Die Akzeptanz der Demokratie des vereinigten Deutschland. Oder: Wann ist ein Unterschied ein Unterschied?
Dieter Fuchs /Edeltraud Roller /Bernhard Weßels
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Zusammenfassung
In der Analyse werden drei Fragen erörtert: Gibt es bedeutsame Unterschiede in der Einstellung zur Demokratie des vereinigten Deutschland zwischen den Bürgern der alten und der neuen Länder? Worauf sind diese Unterschiede zurückzuführen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Auf der Grundlage empirischer Belege zur Beurteilung der Demokratie, des Sozialstaats und der Vermittlungsinstitutionen (Interessengruppen, politische Parteien) zeigen sich statistische und theoretisch relevante Unterschiede zwischen den Bürgern der alten und der neuen Länder. Die Befunde sprechen dafür, daß diese Unterschiede nicht nur situationsbedingt sind, sondern auch auf die sozialisatorischen Erfahrungen in der DDR und der Bundesrepublik zurückgehen. Deshalb bleibt die Frage der „inneren Einheit“ zumindest in bezug auf den Aspekt der Unterstützung der Demokratie des vereinigten Deutschland weiterhin auf der Tagesordnung.
I. Fragestellung
Wie alle modernen Demokratien wird auch die Demokratie des vereinigten Deutschland in den neunziger Jahren mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Neben den Auswirkungen einer globalisierten Ökonomie, die seit dem Beginn der neunziger Jahre immer deutlicher wurden, sind es die Konsequenzen aus dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Mittel-und Osteuropa. Durch letzteres entfiel die legitimierende Wirkung, die diese Alternative in der Systemkonkurrenz immer gehabt hatte. Diese beiden Faktoren dürften die Legitimationsbedingungen der liberalen Demokratien seit dem Beginn der neunziger Jahre schwieriger gemacht haben.
Abbildung 6
Tabelle 4: Vertrauen in Vermittlungsinstitutionen, 1991-1995 Datenbasis: Umfragen „Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik“ (IPOS), 1991-1993 und 1995 (eigene Berechnungen).
Tabelle 4: Vertrauen in Vermittlungsinstitutionen, 1991-1995 Datenbasis: Umfragen „Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik“ (IPOS), 1991-1993 und 1995 (eigene Berechnungen).
Diese Problemkonstellation wird in Deutschland noch durch die Folgeprobleme der deutschen Vereinigung verschärft. Nach der abgeschlossenen formellen Einigung innerhalb des institutioneilen Rahmens der alten Bundesrepublik müssen die Bürger der alten und der neuen Länder zu einer integrierten politischen Gemeinschaft zusammenwachsen. Das ist angesichts der ökonomischen, politischen und sozialen Kosten der Vereinigung kein reibungsloser Prozeß. Wenn also die Annahme von den Herausforderungen der liberalen Demokratien zutreffen sollte, dann müßten sie sich vor allem im vereinigten Deutschland zeigen. Unter anderem aus diesem Grunde wird die Frage nach der „inneren Einheit“ immer wieder gestellt und auch kontrovers diskutiert
In dieser Zeitschrift wurde kürzlich eine Bestandsaufnahme versucht, die zu dem Ergebnis gekommen ist, daß man diese Diskussion nunmehr abbrechen könne, da die „innere Einheit“ schon existiere
Behauptet wurde, daß der notwendige Grundkonsens über die Demokratie des vereinigten Deutschland bereits bestehe und daß die bislang ermittelten Einstellungsdifferenzen eher peripher seien und in den Bereich der Alltagspolitik fielen An dieser Bestandsaufnahme können aber begründete Zweifel angemeldet werden. Die kontroverse -und hier vertretene -These behauptet hingegen, daß es hinsichtlich der Einstellung zur Demokratie des vereinigten Deutschland auch Differenzen gibt, die nicht nur der alltäglichen politischen Auseinandersetzung zuzuordnen sind, sondern grundsätzlichere Differenzen ausdrücken. Die entscheidende Frage ist also, wann ein Unterschied ein Unterschied ist, d. h. als Unterschied nennenswert und in seiner Bedeutung folgenreich ist.
