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Entwicklungszusammenarbeit mit islamischen Ländern | APuZ 12/1996 | bpb.de

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APuZ 12/1996 Gegen den entwicklungspolitischen Pessimismus Entwicklungszusammenarbeit mit islamischen Ländern Die Förderung der regionalen Zusammenarbeit zwischen den Entwicklungsländern durch die Europäische Union Ist die Dritte Welt wirklich am Ende? Zur Kritik von Entwicklungstheorien

Entwicklungszusammenarbeit mit islamischen Ländern

Dieter Weiss

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ökonomische Stagnation, ökologische Grenzen sowie wachsende soziale und politische Spannungen lassen zunehmende interne und grenzüberschreitende Verteilungskämpfe in der arabischen-Welt erwarten, begleitet von der Suche nach einer „islamischen Lösung“. Das Kernproblem besteht nicht in der „Islamizität“, sondern in der unzureichenden sozioökonomischen Innovationsfähigkeit. Deutsche Entwicklungszusammenarbeit (EZ) und Auswärtige Kulturpolitik sollten versuchen, auf die Rahmenbedingungen Einfluß zu nehmen, um Potentiale der Nehmerländer zu aktivieren und auf die Auflockerung der Kreativitätsblockaden einzuwirken. Dies hätte eine partielle Umorientierung auf entsprechende strategische Gruppen zur Folge. Die technisch-wissenschaftlichen Funktionseliten (Wissenschaftler, Ingenieure, Manager, Ärzte, Juristen etc.) sollten deutlicher angesprochen werden, auch mit dem Ziel, gegenseitiges Vertrauen über professionelle Kooperation und Kompetenz aufzubauen. Die deutsche EZ sollte darauf vorbereitet sein, auch mit konstruktiven, kooperationsbereiten und reformorientierten islamistischen Gruppierungen zusammenzuarbeiten, wobei eine bewußt technologische Anlage von Programmen und Projekten unter Vermeidung sensitiver kultureller Bereiche den unproblematischsten Zugang eröffnet.

I. Das wachsende Entwicklungsgefälle zwischen Europa und dem Vorderen Orient

Wirtschaftliche und soziale Indikatoren des Nahen Ostens Quelle: World Bank Atlas 1995

Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die Länder des Vorderen Orients. Nicht betrachtet werden die islamischen Regionen Subsahara-Afrikas, des Indischen Subkontinents, der ehemals sowjetischen Republiken Zentralasiens, der VR China und Südostasiens (insb. Malaysia und Indonesien).

Das Einkommensgefälle zwischen der Europäischen Union und den arabischen Nichterdölländern liegt in der Größenordnung von 10: 1. Diese Schere könnte sich bis zum Jahr 2010 auf ca. 20: 1 erweitern, selbst wenn man eine Verdoppelung der arabischen Bruttosozialprodukte unterstellt. Die arabischen Länder sind im internationalen Entwicklungswettlauf zurückgefallen, und vielfach haben sie dies noch nicht hinreichend wahrgenommen. So betrug die jährliche wirtschaftliche Wachstumsrate zwischen 1980 und 1991 in Ost asien 6 Prozent, in Süd asien 3 Prozent, in Zentral-asien knapp 2 Prozent, in Lateinamerika und Schwarzafrika je -1 Prozent und im arabischen Raum -3 Prozent. Andererseits war das Bevölkerungswachstum zwischen 1970 und 1993 das höchste der Welt 1985 bis 1993 waren die realen Wachstumsraten der Pro-Kopf-Einkommen in der Mehrzahl der arabischen Länder negativ (vgl. Übersicht auf S. 12), Die Massenarmut ist in vielen Ländern der Region größer als in anderen Teilen der Dritten Welt.

