Hindunationalismus und islamischer Fundamentalismus in Südasien. Zur Lage in Indien, Pakistan und Bangladesch
Justus Richter
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Zusammenfassung
Fünfzig Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit befinden sich die drei Staaten Indien, Pakistan und Bangladesch in einer tiefen inneren Krise, die sich im sozialen Bereich mit den Schlagwörtern Bevölkerungsexplosion und Massenarmut umreißen läßt. In der politischen Sphäre ist in allen drei Ländern eine Rückbesinnung auf eigene, traditionelle politische Ordnungsvorstellungen und eine Stärkung der Rolle der Religion in der Politik unverkennbar. Während im indischen Mehrparteiensystem die hindunationalistische BJP (Indische Volkspartei) 1996 zur parlamentarisch stärksten politischen Kraft avancieren konnte, verfügen die islamischen Fundamentalisten in den beiden Nachbarländern bisher nur über eine schwache parlamentarische Basis. Gleichwohl beeinflussen die religiösen Gruppierungen in Pakistan und Bangladesch die politische Kultur sehr nachhaltig und erschweren das Funktionieren demokratischer politischer Prozesse. Die gegenwärtigen Entwicklungen in der Region führen zur Erosion der ursprünglich säkular ausgerichteten Nationalstaaten. Das Prinzip des Säkularismus kann jedoch als eine unabdingbare Voraussetzung für eine funktionierende und langfristig stabile Mehrparteiendemokratie in ethnisch und religiös fragmentierten Gesellschaften angesehen werden. Vor diesem Hintergrund wird das Hervortreten latenter und überwunden geglaubter Konfliktlinien verständlich, die sich am Beispiel der Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen in Indien und zwischen Sunniten und Schiiten in Pakistan aufzeigen lassen.
I. Einleitung
Johann Wolfgang Goethe hat in seinem berühmten Werk „Faust“ über die Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen gegenüber den Konflikten im Orient mit den Zeilen „Wenn hinten weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen .. gespottet. Inzwischen werden dem Orient und dem Themen-komplex Islam in der breiten Öffentlichkeit ein außerordentliches Interesse zuteil, wobei gegenwärtig Fragen des islamischen Fundamentalismus, die Lage in Algerien und die Erosion des säkularen politischen Systems der Türkei besonders im Blickfeld stehen. Demgegenüber werden die religiös-politischen Entwicklungen in Südasien von der deutschen Öffentlichkeit eher am Rande notiert und vollziehen sich damit gleichsam in dem von Goethe ironisch angemerkten Sinne. Der christlich-abendländische Europäer assoziiert mit der islamischen Welt vorzugsweise das ihm geographisch am nächsten liegende historische Kernland des arabisch-islamischen Kulturraumes sowie die Türkei und den Iran. Dabei wird oftmals übersehen, daß heute in Südostasien und auf dem indischen Subkontinent, dessen massive Islamisierung erst im 11. Jahrhundert einsetzte, die weit überwiegende Mehrzahl der Muslime lebt. So ist Indonesien mit ca. 163 Mio. Muslimen das Land mit der zahlenmäßig stärksten islamischen Bevölkerung den zweiten Rang nimmt Pakistan mit schätzungsweise 130 Mio. Muslimen ein; Bangladesch rangiert mit ca. 120 Mio. Muslimen an dritter Stelle; Indien schließlich verfügt bei einer unaufhaltsam auf die Milliardengrenze zustrebenden Gesamtbevölkerung und einem islamischen Bevölkerungsanteil von über elf Prozent über etwa 108 Mio. Muslime und nimmt damit -mit weitem Abstand vor den vergleichsweise bevölkerungsarmen nahöstlichen Staaten -den vierten Rang ein.
In weiten Teilen Südasiens hat der Islam die jahrtausendealte hinduistische Kultur überlagert und sehr nachhaltig befruchtet Die Weltreligionen führten auf dem Subkontinent zu einer Synthese, jedoch bildeten sich auch ethnisch-religiöse Konfliktlinien heraus, die bis in die Gegenwart latent oder akut wirken. In diesem ambivalenten Spannungsverhältnis hat der Islam in Südasien seine eigenen Ausprägungen erfahren; dies läßt sich am besten in seiner Begegnung bzw. Konfrontation mit dem Hinduismus verstehen.
Fünfzig Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit des Subkontinents befinden sich die drei Staaten Indien, Pakistan und Bangladesch in einer tiefen inneren Krise. Im sozialen Bereich ist diese Entwicklung -bei erheblichen länderspezifischen und regionalen Unterschieden -durch ungebremstes Bevölkerungswachstum, anhaltende oder gar zunehmende Massenarmut, sich vertiefende soziale Gegensätze und Zunahme ethnisch-religiöser Spannungen gekennzeichnet. In der politischen Sphäre ist in allen drei Ländern eine Rückbesinnung auf eigene, traditionelle politische Ordnungsvorstellungen und eine damit einhergehende Stärkung der Rolle der Religion in der Politik unverkennbar. So ging in Indien die hindunationalistische Partei BJP aus den zuletzt im Frühjahr 1996 durchgeführten Parlamentswahlen als stärkste politische Kraft hervor. Pakistan und Bangladesch reihen sich hingegen in die Gruppe derjenigen Länder ein, in denen der Islam an politischem Einfluß gewinnt.
