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Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral | APuZ 21/1997 | bpb.de

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APuZ 21/1997 „Globalisierung“ aus wirtschaftsethischer Sicht Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral Moralische Kommunikation in Organisationen Was ist eigentlich Wirtschaftsethik? Eine systematische Einführung

Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral

Karl Homann

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die öffentliche Diskussion sieht in neuerlich beobachtbaren Individualisierungstendenzen einen Verfall der Moral im Sinne traditioneller Gemeinschaftsmoral. Eine gesellschaftstheoretisch reflektierte (Wirtschafts-) Ethik versucht demgegenüber, die mit jedem Schub von Individualisierung zweifellos verbundenen Orientierungsprobleme durch eine Gestaltung der Handlungsanreize zu lösen statt durch moralische Aufrüstung. In der modernen, anonymen Großgesellschaft mit funktional differenzierten Subsystemen muß die soziale Kontrolle, ohne die keine Moral Bestand haben kann, auf Selbstkontrolle entlang den individuellen Handlungsanreizen umgestellt werden. Moral wird so zu einer „Anreizmoral“, Ethik zu einer „Anreizethik“. Der Prozeß der Globalisierung verstärkt die Notwendigkeit dieser Umstellung auf individuelle Vorteilskalkulationen, was immer die Menschen in den verschiedenen Gesellschaften und Kulturen unter „Vorteilen“ verstehen. Die Überlegenheit der Anreizanalyse gegenüber der These vom Werteverfall wird am Beispiel der Geburtenentwicklung illustriert. Die Bedeutung des Homo oeconomicus in einer Anreizethik wird , diskutiert, und es wird die gesellschaftspolitische Notwendigkeit herausgestellt, über die teils kontra-intuitiven Handlungsempfehlungen einer solchen Anreizethik breit aufzuklären, wenn eine weitere Polarisierung der Gesellschaft vermieden werden soll.

I. Einleitung

Schaubild: Steuerung von Verhalten

Das Thema der Bedrohung des Gemeinwesens durch Individualisierungstendenzen hat den Elfenbeinturm der Wissenschaft verlassen und die Öffentlichkeit, die Kirchen, die Presse und die Politik erreicht. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Wolfgang Schäuble, stellte das Problem wie folgt dar: „Jahrzehnte wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung haben uns auf diese Weise nicht mehr sozialen Zusammenhalt beschert, sondern weniger. Jeder zweite Haushalt in einer deutschen Großstadt ist heute ein Single-Haushalt. Die Zahl der Ehe-schließungen ist in vier Jahrzehnten um 40 Prozent zurückgegangen; dafür hat sich die Zahl der Ehe-scheidungen mehr als verdoppelt. Eines von acht Kindern wächst heute ohne Vater oder Mutter auf. Und das empfinden wir im Zweifel nicht als Not, sondern auch noch als Tugend.

Ob Individualisierung und Verlust sozialer Bindungen, ob Geburtenrückgang und alternde Gesellschaft -es mehren sich in unserer Gesellschaft Symptome einer tief empfundenen Orientierungskrise, einer Wertekrise, einer sich ausbreitenden Unsicherheit über Ziele und Prioritäten, über Maßstäbe und Kriterien richtigen Handelns.“

Schäuble steht damit in einer Linie mit den Kommunitariern wie A. MacIntyre, der den „Verlust der Tugend“ beklagt, oder mit A. Etzioni, dessen Bücher „Jenseits des Egoismusprinzips“ und „Die Entdeckung des Gemeinwesens“ auch in Deutschland erhältlich sind. Die Wirkung des Kommunitarismus auf die amerikanische und deutsche Politik nimmt erkennbar zu.

Damit ist das Problem umrissen: Man glaubt, in der jüngsten Zeit, etwa seit den achtziger Jahren, einen neuen Individualisierungsschub konstatieren zu müssen Als Therapie werden von W. Schäuble empfohlen: „Mut zur Erziehung“, besonders mittels Autorität und Vorbildern, aktives Eintreten für Überzeugungen und die „gemeinschaftliche Verantwortung füreinander auf gemeinsamer Wertebasis“ als dem „einigenden Band“. Gegen den Werteverfall ist also auf breiter Front moralische Aufrüstung angesagt. Es soll nun nicht bestritten werden, daß es Probleme gibt. Allerdings wird hier argumentiert, daß diese Vorgehensweise aufgrund gesellschaftstheoretischer Überlegungen völlig verfehlt und die Unlösbarkeit der Problematik dadurch vorprogrammiert ist.

II. Das ökonomische Fundament der Moral

Die im Zuge des sozialen Wandels auftretenden Orientierungsprobleme werden verbreitet in moralischen Kategorien ausgelegt. Dabei dominiert meist das Verfallsparadigma, auch gegenwärtig wieder. Dagegen ist so lange nichts einzuwenden, als in solchen Argumentationen nur ein erstes unreflektiertes Indiz für neuartige gesellschaftliche Problemlagen gesehen wird.

Eine theoretische Analyse muß allerdings anders ansetzen. Sie sollte daran erinnern, daß Prozesse sozialen Wandels in der Geschichte des Abendlandes immer mit der Auflösung überkommener Moralvorstellungen einhergingen, was die Protagonisten nicht selten mit dem Leben bezahlten (Sokrates, Jesus von Nazareth) -, um neuen Formen den Weg zu bereiten. Es ist im Geiste von G. W. F. Hegel gedacht, wenn man diesen Prozeß grundsätzlich als Prozeß fortschreitender Individualisierung versteht und ihn als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ positiv wertet. Wenn wir heute über die Möglichkeit verfügen, unser Leben nach eigenen Vorstellungen und in selbstgewählten Gemeinschaften zu gestalten, haben wir viel mehr Freiheitsgrade als die Menschen in der gesamten bisherigen Geschichte. Materiell und geistig leben wir buchstäblich von Individualisierungsschüben, und diese haben immer traditionale Sozial-und Denkstrukturen aufgehoben und neu organisiert. Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß dieser Prozeß jetzt gestoppt werden könnte oder-sollte.

