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Die Zukunft der deutschen Streitkräfte | APuZ 29/1997 | bpb.de

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APuZ 29/1997 Zum äußeren und inneren Frieden. Kann die heutige Demokratie den Gefahren der Zukunft standhalten? Die Zukunft der deutschen Streitkräfte Warum wir die Wehrpflicht (noch) brauchen Der Jugoslawien-Konflikt als Testfall europäischer Sicherheit

Die Zukunft der deutschen Streitkräfte

Walter Schilling

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit dem Zerfall des Sowjetimperiums und den neuen, weltweiten Herausforderungen und Risiken hat sich der Bedingungshorizont europäischer und globaler Sicherheit fundamental verändert. Damit stellt sich auch die Aufgabe, im Rahmen einer realitätsbezogenen deutschen Außen-und Sicherheitspolitik die Zukunft der deutschen Streitkräfte neu zu bestimmen. Während die meisten Repräsentanten der , alten 1 politischen Parteien in Deutschland weiterhin dafür plädieren, die Wehrpflichtarmee beizubehalten, gibt es allein schon vor dem Hintergrund der Veränderung der außen-und innenpolitischen Rahmenbedingungen gute Gründe, die eine Umwandlung der Bundeswehr in eine -erheblich kleinere -Berufsarmee nahelegen. Darüber hinaus dürfte der bereits im Gang befindliche fundamentale Wandel der hochtechnologischen Kriegführung und des Militärwesens die politischen und militärischen Planer der Bundesrepublik Deutschland bald dazu zwingen, ähnliche Entscheidungen zu treffen, wie sie bei unseren wichtigsten Bündnispartnern mit Blick auf das 21. Jahrhundert schon gefällt worden sind.

Als Präsident Jacques Chirac am 23. Februar 1996 seine Entscheidung bekanntgab, die französischen Streitkräfte erheblich zu verkleinern und im Laufe der kommenden sechs Jahre in eine Berufsarmee umzuwandeln fachte dies auch in Deutschland eine sicherheitspolitische Debatte neu an, die -anders als bei früheren Gelegenheiten -nicht wieder zu verstummen scheint. Während die meisten Repräsentanten der , alten politischen Parteien weiterhin dafür plädieren, die Wehrpflichtarmee beizubehalten, ist doch die Zahl derer gewachsen, die eine Nachahmung des französischen Beispiels empfehlen. Daher konnte es nicht ausbleiben, daß sich der innenpolitische Streit um diese für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland so wichtige Frage seither deutlich verschärfte, und kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine mehr oder weniger neue Idee dieses facettenreichen Themas kontrovers diskutiert wird. Hinzu kommen neuerdings -angesichts der desaströsen Haushaltslage -auch finanzpolitische Überlegungen.

In der Tat verdienen die im Rahmen der aktuellen Debatte vorgebrachten Argumente eine genaue Überprüfung. Darauf weist uns nicht nur die Tatsache hin, daß die weltpolitische Epoche, in der die Legitimation der deutschen Streitkräfte vornehmlich darin bestand, dafür zu sorgen, nicht zum Einsatz kommen zu müssen, hinter uns liegt. Es wird nunmehr notwendig sein, einen gesellschaftlichen Konsens darüber zu finden, welche Aufgaben die Bundeswehr zu Beginn des 21. Jahrhunderts übernehmen soll und welche Armee am besten geeignet ist, diese Aufgaben zu erfüllen. Nahezu sieben Jahre nach der Einheit und wiedererlangten vollen Souveränität Deutschlands gilt es zudem, der deutschen Außen-und Sicherheitspolitik endlich eine realitätsbezogene Orientierung zu geben.

Veränderung der politischen Rahmenbedingungen

Mit dem Zerfall des Sowjetimperiums und dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich der Bedingungshorizont europäischer und globaler Sicherheitspolitik fundamental verändert. So erledigte sich auf absehbare Zeit die Notwendigkeit, die Bundesrepublik Deutschland im herkömmlichen Sinne mit umfangreichen Streitkräften verteidigen zu müssen. Dabei konnte die Bundesrepublik Deutschland der früheren Sowjetunion sogar zugestehen, die Stärke der Bundeswehr ohne nachteilige machtpolitische Folgen auf 370 000 Soldaten zu verringern. Das Ende der jahrzehntelangen Bedrohung brachte allerdings auch die traditionelle Begründung für unsere Streitkräfte ins Wanken und löste eine Sinnkrise aus, deren Folgen bis heute spürbar sind.