Vor dem Hintergrund des sozialen Konfliktpotentials interessiert zunächst die Frage, ob sich die säkulare indische Demokratie gegenüber religiösem Populismus als widerstandsfähig erweisen kann. Welche Gründe lassen sich für das Aufweichen der säkularen politischen Ordnung in Indien und das Erstarken der hindunationalistischen BJP anführen? Nach einem Blick auf die Konfliktlinie zwischen Hindus und Muslimen wird im folgenden der Bogen über Pakistan nach Bangladesch gespanfit, -zwei Nachbarländer, die sich durch ihre mehrheitlich islamische Bevölkerung vom überwiegend hinduistischen Indien abheben, andererseits jedoch durch historische Bindungen und die klare kulturgeographische Abgrenzung des Subkontinents vielfältige Parallelen aufweisen. Schließlich interessiert, welche Bilanz sich nach einem halben Jahrhundert Unabhängigkeit ziehen läßt. Bedauerlicherweise gibt es -über die runde Zahl des Jubiläums hinaus -kaum Grund zu großen Feierlichkeiten. Es gilt daher nicht so sehr, in nationalem Stolz auf das Erreichte zurückzublikken, sondern vielmehr, den Blick nach vorne zu richten und die gewaltigen sozialen und politischen Probleme entschlossen in Angriff zu nehmen. Unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen instabiler und nur eingeschränkt handlungsfähiger Regierungen ergeben sich hierzu Chancen vor allem durch eine forcierte marktwirtschaftliche Öffnung und eine engere Zusammenarbeit der Industrienationen mit dieser Länder-gruppe.
II. Indien im Zeichen des Hindunationalismus
Abbildung 2
Tabelle 2: Mandatsverteilung zwischen Kongreßpartei und BIP bei Unterhauswahlen, 1984-1996 Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Tabelle 2: Mandatsverteilung zwischen Kongreßpartei und BIP bei Unterhauswahlen, 1984-1996 Quelle: Vgl. Tabelle 1.
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen des säkularen politischen Systems Indiens
Indien verfügt über eine gefestigte demokratische Ordnung, die sich in ihrer verfassungsrechtlichen Konzeption am Westminster-Modell orientiert Die Gewaltenteilung ist in der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt durch eine klare Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative gewährleistet. Im System der bipolaren Exekutive bilden der Staatspräsident als Staatsoberhaupt und der die Regierungsgeschäfte ausübende Premierminister eine exekutive Doppelspitze. Der Regierungschef und sein Kabinett sind der Legislative gegenüber verantwortlich, die sich als Zweikammerparlament aus Oberhaus, Council of States, und Unterhaus, House of the People, zusammen-setzt. Die Gerichtsbarkeit erfüllt innerhalb des politischen Systems wichtige Kontroll-und Korrektivfunktionen.
Das Prinzip des Säkularismus ist bereits in der Präambel der indischen Verfassung -und somit an herausgehobener Stelle -verankert. Die Aufnahme der Begriffe „secular“ und „socialist“ erfolgte interessanterweise jedoch erst durch die 42. Verfassungsergänzung im Jahre 1976 und in einer Phase, in der die politische Entwicklung Indiens von Leitideen abzuweichen begann, die die Gründungsväter der Verfassung -überspitzt formuliert -als selbstverständlich und phrasenhaft empfunden haben mußten.
Vorab bedarf es zweier Kurzdefinitionen: „Säkularismus“ läßt sich verstehen als die politische Ideologie der Herrschafts-und Vermögenssäkularisation, die auf der Zurückdrängung der Religion aus Staat und Gesellschaft basiert Im indischen Kontext wird unter „Säkularismus“ der Schutz und die Gleichbehandlung der verschiedenen Religionsgemeinschaften sowie der Verzicht auf die Erklärung eines bestimmten Glaubens zur Staatsreligion verstanden Mit dem Säkularismus eng verbunden ist der Begriff des „Laizismus“, der sich als die Ideologie der Trennung von weltlicher und religiöser Sphäre definieren läßt, die durch Heraushaltung der Religion aus dem öffentlichen politischen Raum und durch Zurückdrängung von Glaubensfragen in den individuellen persönlichen Bereich angestrebt wird. Im indischen verfassungsrechtlichen Sinne läßt sich Laizismus als die Verpflichtung des Staates verstehen, Neutralität in religiösen Angelegenheiten zu üben.
Der Gleichheitsgrundsatz in Artikel 14 der indischen Verfassung bestimmt, daß alle Staatsbürger unabhängig von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht und Geburtsort die gleichen Rechte und Pflichten haben. Präzisierend schließt Artikel 15 ausdrücklich die Benachteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen bei Einstellungen in den öffentlichen Dienst aus. Der säkulare Charakter des indischen Staatswesens und die Religionsfreiheit sind im Detail in den Artikeln 25-28 kodifiziert. Schließlich sind in einer der umfangreichsten Verfassungen der Welt in den Artikeln 29 und 30 bestimmte Minderheitenrechte garantiert. Für das Funktionieren demokratischer Prozesse im eth-nisch und religiös fragmentierten indischen Staat ist Artikel 325 bedeutsam, in dem festgelegt ist, daß bei Wahlen niemand aufgrund seiner Religionszugehörigkeit bevorteilt oder diskriminiert werden darf
Die Glaubensgemeinschaften im indischen Vielvölkerstaat verfügen über die folgenden prozentualen Anteile: Hindus 82. 64, Muslime 11, 35. Christen 2, 43, Sikhs 1, 97, Buddhisten 0, 71, Jains 0. 48 und Sonstige 0, 42 Aus dieser Zersplitterung ergibt sich, daß die Akzeptanz von demokratischen Mehrheitsentscheidungen durch die strukturellen Minderheiten nur bei Bestehen eines sä 35. Christen 2, 43, Sikhs 1, 97, Buddhisten 0, 71, Jains 0. 48 und Sonstige 0, 42 8. Aus dieser Zersplitterung ergibt sich, daß die Akzeptanz von demokratischen Mehrheitsentscheidungen durch die strukturellen Minderheiten nur bei Bestehen eines säkularen politischen Systems gewährleistet ist. Die Minoritäten würden sich nicht repräsentiert fühlen und könnten sich aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit mit einem durch die religiös-politische Ideologie der Mehrheitsbevölkerung geprägten Ordnungsmodell kaum identifizieren 9. Der Verfassungsgrundsatz des Säkularismus bildet daher eine unabdingbare Voraussetzung für politischen Pluralismus und ein funktionierendes Mehrparteiensystem.