Im folgenden soll gegen Verfallsparadigmen und moralische Aufrüstung eine andere, differenziertere Argumentation gesetzt werden. Dies erfolgt aus der Perspektive einer modernen Wirtschaftsethik. Dazu ist etwas weiter auszuholen, wobei klar ist, daß hier aus Platzgründen nicht die ganze Konzeption entwickelt werden kann

Das Grundproblem einer modernen Wirtschaftsethik besteht in folgendem Dilemma: Ein Unternehmen, das unter harten Wettbewerbsbedingungen aus moralischen Gründen kostenträchtige Vor-und Mehrleistungen erbringt, droht in Wettbewerbsnachteil zu geraten und langfristig vielleicht sogar aus dem Markt ausscheiden zu müssen. Moral, die etwas kostet, ist im Wettbewerb unmöglich von einzelnen Akteuren zu realisieren. Die Ausbeutbarkeit moralischen Verhaltens im Wettbewerb ist das Problem.

Im Anschluß an Karl Marx hat der Sozialismus aus diesem Dilemma die Konsequenz gezogen, daß man um der Solidarität und der Humanität willen den Wettbewerb weitgehend oder vollständig unterbinden müsse. Heute wissen wir, daß der Sozialismus damit weder die ökonomischen noch die moralischen Erwartungen erfüllt hat.

Adam Smith, der geistige Vater der modernen Marktwirtschaft, hat ein anderes und erfolgreicheres Modell vorgeschlagen. Er unterschied im Handeln zwei Ebenen, die Handlungen und die Handlungsbedingungen, oder in der Sprache des Sports: Spielzüge und Spielregeln. Die Handlungen betreffen Faktoren, die der Handelnde im Handlungsvollzug selbst , in der Hand hat 1, die er kontrolliert. Die Handlungsbedingungen umfassen demgegenüber Faktoren, die das Handeln des einzelnen wesentlich (mit-) bestimmen, die der einzelne aber im konkreten Handlungsvollzug selbst nicht , in der Hand hat'. Handlungsbedingungen sind , gegeben', an sie kann er sich nur anpassen. Allerdings können viele solcher Bedingungen -genau wie die Spielregeln im Fußball -langfristig und kollektiv (über den Verband, über den Staat) durchaus geändert werden, was dann zu veränderten Spielzügen/Handlungen führt.

Wenn wir einmal als Akteur ein Unternehmen betrachten, dann zählen zu den Handlungen: Ziele (Motive, Interessen) und Mittel (Käufe, Verkäufe, Preis-und Produktpolitik, Werbung, Konditionen, Löhne und Gehälter, Betriebsklima etc.); zu den Handlungsbedingungen zählen: natürliche, kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen, Rahmenordnung (Verfassung, Gesetze, Wirtschaftsordnung, Wettbewerbsordnung, Steuergesetze, Justizapparat, Verwaltung), Marktbedingungen, Konjunkturlage etc.

Mit Hilfe dieser Unterscheidung kann Adam Smith Wettbewerb und Moral simultan realisieren. Die Moral, die Solidarität aller bzw. die Fairneß, liegt grundlegend in den Spielregeln; der so produktive Wettbewerb aber findet in den Spielzügen statt. Dieser Wettbewerb wird durch geeignete, dem Gemeinwohl dienende Regeln kanalisiert. Elementares moralisches Verhalten wird dadurch vor der Ausbeutung durch die Konkurrenz geschützt, daß die Konkurrenten dieselben Moral-standards, d. h. dieselben Spielregeln, einhalten müssen (z. B. beim Umweltschutz, Arbeitsschutz, Verbot von Absprachen, Korruption oder Mafia-methoden usw.).

Dies ist das Standardkonzept einer modernen Wirtschaftsethik.

Das Grundproblem, die Ausbeutung der Moral durch die -erwünschte -Konkurrenz, ist im Prinzip gelöst. Zur Profilierung soll auf drei Implikationen hingewiesen werden, wobei in der Sprache zwischen dem Markt-Spiel und dem Fußballspiel hin und her gewechselt wird. 1. Grundlage des Wettbewerbs in den Spielzügen sind ein Konsens über die Spielregeln und die Durchsetzung dieser Spielregeln durch den Schiedsrichter bzw. im Staat durch die Justiz, das Kartellamt etc. Allen Kulturkritikern sei es ins Gedächtnis gerufen: Auf der Grundlage eines Konsenses erst vollzieht sich Marktwettbewerb. Das ist keine antagonistische Gesellschaft mit dem Kampf aller gegen alle. 2. Der Wettbewerb auf dem Spielfeld dient den Zuschauern bzw.den Konsumenten. Die Spieler wollen gewinnen, die Zuschauer wollen ein interessantes Spiel sehen bzw. gute und preiswerte Produkte bekommen. Die unmittelbar handlungsleitenden Motive von Spielern und Zuschauern, von Unternehmen und Konsumenten fallen auseinander. Das bedeutet in der Wirtschaft: Der Wohlstand aller hängt nicht vom Wohlwollen der Marktkonkurrenten ab, sondern von dem geeigneten Regelsystem, der Wirtschaftsordnung, das das eigeninteressierte Handeln der Akteure voraussetzt. 3. Wichtiger noch ist die Umkehrung dieses Gedankens: Moralisch unbefriedigende, ja empörende Zustände wie Hunger oder Umweltzerstörung, aber auch der sogenannte „Verfallder Moral“ können nicht länger auf böse Motive oder die Charakterschwäche der Handlungsakteure, z. B. auf ihre Profitgier, auf ihren Egoismus, zurückgeführt werden. Wenn es sich um strukturelle Probleme der Gesellschaft handelt, schreibt eine moderne Wirtschaftsethik diese Ergebnisse nicht den Motiven der Akteure, sondern den Handlungsbedingungen zu, die offenkundig das Handeln der einzelnen systematisch in eine unerwünschte Richtung drängen. Mit den Worten von H. Krings gesagt: „Das Gewissen des einzelnen kann ein Versagen der Institution nicht kompensieren.“