Dennoch ist in den vergangenen Jahren deutlich geworden, daß die Sicherheit Europas nicht frei von Gefährdungen blieb und neuartige Bedrohungen sich bereits ankündigen. Wie schwierig es sein kann, die nach dem historischen Umbruch in Osteuropa einsetzenden nationalen und ethnisch-religiösen Konflikte zu beenden oder wenigstens einzuhegen, belegt das Geschehen auf dem Balkan und im Kaukasus. Zudem haben wir spätestens mit dem Golfkrieg 1990/91 erfahren müssen, daß die Sicherheit Europas nicht nur von Stabilität und Frieden auf unserem Kontinent selbst abhängt. Die konfliktträchtigen Entwicklungen im Mittelmeerraum und im Nahen Osten dürften angesichts der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und weitreichenden Trägermitteln in den Händen diktatorischer Regime neue Gefahren mit sich bringen, denen sich die Europäer nicht mehr durch die räumliche Distanz entziehen können.

So erfordert eine realitätsbezogene Außen-und Sicherheitspolitik, den in anderen Regionen der Welt aufkommenden Konflikten und Spannungen in erster Linie mit politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Mitteln entgegenzuwirken, aber auch das militärische Instrument als , Ultima ratio 1 den grundlegend veränderten Verhältnissen anzupassen. Folgerichtig haben sich die Sicherheitsbedürfnisse Europas inzwischen von der kollektiven Selbstverteidigung zum Krisenmanagement und zur Intervention hin verlagert. Während unsere wichtigsten Bündnispartner die veränderte Wirklichkeit annehmen und ihre Politik konsequent darauf zuschneiden, wird in Deutschland noch vielfach die realitätsferne Auffassung vertreten, daß die Deutschen weiterhin einen Sonderweg beschreiten könnten, der sie von den globalen politischen Entwicklungen unberührt läßt. Dabei nützt es in diesem Zusammenhang wenig, wenn die meisten Deutschen die klassische Landesverteidigung bejahen. Diese steht in der derzeitigen Epoche nicht im Vordergrund und wird sich künftig in völlig anderen Formen vollziehen.

Zwar beginnen unter dem Realitätsschock in jüngster Zeit die überkommenen ideologischen Positionen allmählich aufzuweichen, doch hinken selbst die stärker an der Wirklichkeit orientierten Politiker unseres Landes den Ereignissen hinterher. So wird die bereits eingeleitete Spaltung der Armee in einen Hauptteil („Hauptverteidigungskräfte“), der eher mangelhaft ausgebildet und schlechter ausgerüstet die Landesverteidigung wahrnehmen soll, und in einen kleineren Teil, der unter der Bezeichnung „Krisenreaktionskräfte“ auf den tatsächlichen sicherheitspolitischen Bedarf zugeschnitten ist, das Problem nicht lösen können. Diese Handlungsweise wird -erst recht bei weiter sinkenden Verteidigungsetats -zu einer „ZweiKlassen-Armee" führen. Im übrigen dürfte die in der täglichen Praxis nicht mehr zu vermeidende Verschiebung der Aufgaben der Bundeswehr zur Teilnahme an internationalen Einsätzen die Legitimation dieser strukturellen Aufteilung weiter in Zweifel ziehen. Es sollte in diesem Zusammenhang niemand erwarten, daß unsere Bündnispartner die deutsche Beteiligung an solchen Einsätzen hauptsächlich mit Sanitätssoldaten und Pionieren künftig noch hinnehmen werden. So läuft auch die von hochrangigen Repräsentanten der Regierungsparteien vorgetragene Argumentation, eine Wehrpflichtarmee sei nicht so leicht einsetzbar, in jüngster Zeit zunehmend ins Leere. Vielmehr zeigt das aktuelle Geschehen, daß die Bundesrepublik Deutschland in der Außen-und Sicherheitspolitik immer größerem Druck ausgesetzt wird, wenn es darum geht, an der Lösung internationaler Krisen verantwortungsvoll mitzuwirken und die daraus entspringenden Pflichten wahrzunehmen.