2. Das Erstarken des Hindunationalismus und die Stellung der BJP im indischen Parteiensystem
Eingangs soll wiederum eine Begriffsbestimmung vorgenommen werden: Der Hindunationalismus wird als eine populistische und chauvinistische Ideologie definiert, die an das religiöse und nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung appelliert, um deren Vorherrschaft über die ethnischen und religiösen Minderheiten auf demokratischem Wege zu erlangen 10.
Dabei bleibt zunächst eine wichtige begriffliche Unschärfe hinsichtlich der Frage bestehen, was unter Hinduismus mit seinen möglichen politischen Implikationen zu verstehen ist. Der Begriff des Hinduismus hat sich erst im 19. Jahrhundert unter der britischen Kolonialherrschaft durchgesetzt und läßt sich auf den Flußnamen Indus zurückführen, in dessen Einzugsbereich und jenseits davon die Hindus leben. Diesem europäischen Verständnis zufolge waren Hindus diejenigen Eingeborenen dieses Raumes, die an ihrer polytheistischen Religion festgehalten hatten und nicht zum Islam konvertiert waren.
Im Unterschied zum Christentum und zum Islam gibt es im Hinduismus keinen Religionsbegründer, keine allseitig anerkannten kanonischen Texte und keine Kirche oder eine den islamischen Institutionen des Kalifats und des Sultanats vergleichbare Organisationsform 11. Der Hinduismus verfügt somit über keine in den Offenbarungsreligionen vorhandenen politischen Konzeptionen, wie sie sich beispielsweise in der Blütezeit des Islams in der klassischen islamischen Staatsidee herausgebildet haben. Der Philosoph Kautilya hat im dritten vorchristlichen Jahrhundert ein Gedankengebäude für eine politische Ordnung ersonnen, dessen Kernthese im Primat des materiellen Wohlstands besteht; der Reichtum habe die Grundlage für das geistige und spirituelle Wohlergehen der Gemeinschaft zu bilden Seine Philosophie erweist sich jedoch mit Blick auf die gegenwärtigen sozioökonomischen Probleme als eine politische Utopie. In Ermangelung historischer Leitideen konzentriert sich die Programmatik der Hindunationalisten auf religiösen und nationalistischen Populismus, der jedoch nicht nur bei den verarmten Bevölkerungsmassen, sondern neuerdings auch im mittelständischen, urbanen und intellektuellen Milieu verstärkt Zuspruch findet.
Auf der parteipolitischen Ebene konnte sich der Hindunationalismus erst Mitte der achtziger Jahre mit der BJP erfolgreich etablieren 1Bei den Unterhauswahlen im Jahre 1984 erreichte die hindunationalistische Partei unter der Dominanz der Kongreßpartei lediglich 7, 4 Prozent der Stimmen und fünf Jahre später erst 11, 5 Prozent. Das Ergebnis im Jahre 1991 von 20, 1 Prozent konnte die BJP 1996 mit 20, 3 Prozent nur noch geringfügig ausbauen (Tabelle 1). Im gleichen Zeitraum fiel die traditionsreiche Kongreßpartei fast um 20 Prozentpunkte (von 48, 1 auf 28, 8) auf das niedrigste Ergebnis ihrer Parteigeschichte zurück. Noch deutlicher erscheint die Umwälzung des indischen Parteiensystems bei einem Blick auf die Mandatsverteilung (Tabelle 2). Dort hat sich die Schere bereits geschlossen, denn bedingt durch das Mehrheitswahlrecht konnte die BJP durch eine Konzentration auf aussichtsreiche Wahlkreise bei den Unterhauswahlen des Jahres 1996 zur stärksten parlamentarischen Kraft werden Folgerichtig erteilte der Staatspräsident Shankar Dayal Sharma dem BJP-Führer Atal Bihan Vajpayee den Auftrag zur Regierungsbildung. Dieser sah sich jedoch bereits nach dreizehn Tagen zum Rücktritt gezwungen, um der bevorstehenden Niederlage bei einem Mißtrauensvotum im Unterhaus zuvorzukommen
Eine Machtübernahme durch die Hindunationalisten konnte nur durch die Bildung der United Front, einer Vielparteienkoalition aus Regional-und Splitterparteien, die auf die Duldung durch die Kongreßpartei angewiesen ist, abgewendet werden. Nachdem die Kongreßpartei der United Front die parlamentarische Unterstützung aufgekündigt hatte, mußte der Premierminister der Vielparteienkoalition, H. D. Deve Gowda, nach einer Mißtrauensabstimmung am 11. April 1997 seinen Rücktritt erklären. Nach zweiwöchigen personellen und koalitionstaktischen Querelen konnte die instabile United Front unter Führung von Inder Kumar Gujral, der zuvor sehr erfolgreich das Außenressort geleitet hatte, die Regierungsgeschäfte fortführen Während die Kongreßpartei sich abermals bereit zeigte, eine säkulare Regierung zu unterstützen, wurde die United Front von seiten der BJP als eine „unheilige Allianz“ (Unholy Alliance) bezeichnet.
Durch die für ein Mehrheitswahlsystem untypische Herausbildung eines Parteiensystems mit den drei Blöcken Kongreßpartei, BJP und United Front, die nicht bereit scheinen, Koalitionen einzugehen, ist die indische Demokratie in eine Phase der Instabilität eingetreten. Die gegenwärtige Situation läßt erkennen, daß sich während der jahrzehntelangen Dominanz der Kongreßpartei keine säkularistisch und demokratisch ausgerichtete Alternative herausbilden konnte.
Die tiefgreifende Umwälzung des indischen Parteiensystems -selbst wenn es vorerst nicht zu einer Machtübernahme durch die hindunationalistische BJP gekommen ist -läßt sich durch einen Blick auf die ideologischen Gegensätzlichkeiten aufzeigen. Die Kongreßpartei und die BJP erscheinen diesbezüglich diametral entgegengesetzt, wenn man sich die indische Parteienlandschaft auf ein Koordinatensystem mit den Achsen religiös versus säkularistisch und konservativ/traditionalistisch versus progressiv/modernistisch übertragen vorstellt. Die politische Ausrichtung der Kongreßpartei läßt sich durch die Merkmalskombination progressiv/modernistisch und säkularistisch charakterisieren Die Ideologie der BJP befindet sich demgegenüber in beiden Dimensionen auf der gegenüberliegenden Seite des Spektrums, denn sie erscheint als konservativ/traditionalistisch und religiös.