Im folgenden werden für drei zentrale politische Objektbereiche die Einstellungen der Bürger der alten und der neuen Länder untersucht. Zuerst werden Befunde für die Einstellung zur Demokratie im vereinigten Deutschland auf unterschiedlichen Ebenen präsentiert. Daran schließen sich die Analysen von Einstellungen zum Sozialstaat und zu den Institutionen der Interessenvermittlung (Interessengruppen, politische Parteien) an, die zur Erklärung der gefundenen Unterschiede beitragen können. Die empirischen Analysen basieren auf verschiedenen repräsentativen Bevölkerungsumfragen, die zwischen 1990 und 1996 in den alten und neuen Bundesländern durchgeführt worden sind.
II. Demokratie
Abbildung 2
Schaubild 2: Zufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie im vereinigten Deutschland, 1990-1996
Schaubild 2: Zufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie im vereinigten Deutschland, 1990-1996
Eine Demokratie in einem Land ist in dem Maße stabil, in dem sie von ihren Bürgern auch akzeptiert wird. Diese weithin geteilte Auffassung der Politischen Kulturforschung ist theoretisch gut begründet Allerdings ist genauer zu bestimmen, welche Einstellung zur Demokratie für deren Stabilität relevant ist. Auf einer theoretischen Grundlage können drei Ebenen der Einstellung zur Demokratie unterschieden und nach ihrem Allgemeinheitsgrad geordnet werden: Die allgemeinste Ebene bezieht sich auf die grundsätzliche Einstellung zur Demokratie und den mit ihr verbundenen Wertepräferenzen; die mittlere Ebene bezieht sich auf die Bewertung der durch die Verfassungsnormen festgelegten konkreten Ausformung der demokratischen Regierungsform eines bestimmten Landes; die unterste Ebene bezieht sich auf die Beurteilung des konkreten Funktionierens dieser Demokratie 5.
Die für die Stabilität einer Demokratie relativ wichtigste Einstellung ist die zu ihrer Regierungsform, die qua Verfassung festgelegt ist. Wenn die Bürger diese nicht akzeptieren, dann entwickeln sie eine Bereitschaft zu Verfassungsänderungen und damit zu einer Umgestaltung der demokratischen Regierungsform eines Landes. Diese Einstellung wird durch die beiden anderen Einstellungen beeinflußt: Wenn man die Demokratie grundsätzlich nicht akzeptiert oder wenn man eine andere demokratische Regierungsform als die des eigenen Landes bevorzugt, dann ist eine skeptische Einstellung zu der im eigenen Land existierenden Demokratie zu erwarten. Und wenn die Bürger dauerhaft gravierende Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie äußern, dann ist ein Umschlagen dieser Unzufriedenheit auf die Einstellung zur konkreten demokratischen Regierungsform des Landes langfristig kaum vermeidbar.
Für diese drei Ebenen oder Objekte der Einstellung zur Demokratie werden im folgenden empirische Befunde zusammengetragen. Für die oberste Ebene kann eine Umfrage herangezogen werden, die ein Jahr nach der deutschen Vereinigung durchgeführt wurde. Danach hielten 86 Prozent der Bürger in den alten und 70 Prozent in den neuen Ländern „die Demokratie grundsätzlich für die beste Staatsform“ 6. Das ist eine Differenz von 16 Prozentpunkten, und hier stellt sich bereits die Frage nach der Bedeutsamkeit dieser Differenz. Dafür gibt es zunächst einmal ein statistisches Kriterium, das auf Wahrscheinlichkeitskalkülen beruht. Danach ist diese Differenz nicht zufällig, sondern in einem statistischen Sinne signifikant. Dennoch soll hier nicht die Differenz herausgestrichen, sondern festgehalten werden, daß die überwiegende Mehrheit der Bürger der alten und der neuen Länder die Demokratie als Staatsform grundsätzlich befürwortet. Mit diesem empirischen Tatbestand ist aber die Frage noch nicht geklärt, ob es denn die Demokratie der Bundesrepublik ist, die die Bürger bei ihrer Befürwortung der Demokratie im Auge haben. Auf diese Frage können die Zeitreihen des Schaubildes 1 eine Antwort geben.