Das in manchen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien gelegentlich anzutreffende Bestreben, die Wehrpflicht beizubehalten, um eine gewisse Selbstbeschränkung der deutschen Außen-und Sicherheitspolitik zu bewahren, nachdem das Grundgesetz nicht mehr als Instrument hierfür zur Verfügung steht, wird den Trend zur Änderung der deutschen Wehrverfassung nicht aufhalten können. Auch hilft zur Verteidigung der Wehrpflicht die äußerst fragwürdige Behauptung nicht, eine „Berufsarmee dränge zu auswärtigen Einsätzen“ und zu Streitkräften dieser Art kämen nur „gewisse Leute“ In jüngster Zeit sind es gerade die Soldaten, welche die Politiker immer wieder an die Grenzen militärischen Handelns erinnern und eher zur Vorsicht raten. Zudem hat das System der demokratischen Kontrolle der Bundeswehr und des Primats der Politik bisher funktioniert -und es ist nicht einzusehen, warum das bei einer Berufsarmee nicht der Fall sein sollte.

Zu den veränderten politischen Rahmenbedingungen, welche die Zukunft der deutschen Streitkräfte bestimmen, gehört unbestritten auch die innere Befindlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, für die der Wertewandel vom Gemeinwohl zur nahezu grenzenlosen Selbstverwirklichung sowie die Ablehnung unbequemer Pflichten ebenso charakteristisch ist wie die Weigerung vieler Menschen, sich mit der vielschichtigen Wirklichkeit unserer Welt, ihren Herausforderungen und ihren Sachzwängen auseinanderzusetzen. Es wäre sicher zu einfach, den hierdurch entstandenen Schaden allein dem destruktiven Wirken und der Überheblichkeit der Achtundsechziger-Generation anzulasten, die nun wichtige Machtpositionen in der Bundesrepublik -zumal in den Medien wie im pädagogischen Bereich -innehat und rigoros nutzt. Hier haben auch andere versagt.

Es reicht eben nicht, wenn die Bundesregierung und die großen politischen Parteien immer wieder verkünden, daß sie an der Wehrpflicht festhalten wollen -aber die Entscheidung darüber, ob der Wehrpflicht nachgekommen wird, letztlich dem Argumentationsgeschick des einzelnen überlassen. In Wirklichkeit hat der Staat seit 1983 den Anspruch aufgegeben, die Erfüllung der Wehrpflicht durchzusetzen, und so war es nur folgerichtig, daß die Bundeswehr vor dem Hintergrund der veränderten Grundeinstellungen in unserer Gesellschaft und der sinkenden Motivation der jungen Staatsbürger de facto eine Freiwilligenarmee geworden ist. Inzwischen hat der massenhafte Mißbrauch des Rechts auf Wehrdienstverweigerung den kritischen Punkt erreicht, da der Personalbedarf der ohnehin schon auf weniger als 340 000 Soldaten verkleinerten Truppe kaum noch gedeckt werden kann. Die demographische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland wird dieses Problem noch mehr verschärfen. Zu dem wohlbegründeten Zweifel an der Fähigkeit, die „Wehrpflicht“ auch nur dem Namen nach aufrechterhalten zu können, haben auch die wiederholten Kürzungen des Verteidigungshaushalts und die Verminderung der Wehrdienstzeit auf zehn Monate wesentlich beigetragen.

Das Gesamtbild dieser auf die Zukunft der deutschen Streitkräfte Einfluß nehmenden Faktoren legt bereits die Schlußfolgerung nahe, daß die Tage der Bundeswehr als Wehrpflichtarmee gezählt sind. Über die dramatische Veränderung der politischen Rahmenbedingungen hinaus gibt es aber noch einen weiteren Trend, der die Position jener Gruppen in Frage stellt, die an der Wehrpflichtarmee festhalten wollen.

Fundamentaler Wandel des Militärwesens

Die politischen und militärischen Planer in der Bundesrepublik Deutschland werden nicht umhin können, bei ihren nunmehr zu treffenden Entscheidungen die Tatsache zu berücksichtigen, daß in der Kriegführung und im gesamten Militärwesen ein fundamentaler Wandel im Gange ist, der dem des Eintritts in das Nuklearzeitalter keineswegs nachsteht Der Golfkrieg im Frühjahr 1991 hat hierzu die Richtung angedeutet und in einigen Bereichen gezeigt, daß vor allem die modernen Informationstechnologien, die in den fortgeschrittensten Wirtschafts-und Gesellschaftssystemen für rasanten Wandel gesorgt haben und weiterhin sorgen werden, auch neue Dimensionen der Krieg-führung eröffnen und die Streitkräfte grundlegend verändern werden.