Es geht der Wirtschaftsethik also ganz offenkundig nicht um die Frage, wie ein Individuum unter gegebenen dieser Frage Bedingungen handeln soll: ist das individuelle Handlungsmodell mit der personalen Moral einschließlich moralischer Appelle zur Tugend durchaus angemessen; hier treten normative Forderungen mit unbedingtem Anspruch an den einzelnen heran. Der Wirtschaftsethik geht es statt dessen um die ganz andere Frage, wie moralische Normen und Ideale auf breiter Front in der Gesellschaft zur Geltung kommen können. Da sind die Handlungsbedingungen die entscheidende Größe, weil von ihnen starke Einflüsse auf die Entscheidungen der individuellen Akteure ausgehen. Es geht der Wirtschaftsethik also um Gesellschaftstheorie, und die Frage der Steuerung moderner Gesellschaften kann grundsätzlich nicht im Paradigma der individuellen Handlungssteuerung gedacht werden. In der Gesellschaftstheorie gelten die Regeln, Institutionen als Steuerungsvariable: Werden sie politisch verändert, sehen sich die Akteure veränderten Bedingungen gegenüber -siehe Schaubild, punktierte Linie -, was zu veränderten Handlungen führt, die dann -durchgezogene Linie -als neuer Input in die gesellschaftstheoretische Analyse eingehen. In der Handlungstheorie gelten die Mittel und letztlich die Ziele als Steuerungsvariable, auf sie zielen die moralischen Appelle; die Bedingungen sind hier „gegeben“, und insofern hat alle individuelle Handlungsethik einen „konservativen“ Grundzug. Wenn man es mit gesellschaftlichen Problemen zu tun hat, wird aus methodischen Gründen bei den Handlungsbedingungen angesetzt. Sie kanalisieren die Entscheidungen der Individuen, sie setzen die „Anreize“ zum Handeln, wie die Ökonomen sagen. Wenn z. B. das Ziel Schutz der Umwelt durch Reduzierung des Autoverkehrs verfolgt wird, nimmt der Ökonom nicht zu Appellen Zuflucht, die so gut wie wirkungslos bleiben; er empfiehlt statt dessen eine Erhöhung des Benzin-preises, also eine Veränderung der Bedingungen, damit die Bürger durch Anpassung an die neuen Bedingungen das gewünschte Ziel befördern. Dabei lassen sich die Bürger weiter von der Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil leiten, ja der Erfolg der Maßnahme basiert darauf, daß die individuelle Vorteils-/Nachteilskalkulation Grundlage des Handelns bleibt. In der Ökonomik verwendet man hier die Denkfigur der nichtintendierten Folgen intentionalen Handelns. Das Handeln der Individuen erfolgt durchaus intentional, zielgerichtet, aber es ist auf individuelle Ziele gerichtet -linke Seite im Schaubild. Das gesellschaftliche Ergebnis -rechte Seite -stellt sich ein als von niemandem direkt intendiertes Resultat des eigeninteressierten Handelns zahlloser Individuen. Erwünschte gesellschaftliche Resultate müssen daher als nichtintendierte Nebenprodukte individueller Handlungen rekonstruiert werden: Das intentionale Handlungsmodell ist zur Ableitung gesellschaftlicher Ergebnisse grundsätzlich verfehlt, weil diese von niemandem unmittelbar intendiert werden. Eine Vermengung von Handlungs-und Gesellschaftstheorie ist strikt zu vermeiden. Daraus ergibt sich: Die Moral in der Gesellschaft hängt nicht von der moralischen Gesinnung der einzelnen im Handlungsvollzug ab! Moralische Normen und Ideale kommen in der modernen Gesellschaft, d. h. unter Bedingungen funktionaler Ausdifferenzierung und eingelagerter Wettbe werbsprozesse, in Gestalt von Anreizen oder im Windschatten individueller Handlungsanreize zur Geltung oder gar nicht. Bedingungs-statt Gesinnungswandel lautet die Devise, oder besser: Bedingungswandel aufgrund von Gesinnungswandel. Ohne Bedingungswandel bleibt alles beim alten. Moralisches Verhalten, das nicht durch Anreize, d. h. durch Vorteile, gestützt wird, kann keinen Bestand haben. In der Weltgeschichte hat noch kein Moralsystem länger überdauert, das nicht durch Vorteile für die moralischen Akteure und Nachteile für die Übertretung von Moralstandards stabilisiert worden wäre. Eine Moral, die auf moralischen Einstellungen, „Werten“, allein gegründet ist, bricht bei den ersten Windstößen wie ein Kartenhaus zusammen.

Dabei ist zu beachten, daß hier unter „Vorteilen“ und „Nachteilen“ nicht monetäre oder „materielle“ Vorteile und Nachteile zu verstehen sind. In Übereinstimmung mit einem modernen Verständnis von Ökonomik hat diese Wissenschaft systematisch mit „Geld“ oder „Materiellem“ nichts zu tun. Ökonomik ist eine Methode, Vorteile und Nachteile abzuwägen, was immer die Handlungssubjekte selbst als Vorteile und Nachteile, einschätzen. Ein erfülltes Leben in der Beschaulichkeit eines Eremiten kann ein „Gut“ im Sinne der modernen Ökonomik sein, und wenn ein Pfarrer am Samstag Abend vor der Wahl steht, die Predigt vorzubereiten oder ein seelsorgerisches Gespräch mit einem Menschen in einer schweren Lebenskrise zu führen, hat er ein ökonomisches Problem im Sinne eines modernen Ökonomikverständnisses, ein Problem der Allokation seiner knappen Zeit nämlich.

Diese Ausführungen haben beträchtliche Konsequenzen für das Verständnis von Moral, von Wirtschaftsethik und allgemeiner Ethik. Wenn moralische Normen und Ideale in Gestalt von Anreizen realisiert werden, dann ist die Ethik, wenn wir auf die unmittelbar handlungsleitenden Motive abheben, als Anreizethik zu konzipieren. Abgehoben auf die Gestaltungsebene ist moderne (Wirtschafts-) Ethik als Bedingungsethik zu entwickeln oder als Ordnungs-, Regel-, Struktur-oder systemische Ethik Da gesellschaftstheoretisch für die Vorstellung oder Forderung einer „Durchbrechung“ der ökonomischen Logik im Namen der Ethik, wie sich manche (Wirtschafts-) Ethiker das vorstellen, kein Platz ist, tritt Tugend, tritt personale Moral in ihrer Bedeutung für moderne Gesellschaften zurück. Moral, die -nicht im Einzelfall, sondern systematisch und auf Dauer -zur Benachteiligung der moralischen Akteure führt, kann keinen Bestand haben. Vielmehr gilt es, wenn man der Moral in der Gesellschaft zur Geltung verhelfen will, ihr ein im weitesten Sinne „ökonomisches“ Fundament zu geben, d. h., ihr durch ordnungs-bzw. gesellschaftspolitische Reformen ein Anreizfundament zu geben, weil sonst die Ehrlichen die Dummen sind.