Wie unmittelbar ersichtlich ist, gibt es einen eklatanten Unterschied zwischen den alten und den neuen Ländern. Die ganz überwiegende Mehrheit der Bürger der alten Länder betrachtet die Regierungsform der Bundesrepublik als die relativ beste, während nur eine Minderheit der Bürger der neuen Länder diese Einschätzung teilt. Die Differenz beträgt über den gesamten Zeitraum von 1990 bis 1995 etwa 40 Prozentpunkte. Es gibt zwar andere Indikatoren, bei denen dieser Unterschied zwischen den beiden Teilen Deutschlands nicht ganz so ausgeprägt ist, das Muster ist aber in allen Fällen das gleiche. Zudem scheint uns die hier herangezogene Frage die relativ beste Messung der Einstellung zur demokratischen Regierungsform eines Landes zu sein. Die unterste Ebene der Einstellung zur Demokratie bezieht sich auf das Funktionieren der demokratischen Ordnung eines Landes, also auf die demokratische Wirklichkeit. Die Zeitreihen im Schaubild 2 basieren auf einer Frage nach der Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland. Damit wird die Einstellung zur demokratischen Wirklichkeit zumindest annäherungsweise erfaßt
Auch in diesem Falle gibt es über den gesamten Zeitraum von 1990 bis 1996 hinweg eine deutliche Differenz zwischen den alten und den neuen Ländern. Da diese Frage sich auf einen konkreteren Gegenstand als den nach der Demokratie als Ordnungsform richtet (vgl. Schaubild 1), ist das Zustimmungsniveau in beiden Gruppen auch etwas niedriger und die Variabilität der Einstellung stärker. Bemerkenswert ist die nahezu parallele Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands.
Die empirischen Befunde sind völlig eindeutig und weisen konsistent in dieselbe Richtung. Auf allen drei theoretisch unterschiedenen Ebenen der Einstellung zur Demokratie gibt es im inhaltlichen wie im statistischen Sinne signifikante Unterschiede zwischen den Bürgern der alten und der neuen Länder. Dieser Unterschied ist bei der Beurteilung der Regierungsform der Bundesrepublik am größten, also genau bei der Einstellung, die theoretisch als die wichtigste für die Stabilität der Demokratie des vereinigten Deutschland angesehen werden kann. Angesichts dieser Befunde scheint es nicht angemessen zu sein, Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern in den Bereich der normalen Alltagspolitik abzuschieben und somit in ihrer Bedeutung zu trivialisieren oder gar zu bestreiten
Wenn man die Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern als einen empirischen Tatbestand nehmen kann und wenn man davon ausgeht, daß diese Unterschiede auch politisch relevant sein können, dann stellt sich die Frage, wie diese zustande gekommen sind. In der Literatur werden vor allem zwei Erklärungsstränge angeboten: Zum einen werden die Unterschiede auf unterschiedliche sozialisatorische Erfahrungen in den verschiedenen Gesellschaftsordnungen zurückgeführt, und zum anderen werden situationsbedingte Forderungen nach gleichen Lebenschancen zur Erklärung herangezogen. Zu diesen Situationsfaktoren kann auch das „Bedürfnis nach sozialer Anerkennung“ gerechnet werden, das die Bürger der neuen Länder haben und bei dem sie Defizite im vereinigten Deutschland empfinden Verschiedene Analysen wenden sich unmißverständlich gegen die erstgenannte Interpretation und wollen ausschließlich solche Situationsfaktoren beanspruchen, die auf die ungleichen Lebenschancen abstellen Die Sozialisationshypothese wird im Gegensatz zur Situationshypothese stark kritisiert. Sie ist unseres Erachtens aber theoretisch zu gut begründet und mit zu vielen empirischen Evidenzen versehen als daß sie vollständig beiseite geschoben werden könnte.