Schon angesichts der Neigung vieler Militärs, an dem Kriegsbild vergangener Jahrzehnte festzuhalten, wird der fundamentale Wandel des Militärwesens in den einzelnen Staaten nicht mit der gleichen Geschwindigkeit ablaufen. Dabei ist die Orientierung der meisten Militärs an Bekanntem und Vertrautem, an den Erfahrungen, die andere vor ihnen gemacht haben, durchaus verständlich -vermittelt sie doch ein Gefühl der Sicherheit bei der Beurteilung der jeweiligen aktuellen Situation. Zudem legen es die vorherrschenden Karrieremuster nahe, eher vorsichtig zu sein und sich an die Prämissen des „Systems“ zu halten, in das man hineingewachsen ist. Aus historischer Perspektive erscheint dies nicht ungewöhnlich. So zeigt das Verhalten mancher Militärführer Preußens und Österreichs gegenüber den französischen Massen-armeen Ende des 18. Jahrhunderts, wie schwierig es gewesen sein muß, zum Beispiel die neuartige Motivation der französischen Soldaten richtig einzuschätzen, während man bis dahin gelernt hatte, fast ausschließlich auf die rein militärischen Fähigkeiten zu blicken. Auch mochten die relativ langen Wirkungszeiten bestimmter militärischer Technologien, wie zum Beispiel die Art der Kriegsschiffe im 18. und 19. Jahrhundert, die Erwartung nähren, daß man nicht so rasch umdenken müsse und der militärische Wandel sich nur langsam vollziehe. Dabei genügen manchmal auf den ersten Blick geringfügig erscheinende Veränderungen, um entscheidende Wirkungen zu erzielen. Das Festhalten britischer und französischer Militärführer in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs an Panzer-divisionen traditioneller Art gegenüber deutschen Panzerverbänden mit modernen Führungsmitteln, Infanteriebegleitung und neuartigen Führungsprinzipien demonstriert besonders anschaulich, welche Folgen eine eher rückwärtsgewandte Orientierung haben kann.

Von dem Bild, das seinerzeit vom Golfkrieg vermittelt wurde, sollte sich jedoch niemand täuschen lassen, wenngleich die Faszination der Journalisten im Hinblick auf die damals angewandten modernen Technologien verständlich ist. Gewiß beruht der fundamentale Wandel der Kriegführung auch auf den enormen technologischen Fortschritten, die unsere Fähigkeit verbessert haben, große Mengen von genauen Daten zu sammeln, diese Daten in nutzbare Informationen zu verwandeln, sie schnell und präzise zu übermitteln, aus ihnen eine detaillierte und umfassende Vorstellung von der , Lage‘ zu erhalten und die Folgen von Entscheidungen oder Handlungen sehr viel sicherer vor-herzusagen, als dies früher möglich war.

Die im Golfkrieg gelegentlich sichtbaren entscheidenden Neuerungen reichten jedoch weit über die technologischen Aspekte hinaus. Der fundamentale Wandel liegt nämlich darin, die militärischen Organisationen und Strukturen den neuen Technologien anzupassen und die operationellen Konzepte darauf zuzuschneiden. Erst die neuartige Verknüpfung modernster Technologien, dynamisch veränderter Organisationen mit flexiblen Strukturen und neuer operationeller Konzepte führt zu jenem synergetischen Effekt, der die Kriegführung grundlegend verändert Dieser entscheidende Zusammenhang ist seit 1991 immer deutlicher geworden. Damals wurde nicht nur klar, daß künftig alle sichtbaren militärischen Ziele extrem gefährdet sind. Die vor einem halben Jahrzehnt demonstrierten Fähigkeiten ließen auch schon erkennen, daß militärische Ziele mit enormer Schnelligkeit über große Entfernungen wirksam bekämpft und gleichzeitig die Verluste eigener Kräfte sehr gering gehalten werden können. Zudem zeichnet sich die Tendenz ab, daß es zunehmend schwierig wird, militärische Ziele oder die Ergebnisse militärischer Aktionen zu verdekken. Diese Fähigkeiten sind nicht allein neuen Flugzeugen, Flugkörpern, Panzern oder Schiffen zu verdanken. Die entscheidende Wirkung geht vielmehr davon aus, was diese . Plattformen an Elektronik, Sensoren und spezieller Munition tragen. Wie weit die damit verknüpften Fähigkeiten reichen, läßt sich an der Ausschaltung der irakischen Luftverteidigung innerhalb weniger Stunden zu Beginn des'Golfkrieges 1991 und an der Niederringung des Widerstands der bosnischen Serben im Spätsommer 1995 deutlich ablesen.