Nach einer Reihe von Erfolgen der BJP bei Wahlen zu Parlamenten von einzelnen Unionsstaaten ist erkennbar, daß sich auch die BJP, in die Regierungsverantwortung genommen, an der Politik des Machbaren orientiert Diese Wende hin zu mehr Pragmatismus hat gleichsam zu einer Congressization der BJP und zu deren Regierungsfähigkeit auch auf der zentralstaatlichen Ebene geführt Die innere Verkrustung und anhaltende Erosion der Kongreßpartei haben zum Aufstieg der BJP beigetragen und zu einer Polarisierung des indischen Parteiensystems geführt. Die gegenwärtige politische Kultur Indiens wird daher maßgeblich durch die antagonistische Konfliktlinie zwischen säkularem und religiös bestimmtem Politikverständnis geprägt, während die demokratische Auseinandersetzung mit programmatischen und kompromißfähigen Politikinhalten in den Hintergrund zu geraten droht. Im Zuge der Polarisierung zwischen Säkularismus und Hindunationalismus, die sich auch im Parteiensystem widerspiegelt, haben sich die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen verschärft.
3. Die Konfliktlinie zwischen Hindus und Muslimen
Das Erstarken des Hindunationalismus läßt sich historisch mit dem Trauma der präkolonialen Fremdherrschaft durch die Muslime erklären, wodurch die Ideologie des Hindutums (Hindutva) eine revanchistische Komponente erfährt. Danach sei der Zeitpunkt für eine Machtübernahme durch die Hindus und eine Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft nach hinduistischen Grundsätzen gekommen Die indischen Muslime sehen sich ihrerseits in vielerlei Hinsicht diskriminiert und suchen durch politischen Aktivismus in islamischen Bewegungen Mittel zur Aufrechterhaltung der eigenen Identität. Es läßt sich daher die These vertreten, daß Hindunationalismus und islamischer Fundamentalismus in einer engen Wechselbeziehung stehen und sich gleichsam gegenseitig hochschaukeln können
Aus der Sicht der Muslime bestehen insbesondere die folgenden Streitfragen Sie sind von Führungspositionen in Verwaltung und Privatindustrie nahezu ausgeschlossen; zum Bau von Moscheen wird ihnen kein staatliches Land zur Verfügung gestellt; das staatliche Versprechen, islamische Gebete in geschützten Denkmälern zu erlauben, wurde zurückgenommen; gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus halten an und werden durch Sicherheitskräfte unge-nügend unterbunden; und schließlich erscheint die Zurückdrängung des Urdu beklagenswert
Die Eskalation der Gewalt zwischen den beiden größten Glaubensgemeinschaften erreichte am 6. Dezember 1992 mit der Zerstörung der Moschee von Ayodhya durch fanatisierte Hindus einen dramatischen Höhepunkt. Dieses Ereignis beeinflußt das innenpolitische Klima bis in die Gegenwart, zugleich läßt sich an diesem Fallbeispiel die historische Dimension aufzeigen
Die Stadt Ayodhya liegt im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, gilt als Geburtsort des Gottes Rama und zählt für die Hindus zu den sieben heiligsten Stätten. Im Jahre 1528 ließ der Begründer der Moguldynastie den Rama-Tempel abreißen und mutmaßlich an gleicher Stelle eine Moschee errichten, wodurch die Hindus ihren Wallfahrtsort entweiht sahen In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich um Ayodhya ein Rama-Kult, und nach gewaltsamen Auseinandersetzungen im Jahre 1855, die 70 Tote forderten, wurde ein Kompromiß ausgehandelt, der es sowohl Hindus als auch Muslimen gestattete, die Moschee als Gebetsstätte zu benutzen. Nach der Stürmung der Moschee durch Hindus und der Errichtung einer Statue des Gottes Rama im Jahre 1949 wurde das Gotteshaus aus Sicherheitsgründen geschlossen und der Imam zum Verlassen aufgefordert. Dieser Status währte bis 1986, als durch einen Gerichtsentscheid die Tore der Moschee geöffnet und Hindus die Möglichkeit zur Verehrung der Rama-Statue gewährt wurde.
Seit 1987 stand die Problematik um Ayodhya im Mittelpunkt des „Programms“ der hindunationalistischen BJP, ihrer Kaderschmiede RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh, Nationale Freiwilligen Union) und dem mit ihr affiliierten, missionarischen und politisch agitatorischen VHP (Vishva Hindu Parishad, Rat aller Hindus). Ihre Propaganda konzentrierte sich auf die Wiedergutmachung jahrhundertealten Unrechts durch die Errichtung eines Tempels -anstelle der Moschee -als ein weithin sichtbares Monument der Einheit der hinduistischen Nation (Hindu rashtra).