Auf diese Diskussion soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden, sondern es sollen lediglich die Argumente herangezogen werden, die auf der Grundlage der präsentierten Daten gegen die Situations-und für die Sozialisationshypothese sprechen. Zunächst einmal weist die Ähnlichkeit der Trendverläufe der Zeitreihen in den alten und den neuen Ländern seit 1990 darauf hin, daß in beiden Landesteilen weitgehend dieselben Situationsfaktoren wirksam gewesen sind. Die aufgefundenen Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern können demzufolge also allenfalls partiell auf Situationsfaktoren zurückgeführt werden. Noch wichtiger ist aber das Faktum, daß es bereits zur Zeit oder kurz nach der deutschen Vereinigung bei allen gemessenen Einstellungen zur Demokratie zwischen den alten und den neuen Ländern signifikante Unterschiede gegeben hat. Wenn diese also von Anfang an existiert haben, dann können sie auch nicht mit situativen Erfahrungen im vereinigten Deutschland erklärt werden. Im letzten Abschnitt kommen wir auf die Kontroverse über die Sozialisationshypothese noch einmal zurück. Zunächst werden aber die empirischen Befunde zum Sozialstaat und den Institutionen der Interessenvermittlung präsentiert, die auf einer konkreteren Ebene für die Unterschiede in der Akzeptanz der Demokratie des vereinigten Deutschland mitverantwortlich sind.
III. Sozialstaat
Abbildung 3
Tabelle 1: Ansprüche an den Sozialstaat, 1991 und 1994 Datenbasis: Allbus 1991, 1994.
Tabelle 1: Ansprüche an den Sozialstaat, 1991 und 1994 Datenbasis: Allbus 1991, 1994.
Im Gesellschaftssystem der DDR hatte die soziale Sicherheit der Bürger einen hohen Stellenwert. Sie war in Form von sozialen Grundrechten in der Verfassung der DDR implementiert und fand auch in der praktischen Politik einen erfahrbaren Niederschlag. Umfragen, die vor und nach der deutschen Vereinigung durchgeführt worden sind, belegen u. a., daß die Bürger der neuen Länder davon überzeugt waren -und es noch sind -, daß in diesem spezifischen Aspekt das Gesellschaftssystem der DDR dem der Bundesrepublik überlegen war bzw. ist Diese in der Zeit der DDR entstandene Auffassung wurde durch Situationsfaktoren sicherlich verstärkt. Die Bürger der neuen Länder sind als Folge der deutschen Vereinigung erheblich stärker von sozialstaatlichen Leistungen abhängig als die Bürger der alten Länder, weil die Transformation der Plan-in eine Marktwirtschaft mit Hilfe dieser Leistungen finanziert wird. Wegen des ausgesprochen positiven Urteils über das sozialistische System der Sozialpolitik und der situationsbedingten hohen Abhängigkeit von Sozialleistungen kann erwartet werden, daß die Bürger in den neuen Ländern höhere Ansprüche an den Sozialstaat haben als die Bürger der alten Länder und daß sie mit den Ergebnissen des bundesrepublikanischen Sozialstaats unzufriedener sind.
Dabei ist zu unterscheiden, ob sich die Ansprüche an den Sozialstaat auf den Umfang oder das Ausmaß staatlichen Handelns beziehen 13. Beim Umfang geht es darum, ob der Staat überhaupt für sozialpolitische Aufgaben -wie z. B. die Absicherung im Alter -zuständig sein soll oder nicht; beim Ausmaß geht es um die Frage, wie groß die Leistungen des Staates in den sozialpolitischen Aufgabenbereichen sein sollen, für die er eine Verantwortung übernommen hat.
