. Die Wirtschaft des 1200-Millionen-Staates boomt.

In der Öffentlichkeit der westlichen Welt, aber auch unter den Chinaexperten in der ganzen Welt, herrscht das Image von Deng Xiaoping als Förderer der wirtschaftlichen Liberalisierung und Bremser der politischen Erneuerung. Dementsprechend wurde der Eindruck verbreitet, daß China zwar wirtschaftlich liberal geworden, politisch aber immer noch totalitär sei. Abgesehen davon, daß in einem totalitären System ein oder mehrere Teilsysteme liberal sein können, verkennen die Anhänger des herrschenden China-Bildes den politisch-strukturellen Wandel, der sich in der Ära Deng Xiaoping vollzogen hat und somit die tatsächlichen Eigenschaften des gegenwärtigen Regimes Chinas: Chinas politisches System hat sich vom maoistischen totalitären Herrschaftssystem zum dengistischen autoritären Regime gewandelt. .

Totalitarismus und Autoritarismus sind insofern miteinander verwandt, als beide undemokratische und freiheitsunterdrückende Diktaturen sind.

Aber in der Breite und in der Tiefe der politischen Beherrschung unterscheiden sich Totalitarismus und Autoritarismus voneinander. Die totalitäre Diktatur stützt sich auf eine umfassende und tief-greifende politische Durchdringung und Beherrschung der Gesellschaft und des menschlichen Lebens. Es gibt keinen Teilbereich der Gesellschaft, der nicht politisch beherrscht wird. Eine totalitäre Herrschaft kontrolliert also nicht nur das äußere Verhalten, sondern dringt zugleich tief in das Bewußtsein der Menschen ein. Demgegenüber beschränkt sich die politische Beherrschung in einer autoritären Diktatur auf das politische Geschehen und auf bestimmte Teilbereiche der Gesellschaft. Eine begrenzte Autonomie von Teilsystemen und Unabhängigkeit von Teilgruppen auf nichtpolitischen Gebieten wird gewährt oder geduldet. Die Kraft des autoritären Systems reicht nur aus, um das (äußere) Verhalten des Menschen zu kontrollieren. Das (innere) Denken der Menschen entzieht sich also seiner Kontrolle. Eine wirkliche ideologische Gleichsetzung von Herrschenden und Beherrschten -im Sinne der totalen Unterwerfung letzterer -gibt es in einem autoritär organisierten politischen System nicht

Obwohl China nach wie vor ein von Kommunisten regiertes Land ist, erweist sich die gegenwärtige Parteiherrschaft im Hinblick auf die Breite und die Tiefe der politischen Beherrschung der Menschen begrenzter als in der Mao-Zeit. Die totalitäre Herrschaft im Sinne des Maoismus ist im Zuge der dengistischen Reformen untergegangen. An die Stelle der totalitären Diktatur ist in China eine autoritäre Diktatur getreten. Die drei Säulen -ideologische Indoktrination, gesellschaftliche Gleichschaltung und totale Nachrichtenkontrolle auf die sich Maos totalitäre Herrschaft stützte, unterliegen infolge Deng Xiaopings politischem Pragmatismus einer langsamen Erosion.

II. Von der ideologischen Indoktrination zum spirituellen Vakuum

Die totale politische Durchdringung und Beherrschung in der Ära Mao Zedong wurde vor allem durch die ideologische Unterwerfung der Massen ermöglicht, die alles Spontane, Unabhängige, Verschiedenartige und Autonome zunichte machte. Damals hieß es: „Alles für die Partei, alles für den Staat und alles für das Volk.“ „Alles, was ich habe, gehört der Partei und dem Vorsitzenden Mao.“ „Wohin auch immer der große Führer die Richtung zeigt, folge ich ihm.“

Die totale Unterwerfung der Menschen in Maos totalitärem Herrschaftssystem wurde vor allem durch ideologische Indoktrination erreicht, die ein autonomes Denken des Menschen unmöglich machte. Maos eschatologische sozialistische Ideologie mit dem Ideal, ein völlig neues China ohne „Klassenausbeutung“ aufzubauen, hat die chinesische Nachkriegsgeneration in der Tat fasziniert. So war es der Kommunistischen Partei unter seiner Führung weitgehend gelungen, das Denken der Menschen mit marxistischer Ideologie zu durchdringen und so etwas wie eine geistige Einheit zwischen dem Willen der Führung und dem der Massen herzustellen. Diese erleichterte es der Parteiführung, mögliche Gegensätze zwischen dem Bewußtsein der Massen und dem der Parteiführung auszuschalten. Maos China war in diesem Sinne eine Gesellschaft ohne autonomes Denken. Wer dennoch anders dachte oder sich gar abweichend verhielt, wurde mit den Mitteln des totalitären Herrschaftssystems zur Unterwerfung gezwungen. Im Namen des Proletariats wurden „Klassenfeinde“ vernichtet, Andersdenkende ausgeschaltet, ein Identitätsgefühl zwischen der Führung und der Masse hergestellt und die totale Durchdringung der politischen Macht gerechtfertigt.

Die ideologische Durchdringungskraft ließ mit Dengs Reformen immer mehr nach. Noch vor der inzwischen legendär gewordenen dritten Vollversammlung des Zentralkomitees (ZK) der 11. Periode der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Dezember 1978, auf der der bis heute noch gültige wirtschaftliche Reformkurs festgelegt worden ist, brachte Deng Xiaoping die totalitäre Herrschaft von Mao Zedong ins Wanken. Nach dem Tod von Mao bestand der von ihm als Nachfolger bestimmte Partei-und Regierungschef Hua Guofeng darauf, daß nichts von dem, was Mao gesagt und gemacht hatte, geändert werden dürfe Gegen diesen maoistischen Dogmatismus leiteten Deng und seine Anhänger eine Bewegung zur geistigen Emanzipation ein. Der Kernsatz der Bewegung lautete: „Der einzige Maßstab der Wahrheit ist die Praxis.“ Diese Bewegung, an der die Intellektuellen landesweit beteiligt waren, befreite die geistige Welt der Menschen vom Mao-Kult und ermutigte sie zu selbständigem Denken. Obwohl sie in erster Linie vom Machtkampf innerhalb der Partei motiviert wurde, beseitigte diese geistige Emanzipationsbewegung allmählich die ideologischen Grundlagen der kommunistischen totalitären Herrschaft und schuf von Ideologie unbeeinflußte Freiräume im menschlichen Denken. Durch die Anerkennung der Praxis als „einzigen Maßstab der Wahrheit“ wurde der totalitäre Glaube zerstört, dem zufolge nur die Partei einen besonderen Zugang zur Wahrheit habe. Die Einführung der Praxis in die Wahrheitsfindung säkularisierte das politische Leben und sprach der Parteiideologie die „Heiligkeit“ ab. Jedem Menschen wurde das Recht auf Zugang zur Wahrheit zuerkannt und die Partei als die einzige Vertreterin der Wahrheit zumindest verbal disqualifiziert.