III. Ein Beispiel: Die Geburtenrate

Als Beispiel mag hier die von W. Schäuble angeführte Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland dienen. Anfang der sechziger Jahre, also einige Zeit nach der Dynamisierung der Renten 1957, als die Geburtenzahlen in der Bundesrepublik gerade ihrem höchsten Stand (1964) entgegenstrebten, hat Wilfried Schreiber allein aufgrund einer scharfsichtigen theoretischen Analyse der ökonomischen Zusammenhänge dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer vorgeschlagen, analog zur Altersrente auch eine „Jugendrente“ einzuführen, weil anders der „Generationenvertrag“ nicht zu stabilisieren sei. Adenauer hat dies aus zwei Gründen abgelehnt: Erstens hätten Kinder keine Wählerstimmen und zweitens wollten die Menschen immer Kinder haben. In unserem Zusammenhang ist besonders der zweite Grund von Bedeutung. Kaum eine Prognose ist in einer vergleichsweise kurzen Zeit so nachhaltig falsifiziert worden wie diese: In nur sieben oder acht Jahren haben sich in der Bundesrepublik die Geburtenzahlen nahezu halbiert. Die Frage ist: warum? Mit einer echten anthropologischen Konstante „Kinderwunsch“ ist es offenkundig nicht weit her: Das wissen wir heute. Man kann auf „Werteyerfall“ plädieren wie W. Schäuble, muß dann aber erklären, warum sich im privatesten, persönlichsten Bereich, im generativen Verhalten, urplötzlich die „Werte“ geändert haben sollen -gerade jetzt, nicht früher oder später, und nahezu gleichzeitig auf breiter Front; eine solche Erklärung gelingt nicht. Im Zuge der neueren ökonomischen Theorie des generativen Verhaltens, wie sie von G. S. Becker entwickelt wurde, wird auch hier, also buchstäblich bis ins Ehebett hinein, ökonomisch kalkuliert Dann lautet die Erklärung im Grundsatz so: Veränderungen des generativen Verhaltens, also der Geburtenrate, sind auf veränderte Bedingungen zurückzuführen, auf Kostenänderungen, an die sich die Individuen anpassen. Dabei darf man unter „Kosten’ modern nicht (nur) die „Ausgaben“ verstehen, also das, was für Kinder vom Konto abfließt, darunter ist vor allem auch das zu verstehen, was infolge der Kindererziehung durch die Frau auf dem Konto gar nicht erst eingeht („Opportunitätskosten“). Und da sind in der Tat seit den sechziger Jahren Änderungen eingetreten: Die bessere Ausbildung der jungen Frauen und die guten Beschäftigungsaussichten in den sechziger Jahren haben das mögliche Markteinkommen von Frauen steigen lassen, auf das sie bei Kindererziehung verzichten mußten. Der Ökonom sagt: Die Kosten der Kindererziehung im weitesten Sinne -wozu auch noch der Karriereknick oder Karriereabbruch der Frauen gehört -sind gewaltig gestiegen, und es kam folgerichtig zu einer Anpassung gemäß dem ökonomischen Rationalmodell: Die Geburtenrate hat sich auf niedrigem Niveau eingependelt. Das stabile Muster generativen Verhaltens in den fünfziger Jahren, das Adenauer zu seiner folgenreichen Fehleinschätzung führte, ist dann so zu erklären: Offenbar war -statistisch, nicht im individuellen Fall -der Saldo von Vorteilen und Nachteilen (bei der Kindererziehung im Vergleich zu den Alternativen) in den fünfziger Jahren positiv oder zumindest nicht negativ. Dies hatte zur Folge, daß Adenauer das ökonomische Fundament des generativen Verhaltens buchstäblich nicht sehen konnte und das beobachtete Verhalten fälschlich auf Präferenzen, auf entsprechende Werteinstellungen zurückführte. Das phänomenologisch unsichtbare ökonomische Fundament konnte nur W. Schreiber, der Ökonom, sehen, dank seiner Theorie.

Das ist immer noch unser Problem: Wenn wir in der Gesellschaft so etwas wie einen „Werteverfall" im Zuge von Individualisierungsschüben feststellen -nehmen wir dies für die Zwecke der Argumentation einmal so hin -, dann sollten wir dies nicht als originären Werteverfall nehmen, was übrigens auch nichts „erklären“ würde, sondern als induziert durch Veränderungen in den Handlungsbedingungen, in den Kosten-und Anreiz-strukturen. Aufgrund solcher Überlegungen ist inzwischen auch der Ansatz der sogenannten Einstellungsforschung schwer erschüttert worden: Diekmann und Preisendörfer haben z. B. empirisch nachgewiesen, daß das Umweltverhalten nicht vom gestiegenen VJmwe\tbewußtsein der Menschen bestimmt wird, sondern von Preisen und Kosten

Mit dieser Heuristik lassen sich interessante Einsichten gewinnen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Handlungsbedingungen auf breiter Front so entwickelt, daß sich alle diejenigen als die Dummen vorkommen müssen, die -beliebig aufgezählt -ehrlich ihre Steuern bezahlen, die freiwillig in karitativen oder ehrenamtlichen Bereichen wirken, die ihre kranken Angehörigen pflegen, die Kinder aufziehen zu hohen Kosten besonders für die Frauen, die längerfristige Bindungen eingehen und Mobilität einbüßen, die sich mit dem Abbau von Subventionen einverstanden erklären, die die sozialen Sicherungssysteme nicht ausbeuten usw. Am Anfang dieser Entwicklung konnten institutioneile Steuerungsdefizite mit mehr moralischer Disziplin zunächst ganz gut überwunden werden -genau in der Überwindung punktueller Anreize zu unmoralischem'Verhalten besteht ja die Funktion von Moral. Weil die Gesellschaft jedoch die Adjustierung der Institutionen und der von ihnen definierten Anreize über Jahrzehnte vor sich hergeschoben und so immer mehr Steuerungsaufgaben der individuellen Moral zugewiesen hat, wurde der Bedarf an Moral immer größer. Heute sind wir offenbar an einem Punkt angelangt, an dem die individuelle Moral der Bürger ihre institutionellen Stützen, die Stützung durch Anreize bzw. Vorteile, so weit verloren hat, daß sie einem immer schnelleren Verfallsprozeß anheimfällt. In dieser Situation rufen die Moralisten -in völliger Verkehrung von Ursache und Wirkung dieses Prozesses -nach noch mehr Moral. Sie sind erstaunt und empört darüber, daß diese Rufe jetzt immer wirkungsloser verhallen, und -das ist der Gipfel -sie sehen darin sogar einen weiteren Beweis des moralischen (!) Niedergangs.