Entgegen der Erwartung gibt es auf den ersten Blick bei den Ansprüchen an den Umfang staatlichen Handelns nur geringe Unterschiede zwischen den Bürgern der alten und der neuen Länder. 1991 stimmten 90 Prozent der Westdeutschen und 98 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zu, daß der Staat für die Kernbereiche der sozialen Sicherheit -die Absicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, im Alter und in Notsituationen -zuständig sein soll. Die Differenz wird aber größer und geht in die erwartete Richtung, wenn man nur die Anteile für die höchste Form der Zustimmung: „stimme voll zu“ betrachtet. 1991 hatten danach 51 Prozent der Westdeutschen, aber 79 Prozent der Ostdeutschen die starke Erwartung, daß der Staat für die Einkommenssicherung zuständig sein sollte (vgl. Tabelle 1). Der wesentliche Unterschied zwischen den Bürgern der alten und der neuen Länder liegt also weniger in der Zustimmung zur staatlichen Einkommenssicherung als solcher als vielmehr darin, daß die Bürger in den neuen Bundesländern diese staatliche Zuständigkeit stärker einfordern. Die Daten zeigen weiter, daß sich zwischen 1991 und 1994 an dieser Grundstruktur nur wenig verändert hat. Entgegen der teilweise geäußerten Erwartung, daß in Ostdeutschland die Ansprüche mit zunehmenden Erfahrungen im Transformationsprozeß ansteigen würden zeichnet sich (in beiden Landesteilen) eine geringfügige Reduktion der Ansprüche an den Sozialstaat ab.
Bei den Ansprüchen an das Ausmaß staatlichen Handelns sind die Unterschiede zwischen beiden Landesteilen noch deutlicher. Auf die Frage, ob Sozialleistungen in Zukunft ausgeweitet oder gekürzt werden sollen, oder ob es so bleiben soll wie bisher, sprach sich 1994 in Ostdeutschland eine klare Mehrheit von 71 Prozent für eine Ausweitung der Sozialleistungen aus, während in Westdeutschland eine klare Mehrheit von 60 Prozent für die Beibehaltung des Status quo votierte (vgl. Tabelle 1). Diese Verteilungen zeigen nicht nur, daß die Ostdeutschen deutlich höhere Ansprüche an das Ausmaß staatlichen Handelns stellen, sie sind auch in Hinblick auf die aktuelle Diskussion um den Abbau des Sozialstaats sehr aufschlußreich. In beiden Teilen Deutschlands spricht sich zwar nur eine Minderheit für Kürzungen der Sozialleistungen aus, das aber in sehr unterschiedlichem Ausmaß. In Westdeutschland sind es 12 Prozent und in Ostdeutschland 1 Prozent. Die Kürzung von Sozialleistungen, die seit den neunziger Jahren wieder im Mittelpunkt der Sozialpolitik steht, wird in der Bundesrepublik also zusätzlich dadurch erschwert, daß mit der Vereinigung eine Bevölkerungsgruppe hinzugekommen ist, die fast einstimmig Sozialleistungskürzungen ablehnt
Bei der Analyse des zweiten Aspekts, der sich auf die Einschätzung der Ergebnisse der Sozialpolitik bezieht, bestätigt sich die Annahme, daß die Bürger in den neuen Bundesländern weniger zufrieden sind. 1994 fühlten sich in den neuen Bundesländern 47 Prozent im Alter, bei Invalidität und im Krankheitsfall ausreichend gesichert, in den alten waren es dagegen 67 Prozent (vgl. Tabelle 2). Eine zweite Frage kann darüber Aufschluß geben, inwieweit dieses Urteil in den neuen Ländern maßgeblich von Erfahrungen in der früheren DDR oder im vereinigten Deutschland geprägt wird. Zwischen 1992 und 1995 war in den neuen Ländern eine deutliche Mehrheit -nämlich über 60 Prozent -der Ansicht, daß ihre soziale Sicherheit heute schlechter sei als in der DDR vor der Wende. Wenn diese negative Einschätzung des Ergebnisses des Sozialstaats im Vergleich zur früheren DDR eine Folge von situativen Erfahrungen in der Bundesrepublik sein sollte die zu einem Prozeß der nachträglichen Verklärung der DDR-Vergangenheit führen, dann müßte sich die negative Einschätzung der heutigen Situation kontinuierlich verschlechtern. Tatsächlich sind die Werte über den gesamten Zeitraum zwischen 1992 und 1995 relativ konstant; es zeichnet sich keine Verschlechterung ab.