Eine traditionelle hinduistische Wagenprozession sollte im Jahre 1992 nach Ayodhya führen, um beim Eintreffen die zeremonielle Grundsteinlegung für den Tempelbau vorzunehmen. Am Rande dieses Demonstrationszuges kam es wiederholt zu Zusammenstößen mit islamischen Aktivisten, die zahlreiche Tote und Verletzte forderten. Die mehrere tausend Menschen umfassende Karawane, an der zahlreiche BJP-Führer teilnahmen, konnte zwar vor Erreichen des Zieles durch ein massives Aufgebot an Sicherheitskräften gestoppt werden, aber dennoch kam es in Ayodhya zum gewaltsamen Sturm auf das Tempelgelände. Die von der BJP geführte Landesregierung des Bundesstaates Uttar Pradesh zeigte wenig Bereitschaft, den Anweisungen der in Neu Delhi regierenden Kongreßpartei Folge zu leisten. Schließlich kulminierten die Auseinandersetzungen, als mit offenkundiger Rückendeckung durch die BJP die Moschee von Ayodhya in wenigen Stunden von fanatisierten Hindus dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die dadurch ausgelösten Unruhen forderten über tausend Tote
Nach den Ereignissen von Ayodhya ist das indische Nationalstaatskonzept einer Neubewertung zu unterziehen. Es läßt sich die Auffassung vertreten, daß die Hindunationalisten die identitätsstiftende Funktion der Religion zum Aufbau eines modernen Nationalstaates nutzen möchten, ohne daß ihnen dabei ein theokratisches Ordnungsmodell vorschwebt. Demzufolge soll der indische Staat vor dem als Bedrohung empfundenen islamischen Fundamentalismus, namentlich in Iran und in Pakistan, geschützt werden
Die Wurzeln der Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen reichen bis in die vorkoloniale Zeit zurück. Einen wichtigen Höhepunkt bilden die Kämpfe, die im Jahre 1947 zur Teilung des indischen Subkontinents und zur Unabhängigkeit Indiens und Pakistans geführt haben.
III. Religion und Politik in Pakistan
1. Grundzüge des politischen Systems
In Pakistan ist der Islam Staatsreligion, und die starke Verbindung von Religion und Politik kommt bereits in der offiziellen Staatsbezeichnung „Islamische Republik Pakistan“ zum Ausdruck Pakistan hat keine historischen Vorläufer in den nur zum Iran hin international unumstrittenen Grenzen. Als einziger islamischer Staat wurde Pakistan im Namen des Islams geschaffen, denn das Staats-gebilde entstand vor fünfzig Jahren zur Schaffung eines Homelands für die Muslime Indiens
Die Verfassung von 1973 orientierte sich teilweise -insbesondere hinsichtlich der (allerdings nur in Ansätzen verwirklichten) föderativen Ordnung und einiger Elemente des Wahlrechts -am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Der Staatspräsident und der die Regierungsgeschäfte ausübende Ministerpräsident bilden gemeinsam eine exekutive Doppelspitze, wobei das Staatsoberhaupt im Vergleich zum deutschen System jahrzehntelang über eine sehr viel größere Machtfülle verfügte Die Exekutivlastigkeit des politischen Systems wird durch das Nebeneinander von zivilen und militärischen Machtinstanzen noch verstärkt Die PML (Pakistan Muslim League) und die PPP (Pakistan People’s Party) sind die beiden führenden Parteien in der Nationalversammlung. Das Oberste Gericht, der Supreme Court, steht ursprünglich in der britischen Rechtstradition und gilt als Status-quo-orientiert. Die Judikative hat -bei formaler Unabhängigkeit -eine schwierige Balance zu wahren und befand sich insbesondere mit Auffassungen des islamischen Rechts (Scharia) und zeitweise mit dem Kriegsrecht in einem Spannungsverhältnis.
Die politische Kultur Pakistans wird sehr stark durch die Ordnungsvorstellungen der Muslime geprägt. Nahezu 97 Prozent der Bevölkerung sind islamischen Glaubens, wobei der Anteil der Schiiten etwa ein Fünftel beträgt Pakistan befindet sich damit -vergleichbar der Situation der überwiegenden Zahl der arabischen Staaten sowie der Türkei -in einem tiefen inneren Konflikt, der maßgeblich durch Unvereinbarkeiten aus islamischen und anderen, meist aus der westlichen Welt übernommenen politischen Zielvorstellungen ausgelöst wird
2. Die Vielfalt der islamischen Bewegungen
Die islamischen Bewegungen in Pakistan lassen sich in vier Hauptgruppen -Orthodoxe, Sufis, Reformisten und Fundamentalisten -typologisieren Der orthodoxe Islam wird durch die etablierte Institution der islamischen Rechtsgelehrten (ulama) vertreten, die sich als Wächter der überlieferten Handlungs-und Verhaltensweisen (sunnah) des Propheten Muhammad verstehen Sie treten für die Einheit der islamischen Glaubensgemeinschaft (ummah) sowie für die Bewahrung der orthodoxen Lehrmeinungen und Praktiken ein. Als islamische Rechtsgelehrte befürworten die Orthodoxen weiterhin die Einführung der Scharia unter ihrer Aufsicht und die Beilegung von Streitigkeiten durch Rechtsgutachten (fatwas).
Von der orthodoxen Lehre weicht der Sufismus sehr deutlich durch seine mystisch-religiösen Rituale und Praktiken ab, zu denen insbesondere der Glaube an übernatürliche Kräfte von Heiligen und die Verehrung von zahlreichen Schreinen und Grabmälern zählen, die bei Pilgerfahrten aufgesucht werden *Beim pakistanischen Sufismus lassen sich eine populistische Strömung einer Volksfrömmigkeit, die vor allem die ländlichen Massen erfaßt, und eine scholastisch-intellektuelle Bewe gung, die sich erst vor wenigen Jahren innerhalb des städtischen Bildungsbürgertums entfaltet hat, unterscheiden.
Die islamischen Reformisten in Pakistan haben ihre geistigen Wurzeln in dem von Sayyid Ahmad Khan (1817-1898) entwickelten, auf rationaler Grundlage beruhenden Gedankengebäude. Seit der Jahrhundertwende haben sich islamische Modernisten, wie Sayyid Ameer Ali, verstärkt mit der Vereinbarkeit von liberalen okzidentalen und islamischen Wertesystemen auseinandergesetzt. Der Philosoph Muhammad Iqbal trat im Zeichen des Modernismus für eine Neuinterpretation und Anpassung des Islams ein; er war einer der bedeutendsten Denker der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. Bis in die achtziger Jahre hinein prägte Fazlur Rahman den Reformismus in Pakistan, bis die fundamentalistischen Kräfte die Ober-hand gewannen.