IV. Die wachsende Bedeutung von Vorteilskalkulationen für Moral und Ethik

Gegen die ökonomische Fundamentierung aller Moral, gegen die „Anreizmoral“, gibt es in der Öffentlichkeit und in einer kantianischen Ethiktradition erhebliche Widerstände. „Anreize“ seien vom Eigeninteresse geleitet, während „Moral“ die Rücksicht auf das Wohlergehen der Mitmenschen fordere. Es ist im folgenden zu begründen, warum individuelle Tugendmoral bzw. eine an den unmittelbar handlungsleitenden Motiven festgemachte „Motivmoral“ in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verliert und weitgehend durch eine auf Vorteilskalkulationen gegründete „Anreizmoral“ ersetzt werden muß. Blickt man von der Warte einer modernen Anreiz-moral auf die traditionelle, im Sozialisationsprozeß auch heute noch vermittelte Moral zurück, dann stellt man fest, daß auch die vermeintliche „Motivmoral“ durch Anreize fundiert war: In den überschaubaren Gruppen der vormodernen Welt, die in bestimmten Bereichen wie Familie und Arbeitsgruppe auch heute noch existieren, wurde die moralische Einstellung bzw. Haltung eines Individuums durch eine lückenlose, im täglichen Umgang mitlaufende soziale Kontrolle stabilisiert. Diese basierte auf Belohnungen und Sanktionen, auf sozialer Anerkennung und Diskriminierung, auf Achtung und Mißachtung. Verfehlungen waren leicht, nahezu kostenlos zu identifizieren, und eine Korrektur von Fehlverhalten war durch sozialen Druck kostengünstig zu erzwingen.

Mit dem Übergang zur anonymen Großgesellschaft der Moderne treten hier entscheidende Änderungen ein. 1. Infolge von Arbeitsteilung und funktionaler Differenzierung steigt die Zahl der möglichen Interaktionen ungemein an. 2. In den Funktionssystemen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft wird der Wettbewerb als Instrument zur Steigerung der Produktivität forciert eingesetzt, der alle Akteure zum Vorteilsstreben zwingt. 3. Seit der Reformation und den auf sie folgenden Religionskriegen ist der Wertekonsens der Gesellschaft zerfallen, so daß die „Werte“ als Integrationsplattform der modernen Gesellschaft immer weniger in Frage kommen.

Das für die Wirksamkeit und die Stabilität von Moral unverzichtbare System sozialer Kontrolle in seiner vormodernen Form stößt unter diesen Bedingungen ganz schnell an seine Grenzen: An die Überschaubarkeit der Gruppen, an einheitliche Lebensregeln und Glaubensformen gebunden, muß das alte Kontrollsystem aufgegeben und durch ein neues ersetzt werden: Denn ohne soziale Kontrolle kann keine Moral Bestand haben.

Das moderne System sozialer Kontrolle hat drei Säulen: 1. Das formelle Recht schließt bestimmte Verhaltensweisen durch Sanktionsdrohungen aus. 2. Der Wettbewerb stellt ein informelles soziales Sanktionssystem dar -selbstverständlich unter der geeigneten Rahmenordnung. 3. Diese Bedingungen vorausgesetzt, erfolgt die soziale Kontrolle in Form der Selbstkontrolle der Akteure entlang ihren Anreizen, ihren Vorteils-/Nachteilskalkulationen.

Die Selbstkontrolle gemäß der Kalkulation eigener Vorteile stellt das funktionale Äquivalent der unmittelbaren sozialen Kontrolle in Face-to-face-Gruppen dar und funktioniert unter den Bedingungen anonymer Großgesellschaften ähnlich lückenlos wie die vormoderne Form der Kontrolle im täglichen Umgang miteinander. Weit entfernt davon, das Streben nach eigenen Vorteilen als sozial schädlich zu denunzieren, stellt die lückenlose Selbstkontrolle entlang den eigenen Interessen das einzige durchgängig wirksame Instrument der sozialen Kontrolle in modernen Gesellschaften dar. Moral folgt den „Anreizen“, wird „Anreizmoral“.

Diese Vorteils-bzw. anreizfundierte Moral erfährt einen gewaltigen Bedeutungszuwachs durch den gegenwärtig ablaufenden Prozeß der Globalisierung. Die Globalisierung dehnt die Modernisierungsprozesse über die ganze Welt aus. In vielen Ländern erfolgt das im Zeitraffer, und durch den Zusammenbruch des sozialistischen Imperiums wird alles noch einmal ungemein beschleunigt. Damit verschärfen sich die Probleme: Wir verfügen erstens global nur ansatzweise über eine sanktionsbewehrte Welt-Rahmenordnung; wegen teils dramatischer Unterschiede der relativen Kosten steigt zweitens der Wettbewerbsdruck gerade auch für die Länder, die schon in der Vergangenheit von den modernen Ordnungsprinzipien Recht, Wettbewerb und Anreizmoral profitiert haben; drittens erfährt der seit der Reformation sich ausbreitende „Wertepluralismus“ jetzt im Weltmaßstab noch einmal eine Potenzierung. Die Frage ist: Was bleibt dann noch als Grundlage für eine friedliche und produktive Steuerung der Gesellschaft bzw. für die Integration der einzelnen in diese Welt-Gesellschaft?