Insgesamt kommen auch diese Analysen zu den hier unterschiedenen Aspekten des Sozialstaats zu einem relativ klaren Ergebnis: Die Ostdeutschen haben höhere Ansprüche an den Sozialstaat, und sie sind mit seinen Ergebnissen unzufriedener als die Westdeutschen. Die Bürger der neuen Länder besitzen offenbar sozialpolitische Orientierungen, die weniger dem bundesrepublikanischen Sozialstaat als dem umfassenderen sozialistischen System der Sozialpolitik der DDR entsprechen. Diese für Ostdeutschland ermittelten Verteilungen können in zwei ganz unterschiedlichen Sachverhalten begründet liegen. Zum einen können sie auf die Sozialisation in einem umfassenden sozialistischen System der Sozialpolitik zurückgehen. Zum anderen können diese Orientierungen aber auch in einer situationsspezifischen Reaktion auf die mit der Transformation verbundenen ökonomischen und sozialen Unsicherheit begründet liegen. Im ersten Fall wären diese Orientierungen längerfristig stabil, während sie im zweiten Fall mit einer Verbesserung der ökonomischen Lage kurz-oder mittelfristig veränderbar wären.
Weiterführende Analysen zeigen, daß zwar einerseits die sozialpolitischen Einstellungen mit der ökonomischen Lage der Befragten variieren; das heißt, je schlechter die ökonomische Lage um so größer die Ansprüche an den Sozialstaat sowie die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen des Sozial-staats und umgekehrt. Andererseits zeigen die Analysen aber auch, daß der Zusammenhang mit der persönlichen wirtschaftlichen Lage nur einen partiellen Erklärungsbeitrag leistet und die sozialpolitischen Einstellungen auch durch die Sozialisation geprägt sind. Vieles spricht deshalb dafür, daß wir es mit einem sogenannten sozialistischen Erbe zu tun haben, das sich längerfristig nur durch den Austausch der DDR-Generationen durch jüngere Generationen transformieren wird. Diese Entwicklung mag dadurch erschwert werden, daß die Sozialpolitik in den neunziger Jahren durch Abbau und Sozialleistungskürzungen geprägt ist.
IV. Institutionen der Interessen-vermittlung
Abbildung 4
Tabelle 2: Zufriedenheit mit den Ergebnissen des Sozialstaats, 1992-1995 Datenbasis: Allbus 1994, Politbarometer Ost 1992-1995.
Tabelle 2: Zufriedenheit mit den Ergebnissen des Sozialstaats, 1992-1995 Datenbasis: Allbus 1994, Politbarometer Ost 1992-1995.