Da der Anspruch auf die totale Herrschaft in der Mao-Zeit auf dem Ausschließlichkeitsanspruch auf die Wahrheit beruhte, entzog Deng Xiaoping mit seinem Empirismus der kommunistischen Partei-herrschaft den Boden der ideologischen Legitimation. In der Tat sucht die Partei unter der Führung von Deng Xiaoping ihre Herrschaft nicht mehr nur ideologisch, sondern vor allem realpolitisch zu legitimieren. Es wurde versucht, die Partei als leistungsfähig und damit führungsberechtigt zu präsentieren. Mit seiner bekannten pragmatischen Devise: „Eine Katze ist eine gute Katze, solange sie Mäuse fangen kann, gleichgültig, ob sie eine weiße oder schwarze ist“, hat Deng Xiaoping die Partei unter einen permanenten Leistungsdruck gesetzt. Hier liegt der Grund dafür, weshalb die politische Führung ideologische Bedenken gegen den Kapitalismus zurückgedrängt hat, um die Einführung der Marktwirtschaft in China massiv vorantreiben zu können. Denn einer Regierungspartei, deren pragmatisch orientierte Führungsspitze nicht mehr ausschließlich politisch-ideologisch legitimiert ist, bleibt nichts anderes übrig, als durch Entwicklung von Wohlstand und Hervorbringung von Leistungen die eigene Führungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sich damit die Führungsrolle zu sichern. Eine entscheidende Schubkraft erhielt die Säkularisierung der Politik in der Nach-Mao-Zeit durch die Aufgabe des „Klassenkampfs als Leitprinzip der Politik“. Auf der dritten Vollversammlung des ZK der 11. Periode der KPCh im Dezember 1978 wurde beschlossen, die Ideologie des „Klassenkampfs“ und der „permanenten Revolution“ zu verwerfen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Argument, die Zeit „des flächendeckenden und turbulenten Massenklassenkampfs“ sei vorbei Die Partei, so Deng Xiaoping, müsse sich von jetzt an auf den Modernisierungsaufbau konzentrieren

Mit der Aufgabe des „Klassenkampfs“ wurde das Denken der Menschen allmählich vom Wahn des „Klassenbewußtseins“ befreit. Durch die geistige Entmissionarisierung reduzierte sich auch die Bereitschaft der Bürger, die Partei als „heiligen Führer“ zu betrachten. Auf die Frage „Sind Sie der Meinung, daß die Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas die Rolle der Avantgarde gespielt haben?“ antworteten in einer Umfrage von 1987 18 Prozent der Befragten mit Ja, 78 Prozent mit Nein Die Parteiführung wird zwar nach wie vor als Führung akzeptiert, aber nicht mehr, weil sie -wie unter Mao -quasi heilig ist, sondern weil sie die Macht besitzt. Im Unterschied zu früher lassen sich die Massen heute von der Führung auch nicht mehr so einfach mobilisieren.

Maos Ideologie wurde durch Dengs Materialismus weitgehend aus dem Denken der Menschen verdrängt. Wer heute in China noch’vom „Klassenkampf“ spricht, wird ausgelacht. Alles blickt auf money. Nicht mehr Ideologie, sondern Geld, Hi-Fi-Musikanlage, Personenwagen, Eigentumswohnung, Haus mit Garten sind die Ziele der menschlichen Anstrengungen. Den Menschen schwebt nicht mehr eine „ausbeutungsfreie“ kommunistische Gesellschaft vor, sondern ein wohlhabendes und glückliches Leben Der Prozeß der Entideologisierung wurde massiv beschleunigt, als Deng Xiaoping im Rahmen seiner „Inspektionsreise“ durch Südchina im Frühjahr 1992 die Partei-spitzeaufforderte, alle ideologischen Bedenken zu verwerfen und vom Kapitalismus zu lernen.

Die Vertreibung der Ideologie aus dem Denken der Menschen ermöglichte zwar eine größere innere Freiheit und geistige Autonomie, führte aber zu einem geistigen Zustand, den die politische Führung, aber auch viele besorgte chinesische Intellektuelle als ein „spirituelles Vakuum“ bezeichnen. Das Vakuum, das durch das teilweise Verschwinden der bisherigen ideologischen Kategorien entstanden ist, wird noch nicht von neuen überzeugenden Werten ausgefüllt; das Werte-system der Menschen ist erschüttert. Viele Chinesen sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ein Teil von ihnen hat geistige Orientierung in der Religion gefunden. Die Bekehrung zum „Christentum, dem Buddhismus, dem Taoismus und den überlieferten Volksreligionen“ greift im Reich der Mitte um sich. Die politische Führung hat versucht, das Vakuum durch Formulierung einer neuen geistigen Orientierung zu füllen. Die in den achtziger Jahren entwickelten Konzepte wie „AntiEntfremdung“, „Anti-spirituelle Verschmutzung“, „Fünf-Regeln-Vier-Schönheiten" und „Aufbau der sozialistischen spirituellen Zivilisation“ sind jedoch gescheitert. In den neunziger Jahren hat sich deshalb die Führung dem „Patriotismus“ zugewandt. Im September 1994 wurde das „Programm zur Durchführung der patriotischen Erziehung“ bekanntgegeben. Die politische Führung scheint entschlossen zu sein, die Bevölkerung durch nationalistische Überhöhung und Selbstdarstellung geschlossen hinter sich zu bringen. Der in dem „Erziehungsprogramm“ artikulierte Patriotismus ist eine Mischung aus konfuzianischem Kollektivismus, nationalistischem „Wir-Gefühl“ und parteipolitischer Selbstverherrlichung. Ob er tatsächlich die Rolle einer neuen Staatsideologie spielen kann, bleibt abzuwarten.