Entsprechend wächst der innenpolitische Problem-druck bei anhaltend autoritären Machtstrukturen. Die offiziellen Zahlen der Arbeitslosigkeit liegen bei 22 Prozent für Algerien, 18 Prozent für Jordanien, 17 Prozent für Tunesien, 15 Prozent für das Westjordanland und Gaza, 13 Prozent für Marokko und den Jemen, 12 Prozent für Ägypten und 7 Prozent für Syrien. In Algerien, Ägypten, Jordanien und Syrien stellen Jugendliche 60-80 Prozent der Arbeitslosen 2.

Damit sind weitere interne wirtschaftliche Verteilungskämpfe vorprogrammiert, die nicht ohne Einfluß auf das generelle Spannungsniveau in der Gesamtregion bleiben werden. Entsprechende Frustrationen entladen sich gewalttätig in Algerien, Ägypten, dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland und bedienen sich dabei religiöser Symbole. Zudem haben ökologische Veränderungen einen wachsenden Wanderungsdruck aus den Sahel-Ländern auf die nordafrikanischen Länder ausgelöst.

Kuwait verwendete 1992 62 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Verteidigungsausgaben (10, Mrd. US-Dollar), Saudi Arabien 15 Prozent (14, 5 Mrd. US-Dollar), die Vereinigten Arabischen Emirate ebenfalls 15 Prozent (4, 3 Mrd. US-Dollar) und Ägypten 9 Prozent (3, 4 Mrd. US-Dollar) Die politische Aufmerksamkeit der Regierungen wurde von regionalen Konflikten und Rivalitäten absorbiert und nicht primär auf die dringend notwendige wirtschaftliche und soziale Entwicklung konzentriert. Insbesondere verführte der zeitweilige Ölreichtum zur Vernachlässigung von Wirtschaftlichkeitskalkülen bei der Ressourcenverwendung.

Europa muß sich vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Probleme auf wachsende Spannungen an seiner mediterranen Südflanke einstellen, auf Risiken im Handel und in der Energieversorgung und auf eine Zunahme des Wanderungsdrucks. Doch scheint die Europa betreffende Dimension etwa des algerischen Problems bislang nur der Bevölkerung von Paris und seinen Vorstädten aufgegangen zu sein. Mittel-und Nordeuropa sind unvorbereitet. Tatsächlich wiegen wir uns in der Bundesrepublik in der Illusion, kein Ziel für die uns aus diesen Regionen bevorstehenden Zuwanderungen zu sein.

II. Inadäquate Politiken und blokkiertes Finanz-und Humankapital

Zu spät wurde in den arabischen Ländern zur Kenntnis genommen, daß man im internationalen Entwicklungswettbewerb nicht Schritt hielt Wachsenden Nahrungsmitteleinfuhren angesichts steigender Bevölkerungszahlen und zunehmender Umweltschäden stehen keine hinreichenden Industrieexporte gegenüber, weil viele potentielle Exportprodukte in bezug auf Kosten, Qualität und Service nicht konkurrenzfähig sind. Auch die Rahmenbedingungen für internationale Privatinvestitionen sind im Vergleich zu denen anderer Entwicklungsregionen unattraktiv.

Die Höhe des arabischen Fluchtkapitals wird auf 30 Mrd. US-Dollar 5 geschätzt; es fehlt für produktive, arbeitsplatzschaffende Investitionen in der Region selbst. 1993 flossen 58 Prozent aller internationalen Privatinvestitionen nach Ost-und Südostasien, 26 Prozent nach Lateinamerika, 10 Prozent nach Osteuropa und Zentralasien, aber nur je 3 Prozent nach Subsahara-Afrika und in den Nahen Osten Das Investitionsklima wird nach wie vor durch die bürokratischen Apparate belastet. Zumal im Transport-und Telekommunikationsbereich entspricht die Infrastruktur nicht den auch in fortgeschrittenen Entwicklungsländern inzwischen üblichen Standards. Die Privatisierung des staatlichen Unternehmenssektors verläuft darüber hinaus schleppend, und die Finanzmärkte sind insgesamt unterentwickelt.