Die Zufriedenheit mit der demokratischen Regierungsform eines Landes ist nicht nur von demokratischen Werten und der Bewertung staatlicher Leistungsfähigkeit durch die Bürger abhängig, sondern auch von deren Beurteilung der Akteure, die zwischen den Bürgeransprüchen und dem Regierungssystem vermitteln. Diese Aufgabe übernehmen die sogenannten Vermittlungsinstitutionen. Ihre Aufgabe es ist, zwischen den Verfassungsorganen und verschiedenen Teilgruppen der Bevölkerung Informationen, Entscheidungsaltemativen und Orientierungen zu vermitteln. Zu ihnen zählen Bewegungen, Verbände und politische Parteien sowie -allerdings in einer Sonderrolle -die Kirchen Da Vermittlungsinstitutionen dem einzelnen Orientierungs-und Partizipationsmöglichkeiten und damit die Chance auf politische Mitwirkung eröffnen, sie das zentrale Instrument zur „Ermächtigung der vielen“ sind, hat ihre Struktur und Funktionsweise unmittelbare Bedeutung für die Beziehung der Bürger zur Politik.
Verschiedene Beobachtungen sprechen dafür, daß sich das Verhältnis der Bürger zu den Vermitt-lungsinstitutionen und damit ihr Verhältnis zur Demokratie mit und nach der deutschen Vereinigung verändert haben könnte. Die Debatte über die Politik-und Parteienverdrossenheit mit ihrem Höhepunkt 1992/93 verweist auf eine generelle, d. h. bundesweite Entwicklung. Die Diskussionen um die Schwierigkeiten beim „Institutionentransfer“ stellen im besonderen auf Vereinigungsprobleme und damit auf Unterschiede zwischen Ost und West ab. Letzteres ist für die „Transformationsproblematik" also von unmittelbarer Relevanz. Nun hat es nicht nur den Transfer politischer Institutionen in die neuen Länder gegeben, sondern auch die weitgehende Übertragung der Vermittlungsinstitutionen westdeutscher Prägung. Die Vereinigung bedeutete zumeist das Ende der in der Wendezeit transformierten Altverbände und der noch zu DDR-Zeiten neugegründeten Verbände Gerhard Lehmbruch geht davon aus, daß der Transfer der Interessengruppen der zentralen Schwierigkeit begegnet, daß sich „aus der Vereinigung eine außergewöhnliche Heterogenität von Interessenlagen und Interessenwahrnehmungen ergeben hat“ und die Artikulation und Vermittlung spezifisch ostdeutscher Interessen bisher nicht gelungen sei Wenn dies zutrifft, müßte in der Wahrnehmung der Bürger der neuen Länder eine „Vertretungslücke“ entstanden sein, die dann möglicherweise auch auf die Beurteilung des Funktionierens der deutschen Demokratie insgesamt durchschlägt.
Die Beurteilung von Vermittlungsakteuren kann aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen. Allgemeine Kriterien der Bewertung sind Leistung und Qualität. Entsprechend der Kriterien von Leistung und Qualität lassen sich instrumentelle und moralische Bewertungen unterscheiden Instrumenteile Bewertungen richten sich z. B. darauf, wie gut die aktuelle Vertretungsleistung der Vermittlungsinstitutionen ist, moralische Bewertungen z. B. darauf, wie stark den Institutionen vertraut wird. Beide Bewertungen stehen in einem Wechselverhältnis: Nur bei entsprechender (kontinuierlicher) Leistung wird sich Vertrauen aufbauen. Vertrauen schließt ja die Erwartung ein, daß die Institutionen auch in Zukunft ihre Leistungen erbringen. Beide Kriterien können also herangezogen werden, um der These von der Vertretungslücke nachzugehen.
Empirisch ist festzustellen, daß sich für die einzelnen Vermittlungsinstitutionen unterschiedliche Entwicklungen in den neuen und alten Ländern ergeben. Etwa konstant die Hälfte der Bürger in den alten Ländern fühlte sich 1990 und 1994 von den Gewerkschaften vertreten, in den neuen Ländern sank dieser Anteil von 68 auf 45 Prozent. Von den Parteien fühlten sich jeweils etwa drei Viertel der Bürger vertreten, von den Kirchen in den neuen Ländern etwa ein Viertel, in den alten fast 40 Prozent. Umweltschutzgruppen und Bürgerinitiativen verzeichnen in den neuen Ländern abnehmende Anteile, in den alten Ländern zunehmende (vgl. Tabelle 3).