In diesen Konflikten ist außerdem klargeworden, daß die Fähigkeit, den gesamten Einsatzraum der Streitkräfte mit vielfältiger und miteinander verbundener Sensortechnik zu überziehen, die Art und Weise völlig verändern wird, wie militärische Organisationen künftig strukturiert und geführt werden müssen. Zusammen mit der ständig und rasant verbesserten Computer-Software sowie der fortschreitenden Kapazität der Datenverarbeitung und -Übermittlung erlaubt die moderne Sensortechnik -vor allem auch dank der weltraumgestützten Technologien -, in kürzester Zeit Informationen und Befehle zu koordinieren und ein völlig neuartiges . Battle-Management weltweit zu praktizieren.

Die enorme Beschleunigung des Tempos militärischer Operationen macht eher statische Fronten im klassischen Sinne, wie wir sie von früheren militärischen Konflikten her kennen, außerordentlich verwundbar. Kleinere, schnellere und unabhängiger operierende Verbände werden vielmehr das Bild künftiger Kriege prägen und im Rahmen , nicht-linearer Einsätze größere Räume beherrschen. Luft-, boden-und seegestützte Verbände sowie Spezialtruppen werden in neuartigen Formen und wesentlich intensiver Zusammenwirken als je zuvor. Dabei dürften traditionelle Hierarchien eher stören und in zunehmendem Maße durch , Netzwerk-Strukturen* nach dem Muster moderner Organisationen in der , post-industriellen* Wirtschaft ersetzt werden.

In dieser Hinsicht haben uns die herausragenden militärischen Konflikte in jüngster Zeit bereits gelehrt, daß relativ kleine , Elemente* von Streitkräften verschiedener Art ad hoc über große Distanzen . verbunden* werden und die militärische Wirksamkeit erheblich steigern können. Wo früher komplizierte und schwerfällige hierarchische Strukturen den Informations-und Entscheidungsprozeß sehr langwierig gestalteten, kann der Befehlshaber vor Ort heute schon die für seine Entscheidungen erforderliche Expertise direkt abrufen und ohne Zeitverlust in Befehle umsetzen. So ist es folgerichtig, nicht mehr notwendige Führungsebenen einzusparen und die Zahl der Führungskräfte drastisch zu verringern.

Die Massierung von Streitkräften wird dagegen immer gefahrvoller werden. Angesichts der Feuer-kraft, die in kürzester Zeit über große Entfernungen mit zunehmender Präzision ins Ziel gebracht werden kann, dürfte der Einsatz von Massenarmeen bald nicht mehr sinnvoll sein. Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Veränderungen ist es für jene Länder, die über moderne Technologien verfügen und den fundamentalen Wandel der Kriegführung erkannt haben, nicht länger zweckmäßig, umfangreiche Streitkräfte zu unterhalten. Es kommt vielmehr darauf an, die begrenzten finanziellen Ressourcen in Waffensysteme und Ausrüstungen zu investieren, die der neuartigen Kriegstechnik entsprechen, sowie die Strukturen und Operationskonzepte entschlossen zu modernisieren.

Der fundamentale Wandel der Kriegführung bringt es mit sich, daß auch die einzelnen Soldaten im Hinblick auf ihre individuellen Fähigkeiten, Ausbildungserfordernisse, Einsatzmöglichkeiten und Funktionen entscheidende Veränderungen erfahren werden. Schon von den sehr viel höheren Ansprüchen her, die eine , post-moderne* Krieg-führung an den einzelnen Soldaten stellt, dürfte eine Wehrpflichtarmee bald obsolet sein. Nicht nur die rasch zunehmende Komplexität der Waffensysteme und der übrigen Kriegstechnik zwingt dazu, auf länger dienende, sich dem schnellen Wandel ständig anpassende Professionals’ zurückzugreifen. Auch der neue Führungsstil und die erheblich beschleunigten Entscheidungsprozesse erfordern den Berufssoldaten, der wesentlich häufiger als in der Vergangenheit technische Qualifikationen mitbringen muß. Die meisten von ihnen werden keine . Kämpfer* im überkommenen Sinne sein. Wenngleich auch künftig der Typus des Kämpfers gebraucht wird, der seine Waffen unmittelbar anwendet, wird die Anzahl dieser Soldaten in Relation zu anderen Militärs weiter abnehmen. Und schließlich dürften sich im Rahmen dieser Veränderungen neue Eliten herausbilden, die sich an ganz anderen Karrieremustern orientieren, als dies bislang der Fall war.