Im Bereich der Exporte, Privatinvestitionen, Arbeitsproduktivität und des nachhaltigen Managements ihrer natürlichen Ressourcen sind die arabischen Länder im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen zurückgefallen. Inadäquate Wirtschafts-und Sozialpolitiken trugen den veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht hinreichend Rechnung. Ebenso haben der Mangel an kritischer Öffentlichkeit und Defizite bei der Etablierung einer Zivilgesellschaft dazu beigetragen, rechtzeitige Korrekturen zu verzögern. Kreative Potentiale und innovative Selbstorganisationsprozesse wurden blockiert.

Entwicklung ist Ergebnis individuellen und kollektiven menschlichen Handelns innerhalb politischer Rahmenbedingungen und sozialer Normen. Die arabischen Erziehungssysteme jedoch haben kritisches, kreatives Denken nicht ermutigt. Problemlösungsfähigkeiten, Verständnis für Zusammenhänge und praktischer Anwendungsbezug werden nicht trainiert. So lagen in einem internationalen Querschnittstest entsprechende Leistungen jordanischer Schüler bei der Hälfte derjenigen ihrer ostasiatischen Altersgenossen und an ägyptischen Wirtschaftsfakultäten sind selbst Doktoranden gehalten, ihren Professoren nicht zu widersprechen.

Die desolate Situation spiegelt sich in der Analphabetenrate (vgl. Tabelle) insbesondere der Frauen (in Marokko 62 Prozent) wider. Ihre Behinderung bei der Ausübung produktiver Tätigkeiten außerhalb des privaten Lebensbereichs bedeutet, daß in manchen Ländern die Hälfte des menschlichen Potentials ungenutzt bleibt.

III. Der „kulturelle Faktor“

Der niedrige Entwicklungsstand, die Defizite bei der Humankapitalbildung, die politischen Rahmenbedingungen und das soziokulturelle Normen-gefüge bedingen sich wechselseitig, wobei entscheidende Steuereffekte vom Wertesystem ausgehen Individuen passen sich solchen Normen an und verhalten sich insofern rational, wenn sie kreatives Denken, kritisches Hinterfragen und innovatives, vorwärtsdrängendes Handeln tunlichst vermeiden und eher tradierten Verhaltens-mustern der von Everett Hagen beschriebenen autoritären Persönlichkeit folgen

Im Überlebenskampf unter extrem schwierigen Bedingungen reagieren Menschen sensitiv auf politische und soziale Rahmenbedingungen, die ihnen von außen vorgegeben werden. So kommen Strukturanpassungsprogramme nicht rasch genug voran, wenn trotz des proklamierten Übergangs zu marktfreundlichen Regimen die Defizite des Rechtssystems fortbestehen, die öffentliche Rechenschaftspflicht staatlicher Institutionen nicht durchgesetzt wird und elementare demokratische Grundrechte verweigert werden. Dies sind primär politische Defizite, die nicht vorschnell „kulturellen Faktoren“ oder gar „dem Islam“ angelastet werden sollten; letzterer hat beispielsweise in Indonesien eine deutlich andere Ausprägung als in diversen arabischen Ländern. So sind auch Investitionen in soziale Beziehungen statt in unmittelbar produktive Aktivitäten durchaus rational, wenn künftige Einkommenssteigerungen von solchen Beziehungen und nicht primär von fachlicher Qualifikation abhängen

In Subsektoren, in denen staatliche Monopolbetriebe weiterbestehen, gedeihen keine konkurrierenden privatwirtschaftlichen Initiativen. Politische Instabilität verhindert Investitionen und führt zur Kapitalflucht, die allein für Ägypten auf über 100 Mrd. US-Dollar geschätzt wird. Solche Größenordnungen können offenbar nicht durch internationale Finanzielle Zusammenarbeit kompensiert werden. Anders ausgedrückt: Individuen reagieren rational, aber die Rationalität wird definiert durch ökonomische Bedingungen, institutionelle Regelungen, soziale Normen, relevante Symbole von Status und Prestige sowie insbesondere durch Verfügbarkeit und Zugang zu Chancen in unvollkommenen Märkten.