Die in der Islamischen Gemeinschaft (Jama’at-i Island, JI) zusammengeschlossenen pakistanischen Fundamentalisten können als eine der einflußreichsten und am besten organisierten religiös-politischen Bewegungen der islamischen Welt der Gegenwart angesehen werden. „Islamischer Fundamentalismus“ läßt sich definieren als die politische Ideologie, deren Anhänger auf die politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen islamischer Idealstaaten rekurrieren und als Aktivisten deren Wiederherstellung anstreben In diesem Sinne fordert die JI die Renaissance eines islamischen Staats auf der Grundlage des Korans und der überlieferten Handlungs-und Verhaltensweisen. Im Rechtsbereich befürwortet die Organisation die konsequente Einführung der Scharia. Schließlich wird angestrebt, das gesellschaftliche und wirtschaftliche System nach islamischen Grundsätzen auszurichten. Ihre ideologische Ausstrahlung beeinflußt religiös-politische Strömungen in Afghanistan und in der nahöstlichen Staatenwelt.
3. Die Rolle der islamischen Fundamentalisten in der politischen Entwicklung Pakistans
Die Forderung nach einem eigenen islamischen Staat während des Unabhängigkeitskampfes auf dem Subkontinent bildete den Ausgangspunkt für die Gründung der JI unter Abu 1-Ala’ al-Mawdudi Dabei setzte sich die Organisation für die Einführung der Scharia ein und befand sich damit im Gegensatz zu denjenigen indischen Muslimen, die einen eigenen, säkular ausgerichteten Staat forderten. Seit der Unabhängigkeit spielen die islamischen Fundamentalisten eine aktive direkte und indirekte Rolle in den politischen Entscheidungsprozessen bis hin zur Mitgestaltung von verfassungsrechtlichen Fragen. Darüber hinaus haben sie durch ihre politische Auseinandersetzung mit säkularen, liberalen und islamisch-modernistischen Bewegungen die politische Kultur seit den achtziger Jahren maßgeblich beeinflußt. Die JI strebte gemeinsam mit einer islamistischen Partei, der Gemeinschaft der islamischen Rechtsgelehrten Pakistans (Jama’at al-ulama-e Pakistan, JUP), die Errichtung des „Islamischen Systems“ ohne politische Parteien an, in dem der religiös-politische Führer der Glaubensgemeinschaft durch die Aufrechterhaltung der gottgewollten Ordnung legitimiert ist, wie sie im Koran für die Ewigkeit festgelegt ist.
Als Ende der siebziger Jahre der Generalstabschef Zia ul-Haq putschte und in der Folgezeit das Präsidentenamt übernahm, wurde die JI zu einer wichtigen Stütze der sich islamisch verstehenden Militärregierung. Das demokratische Legitimitätsdefizit suchte die Junta durch eine pseudoreligiöse Politik zu ersetzen. So wurden die Aktivitäten der politischen Parteien, die ihrerseits den Islam instrumentalisieren, stark eingeschränkt und die Aussetzung von Parlamentswahlen mit Erklärungen gerechtfertigt, ein Mehrparteiensystem sei eine Erfindung der Ungläubigen, führe zu einer Spaltung der Glaubensgemeinschaft (ummah) und sei daher als unislamisch abzulehnen
Einen weiteren Schritt zur Islamisierung bildeten zu Anfang der achtziger Jahre die Bemühungen um die Einführung einer Almosensteuer (zakat). Diese Abgabe zählt neben dem Glaubensbekenntnis (shahada), dem täglich fünfmaligen Beten (salat), dem Fasten (säum) und der Pilgerfahrt nach Mekka (hajj) zu den fünf Hauptpflichten des gläubigen Muslims Der ursprüngliche Gedanke der Wohltätigkeit gegenüber Bedürftigen wurde jedoch durch die lediglich zakat genannte zwangsweise Erhebung einer zusätzlichen Steuer verfehlt und führte zu erfolgreichen Massenprotesten seitens der Schiiten, nach deren Auffassung die Abgabe nach eigenem Ermessen zu erfolgen habe.
Ein Blick auf die innen-und parteipolitische Stellung der islamischen Fundamentalisten zeigt jedoch, daß sie trotz der Re-Islamisierungstendenzen der achtziger Jahre und des für sie positiven regionalen Umfelds keine revolutionäre Eigendynamik einer Massenbewegung entfalten konnten. So erreichten die Islamisten beispielsweise bei den Parlamentswahlen des Jahres 1993 lediglich neun von 207 Mandaten Bei den Wahlen vom 3. Februar 1997 erlitt die PPP unter Führung der als korrupt geltenden Premierministerin Benazir Bhutto eine vernichtende Niederlage Ihr Gegenspieler, der Führer der PME, Nawaz Sharif, konnte mehr als vier Fünftel der Mandate erringen. Die JI und andere islamistische Splitterparteien erzielten wiederum nur ein Ergebnis in der Größenordnung von 1993, was jedoch vor dem Hintergrund ihrer mangelnden Geschlossenheit, die durch das Mehrheitswahlrecht sanktioniert wird, zu verstehen und zu relativieren ist. Positiv hervorzuheben ist, daß Pakistan zu dem wahrhaft kleinen Kreis islamischer Staaten zählt, die über ein funktionierendes Mehrparteiensystem verfügen, bei dem der Ausgang von Parlamentswahlen als offen gelten kann.
Von den militanten islamistischen Gruppierungen sind die „Soldaten der Prophetengefährten“ (Sipah-i Sahaba) hervorzuheben, die vor allem in der Hafenstadt Karachi den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten schüren Die südpakistanische Metropole ist zudem Gründungsort und Hochburg der in den achtziger Jahren formierten Interessenvertretung der aus Indien emigrierten Muslime (Muhajir Qaumi Movement, MQM).