Die Eigenart des fundamentalen Wandels der Kriegführung und des Militärwesens führt dazu, daß die enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Informationstechnologie zusammen mit der Fähigkeit, diese Fortschritte durch konsequente Veränderung der Organisation, Struktur und operationellen Konzepte zu nutzen, zu einer bedeutenden Quelle der Macht werden Jene Akteure im internationalen System, die den Wandel am schnellsten und konsequentesten vollziehen, werden einen klaren Vorteil gewinnen, zumal diese neuartige Form militärischer Macht -anders als die Nuklearwaffen in der Vergangenheit -als unmittelbar nutzbares Instrument zur Verfügung steht.

Die außerordentlich schnelle weltweite Verbreitung der Informationstechnologie und des Wissens um die Konsequenzen ihrer entschlossenen Nutzung im militärischen Bereich dürfte die Machtbeziehungen im internationalen System deutlich verändern und selbst kleine Staaten oder nicht-staatliche Organisationen emporsteigen lassen. Wer sich aber an altem Denken orientiert und sich gegen die bereits stattfindende Transformation im militärischen Bereich sperrt, wird relativ schnell an Macht verlieren und seine Fähigkeit einbüßen, die eigenen Interessen erfolgreich wahrzunehmen.

Angesichts des Vorsprungs der USA auf dem Gebiet der „post-modernen’ Kriegführung und des sichtbaren machtpolitischen Vorteils durch die damit verknüpften Fähigkeiten dürften sich die Amerikaner die Chance kaum entgehen lassen, den schon begonnenen Prozeß der Innovation zielstrebig weiterzuführen. Dies muß nicht bedeuten, daß die Ausgaben für die Streitkräfte steigen werden. Der jetzt vorhandene und konsequent genutzte Vorsprung kann sogar die Kosten für die Streitkräfte reduzieren helfen, wenn im Hinblick auf die Forschung, Entwicklung und Beschaffung von Waffensystemen und Ausrüstungen die Prioritäten richtig gesetzt werden

Ein bedeutsamer und weit in die Zukunft wirkender Vorteil einer zur , post-modernen‘ Kriegführung fähigen Berufsarmee besteht für die USA darin, daß die Projektion von Macht über große Distanzen und in kurzer Zeit erheblich erleichtert wird, weniger kostspielig und mit geringeren eigenen Verlusten verbunden ist, als dies früher hingenommen werden mußte. Für das hierdurch veränderte Verhältnis von Mitteln und Zielen der Kriegführung hat das Vorgehen gegen den Irak im Frühjahr 1991 wichtige Hinweise gegeben. Dort deutete sich bereits die Möglichkeit an, den Machtadressaten daran zu hindern, seine Streitkräfte -und sogar die Gesellschaft überhaupt -noch zu führen. Die fast lückenlose Kontrolle über die Kriegführung und die rigoros genutzte Informations-Dominanz erlaubten es, den durchaus mit umfangreichen militärischen Mitteln ausgestatteten Irak recht schnell nahezu kampfunfähig zu machen und zur Hinnahme eines strengen Kontroll-Regimes zu zwingen.