III. Von der politischen Gleichschaltung zur gesellschaftlichen Nischenbildung

Die zweite Säule der totalitären Herrschaft von Mao Zedong war die totale Politisierung der Gesellschaft. Unter dem Motto „des Primats der Poli-tik“ wurden alle gesellschaftlichen Lebensbereiche den politischen Inhalten und Strukturen entsprechend gleichgeschaltet. Die politische Beherrschung und Durchdringung der Gesellschaft erreichte einen Grad, an dem „es grundsätzlich keine von der politischen Macht unbeeinflußten Freiräume gesellschaftlichen Handelns und Verhaltens“ mehr gab Das Leben in allen gesellschaftlichen Bereichen wurde von der politischen Macht gelenkt und beherrscht. Die Gesellschaft bewegte sich unter Mao Zedong wie eine disziplinierte Armee.

Es gab in der Mao-Zeit kaum ein kulturelles Produkt, das nicht politisch durchdrungen war. Der ursprüngliche Sinn der musikalischen, literarischen und künstlerischen Werke, die Menschen zu unterhalten, wurde von politischen Zielen verdrängt. Den Arbeitern, Bauern und Soldaten zu dienen und sie zur Revolution zu ermutigen war Maos Anforderung an die Schriftsteller und Künstler. Musikstücke und Lieder ohne revolutionäre Dramatik und politisches Vokabular gab es nicht mehr. Auch die traditionelle Pekingoper wurde im Sinn der Revolution in Form und Inhalten „modernisiert“. Acht sogenannte Musterstücke der modernen, revolutionären Pekingoper dominierten während der Kulturrevolution die Opernhäuser, Kinos und Radiosendungen. Überall wurden der Führer Mao Zedong und die Partei musikalisch, literarisch und künstlerisch gepriesen. Jedes von dieser Norm abweichende Werk wurde entweder im Keime erstickt oder als „giftiges Gras“ verurteilt.

Auch das Familienleben wurde in der Mao-Zeit politisch beherrscht. Von der Partnerwahl bis zur Namensgebung der Kinder war das gesamte private Leben politisch durchdrungen. Nur wenige Menschen wagten es, eine „politisch unsaubere“ Person als Ehemann oder Ehefrau zu nehmen. Auch die Hochzeitsfeier wurde von revolutionären Hintergrundmelodien und politischen Predigten der Parteikader begleitet. Wenn Kinder geboren wurden, dachten viele Eltern daran, ihnen einen revolutionär klingenden Namen zu geben. „Vaterlandsverteidigung“, „Armeeliebe“ und „Orientierung auf die Sonne“ waren die beliebtesten Namen in der Mao-Ära. Ehepaare wurden als revolutionäre Partner und Kinder als revolutionäre Nachkömmlinge bezeichnet. Die Anredeformen Herr, Frau und Fräulein wurden im Namen der Revolution abgeschafft. Man redete sich gegenseitig einheitlich mit „Genosse“ an.

Selbst die Kleidung der Menschen wurde den Menschen von der Partei vorgeschrieben. Jahrzehntelang trugen Millionen von Männern (und teilweise auch Frauen) -vom einfachen Bauern bis zum Politbüromitglied -nur den blauen oder dunklen Mao-Anzug. Auch für die Frauen gab es eine neue Kleiderordnung. Kostüme zu tragen wurde als bürgerlicher Lebensstil kritisiert. Selbst das chinesische Etuikleid (Qipao) wurde als „Überrest des Feudalismus“ gebrandmarkt. Alles Bunte, Blumige, Neuartige und tief Ausgeschnittene galt als unvereinbar mit dem revolutionären Geist. Der Mao-Anzug war aus der Sicht der Führung das „anständigste“ Kleidungsstück. Es verkörpere Revolutionsgeist, Disziplin und Loyalität.

In der Mao-Zeit wurde in allen Lebensbereichen alles nach politischen Kriterien entschieden. Bei der Bewertung, ob ein Unternehmen erfolgreich oder nicht erfolgreich war, wurde vor allem das Kriterium angewandt, inwiefern es einen politischen Beitrag zur Realisierung des politischen Programms leistete. Ein Abiturient, der zwar ein schlechtes Abiturzeugnis hatte, sich aber als politisch zuverlässig erwies, hatte bessere Chancen, an der Universität zugelassen zu werden, als einer, der „nur“ Leistungen erbrachte. Ein künstlerisch schlechter, aber politisch loyaler Schauspieler erhielt das Privileg, die Hauptrolle eines Stückes zu spielen, während sich seine viel talentierteren, aber politisch nicht so angepaßten Kollegen häufig mit Nebenrollen abfinden mußten. Hinsichtlich dieser einseitigen Orientierung an der politischen Einstellung der Menschen, die in alle Lebensbereiche hineinreichte, wurde die Mao-Ära von vielen Chinesen rückblickend als eine Epoche der „Verwechslung von Menschen und Dämonen“ und des „Vertauschens von schwarz und weiß“ bezeichnet. Die totale politische Gleichschaltung der gesellschaftlichen Lebensbereiche raubte ihnen ihre freien Entfaltungsmöglichkeiten und zwang sie dazu, sich allein auf „politische Fortschritte“ zu konzentrieren. Vom politischen Verhalten hingen Ausbildung, Beförderung, sozialer Status und sogar Familienglück ab. Die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft und die zwischen öffentlichem und privatem Leben wurde niedergerissen.

Deng Xiaopings Reformen brachen die maoistische Herrschaft, in der alles von der Politik, alles für die Politik und alles unter der Politik gestaltet wurde. Die Politik der Reformen und der Öffnung führte zu einer tendenziellen Entpolitisierung der Gesellschaft und zur Entstehung von „politikfreien Nischen“ in der Gesellschaft. Auf diese Weise verlor die politische Macht zunehmend an Einwirkungsmöglichkeiten auf Inhalt und Form insbesondere des privaten Lebens.