Das Konzept der „kulturellen Faktoren“ sollte also nicht mißbraucht werden -weder durch paternalistische Regierungen, die ihren Bevölkerungen vorenthalten, noch Rechte und Chancen durch Entwicklungshilfe-Organisationen, die Gefahr laufen, die Intelligenz ihrer Zielgruppen zu unterschätzen. Letztere müssen unter widrigsten Bedingungen ihre Überlebenseinkommen erwirtschaften und dabei umsichtige Bewertungen von Chancen und Risiken vornehmen -insbesondere solcher Risiken, die unter den gegebenen Bedingungen untragbar sind.

IV. Konzeptionelle Folgerungen für die Entwicklungsarbeit

Vertrauen Entscheidend ist die Stärkung eines menschlichen Vertrauenspotentials zwischen Geber-und Nehmerseite als Basis jeglicher konstruktiven Kommunikation. Vorrangig ist hier die professionelle persönliche Zusammenarbeit auf diversen wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlich-sozialen Ebenen. Vertrauen ist eine der wichtigsten „Ressourcen“ überhaupt.

Eigenleistungen Finanzielle Zusammenarbeit (FZ) in Höhe von beispielsweise rund 300 Millionen DM für ein Land wie Ägypten ist vom finanziellen Volumen her irrelevant angesichts von ägyptischen Auslandsguthaben von über 100 Mrd. US-Dollar. Entsprechendes gilt für Leistungen der Technischen Zusammenarbeit (TZ), die vielfach auch von ägyptischen Fachleuten erbracht werden könnten. Es geht nicht darum, Eigenleistungen des Nehmerlandes zu substituieren, sondern zu versuchen, -auf dortige Rahmenbedingungen einzuwirken, die die Aktivierung eigener Potentiale blockieren.

Interkultureller Dialog in indirekten Formen Der Politikdialog sollte die sozialen Normen im Blick haben, jedoch nicht direkt ansprechen. Interkulturelle Gespräche sind leichter realisierbar, wenn sie nicht direkt gesucht werden, sondern sich eher beiläufig vor dem Hintergrund eines gewachsenen menschlichen Vertrauens im Rahmen einer professionellen persönlichen Zusammenarbeit auf diversen wissenschaftlichen, technischen oder wirtschaftlichen Ebenen ergeben. In den vergangenen Jahrzehnten erwuchs ein solches Vertrauenspotential gerade aus den bewußt unpolitisch angelegten Formen deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Zehntausende von Studenten, Praktikanten und Counterparts in den TZ-und FZ-Projekten wurden mit Techniken (im weitesten Sinne) vertraut gemacht. Dies bedeutete Zuwachs an beruflicher Kompetenz und sozialen Aufstieg. In der praktischen Arbeit wurden Werthaltungen mitvermittelt, wobei die Lehrwerkstatt etwa (und der deutsche Werkmeister) -bewußt oder unbewußt -mitteleuropäische Handwerkertugenden transportierten. Das wissenschaftliche Labor ermutigte intellektuelle Neugierde, geistige Offenheit, Kritikfähigkeit und die Bereitschaft, Althergebrachtes in Frage zu stellen. Phantasie und Mut sind gefordert, um in neue Forschungsfelder vorzustoßen -alles Qualitäten, die fundamentalistischen Grundhaltungen fremd sind Paradoxerweise wird ein interkultureller Dialog also dann fruchtbar, wenn er nicht auf direktem Wege gesucht wird sondern sich im Rahmen neutral und unverfänglich erscheinender Kooperationsfelder spontan entfalten kann.