Wenn ein „Weltethos“ mangels Anreizfundierung wirkungslos bleiben muß und die Abschottung Europas gegen Globalisierung und Internationalisierung der Finanzmärkte unmöglich und wegen drohender Stagnation auch unerwünscht ist, dann verbleibt nur noch die Option, eine Steuerung bzw. Integration über den gemeinsamen Nenner der Vorteils-/Nachteilskalkulation zu leisten, was immer die Menschen in den verschiedenen Gesellschaften und Kulturen unter „Vorteilen“ und „Nachteilen“ jeweils verstehen. Es geht dann darum, allgemein akzeptierte Regeln zur Realisierung der möglichen Kooperationsgewinne zu etablieren. Auch hier im globalen Maßstab besteht die wesentliche Funktion solcher Regeln darin, Interaktionen auf breiter Front zum Nutzen aller dadurch zu ermöglichen, daß die Partner sich gegenseitig vor Ausbeutung infolge von Fehlanreizen schützen. Damit wächst der ökonomischen Fundamentierung der normativen Regeln der künftigen Weltgesellschaft, also derMoral im Sinne einer Anreizmoral, eine gewaltige und immer noch steigende Bedeutung zu. Statt ökonomische Kalkulationen als Grundübel auszumachen und daher domestizieren zu wollen, wie die Moralisten argumentieren, sollten wir sie weiter vorantreiben, so weit, daß alle Bürger dieser Welt sich mit solchen Regeln versorgen (können), die ihnen unabhängig von Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Religion und Kultur eine bessere Zukunft ermöglichen. Sozialtheoretisch geht es nicht um Überwindung oder Domestizierung ökonomischen Vorteilsdenkens, sondern um Erwerb und Aufbau von Regelkompetenz auf der Grundlage solchen Vorteilsdenkens.

V. Die Rolle des Homo oeconomicus in der Wirtschaftsethik

Handelt es sich bei der hier entwickelten Konzeption nicht um einen „Ökonomismus“, der „Moral“ auf Vorteilskalkulationen „reduziert“? Welche Rolle spielt die im weitesten Sinne „ökonomische“ Kalkulation der „Vorteile“ in dieser Wirtschaftsethik? Diese Fragen sollen an der Funktion des Homo oeconomicus in Ökonomik und Wirtschaftsethik diskutiert werden Der Homo oeconomicus ist durch rationale Gewinn-, Nutzen-oder Vorteilsmaximierung definiert: Deswegen ist er ebenso berühmt wie berüchtigt. Die Gegenargumente lassen sich in zwei Klassen einteilen, in empirische -Tenor: So ist der Mensch in Wirklichkeit nicht -und in normative -Tenor: So darf der Mensch nicht sein. Wenn die Ökonomik weiter mit dem Homo oeconomicus arbeiten will, was breite Kreise in dieser Wissenschaft tun und was auch hier favorisiert wird, dann muß sie zu diesen Argumenten Stellung nehmen. Entgegen vielen Sozialwissenschaftlern und auch einer Reihe von Ökonomen hält der Verfasser beide Gegenargumente für richtig -und arbeitet trotzdem weiter mit dem Homo oeconomicus. Wie soll das theoretisch möglich sein? Die Antwort ist einfach: Der „Homo oeconomicus“ ist nicht „der Mensch“. Er ist ein theoretisches Konstrukt für Zwecke allein der Theoriebildung in der positiven Wissenschaft Ökonomik. Einzelwissenschaften stellen grundsätzlich nicht die Frage Kants: Was ist der Mensch? Auch Anthropologie und Psychologie fragen nicht so. Positive Einzelwissenschaften stellen ganz spezielle, hochselektive Fragen und abstrahieren programmatisch von vielen anderen Fragen, die lebensweltlich dazugehören Alle einzelwissenschaftliche Theoriebildung ist streng aufhochselektive Problemstellungen bezogen, nicht auf „die Wirklichkeit“: Insofern müssen Einzelwissenschaften methodisch reduktionistisch arbeiten, und wer von ihnen etwas anderes, z. B. eine „ganzheitliche“ Betrachtungsweise, verlangt, macht den durch theoretische Ausdifferenzierung erzielten Fortschritt der modernen Wissenschaften zunichte. Dann lautet die entscheidende Frage: Auf welche hochselektive Problemstellung genau ist das Konstrukt Homo oeconomicus zugeschnitten? Diese Frage kann hier nur in den Grundzügen beantwortet werden.

Der Ökonomik geht es nicht um Einzelhandlungen und deren Ergebnisse, es geht ihr um aggregierte Ergebnisse wie z. B. die Geburten-und die Arbeitslosen-, die Inflationsrate etc. Genaugenommen geht es sogar nicht einmal um das Niveau dieser „Raten“, sondern nur um ihre Veränderung in Abhängigkeit von veränderten Bedingungen. Ökonomik ist also paradigmatisch Makrotheorie, d. h. eine Theorie zur Erklärung sozialer Phänomene.

Zur Erklärung der Veränderung dieser Makrogrößen greift sie nun auf eine Mikrotheorie zurück. Aggregierte Ergebnisse (Gesellschaftstheorie) werden abgeleitet aus Handlungen individueller Akteure, die handlungstheoretisch rekonstruiert werden (Handlungstheorie). Aber dieser ökonomischen Mikrotheorie geht es nicht um eine genuine Theorie des Handelns von Individuen als solchen, mit ihren individuellen Präferenzen, Zielen, Charakteren, Sozialisationsschicksalen, Weltanschauungen etc., vielmehr wird diese Mikrotheorie in der Ökonomik nur instrumentell für die Makrotheorie verwendet und daher auf ein für alle individuellen Akteure identisches Erklärungsschema standardisiert bzw. normiert: Akteure maximieren ihren erwarteten Nutzen unter Nebenbedingungen. Ökonomik ist daher „mikrofundierte Makrotheorie“ Aber warum wird dazu der äußerst restriktive Homo oeconomicus bemüht, wo es doch trivial ist, daß der Mensch über ein viel reichhaltigeres Spektrum von Motiven als nur das Eigeninteresse verfügt? Die hier vorgeschlagene Antwort stellt eine Verallgemeinerung dessen dar, was als Grundproblem der Wirtschaftsethik herausgearbeitet wurde. In der Ökonomik geht es nicht um einsame Entscheidungen einzelner, es geht um Interaktionen und um ihre Ergebnisse. In Interaktionen treten die Menschen ein, um Kooperationsgewinne zu realisieren: Dies ist das gemeinsame Interesse der Interaktionspartner. Hinsichtlich der Aufteilung der Kooperationsgewinne haben sie aber immer zugleich widerstreitende Interessen, und insofern sind alle Interaktionen problematisch. Denn der geleistete Beitrag des einen Partners kann grundsätzlich von/vom anderen ausgebeutet werden -genau wie moralische Vorleistungen von Wettbewerbern. Erwünschte, weil Kooperationsgewinne verheißende, Interaktionen kommen daher nur zustande bzw. bleiben auf Dauer nur stabil, wenn die Interaktionspartner vor Ausbeutung ihrer Beiträge durch andere zuverlässig geschützt werden können. Und dies eruiert man, indem man -hypothetisch -den Homo oeconomicus als Quasi-Interaktionspartner ansetzt. Jeder rationale bzw. lernfähige Akteur läßt sich nur auf solche Interaktionen ein, bei denen er (hinreichend) sicher sein kann, daß seine Beiträge nicht ausgebeutet, d. h. die Kooperationserträge nicht von den anderen allein angeeignet werden. Dies überprüft er, indem er andere als homines oeconomici (Eigennutzmaximierer) modelliert. Der Homo oeconomicus wird verwendet als Testinstrument für die Stabilität von Interaktionen. Eine Rentenversicherung z. B., die nicht Homo-oeconomicus-resistent gestaltet ist, muß -nach einer Phase, in der die Menschen die Vorteilhaftigkeit des „Trittbrettfahrens“ erlernen -schließlich zusammenbrechen. Wie man nur TÜVgeprüfte Autos in den Verkehr läßt, so kann der Ökonom nur Homo-oeconomicus-geprüfte Institutionen empfehlen. Die „Anreizkompatibilität“ moralischer Normen meint nichts anderes als diese Resistenz gegen den Virus Homo oeconomicus