Auf einigen Teilgebieten der Gesellschaft entwikkelte sich unter den neuen Bedingungen sehr bald Eigendynamik. Die im Jahr 1977 eingeleiteten Hochschulreformen entkoppelten den Zugang der Abiturienten zu den Universitäten weitgehend von der politischen Empfehlung und normalisierten somit das Zulassungssystem. Anstelle des politischen Verhaltens hatten nun die Fachprüfungsnoten die entscheidende Bedeutung für die Aufnahme an den Universitäten. Schüler und Studierende können sich heute auf den Erwerb von Wissen konzentrieren, ohne Angst vor dem Vorwurf haben zu müssen, politisch desinteressiert zu sein. Die Lockerung der politischen Kontrolle im kulturellen Bereich führte dort zu einer Dynamisierung. Revolutionäre Lieder sind längst von Popmusik aus Hongkong und Taiwan verdrängt worden. Langweilige politische Romane mußten der klassischen und der Unterhaltungsliteratur Platz machen. Auch die traditionellen Stücke der Pekingoper sind wieder auf die Bühne zurückgekehrt. Westliche Symphonien und traditionelle Instrumentalmusik konkurrieren miteinander um das Publikum. Sukzessive hat sich eine musikalische, literarische und künstlerische autonome Schicht formiert, die sich bewußt von der Politik der Partei distanziert und gegen das Eingreifen der politischen Macht wehrt.

Der Bereich der Familie und der sozialen Beziehungen gehört zu den Sphären, die inzwischen überhaupt nicht mehr politisch beherrscht werden. Eingriffe in die Privatsphäre der Menschen werden heute als lächerlich und dumm angesehen. Auch außerhalb der Familie existieren die unterschiedlichsten Netzwerke -weitgehend frei von der einstigen politischen Bevormundung. In diesen gesellschaftlichen Nischen grenzt man sich gegen die herrschende Politik ab, führt ein bürgerliches Leben, leistet sich gegenseitige Hilfe und organisiert gemeinsame Unternehmungen. Die chinesischen Netzwerke bilden aber nicht nur gesellschaftliche Nischen, in denen man ein von politischer Macht ungestörtes Leben führen kann. Sie fungieren auch als inoffizielle, aber autonome gesellschaftliche Institutionen, die das wirtschaftliche, soziale und politische Geschehen indirekt beeinflussen und mitgestalten

Der Wandel von der Anrede „Genosse“ zu den bürgerlichen Anredeformen „Herr“, „Frau“ und „Fräulein“ vollzog sich in einem langsamen Prozeß. Der Sprung von „Genossen“ auf „Damen und Herren“ war offenbar so groß, daß man einige Übergangsformen brauchte, um sich dann endlich von der Anrede „Genosse“ zu verabschieden. In Peking war es in den achtziger Jahren „modern“, fremde Menschen mit der Form „Großvater“ (Da ye) und „Meister“ (Shi Fu) anzusprechen. Inzwischen haben sich jedoch die bürgerlichen Anredeformen weitgehend durchgesetzt.

Die Entpolitisierung der Kleiderordnung kam in den achtziger Jahren zügig voran. Der erste Spitzenpolitiker, der nach dem Tod von Mao Zedong nicht in einem Mao-Anzug, sondern in einem Anzug westlichen Zuschnitts mit chinesischem Sakko in der Öffentlichkeit auftrat, war der ehemalige Ministerpräsident Zhao Ziyang. Sein Auftritt war Anfang der achtziger Jahre für viele Chinesen ein Signal für die Entschlossenheit der Führung unter Deng Xiaoping, die Gesellschaft im buchstäblichen Sinne zu „entuniformieren“. Die Pluralisierung und Diversifizierung der Kleiderordnung wurden von einer Erweiterung und Vertiefung der Reformen begleitet. Der Mao-Anzug ist heute in der städtischen Öffentlichkeit (die Landbevölkerung trägt ihn teilweise noch zur Arbeit) weitgehend verschwunden, und der westliche Anzug wurde zur Standardbekleidung der politischen und wirtschaftlichen Elite. Die Frauen genießen längst das mannigfaltige Bekleidungsangebot auf dem Markt. Sie können je nach persönlichen Bedürfnissen und individuellen Neigungen frei entscheiden, was sie tragen wollen.

Auch im Bereich der Wirtschaft hat die Partei ihre führende Rolle eingebüßt. Liberalisierung und Einführung der Marktwirtschaft haben dazu geführt, daß unternehmerische Entscheidungen darüber, was und wie produziert und zu welchen Preisen die Produkte abgesetzt werden, nicht mehr von der Parteikommission, sondern von Fabrikdirektoren, Generalmanagern und Vorstandsvorsitzenden getroffen werden. Das in der Ära Mao geltende Prinzip, Produktionsaufgaben als politische Aufgaben zu betrachten, gilt nicht mehr. Das System der Parteikommandeure gehört der Vergangenheit an. Vergleichbares gilt für die Landwirtschaft. Durch die Abschaffung des Kommunensystems und die Einführung der ökonomisch eigenständigen Bauernhaushalte wurde die Herrschaft der Partei auf dem Land drastisch geschwächt. Die Auflösung des kollektiven Zwangssystems machte die Parteisekretäre der ländlichen Basisorganisationen praktisch zu Arbeitslosen. Dies führte zum Zerfall der Kontrollstrukturen der Partei in ländlichen Regionen Bei der Führung des alltäglichen Lebens und der Bewirtschaftung des zugewiesenen Landes haben die Bauern heute einen weitgehenden Freiraum.

Die Wirtschaft als ein Teilsystem der Gesellschaft gewann zunehmende Autonomie dadurch, daß der Staat im Zuge der Entwicklung der Marktwirtschaft heute nicht mehr allein über die Verteilung der Ressourcen bestimmen kann. Beruhte die totale politische Durchdringung der Wirtschaft in der Mao-Zeit auf dem „distributiven und redistributiven Monopol des Staates“, der die Wirtschaft durch Zuteilung von „Ressourcen, Kapital und Arbeit“ zum Vasallen der Politik machte, so koordiniert sich diese heute „weitgehend über Marktmechanismen (z. B. Preise als Indikator von Knappheiten, Konkurrenz, Geld als universelles Tauschmittel)“ Maos Politik wurde von Deng Xiaoping mit Hilfe von marktwirtschaftlichen Mechanismen Stück für Stück entzaubert.