Die 1991 im Nahen Osten erstmals sichtbar gewordenen neuartigen Charakteristika des „post-modernen‘ Krieges haben uns überdies gelehrt, daß ein Konflikt künftig sehr viel schneller entschieden werden kann, wenn eine Seite über Dominanz verfügt. Für einen Akteur, der in den Kategorien der „post-modernen’ Kriegführung unterlegen ist oder nicht mithalten kann, wird es im Grunde sinnlos werden, überhaupt noch einen Konflikt zu wagen. Es ist nicht zuletzt diese Erkenntnis, die bei der Militärführung der früheren Sowjetunion den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen hat und heute die russischen Militärs mit großer Sorge erfüllt Was die Amerikaner im Golfkrieg in wenigen Ansätzen vorführten, war vom ehemaligen sowjetischen Generalstabschef Marschall Nikolaj Ogarkow bereits in den achtziger Jahren befürchtet worden. Er argumentierte durchaus zu Recht, daß die sowjetische Strategie -die darauf beruhte, mit großen Massen von Panzerverbänden in geordneter Weise nach Westeuropa vorzudringen und den Krieg dort schnell zu entscheiden -angesichts der damals schon heranreifenden neuen Technologien und der entsprechend geänderten operationeilen Konzepte der USA nicht mehr durchführbar sein würde. Dennoch hatte selbst Ogarkow den bevorstehenden Wandel nur unzulänglich erkannt. Sein Denken bezog sich lediglich auf eine bestimmte Art der Kriegführung auf einem einzigen Kriegsschauplatz und konzentrierte sich zu sehr auf technologische Aspekte, während die organisatorischen, strukturellen undkonzeptionellen Dimensionen der Kriegführung weniger in seinen Blick gerieten. Erst das Vorgehen der USA im Golfkrieg 1991 machte deutlich, daß der Wandel umfassender ist.

Notwendige Veränderung der Bundeswehr

Während die wichtigsten Bündnispartner Deutschlands nicht nur über die politischen und strategischen Konsequenzen der rasanten Veränderungen sachlich diskutieren, sondern sich bereits konkret auf die neuen Herausforderungen einstellen, wird die sicherheitspolitische Debatte hierzulande immer noch nicht ehrlich geführt. Sie orientiert sich an veralteten Prämissen und ideologischen Positionen, die jedoch für die Planungen im Blick auf das 21. Jahrhundert nicht weiterhelfen. Dies berührt nicht zuletzt auch die politische Legitimation der Bundeswehr.

So plädieren viele Politiker und Militärs in Deutschland immer noch dafür, eine umfangreiche Wehrpflichtarmee aufrechtzuerhalten, obwohl die historische und soziokulturelle Situation, die vor vier Jahrzehnten richtigerweise zum Aufbau der Bundeswehr führte, heute nicht mehr gegeben ist:

Zum einen besteht die Gefahr einer großangelegten und umfassenden sowjetischen Aggression gegen das Kerngebiet der NATO nicht mehr, die eine so hohe Zahl von Soldaten rechtfertigen könnte. Selbst wenn die Aufnahme einiger osteuropäischer Staaten in die NATO nicht anstünde, ließe sich der gegenwärtige Umfang der Bundes-wehr in einem sicherheitspolitischen Umfeld, in dem sich nur Länder befinden, mit denen die NATO-Staaten im Rahmen des Kooperationsrats und der Partnerschaft für Frieden zusammenarbeiten, nicht ehrlich begründen Zum anderen fehlt heute neben der -vor vierzig Jahren zwingenden -Notwendigkeit, eine zahlenmäßig starke Armee aufzustellen, auch der frühere soziokulturelle Hintergrund für die Begründung der Wehrpflicht. Ging es während der Aufbauphase der Bundeswehr auch darum, die Streitkräfte in das noch junge demokratische Gemeinwesen einzuordnen und das abschreckende Beispiel der Weimarer Republik zu vermeiden, so ist die Integration der deutschen Streitkräfte in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland gelungen. Zudem steht der Primat der Politik außer Frage. Um so erstaunlicher ist es, daß die heutigen Befürworter einer umfangreichen Wehrpflichtarmee gar nicht zu bemerken scheinen, daß sie mit ihrem realitätsfernen Plädoyer und ebenso realitätsfernen Befürchtungen der Legitimation der Streitkräfte insgesamt die Grundlage entziehen. Die neue Begründung für die Bundeswehr muß vielmehr wirklichkeitsgerecht aus den entscheidend veränderten politischen und strategischen Rahmenbedingungen abgeleitet werden. Folgerichtig stehen hierbei die Fähigkeit zur Durchsetzung der eigenen Interessen und die Erwartung an die Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund, wie die anderen Staaten Frieden und Sicherheit mitzugestalten. In diesem Kontext ist es längst offensichtlich, daß die Bundeswehr künftig ein breites, vielfältiges und auf die jeweilige Situation zugeschnittenes Aufgabenspektrum wahrnehmen muß, das von der Landes-und Bündnisverteidigung bis hin zu Einsätzen im Rahmen der Friedenssicherung und Krisenbewältigung -auch außerhalb des NATO-Gebietes -reicht.