Das Ziel der hier entwickelten Konzeption von Wirtschaftsethik und allgemeiner Ethik besteht darin, die Institutionen, d. h. die von ihnen ausgehenden Anreize, so zu gestalten, daß individuelle Moral möglich -und nicht bestraft -wird. Zur Lösung dieses Problems wird methodisch der Homo oeconomicus -allgemeiner: der ökonomische Ansatz -verwendet. Er ist keine empirische Behauptung über „den Menschen“ und schon gar kein normatives Ideal. Der Homo oeconomicus stellt vielmehr eine Aussage über die relevanten Problemstrukturen, d. h. Anreizstrukturen, bei Interaktionen dar. Die -methodisch zu fordernde -„Realitätsnähe“ liegt also nicht in einer Angemessenheit in bezug auf den „Menschen“, sondern in der Angemessenheit in bezug auf die Problem-und Anreizstrukturen in Interaktionen begründet. Der ökonomische Ansatz stellt daher eher eine Situationstheorie dar als eine Verhaltenstheorie, als die er immer (fehl-) interpretiert wird. Das „ökonomische Fundament“ aller Moral ist im Sinne einer Absicherung moralischen Verhaltens durch Vorteile, durch Anreize, zu verstehen. Mit „Reduktionismus“ hat das nichts zu tun.

VI. Moralverständnis und Gesellschaft

Auch moderne Gesellschaften sind auf ein moralisches Selbstverständnis angewiesen: Darin haben die Kommunitarier durchaus Recht. Wenn aber das Verständnis von „Moral“, das in der Gesellschaft vorherrscht, den Funktionsbedingungen moderner Gesellschaften nicht mehr angemessen ist, dann führt gerade die „Moral“ solche Gesellschaften in eine Polarisierung, die sie auf eine harte Belastungsprobe stellt: Genau dies scheint in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend der Fall zu sein.

Auf der einen Seite stehen jene, die sich durch normative Ideale definieren und, gestützt auf die Dignität dieser Ideale, die Domestizierung „der Wirtschaft“ verlangen. Zum Wortführer auf europäischer Ebene ist kürzlich P. Bourdieu avanciert: Die „sozialen“ Errungenschaften müssen mit Zähnen und Klauen gegen den globalisierten Wettbewerb und die internationalisierten Finanzmärkte verteidigt werden -an den Grenzen des vereinten Europas, wo offenbar neue Berliner Mauern aufgerichtet werden sollen. So fühlen sich viele -Geisteswissenschaftler, Pädagogen, Kirchen-und Gewerkschaftsvertreter -mit bestem Wissen und Gewissen verpflichtet, gegen die zunehmende Ökonomisierung der Welt und der sozialen Beziehungen Widerstand zu leisten. Auf der anderen Seite stehen jene, die als Funktionsträger innerhalb der Subsysteme Verantwortung tragen. Sie glauben, ebenfalls besten Wissens und Gewissens, einen wertvollen Dienst für dieGemeinschaft der Menschen zu leisten -als Forscher, Ärzte, Manager, Politiker usw. aber sie befinden sich in einem Argumentationsnotstand hinsichtlich der normativen Qualität ihres Tuns, stehen sie doch permanent vor Systemerfordernissen wie der gentechnologischen Forschung, Eroberung internationaler Märkte, Freisetzung von Arbeitskräften oder Gewinnung von Wählermehrheiten. Wegen der systembedingten Anreize ihres Tuns werden sie von Vertretern der ersten Gruppe mit moralischen Forderungen -und Vorwürfen -bedacht, denen sie wegen der Systemimperative, unter denen sie arbeiten, nicht in der geforderten Weise stattgeben können. Das Resultat: Es verschärft sich in unserer Gesellschaft der Gegensatz zwischen den Moralisten, die mangels gesellschaftstheoretischer Reflexion eine unpassende personale Moral, die „Motivmoral“, polemisch gegen die moderne Welt setzen, und jenen Führungskräften, die die Moral in ihrem systemisch bestimmten Tun nicht erkennen und dann „Moral“ und „Ethik“ nur noch als Blockaden für vernünftiges Handeln auffassen können. Diese aktuell sich abzeichnende Polarisierung kann nur durch theoretische Arbeit überwunden werden. Es gilt, gesellschaftstheoretisch zu zeigen, daß gerade eine Anreizmoral die adäquate Form von Moral in modernen Gesellschaften mit funktionaler Differenzierung und eingelagerten Wettbewerbsprozessen ist, eine Moral, die auf einem Vorteilsdenken aufbaut. Und es gilt, die Grundgedanken dieses Konzepts gesellschaftlich -politisch, pädagogisch, ökonomisch etc. -auf breiter Front zu kommunizieren, um die falschen, kontraproduktiven Frontstellungen einer fundamentalistischen Motivmoral einerseits und vermeintlich unmoralischer „Systemimperative“ andererseits abzubauen. Die Empfehlungen, die eine entsprechende Form von Ethik -eine Anreizethik also -gibt, sind durchweg konträr zu jenen moralischen Intuitionen, die junge Menschen auch heute noch -und mit guten Gründen -aus ihrer Sozialisation in Elternhaus, Kindergarten, Schule und Kirche mitbringen. Wenn wir in der modernen Welt nicht orientierungslos werden wollen, müssen wir es lernen, solche zum Teil höchst kontraintuitiven Sätze wie die folgenden im Prinzip für ethisch richtig zu halten: Wettbewerb ist solidarischer als Teilen. Privateigentum ist sozialer als Gemeineigentum. -Gewinnmaximierung ist -unter einer geeigneten Rahmenordnung selbstverständlich -sittliche Pflicht der Unternehmen. -„Soziale Gerechtigkeit“ kann höchst ungerecht sein. -Arbeitsplatzsicherungen sind unmoralisch, weil sie die Arbeitslosen benachteiligen. -Staatliche Drogenprohibition ist moralisch verfehlt, weil sie den Drogenkonsum fördert -Die ethisch begründete Forderung nach „Umverteilung“ ist moralisch verfehlt, weil sie gesellschaftliche Konflikte verschärft -Gesellschaftliche Kooperation verlangt soziale Kontrolle durch Wettbewerb. Dies mag hier genügen; die Liste der Beispiele für zum Teil extrem kontraintuitive, gleichwohl moralische Handlungsempfehlungen ließe sich beliebig verlängern. Die Ursache für den kontraintuitiven Charakter dieser Empfehlungen aber ist immer dieselbe: Unter Bedingungen systemischer Sozial-und Denkstrukturen, also der gesellschaftlichen Funktionssysteme und positiven Einzelwissenschaften, ist eine genaue Kenntnis der systemischen Teilrationalitäten erforderlich, wenn man der Moral auf breiter Front in der Gesellschaft Geltung verschaffen will.