Multiplikatorwirkung über Funktionseliten Jede Form intensiver und erkennbar produktiver Entwicklungskooperation stärkt die Dialogwilligkeit und -fähigkeit der Partner, wobei die Multiplikatorwirkung um so größer ist, je stärker sie auf die Funktionseliten (Wissenschaftler, Ingenieure, Manager, Ärzte, Juristen etc.) abstellt

Wissenschaftlich-technische Kooperationspolitik Eine zentrale Kategorie im Umgang mit islamischen Ländern ist die Stärkung ihrer Selbstachtung über Vermittlung von fachlicher Kompetenz, von beruflichem Erfolg in modernen Tätigkeitsfeldern und von deutlich sichtbaren Entwicklungsergebnissen. Im Hinblick auf diese Zielkategorien sind die Instrumente der deutschen Entwicklungszusammenarbeit unterschiedlich zu gewichten. Funktionseliten mit Multiplikatorwirkung im obigen Sinne können beispielsweise angesprochen werden durch wissenschaftliche Kooperationspolitik sowie durch hochwertige Aus-und Fortbildungsangebote für Ingenieure, Ärzte, Ökonomen, Ökologen, Manager etc. -also durch Hilfeinstrumente, die bewußt das Potential deutscher „technologischer Kompetenz“ und ihres spezifischen Goodwills nutzen.

Technologische Kooperation mit islamistischen Zielgruppen Ein solches Angebotsprofil entspräche auch den Prioritäten der Mehrheit der „islamistischen“ Zielgruppen, die der modernen Technik keineswegs feindlich gegenüberstehen, sondern diese für die Wiedererstarkung der islamischen Welt instrumentalisieren möchten. Gerade auch unter Hochschulabsolventen technisch-naturwissenschaftlicher Fachrichtungen trifft man zunehmend Anhänger einer grundlegenden sozialen Erneuerung auf islamischer Basis. Teilweise versuchen sie in Reaktion auf die gesellschaftlichen Korruptionsphänomene sowohl in den Feudaloligarchien wie in sozialistisch geprägten Regimen eine kapitalistisch-unternehmerische Leistungsorientierung mit sozialer Verantwortung und einer Wiederbesinnung auf die eigenen religiösen Quellen zu verknüpfen Diese konstruktiven Facetten innerhalb des breiten Spektrums islamischer Erneuerungsbewegungen sollten in den Geberländern nicht übersehen werden.

Auswärtige Kulturpolitik Stipendienprogramme, Aus-und Fortbildung, gemeinsame Forschungsprojekte, kulturpolitische Austauschprogramme, deutsch-arabische Gesprächsforen etc. sollten viel bewußter genutzt werden, um gesprächsfähige und -willige Gruppen in den Nehmerländern zu stützen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, daß sie -oft über Studien-, Forschungs-oder Arbeitsaufenthalte mit dem westlichen Kulturraum vertraut -Teil einer internationalen Community und insofern Teil einer internationalen Mehrheit sind, selbst wenn sie von Fall zu Fall innerhalb ihrer eigenen Länder zu bedrängten Minderheiten werden. Entwicklungspolitik sollte versuchen, die konstruktiven und kreativen Gruppen in den islamischen Ländern zu ermutigen, zu fördern und von Fall zu Fall auch gegen internen Anpassungsdruck abzustützen, also interkulturell dialogfähig zu halten. Mit Barthold Witte: „Kulturpolitik ist die modernste Form der Außenpolitik.“

V. Veränderungstendenzen in den Ländern des Vorderen Orients und Konsequenzen für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit

Die deutsche Entwicklungspolitik sollte auf die Möglichkeit eines veränderten Umfelds in den islamischen Nehmerländern vorbereitet sein -aus den folgenden Gründen: -Die ökonomischen Basisfakten deuten auf eine weitere Verschärfung der sozialen Situation hin (Bevölkerungswachstum, zurückbleibendes Wirtschaftswachstum, Umweltschäden einschließlich Desertifizierung und Wasserproblematik). Damit dürften auch die internen und grenzüberschreitenden Verteilungskämpfe mittelfristig virulenter werden. -Zwar signalisieren die letzten Wahlen in Ägypten und Algerien, daß die Bevölkerungen mehrheitlich bewaffnete Aktivitäten fundamentalistischer Gruppierungen ablehnen, andererseits lassen die türkischen Wahlen erkennen, daß islamische Reformbewegungen durchaus wählerwirksam sein können. Beide Tendenzen sollten indessen angesichts der wachsenden ökonomischen Probleme nicht dazu verleiten, auf eine mittelfristige Aufrechterhaltung der politischen Stabilität zu vertrauen. -Wie und von welchen Machteliten künftige ökonomische und soziale Krisen in verschiedenen Ländern des Vorderen Orients politisch aufgefangen werden können, erscheint unklar. Vorstellbar sind unterschiedlichste Szenarien von massiver Repression bis zu einem chaotischen Gruppen-oder Parteienpluralismus. Andererseits -oder auch parallel dazu -könnten islamisch motivierte wirtschaftliche und soziale Reformansätze in Unternehmen, genossenschaftlichen Zusammenschlüssen und Wohlfahrtseinrichtungen an Gewicht gewinnen -Generell erscheint eine Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln und Heilsversprechen angesichts wachsender äußerer Turbulenzen wahrscheinlich, also eine Suche nach dem „Rückhalt im Eigenen“ (Walther Braune), von der traditionellen Volksfrömmigkeit über einen rigiden Gesetzes-Islam bis zu neuen mystischen Bewegungen auf der Suche nach einer transzen-dentalen Dimension menschlichen Seins angesichts desolater werdender äußerer Lebensbedingungen