Die mit der wirtschaftlichen Liberalisierung einhergehende wirtschaftliche Freiheit hat das ökonomische System in eine riesige, von politischer Unterdrückung freie Nische der Gesellschaft transformiert, die den Menschen Freiräume für die individuelle Entfaltung einräumt. War die Politik früher der dominierende Faktor für den sozialen Status der Menschen, so hat die wirtschaftliche Freiheit die Möglichkeiten zur Realisierung der individuellen Träume enorm erweitert. Die soziale Stellung und das gesellschaftliche Ansehen sind inzwischen stärker von ökonomischen als von politischen Faktoren abhängig. Man kann heute durch individuelle Anstrengungen und durch die kreative Nutzung der neuen Möglichkeiten das erreichen, was in der Mao-Zeit nur diejenigen bekommen konnten, die die politische Macht besaßen Es ist schon eigenartig zu beobachten, wie viele der ehemals „kleinen Leute“ auf diese Weise zu Millionären geworden sind und wie viele der früheren Parteikader wegen Anpassungsunfähigkeit von der wirtschaftlichen Dynamik ausgeschlossen wurden und sozial untergegangen sind. Es gehört aber auch zur Normalität, daß viele Parteikader rechtzeitig ihre Karrierelaufbahn geändert und von der Politik in die Wirtschaft gewechselt haben. Viele der früheren Parteisekretäre tragen heute die Titel „Generalmanager“ oder „Vorstandsvorsitzender“.

IV. Von der totalen Nachrichtenkontrolle zur begrenzten Informationsfreiheit

Die ideologische Durchdringung des menschlichen Denkens und die politische Gleichschaltung der Gesellschaft, wie sie unter Mao Zedong in der VR China erreicht wurden, waren nur in einem geschlossenen politischen System möglich. Es fand kein inländischer und ausländischer Nachrichten-austausch statt. Die totale Nachrichtensperre erstickte jegliche Form abweichenden Denkens und Verhaltens schon in ihrem Keim.

Die totale Nachrichtenkontrolle wurde vor allem durch eine äußerst engmaschige Kontrolle der veröffentlichten Nachrichten garantiert. Die Medien wurden von der Partei vollständig beherrscht: Alle Schlüsselpositionen -Intendanten, Chefredakteure und Abteilungsleiter -waren mit Parteimitgliedern besetzt. Für die totale Nachrichtenkontrolle war die Tatsache maßgebend, daß die Chefredakteure von der Partei angewiesen wurden, ausschließlich die Nachrichten weiterzuverbreiten, die sich auf die Durchsetzung der Partei-herrschaft positiv auswirken würden.

Diese Zensurpolitik begründete Mao Zedong mit der Theorie des Klassencharakters und der Parteilichkeit der Presse. So sagte Mao am 18. Mai 1957 zu Wu Nengxi, seinerzeit Präsident der Xinhua-Agentur: „Alle Zeitungen müssen sich dem Interesse des Proletariats unterwerfen und die Führung der Kommunistischen Partei akzeptieren... Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen der bürgerlichen Nachrichtenpolitik und der proletarischen: den Klassencharakter und die Parteilichkeit der Presse. Die Zeitungen der Bourgeoisie veröffentlichen nur die für sie nützlichen Nachrichten. Meldungen, die für sie nicht nützlich sind, läßt die Bourgeoisie nicht abdrucken. Die Zeitungen des Proletariats und der Volksmassen veröffentlichen auch keine Meldungen, die für uns schädlich sind. Es geht um Klasseninteresse. Das ist ein universell gültiges Gesetz.“

Das Pressemonopol und die Politik der Nachrichtenkontrolle führten zur Entstehung und Verfestigung einer gleichgeschalteten Öffentlichkeit zugunsten der Parteiherrschaft. Aufgrund der permanenten Wiederholung von Lügen und Halb-wahrheiten sind die Menschen systematisch verdummt und entmündigt worden. Die parteipolitisch gewünschte „Weltanschauung“ drang so tief in ihr Bewußtsein ein, daß manche für immer gegen die von der Parteilinie abweichenden Aussagen immunisiert bleiben werden. Auch heute noch glauben viele, die in Maos neuem China aufgewachsen sind, an die Propaganda der Partei, der zufolge die große Hungersnot Anfang der sechziger Jahre von Naturkatastrophen verursacht worden sei, obwohl nachgewiesen ist, daß der Tod von Millionen auf Versagen der politischen Führung zurückgeht. In der Tat zerstörte Maos 1958 eingeleitete Kampagne „Großer Sprung“ die Vitalität der sich gerade erholenden Landwirtschaft und brachte die gesamte Volkswirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs.

Zur Realisierung der totalen Nachrichtenkontrolle zählten auch Maßnahmen zur Kontrolle der Auslandskontakte. Private Auslandsreisen waren in der Mao-Zeit fast unmöglich. Der Spionageverdacht schreckte viele Chinesen, die sich mit finanzieller Unterstützung der im Ausland lebenden Verwandten eine Auslandsreise hätten leisten können, davon ab, diese durchzuführen. Diejenigen, die aus dienstlichen Gründen ins Ausland reisen mußten, erhielten in der Regel eine wirksame politische „Immunisierungsspritze“. Sie wurden belehrt, die Entwicklung des Kapitalismus „nüchtern“ zu betrachten. Hinter der prosperierenden Fassade des Westens verberge sich gewaltige Ungleichheit und Ausbeutung. Man sollte sich bewußt gegen den Einfluß des bürgerlichen Lebensstils wehren. Jeder Chinese, der sich, in der Mao-Zeit im Ausland aufgehalten hatte, kann sich an die strengen Vorschriften erinnern: So war beispielsweise streng verboten, allein auszugehen; nur zu zweit oder in Gruppen durften sich Chinesen damals im Ausland bewegen. Das Ziel dieser Auflage war es, individuelle Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren und eine gegenseitige Kontrolle zu installieren.

In der Mao-Zeit war das Hören von Radiosendungen aus Taiwan und Hongkong absolut verboten; es wurde mit Gefängnisstrafe bedroht. Sendungen in chinesischer Sprache, die die „BBC“ oder „American Voice“ ausstrahlten, wurden gestört, Briefsendungen aus dem und in das Ausland von den Postämtern und den Grenzbehörden streng kontrolliert. Die Möglichkeit, ausländische Nachrichtenmagazine und Zeitungen zu lesen, bestand in der Mao-Zeit für die durchschnittlichen Chinesen nicht.