VII. Schlußbemerkung

Die öffentliche Diskussion sieht in neuerlich beobachtbaren Individualierungstendenzen einen Verfall der Moral im Sinne traditioneller Gemeinschaftsmoral. Eine gesellschaftstheoretisch reflektierte (Wirtschafts-) Ethik versucht, die mit jedem neuen Schub von Individualisierung zweifellos verbundenen Orientierungsprobleme durch eine auf individuelle Vorteilskalkulationen abstellende Gestaltung der Handlungsanreize zu lösen statt durch moralische Aufrüstung. Moral kann unter den Bedingungen moderner Gesellschaften und erst recht der modernen Weltgesellschaft nur auf den einzig verbleibenden gemeinsamen Nenner individueller Vorteilskalkulationen gegründet sein, was immer die Menschen selbst in den verschiedenen Kulturen unter „Vorteilen“ verstehen. Eine Moral, die nicht auf „Vorteilen“ im Sinn der modernen Ökonomik beruht, muß mangels geeigneter anderer Formen sozialer Kontrolle bei den ersten Windstößen zusammenbrechen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wolfgang Schäuble, Gibt es einen Ausweg aus der Wohlstandsfalle?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 11. 1996.

  2. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.

  3. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 1830, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1963.

  4. Vgl. Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts-und Unternehmensethik, Göttingen 1992.

  5. Hermann Krings, Norm und Praxis. Zum Problem der Vermittlung moralischer Gebote, in: Herder Korrespondenz, 45 (1991), S. 228-233, hier: S. 230.

  6. Vgl. Karl Homann/Christian Kirchner, Ordnungsethik, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 14 (1995), S. 189-211.

  7. Neuere Arbeiten zu dieser Problematik sind Soeben in deutscher Übersetzung erschienen: Gary S. Becker, Familie, Gesellschaft und Politik -die ökonomische Perspektive, Tübingen 1996.

  8. Vgl. Andreas Diekmann/Peter Preisendörfer, Persönliches Umweltverhalten: Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 44 (1992), S. 226-251.

  9. Hans Küng, Projekt Weltethos, München u. a. 199243.

  10. Die maßgebliche Monographie stammt von Gebhard Kirchgäßner, Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts-und Sozialwissenschaften, Tübingen 1991; systematisch weiterführend ist Karl Homann, Homo oeconomicus und Dilemmastrukturen, in: Hermann Sautter (Hrsg.), Wirtschaftspolitik in offenen Volkswirtschaften. Festschrift für Helmut Hesse zum 60. Geburtstag, Göttingen 1994, S. 387411.

  11. Vgl. Andreas Suchanek, Ökonomischer Ansatz und theoretische Integration, Tübingen 1994.

  12. Reinhard Zintl, Der Homo Oeconomicus: Ausnahmeerscheinung in jeder Situation oder Jedermann in Ausnahmesituationen?, in: Analyse & Kritik, 11 (1989), S. 52-69.

  13. Für Sozialwissenschaftler kann man das kürzer so formulieren: Alle Interaktionen weisen Dilemmastrukturen auf. Das Homo-oeconomicus-Konstrukt bildet das aggregierte Resultat solcher Interaktionen zuverlässig ab, weil -über kurz oder lang -alle Interaktionspartner der Defektionslogik folgen müssen, wenn anreizverträgliche Institutionen fehlen. Deswegen arbeitet der Ökonom mit diesem Konstrukt -und nicht mit einem Homo sociologicus, Homo cooperativus oder Homo moralis: vgl. K. Homann (Anm. 10).

  14. Pierre Bourdieu, Warnung vor dem Modell Tietmeyer, in: Die Zeit vom 1. November 1996, S. 2.

  15. Vgl. G. S. Becker (Anm. 7).

  16. Vgl. dazu Karl-Hans Hartwig/Ingo Pies. Rationale Drogenpolitik in der Demokratie. Wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftsethische Perspektiven einer Heroinvergabe, Tübingen 1995.

  17. Vgl. Karl Homann/Ingo Pies, Sozialpolitik für den Markt: Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik, in: Ingo Pies/Martin Leschke (Hrsg.), James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen 1996, S. 203239.

Weitere Inhalte

Karl Homann, Dr. phil., Dr. rer. pol., geb. 1943; 1963-1972 Studium der Philosophie, Germanistik und Katholischen Theologie in Münster; 1971-1979 Studium der Volkswirtschaftslehre an derselben Universität; 1986-1990 Professor für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke; seit 1990 Professor für Wirtschafts-und Unternehmensethik an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Ingolstadt der Katholischen Universität Eichstätt. Veröffentlichungen u. a.: F. H. Jacobis Philosophie der Freiheit, Freiburg-München 1973; Die Interdependenz von Zielen und Mitteln, Tübingen 1980; Rationalität und Demokratie, Tübingen 1988; (zus. mit Franz Blome-Drees) Wirtschafts-und Unternehmensethik, Göttingen 1992.