Die jüngeren Entwicklungen des islamischen Fundamentalismus in Pakistan sind noch stärker vor dem Hintergrund regionaler Einflüsse zu verstehen. Aus dem Nachbarland Iran strahlt unablässig die islamische Revolution nach Pakistan aus. Wenngleich dieses Vorbild vielen Pakistani wenig nachahmenswert erscheint, erhalten fundamentalistische Kräfte ideologischen Auftrieb, propagandistische Unterstützung und logistische Hilfen bis hin zu Waffenlieferungen. Die innerpakistanische Konfliktlinie zwischen den Sunniten und Schiiten hat sich im Zuge dieser Entwicklungen vertieft. Außer dem Iran -und jüngst Afghanistan unter den Taliban -übt Saudi-Arabien erheblichen ideologischen Einfluß aus. Das Königreich fördert beispielsweise durch Finanzhilfen den Bau von Moscheen und Koranschulen. Demgegenüber befindet sich Bangladesch, das frühere Ostpakistan, nach seiner Sezession im Jahre 1971 in einer geopolitischen Randlage.
IV. Islam als Leitprinzip in Bangladesch
1. Die politischen Rahmenbedingungen im Überblick
Bangladesch erlangte im Jahre 1971 seine Unabhängigkeit vom westlichen Teil Pakistans durch Sezession und mit militärischer Unterstützung durch Indien Die siebziger Jahre waren durch innenpolitische Instabilität mit einem raschen Wechsel von zivilen Regierungen und Militärdiktaturen gekennzeichnet, während auf außenpolitischem Felde eine zügige Konsolidierung erreicht werden konnte Nach der Verfassung vom 16. Dezember 1972 konstituierte sich Bangladesch als eine Republik, die auf den Prinzipien Nationalismus, Sozialismus und Demokratie beruht. Im Jahre 1977 wurde nachträglich das Leitprinzip des Islams in die Verfassung aufgenommen.
Durch die starke Stellung des Staatspräsidenten und die geringen Kontrollfunktionen des Einkammerparlaments zeichnet sich das politische System durch eine besondere Exekutivlastigkeit aus Das Militär erfüllt -vergleichbar mit Pakistan -eine Reservefunktion und bildet neben der Bürokratie eine wichtige Machtbasis der Regierung.
Das Mehrheitswahlrecht hat nicht zur Herausbildung von Programmparteien geführt. Das Wahl-verhalten orientiert sich somit in erster Linie am Persönlichkeitsprofil des einzelnen Kandidaten und eher sekundär an politischen Programmen und Koalitionsaussagen.
2. Die islamischen Bewegungen in Bangladesch
Die Islamisierung Bangladeschs läßt sich mit wenigen Zahlen verdeutlichen: Der Anteil der Muslime stieg durch Konvertierung oder Auswanderung vor allem der hinduistischen Bevölkerung im Zeitraum 1951-1991 von 77 auf 86, 7 Prozent Der Prozentsatz der Hindus sank im gleichen Zeitraum von 22 auf 12, 1 Prozent. Ursächlich hierfür sind die politische Unterdrückung der niederkastigen Hindus, die sich vom Übertritt zum egalitären Islam eine rechtliche Gleichstellung versprechen, und die Migration von meist höherkastigen Hindus, die in Indien generell ein höherer sozialer Status erwartet. Die Buddhisten bilden mit 0, 6 und die Christen mit 0, 3 Prozent marginale Minderheiten.
Eine kurze historische Rückblende erleichtert das Verständnis der religiös-politischen Strömungen der Gegenwart Die Islamisierung Bengalens begann im 16. Jahrhundert unter der Mogulherrschaft. In einer ersten Phase wurden das Ganges-delta und der übrige Küstensaum des Golfs von Bengalen mit einem mystischen Volksislam durchdrungen.
In der anschließenden Periode entstand ein Synkretismus, also eine Vermischung mehrerer Religionen. Diese Entwicklung wurde durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dem islamischen Mystizismus und dem Hinduismus begünstigt, zu denen die Verehrung von Heiligen, der Glaube an Geheimlehren und Magie sowie traditionelle abergläubische Vorstellungen zählen.
Die dritte Phase schließlich, die etwa mit Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzte, stand im Zeichen puristischer Erneuerungsbewegungen des Islams, die zwangsläufig zu einer schärferen Abgrenzung vom Hinduismus führten. Eine der einflußreichsten Bewegungen dieser Zeit war die Tariqah-i Muhammadiya, die die puristische Strömung der Wahhabiten auf der Arabischen Halbinsel zum Vorbild hatte und vom nordindischen Delhi nach Bengalen ausstrahlte. Ihr wichtigster Programmpunkt war die Forderung nach Einführung der Scharia. Bis in die Gegenwart hinein wirksam ist die Bewegung der Ahl-i Hadith, die insbesondere für die Entscheidungsfindung durch Bemühen der islamischen Rechtsgelehrten (ijtihad) eintritt. Kurz, zusammengefaßt lassen sich fünf religiös-politische Strömungen -Mystizismus, Synkretismus, Ortho-doxie, Fundamentalismus und Modernismus -unterscheiden. Mit Ausnahme der erstgenannten Kategorie sind alle diese Richtungen im heutigen Bangladesch politisch virulent.