Diese Aufgaben erfordern unmittelbar verfügbare Truppen, die bestens ausgebildet und ausgerüstet sind. Selbst wenn die , Landes-und Bündnisverteidigung weiterhin als Kernauftrag der Bundeswehr betrachtet werden sollte, wird diese Aufgabe kaum mit einer großen Zahl unzulänglich ausgebildeter und schlecht ausgerüsteter Soldaten zu lösen sein. Die völlig veränderte Art der Bedrohung verlangt eine andere Antwort, als wir sie noch vor einem Jahrzehnt zu geben bereit waren. Die militärischen Konflikte von heute und morgen werden vielmehr durch zahlenmäßig kleine Armeen mit Hochtechnologie, hoher Qualifikation ihrer Soldaten und modernen operationellen Konzepten entschieden. Im übrigen wäre es leichtsinnig und verantwortungslos, Soldaten mit unzulänglicher Ausrüstung und Ausbildung in die unübersichtlichen Konflikte unserer Epoche zu beordern.

Neben der Veränderung der politischen und strategischen Rahmenbedingungen wird daher auch der fundamentale Wandel der Kriegführung eine grundsätzliche Neuordnung der Streitkräfte unseres Landes erzwingen. Was die USA, Großbritannien und Frankreich bereits geschaffen oder pragmatisch eingeleitet haben und konsequent weiterführen werden, ist für Deutschland ebenso unausweichlich: eine deutliche Verkleinerung der Streitkräfte, die Einführung flexibler Strukturen und operationeller Konzepte sowie die Umwandlung der Streitkräfte in eine mit , post-modernenWaffensystemen und Kriegstechniken ausgerüstete Berufsarmee, zu der auch Frauen vermehrt Zugang erhalten.

Dabei geht es nicht darum, die erforderlichen Veränderungen von heute auf morgen vorzunehmen. Doch wird man sich von ideologischen Positionen verabschieden und die grundlegenden Entschei-" düngen bald treffen müssen, wenn die Bundeswehr auch künftig ein wirksames Instrument der Außen-und Sicherheitspolitik bleiben und die notwendige , Anpassungsleistung in einer Weise gelingen soll, welche die deutschen Streitkräfte harmonisch in die Nordatlantische Allianz und in die zunehmende Verflechtung der europäischen Verteidigungsstruktur einfügt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Figaro vom 23. Februar 1996.

  2. So der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, Klaus Rose, in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Juni 1996.

  3. Vgl. Norman C. Davis, An Information-Based Revolution in Military Affairs, in: Strategie Review, Vol. XXIV, Nr. 2, Frühjahr 1996, S. 43-53; Joseph S. Nye Jr. /William A. Owens, America’s Information Edge, in: Foreign Affairs, Vol. 75, Nr. 2, März/April 1996, S. 20-36.

  4. Vgl. Edward N. Luttwak, A Post-Heroic Military Policy, in: Foreign Affairs, Vol. 75, Nr. 4, Juli/August 1996, S. 33 -44.

  5. Vgl. Eliot A. Cohen, A Revolution in Warfare, in: Foreign Affairs, Vol. 75, Nr. 2, März/April 1996, S. 37-54; Stephen J. Blank, Preparing for the Next War: Reflection on the Revolution in Military Affairs, in: Strategie Review, Vol. XXIV, Nr. 2, Frühjahr 1996, S. 17-25.

  6. Vgl. E. N. Luttwak (Anm. 4).

  7. So z. B.der Oberbefehlshaber der russischen Luft-streitkräfte, Generaloberst Petr Dejnekin, in: Voennyj parad, Juli-August 1996, S. 16; ebenso S. A. Komov, Der Kampf um die Informations-Dominanz im modernen Krieg. Fragen der Theorie, in: Voennaja mysl, (1996) 3, S. 76-80.

  8. Dies gilt im übrigen auch für Streitkräfte der anderen NATO-Staaten.

Weitere Inhalte

Walter Schilling, Dr. phil., geb. 1938; Studium der Politikwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte und Slawistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 1973-1988 Referent im Bundesministerium der Verteidigung (Rüstungskontrolle und Militärstrategie) sowie Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr (Internationale Beziehungen); 1988-1991 Militärattache in Moskau; seit 1993 freier Publizist. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Internationalen Politik