Was ergibt sich aus diesen Tendenzen für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des Vorderen Orients? -Das primäre Problem dieser Länder besteht nicht in ihrer „Islamizität", sondern in der unzureichenden sozioökonomischen Innovationsfähigkeit im weitesten Sinne. -Deshalb sollte sich die Entwicklungszusammenarbeit auch nicht primär auf die Islamismus-Problematik konzentrieren, sondern versuchen, 1. auf die Rahmenbedingungen Einfluß zu nehmen mit dem Ziel, die verfügbaren inländischen Ressourcen zum Zuge kommen zu lassen, und 2. auf die Auflockerung der Innovations-und Kreativitätsblockaden einzuwirken. -Dies hätte eine partielle Umorientierung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf entsprechende strategische Gruppen zur Folge. Wichtigste Ansprechpartner für die Bundesrepublik wären dann die technisch-wissenschaftlichen Eliten dieser Länder. Auf diese Gruppen sollte viel bewußter zugegangen werden. -Die Freisetzung, Aktivierung und deutliche Förderung kreativer, innovativer Potentiale ist um so wichtiger, als sich diverse frühere entwicklungspolitische Leitbilder in den Ländern des Vorderen Orients aufgelöst haben. Islamische Bewegungen beziehen ihre Kraft nicht zuletzt aus dem Scheitern früherer gesellschaftspolitischer Entwürfe nach dem Ende der Kolonialzeit (paternalistische „nationale Bourgeoisien“, Arabischer Nationalismus, Arabischer Sozialismus, eigene „Dritte Wege“ etc.). -Es geht um die Suche nach tragfähig erscheinenden neuen Ordnungen, die in der Lage sind, die explosiven Sozialprobleme aufzufangen und einigermaßen befriedigende wirtschaftliche Entwicklungsprozesse zu initiieren -letztere angesichts der wachsenden Konkurrenz von Schwellen-ländernder ersten und zweiten Generation in anderen Entwicklungsregionen, die mit innovativen strategischen Ansätzen auf die Herausforderungen der neuen Technologien und der sich globalisierenden Märkte antworten. Unter dem wachsenden Armutsdruck entstehen zugleich neue Einkommensstrategien jenseits des (staatlichen und privaten) formellen Sektors. -Entwicklungshemmende Rahmenbedingungen bestehen fort in Form parasitärer staatlicher und parastaatlicher Strukturen, die ihre Machtpositionen nutzen, um Renteneinkommen abzuschöpfen. Politisch abgestützt wurden sie durch die bisherigen Koalitionen von militärischen oder feudalen Machteliten mit den privilegierten Beschäftigten im staatlichen Sektor. In den letzten Jahren werden diese Privilegien (insbesondere staatliche Beschäftigungs-und Einkommens-garantien, Zuweisung von Ressourcen und Prestigekomponenten) zunehmend ausgehöhlt durch stagnierende Niedriglöhne im Vergleich zu denen im vordrängenden privaten Sektor. Die von den bisherigen Strukturen des Öffentlichen Sektors Begünstigten geraten damit zunehmend in eine Minderheitsposition gegenüber denen, die dort nicht mehr Fuß fassen können und im neuen formellen privaten Sektor oder im informellen Sektor ihr Überlebenseinkommen erwirtschaften. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte auf Szenarien vorbereitet sein, in denen die bisherigen Koalitionen sich auflösen und die neuen Mehrheiten außerhalb des Öffentlichen Sektors zu Koalitionspartnern alter oder neuer Machteliten werden. -Da staatliche Entwicklungszusammenarbeit nicht umhin kommen dürfte, etablierten diplomatischen Usancen zu folgen und primär mit staatlichen Partnern auf der Nehmerseite zu kooperieren, fällt bei der Früherkennung, der Kontaktanbahnung und der Vorbereitung neuer Kooperationsmuster den Nichtregierungsorganisationen (z. B. Politischen Stiftungen, Institutionen im Bereich Forschung und Entwicklung, privatwirtschaftlichen Kammern und Verbänden etc.) eine wachsende Rolle zu. -In einem virulenter werdenden islamistischen Umfeld empfiehlt sich für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Wahl von Tätigkeitsfeldern sowie ein generelles Projektdesign mit einer möglichst unpolitisch erscheinenden, d. h. betont technischen Anlage, die sensitive Bereiche im Nehmerland bewußt vermeidet. Ein solches Profil „technologischer Kompetenz“ unter Umgehung sensitiver Felder, wie es in den vergangenen Jahrzehnten von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gepflegt wurde, hat bei allen politischen Gruppierungen in den Ländern des Vorderen Orients einen im Gebervergleich relativ großen politischen Goodwill und eine hohe Akzeptanz geschaffen. Dies gilt auch für große Bereiche des reformorientierten islamischen Spektrums. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte darauf vorbereitet sein, auch mit konstruktiven und kooperationsbereiten islamistischen Gruppierungen zusammenzuarbeiten, wobei das Setzen auf „technologische Kompetenz“ unter Vermeidung empfindlicher sozialer und kultureller Bereiche den unproblematischsten Zugang eröffnet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. World Bank, Claiming the Future, Choosing Prosperity in the Middle East and North Africa, Washington, D. C. 1995, S. 15.

  2. Vgl. ebd., S. 41.

  3. Vgl. ebd., S. 50.

  4. Vgl. Dieter Weiss, Entwicklung als Wettbewerb der Kulturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/95, S. 6f.

  5. Vgl. World Bank (Anm. 1), S. 6.

  6. Vgl. ebd., S. 7.

  7. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. auch Dieter Weiss, Die arabische Welt vor einer neuen wissenschaftlich-technologischen Kommunikationskrise?, in: Orient, 27 (1986) 3, S. 377 f.

  8. Vgl.ders., Structural Adjustment Programs in the Middle East. The Impact of Value Patterns and Social Norms, Berlin 1992, S. 10f.