Neben der strengen Kontrolle und der Vermeidung nahezu jeglicher Kontakte mit der Außenwelt beruhte die totale Nachrichtenzensur auf der „eisernen Wohnsitzkontrolle“ Die damit verbundene starke Einschränkung der Freizügigkeit machte die Menschen immobil und verhinderte Nachrichtenaustausch auch in Form von „von Mund zu Mund“. Zur „eisernen Wohnsitzkontrolle“ gehörte auch die Verpflichtung, jede Fern-reise innerhalb Chinas (!) den Arbeitseinheiten zu melden. Dies schwächte zugleich die räumliche Mobilität der Gesellschaft und isolierte die einzelnen Gebiete voneinander. Man hatte in der Regel keine Ahnung davon, was in der jeweiligen Nachbarregion geschehen war, geschweige denn in anderen Provinzen des Landes. Daß viele Chinesen erst Jahre später die Wahrheit über das Tangshan-Erdbeben von 1976 erfahren konnten, bei dem ca. 300000 Menschen ums Leben gekommen waren, ist nur eines von unzähligen Beispielen für das Maß und den Grad der Nachrichtenkontrolle des maoistischen Totalitarismus.

Durch die totale Nachrichtenkontrolle waren die Menschen der Möglichkeit beraubt, andere als die offiziellen Informationen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Mit dieser rigorosen Maßnahme verhinderte das totalitäre Herrschaftssystem, daß die ideologische Indoktrination gestört werden konnte; die politische Gleichschaltung war also gesichert. Die totale Nachrichtenkontrolle ermöglichte den „permanenten Betrug“ der Massen und gab der ideologischen Indoktrination die stärkste Rückendeckung.

Durch die Reformen von Deng Xiaoping wurde die Nachrichtenkontrolle zwar nicht völlig aufgehoben, aber doch erheblich durchlöchert. Nicht zuletzt wegen des Anpassungszwangs an die marktwirtschaftlichen Mechanismen entglitten die Medien zunehmend der Kontrolle der Partei. Es gehört zur Reformpolitik von Deng Xiaoping, auch die Medien zu zwingen, wie Unternehmer zu agieren.

Zum Verlust der absoluten Nachrichtenkontrolle trugen auch Neugründungen von Zeitschriften, Zeitungen sowie Rundfunk-und Fernseheinrichtungen entscheidend bei. Nach Berichten von „Zhengming“, einer führenden Zeitschrift in Hongkong, wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 1992 zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften neu gegründet, die mit einer gewissen Selbständigkeit arbeiten Die nationale Rundfunk-und Fernsehtagung im Oktober 1993 machte bekannt, daß sich zwischen 1982 und 1992 die Zahl der Rundfunkstationen von 118 auf 812 und die der Fernsehstationen von 47 auf 586 erhöht habe Nach Angaben des statistischen Staatsamtes in Peking wurden im Jahr 1992 in China insgesamt 19, 2 Milliarden Ausgaben von nationalen und provinziellen Zeitungen publiziert Wenn Mao Zedong glaubte, daß er durch tägliches Durchblättern einiger zentraler und provinzieller Zeitungen die Entwicklungstendenz der Presse kontrollieren konnte so ist es heute Deng Xiaoping einfach nicht mehr möglich, einen Überblick über die Medien in China zu gewinnen, geschweige denn sie zu kontrollieren. Sein Kontrollapparat ist überfordert und kann mit der Entwicklung nicht mehr Schritt halten. Vieles ist inzwischen außer Kontrolle geraten, Kontrolle kann nur punktuell durchgeführt werden.

Entscheidende Schubkraft erhielt die Erosion der Nachrichtenkontrolle durch die sinkende Partei-loyalität der Journalisten, Reporter und Redakteure. Die Erschütterung der ewigen Treue zur Partei zeichnet sich auf drei Ebenen ab. In Journalistenkreisen formierten sich die ersten Gruppierungen, die sich von der Bevormundung der Partei befreien wollten (erste Ebene)', sie streben gemeinsam nach größerer journalistischer Freiheit. Die Tatsache, daß auch Journalisten, Reporter und Redakteure aktiv an der Studentenbewegung 1989 beteiligt und zur Demonstration gegen das Regime auf die Straßen gegangen waren, ist ein Beispiel für ihre ablehnende Haltung gegenüber der restriktiven Einschränkung ihrer beruflichen Freiheit -auch unter Deng Xiaoping. Die Amtsenthebung Wu Haos, früher stellvertretender Leiter des Ressorts Innenpolitik der „Volkszeitung“ und Chefredakteur der Zeitschrift „Shi dai chao“, aufgrund seiner Forderung nach weniger politischer Einmischung zeigt zum einen, daß die Liberalisierungsbestrebungen bis in die journalistische Spitze reichen. Zum anderen signalisieren sie, daß die Partei die Kontrolle über die Medien nicht verlieren will.

Die zweite Ebene des Loyalitätsverlusts bezieht sich auf die Parteiloyalität von Journalisten, die der Partei zwar die Treue halten, aber ihr nicht mehr blind folgen wollen. Sie üben in ihren Artikeln Kritik an der Partei, schreiben über Korruptionsfälle und Bestechungsskandale, in die führende Parteifunktionäre verstrickt waren. Damit leisten'sie der Partei Hilfe zur Selbsthilfe; zugleich tragen sie zu einer größeren Transparenz bei.

Die dritte Ebene der Loyalitätsverschiebung hat weder mit Parteiverdrossenheit noch mit Partei-loyalität etwas zu tun: Geldgier ist im Spiel. Die Gier nach Geld hat sie dazu geführt, „sich mit Geld oder anderen Geschenken bestechen zu lassen und dafür Gefälligkeitsartikel [zu] schreiben“. Dieser Korruptionsjournalismus trägt den Titel Youchang Xinwen („Nachrichten gegen Bezahlung“) Auf diese Weise kommt es zu falschen Berichten, erfundenen Meldungen und Gerüchten. Vormals bedingungslose Parteiloyalität ist hier der Anziehungskraft des Geldes gewichen.

Die totale Nachrichtenkontrolle wurde auch durch die teilweise Aufhebung des Reiseverbotes durchlöchert. Chinesen, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen und ausländische Verbindungen nachweisen können, dürfen heute ins Ausland reisen. Zur Zeit studieren mehrere Hunderttausend chinesische Studenten im Ausland; chinesische Geschäftsleute reisen durch die ganze Welt, um Geschäftsverbindungen mit ausländischen Unternehmen herzustellen. Millionen Bauarbeiter wurden nach Afrika, Nahost und Rußland sowie in die asiatischen Nachbarländer geschickt, um die mit diesen Ländern geschlossenen Verträge zu erfüllen. Der Tourismus nach Hongkong, in die ASEAN-Länder und in die russischen Grenzstädte boomt.