3. Die Rolle des Islams in der politischen Entwicklung Bangladeschs
Bangladesch, das frühere Ostpakistan, verdankt seine Entstehung wie der heute „Islamische Republik Pakistan“ genannte westliche Landesteil seiner mehrheitlich islamischen Bevölkerung, da der Konflikt mit dem überwiegend hinduistischen Indien 1947 zur Teilung des Subkontinents führte. Der Islam bildet daher einen Kernbestandteil des nationalen Selbstverständnisses und der Eigen-staatlichkeit. Darüber hinaus kommt dem Islam neben der Amtssprache Bengah, die von nahezu der gesamten Bevölkerung gesprochen wird, eine wichtige gesellschaftliche und politische Integrationsfunktion zu. Gleichwohl strebte die Unabhängigkeitsbewegung der als politische Partei formierten Awami League unter der Führung des charismatischen Shaikh Mujibur Rahman die Errichtung eines säkularen Nationalstaats an. Die Bevölkerung konnte sich jedoch mit der säkularen politischen Ordnung kaum identifizieren, und der einzelne Bürger folgte im privaten Glaubensbereich unverändert seinen religiösen Gewohnheiten des volkstümlich mystischen oder orthodoxen Islams. Bereits Mitte der siebziger Jahre wurde von der politischen Elite eine Neuorientierung vorgenommen und die Islamisierung von Staat und Gesellschaft eingeleitet. Diese Entwicklung kam beispielsweise in der Zulassung religiös ausgerichteter Parteien und in der rechtlichen Verankerung des Islams als politisches Leitprinzip mit Verfassungsrang zum Ausdruck Das Bildungssystem wurde durch Ausbau bestehender und Gründung neuer Koranschulen reformiert. Die Beziehungen zu anderen islamischen Staaten wurden gezielt ausgebaut. Wiederum vergleichbar mit Pakistan erhielten die islamisch ausgerichteten Parteien bei Parlamentswahlen geringen Zulauf. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Jahre 1979 konnte die konservative, aber nicht theokratische Muslim League lediglich 19 der insgesamt 300 Sitze erringen Die Jama'at-i Island erzielte bei den Wahlen des Jahres 1991 mit 18 Mandaten ein Ergebnis in der gleichen Größenordnung. Die Parlamentswahlen des Jahres 1996 ergeben im kurzen Überblick folgendes Bild Die Bangladesh National Party, BNP, konnte aufgrund des Mehrheitswahlrechts mit 30, 81 Prozent und 168 Sitzen die absolute Mehrheit der Mandate erringen. Zweitstärkste Partei wurde mit 33, 73 Prozent und 88 Sitzen die Awami League, und die Jama'at-i Island konnte ihren Stimmenanteil auf über zwölf Prozent und 20 Sitze steigern. Der vergleichsweise demokratische Ablauf dieser Parlamentswahlen läßt auf eine zukünftig stabile politische Entwicklung hoffen, die sich auch positiv auf die sozioökonomische Situation auswirken könnte.
V. Schlußbetrachtung und Zukunftsperspektive
Der Säkularismus ist im christlich-abendländischen Kulturraum in der Reformation und der Aufklärung sowie in den Ideen der Französischen Revolution verwurzelt. Auf dem indischen Subkontinent und im islamischen Kulturkreis des Nahen und Mittleren Ostens fanden jedoch vergleichbare Umwälzungen nicht statt Die von der westlichen Welt übernommenen politischen Zielvorstellungen wurden vielmehr von den Kolonial-mächten oder den lokalen Eliten initiiert und von den in traditionellen politischen Ordnungsvorstellungen verhafteten Bevölkerungsmassen nur in geringem Maße verinnerlicht. Die traditionelle politische Kultur begünstigt daher tendenziell einen religiös-politischen Populismus, der aus parteitaktischen und opportunistischen Motiven des Machterhalts oder der Machterlangung eine stärkere Rückbesinnung auf die eigenen politischen Traditionen verspricht. Diese Erkenntnis bedeutet, auf die Verfassungswirklichkeit Indiens angewendet, daß die Kongreßpartei, die seit der Unabhängigkeit nahezu ununterbrochen das Parteiensystem dominierte und dabei als Garant der säkularen rechtsstaatlichen Ordnung fungierte, sich mit einer wachsenden Herausforderung durch die hindunationalistische BJP konfrontiert sah, die 1996 zur parlamentarisch stärksten politischen Partei avancierte. Bei einer weiteren Verschiebung der politischen Gewichte kann in Indien mittelfristig mit einer Machtübernahme durch die BJP gerechnet werden. Dieses Szenario muß jedoch nicht zwangsläufig das Ende der parlamentarischen Demokratie zur Folge haben. Diese Entwicklung bedeutete für den gesamten Subkontinent allerdings einen großen Schritt in Richtung auf den vielzitierten „Clash of Civilizations“ Samuel P. Huntingtons
In Pakistan und in Bangladesch gewinnt der politische Beobachter den Eindruck einer schleichenden, aber unaufhaltsam fortschreitenden Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Diese Tendenzen können bei der Annahme des ungünstigsten Falles im Sinne Huntingtons zu einer Konfrontation innerhalb des regionalen Systems Südasien führen.
Indessen gibt es nach den nunmehr ein halbes Jahrhundert währenden Feindseligkeiten zwischen Indien und Pakistan Anzeichen von Entspannung. Ironischerweise sind die Regierungschefs der beiden verfeindeten Staaten -der im Februar 1997 an die Macht gelangte pakistanische Ministerpräsident Nawaz Scharif und sein erst seit April 1997 im Amt befindlicher indische Amtskollege Inder Kumar Gujral -gebürtig jeweils aus dem anderen Staat. Diese ungewöhnliche Konstellation läßt auf eine größere Verhandlungs-und Kompromißbereitschaft beider Seiten auch in der Kaschmirfrage hoffen. Der historische Aussöhnungs-und Integrationsprozeß in Europa kann in dieser Hinsicht als Vorbild dienen, aber es bedarf diplomatischer Katalysatoren, um zu einer dem Camp-David-Abkommen vergleichbaren Friedenslösung zu gelangen, die einer politischen und vor allem auch wirtschaftlichen Neuordnung Südasiens den Weg bereiten könnte.
Justus Richter, Dr. phil., geb. 1957; Studium der Politischen Wissenschaft, Orientalischen Philologie und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Kiel; 1987-1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Kiel; 1993/94 für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunesien tätig und seit Anfang 1995 Auslandsmitarbeiter in Indien. Veröffentlichungen u. a.: Konflikte aus laizistischem und islamischem Staatsverständnis, dargestellt am Beispiel der Türkei, Diss., Kiel 1991; zahlreiche Aufsätze zum Thema Islam und Demokratie in Nordafrika und zu politischen Entwicklungen in Südasien.
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