  9. Vgl. Everett Hagen, On the Theory of Social Change, Homewood, 111. 1962. Nach Hagen erfordert Kreativität Offenheit für neue Erfahrungen, konstruktive Phantasie, Vertrauen in die eigene Urteilskraft und Problemlösungsfähigkeit, Verantwortungsgefühl und Erfolgsorientierung sowie einen offenen, neugierigen Geist. Anders der nicht-kreative Mächte, die „Entschlossene Persönlichkeitstypus: viel stärker sind ..., dienen ihren eigenen Zielen und übergehen die seinen, wenn er sich nicht ihrem Willen unterwirft ... Diese Wahrnehmungen nähren in ihm Furcht vor dem Gebrauch seiner Initiative, Unsicherheit bezüglich seiner eigenen Urteilsfähigkeit und eine Neigung, anderen die Bewertung einer Situation zu überlassen, um Frustration und Angst zu vermeiden . .. Anstatt sich auf seine eigene Urteilskraft bei der Lösung von Problemen in der Außenwelt oder bei seinen Beziehungen zu anderen zu verlassen, vermeidet er Schmerz durch den Rückfall auf traditionelle Verhaltensmuster, die ihn seine Eltern und andere frühe Autoritäten gelehrt haben, und durch Annahme des Urteils oder des Willens von Höhergestellten.“ (S. 97) -„Er findet es sicherer, sich auf traditionelle Regeln oder das Urteil älterer, weiserer und ranghöherer Personen zu verlassen.“ (S. 98).

  10. Vgl. Frank Czichowski, „Ich und meine Vettern gegen die Welt“, in: Orient, 29 (1988) 4. S. 576.

  11. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Islamische Bewegungen und deutsche Entwicklungspolitik, BMZ-aktuell, Bonn, November 1991, S. 12-14.

  12. Vgl. Dieter Weiss, Wirtschaftswissenschaftlicher Dialog als Auswärtige Kulturpolitik in den arabischen Ländern, in: Orient, 31 (1990) 2, S. 208 f.

  13. Tatsächlich kann die Adaptation westlicher Technologie niemals ohne Rückwirkungen auf die kulturellen Grund-muster auf der Empfängerseite bleiben.

  14. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat (Anm. 11), S. 13 f.

  15. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim BMZ, Empfehlungen zum Studium von Studierenden aus Entwicklungsländern in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Mai 1987; ders., Zur Notwendigkeit einer Verstärkung der wissenschaftlichen Kooperationspolitik mit Entwicklungsländern, Bonn, Februar 1990.

  16. Vgl.Dieter Weiss, Aspekte der Re-Islamisierung der Wirtschaft im arabisch-islamischen Orient, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 35 (1985) 4, S. 472 f.

  17. Barthold C. Witte, Dialog über Grenzen. Beiträge zur Auswärtigen Kulturpolitik, Pfullingen 1988, S. 69,

  18. Vgl. Steffen Wippel. „Islam“ und „Islamische Wissenschaft“, Berlin 1995, S. 41 f.

  19. Syed Nawab Haider Naqvi, Ethical Foundations of Islamic Economics, in: Islamic Studies, 17 (1978), S. 106 f.; Muhammad Nejatullah Siddiqi, Tawhid: The Concept and the Answer, in: Kurshid Ahmad/Zafar Ansar (Hrsg.), Islamic Perspectives. Studies in Honour of Mawana Sayyid Abdul A’la Mawdudi, Leicester 1980, S. 17 f.

  20. Vgl. Uwe Simson, Legitimität, Religion und Entwicklung im islamischen Raum, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, (1986) 3, S. 123.

Weitere Inhalte

Dieter Weiss, Dipl. -Ing., Dr. rer. pol. habil., geb. 1935; Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der TU Berlin; 1962 bis 1965 im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit; 1965 bis 1980 im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik; seit 1980 o. Professor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Wirtschaftliche Entwicklungsplanung in der Vereinigten Arabischen Republik, Köln -Opladen 1964; (Mithrsg.) Vorschläge zur Lösung der wichtigsten strukturellen, ökonomischen und finanzwirtschaftlichen Probleme Ägyptens, Gutachten für den Präsidenten der Arabischen Republik Ägypten, Anwar El Sadat, Düsseldorf 1980; Towards a Viable Islamic Economy, Jerusalem 1989; (Mithrsg.) Sonnenenergie, Berlin 1991; EU-Arab Development Cooperation, Scenarios and Options, Berlin 1996.