Für die reisenden Chinesen gibt es zwar immer noch Verhaltensregeln, aber im Gegensatz zu den strengen Vorschriften in der Mao-Zeit besitzen die neuen Regeln weniger ideologischen und verbindlichen Charakter. Sie stellen heute meist eine Mischung aus patriotischen Predigten und Verhaltenstips dar. So heißt es in einem von Pekinger Be-hörden ausgearbeiteten Katalog von Verhaltensregeln: Bleib dem Vaterland treu, entwickele Deinen Patriotischen Geist, bewahre entschlossen die Souveränität und das Wohlergehen der Nation sowie den Respekt für unsere Rasse. ... Zeige nicht mit Fingern auf Leute, mache keinen Krach, lache nicht laut..; Wenn du gähnst, halte die Hand vor den Mund.“

Störungen chinesischsprachiger Radiosendungen auswärtiger Rundfunkstationen wurden unter Deng Xiaoping weitgehend eingestellt. Schon zu Beginn der achtziger Jahre war es möglich, mit normalen Radiogeräten die Radiosendungen von „BBC“ und „American Voice“ zu empfangen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß viele Einwohner in den an Hongkong angrenzenden Gebieten die Hongkonger Fernsehsendungen von der den Hauptstadt Peking und den Provinzhauptstädten gesendeten Fernsehprogrammen vorziehen. Der Aufbau der Kommunikationssysteme und die langsame Installierung von Telefonanschlüssen in Privatwohnungen machen die Nachrichtenkontrolle immer schwieriger. Erst kürzlich ist in Peking ein neuer Telefonservice namens „ 200“ in Verbindung mit einer „China-Telefonkarte“ eingeführt worden. Mit dieser Karte kann man 514000 Telefonanschlüsse in mehr als 2 000 Städten im Inland und 204 auswärtigen Staaten bzw. Gebieten direkt anwählen. Nachrichten, die von den offiziellen Medien nicht berichtet werden, gelangen so auf verschiedenen Wegen ins Reich der Mitte.

Auch die begrenzte Zulassung der Freizügigkeit im Land hat zur Schwächung der Nachrichtenkontrolle geführt. Durch die Liberalisierung der strengen Wohnsitzkontrolle wurde die räumliche Mobilität der Bevölkerung erhöht. Nach offiziellen Schätzungen sollen im Sommer 1995 80 Millionen Chinesen auf der Wanderschaft gewesen sein Diese Menschen befinden sich in gewisser Weise außerhalb der politischen Kontrolle, weshalb sie auch als ein Bedrohungspotential für die politische Stabilität Chinas angesehen werden. Wo Arbeitsmarktinformation und persönliche Erfahrungen ausgetauscht werden, werden auch Nachrichten über die politische Situation, wirtschaftliche Entwicklungen und den sozialen Wandel in den einzelnen Heimatprovinzen bzw. -gebieten weitergegeben, was aus der Sicht der Parteiführung durchaus bedrohlich sein kann.

Durch die Durchlöcherung der totalen Nachrichtenkontrolle hat die chinesische Bevölkerung eine begrenzte Informationsmöglichkeit und -freiheit gewonnen. Sie ist nicht mehr ausschließlich auf die offizielle Presse angewiesen, um sich über die aktuelle Entwicklung im Land und in der Welt zu informieren. Eine ganze Reihe von inoffiziellen Quellen bietet heute insbesondere den gebildeten chinesischen Schichten zusätzliche Informationsmöglichkeiten. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die politische Führung, Nachrichten zu manipulieren, haben dazu geführt, daß die Regierungspolitik etwas transparenter geworden ist.

V. Die Zukunftsperspektiven: Wird sich China zu einer Demokratie transformieren?

Deng Xiaopings Pragmatismus und Materialismus haben zur Erosion der drei Säulen der maoistischen Herrschaft -totale ideologische Indoktrination, totale politische Gleichschaltung und totale Nachrichtenkontrolle -geführt und Chinas politisches System von einer totalitären in eine autoritäre Diktatur umgewandelt. Der wesentliche Unterschied zwischen der totalitären Herrschaft von Mao und der autoritären Herrschaft von Deng besteht darin, daß der Mensch unter der Herrschaft von Mao Zedong im Denken und Handeln unfrei war, während er unter dem Regime von Deng Xiaoping größere innere Autonomie und begrenzte Freiräume des Handelns besitzt. Der Herrschaft Dengs sind Grenzen gesetzt: Sie reicht nicht mehr bis ins menschliche Denken.

Dennoch bleibt Deng Xiaopings China ein politisches Gebilde ohne politische Freiheit. Die gewonnene innere Autonomie reicht nicht aus, um das politische China als demokratisch zu bezeichnen. Giovanni Sartori machte die Grenze der inneren Autonomie deutlich: „Daß mein Wille frei (autonom) bleibt, auch wenn ich physisch gefangengesetzt bin, läßt mich genau da stehen, wo ich bin -im Gefängnis. Meine innere Freiheit, meine Autonomie, löst nicht das Problem der äußeren Freiheit, der politischen Freiheiten.“

Deng Xiaopings politische Reformen begannen mit der Wiederherstellung der inneren Freiheit der Menschen und sie endeten auch hier. Das Problem der politischen Freiheit, die aus der Sicht von Sartori für ein demokratisches System maßgebend ist, wurde nicht gelöst. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Chinesen sich jetzt in einer Reihe von gesellschaftlichen Bereichen frei verhalten können. Politische Handlungsfreiheit wird in China nach wie vor nur der Partei zuerkannt. Sie besitzt das Monopol, das politische Geschehen im Land zu bestimmen. Die Führungsrolle der Partei ist per Verfassung unantastbar.

Das wesentlich aktuellere Problem des autoritären Systems von Deng Xiaopings China liegt in der Willkür der Regierung bei der Ausübung der Staatsgewalt. In bezug auf die Menschenrechte gibt es eine starke Diskrepanz zwischen der Verfassung und der Verfassungswirklichkeit. Die in der Verfassung niedergeschriebenen Grundrechte auf politische Freiheiten wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit werden in der Praxis der Politik nicht garantiert. Willkürliches Eingreifen der Staatsgewalt in diese Freiheiten gehört zum politischen Leben des Landes. Politisch anders Denkende und Handelnde müssen deshalb das Risiko einer unbegründeten Freiheitsstrafe tragen. Die willkürliche Freilassung und Wiederinhaftierung des bekanntesten politischen Dissidenten in China, Wei Jingsheng, in den letzten Monaten verdeutlichten den Grad der Rechtsunsicherheit und der Demokratiedefizite des autoritären Systems im gegenwärtigen China.

Eine Lösung des Problems der politischen Freiheit und damit die Entstehung eines demokratischen Systems in China ist -wie gerade neulich im Fall der Verhaftung des Menschenrechtsaktivisten H. Wu (Wu Hongda) deutlich geworden ist -nicht in Sicht. Auch das Auftreten eines zunehmend selbstbewußter gewordenen Nationalen Volkskongresses bedeutet keinen Beginn einer parlamentarischen Demokratie in China. Die Abstimmungsrebellion eines Teiles der „Volksdelegierten“ gegen die Personal-und Gesetzgebungsvorhaben der Parteiführung auf der Jahrestagung im März 1995 kann allenfalls als Ausdruck des Ressentiments regionaler Eliten gegen den autoritären Regierungsstil der zentralen Führung gedeutet werden Trotz der Interessenkonflikte und der Meinungsverschiedenheiten dominiert bei den politischen Eliten in den Regionen, Provinzen und auf zentraler Ebene der antidemokratische Konsens. Doch auch ein großer Teil der nichtkommunistischen und nichtpolitischen Elite scheut sich vor der Einführung liberaler Demokratie. Der Glaube an die Notwendigkeit einer starken Zentralregierung zur Organisierung der Modernisierung und die Furcht vor der Schwächung der Regierung durch eine unkontrollierbare politische Konkurrenz lassen sie vor einem aktiven Engagement für die Demokratisierung zurückschrecken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu Unterschieden zwischen den Begriffen „Totalitarismus“ und „Autoritarismus“ vgl. Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: Fred I. Greenstein/Nelson W. Polsby (Hrsg.), Handbook of Political Science, Bd. 3: Macropolitical theory, Reading/Mass. 1975, S. 175-411; Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1992, S. 183-211.

  2. Vgl. Deng Xiaoping, Deng Xiaoping Wenxuan (Auswahlwerke von Deng Xiaoping; 1975-1982), Peking 1983, S. 121.

  3. Zhang Jingru (Hrsg.), Zhongguo Gongchandang Sixian Shi (Ideengeschichte der kommunistischen Partei Chinas), Qingdao 1991, S. 579.

  4. Vgl. Deng X. (Anm. 2), S. 176.

  5. Zitiert nach Zheng Yongnian, Development and Democracy: Are they compatible in China? in: Political Science Quarterly, 109 (1994) 2, S. 236-259.

  6. Schon im Jahre 1987 antworteten 56 Prozent der Befragten mit Ja und 44 Prozent mit Nein auf die Frage, ob sie mit dem folgenden Statement einverstanden seien: „Was in China wichtig ist, ist nicht, einige fundamentale Prinzipien streng zu verfolgen, sondern die Wirtschaft zu entwickeln und damit den Lebensstandard der Menschen zu erhöhen.“ Ebd., S. 244.

  7. Funabashi Yoichi u. a., China auf dem Wege zur Großmacht, Bonn 1994, S. 24.

  8. Ebd., S. 24f.

  9. Text des Programms im Original in: Renmin Ribao (Volkszeitung) vom 6. September 1994, S. 3.

  10. Zu der These der Gleichschaltung als einer entscheidenden Eigenschaft des Totalitarismus vgl. Hans-Joachim Lieber, Zur Theorie totalitärer Herrschaft, in: ders. (Hrsg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1991, S. 881-932, hier S. 881 ff.

  11. Vgl. dazu die hervorragende Analyse über die Herrschaftsstruktur der DDR von Eckhard Jesse, War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/1994, S. 12-23.

  12. Zur Rolle der Netzwerke in der modernen Gesellschaft Chinas vgl. Carsten Hermann-Pillath, Kulturell geprägte Wirtschaftsdynamik und politischer Wandel in China, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51/93, S. 3-13.

  13. Vgl. Sebastian Heilmann, Das Potential für soziale und politische Unruhen in der VR China, in: China aktuell, 23 (1994) 5, S. 476-482, hier S. 478.

  14. Jutta Hebel/Günter Schucher, Sozialer Wandel in der Volksrepublik China, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51/93, S. 27-36, hier S. 34f.

  15. Vgl. Zheng Y. (Anm. 5), S. 241.

  16. Wu Nengxi, Xinwen de Jiejixing ji Qita (Der Klassen-charakter der Presse und die anderen Aspekte), in: Mianhuai Mao Zedong (Denkschrift für Mao Zedong), Peking 1993, S. 197-225, hier: S. 200.

  17. S. Heilmann (Anm. 13), S. 41.

  18. H. -J. Lieber (Anm. 10), S. 885.

  19. Zitiert nach China aktuell, 22 (1993) 2, S. 110.

  20. Vgl. dazu ebd., 22 (1993) 10, S. 989f.

  21. Renmin Ribao vom 20. Februar 1993.

  22. Vgl. Wu N. (Anm. 16).

  23. Vgl. China aktuell, 22 (1993) 8, S. 753.

  24. Ebd., S. 752.

  25. Zitiert nach China aktuell, 22 (1993) 10, S. 995.

  26. Vgl. Renmin Ribao vom 12. August 1995.

  27. G. Sartori (Anm. 1), S. 314.

  28. Ausführlich zu den Abstimmungsergebnissen vgl. Sebastian Heilmann, Die Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses: Abstimmungsrevolten und regionale Sonderinteressen, in: China aktuell, 24 (1995) 3, S. 201-205.

Weitere Inhalte

Xuewu Gu, Dr. phil, BA, MA, geb. 1957; seit 1991 wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Veröffentlichungen u. a.: Die C-Waffen-Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland und ihre internationale Dimension, Frankfurt am Main 1992; Chinas Vorgehen als Ordnungsmacht in Asien, in: Außenpolitik, (1993) 3; Chinas Vision von einer neuen Weltordnung, in: Internationale Politik und Gesellschaft, (1995) 3; Rußland in der chinesischen Außenpolitik der Nachkonfliktzeit, in: Osteuropa, (1995) 9; Chinas neues Machtbewußtsein. Herausforderungen für den Westen, in: Internationale Politik, (1995) 10.