Soweit Informationen über die Einstellungen von Mitgliedern vorhanden sind, zeigen diese, daß Mitglieder sich von ihren Organisationen in hohem Maße vertreten fühlen und daß diese Einschätzung zeitlich sehr stabil ist. Insgesamt verweisen diese Ergebnisse zur leistungsorientierten Bewertung der Vermittlungsinstitutionen nicht auf eine besondere Vertretungslücke in den neuen Ländern, wenngleich sich in der ostdeutschen Bevölkerung insgesamt bei den Gewerkschaften, Umweltschutzgruppen und Bürgerinitiativen eine negative Entwicklung ergeben hat. Im Falle der Gewerkschaften dürfte dies in der steigenden Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern begründet sein, im Falle der Umweltgruppen und Bürgerinitiativen in ihrem relativen Bedeutungsverlust im Vergleich zur Wendezeit
Anders sieht es beim Vertrauen in die Vermittlungsinstitutionen aus. Den Gewerkschaften wird im Zeitraum 1991 bis 1995 -zumindest von den
Mitgliedern -in den alten Ländern nicht mehr als in den neuen Ländern, sondern eher weniger Vertrauen geschenkt. Parteien und Kirchen hingegen genießen weit weniger Vertrauen in den neuen als in den alten Ländern. Für die Kirchen ergibt sich ein kontinuierlicher Vertrauensrückgang in den neuen Ländern, in den alten ist das Vertrauen konstant und höher. Politische Parteien genießen insgesamt am wenigsten Vertrauen von allen untersuchten Vermittlungsinstitutionen in beiden Teilen Deutschlands. Die Entwicklung verläuft aber, wenngleich auf unterschiedlichem Niveau, in relativem Gleichklang. Wie bei der konkreten Leistungsbewertung schneiden die Vermittlungsinstitutionen auch bei der moralischen Bewertung unter Mitgliedern besser ab als im Bevölkerungsdurchschnitt (vgl. Tabelle 4).
In der Frage des Vertrauens ergeben sich also eher als in der Frage der Vertretung Hinweise auf eine Differenz zwischen alten und neuen Ländern. Die Ergebnisse zeigen aber auch, daß es -abgesehen von den Kirchen in den neuen Ländern -nach einem Einbruch 1992/93 einen Rückgewinn an Vertrauen gegeben hat. Das Vertrauen ist allerdings insbesondere in den neuen Ländern nach wie vor schwach, und die Bürger scheinen schnell mit Vertrauensentzug auf ein negatives Erscheinungsbild zu reagieren.
Wie weiterführende Analysen zeigen, bleibt die Entwicklung des Vertrauens in Vermittlungsinstitutionen für die Beurteilung des Funktionierens der Demokratie nicht folgenlos Die Bürger generalisieren von spezifischen Unzufriedenheiten auf die Systemebene, d. h., diejenigen, die kein Vertrauen in die Vermittlungsinstitutionen haben, sind auch am wenigsten zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie; diejenigen, die hohes Vertrauen in die Vermittlungsinstitutionen setzen, weisen auch das höchste Maß an Demokratiezufriedenheit auf. Wenn also die Institutionen der Interessenvermittlung nicht funktionieren, wird auch das Funktionieren des Gesamtsystems negativ beurteilt. Dieser Zusammenhang existiert gleichermaßen in den neuen und alten Bundesländern.
Besondere Beachtung verdient dabei die Tatsache, daß der Abstand in der Beurteilung der Demokratie zwischen denjenigen, die den Vermittlungsinstitutionen kein Vertrauen schenken, und denen, die ihnen hohes Vertrauen entgegenbringen, im Zeit-verlauf größer wird. Dieser Befund gibt einen Hinweis auf eine besondere Dynamik: Er könnte dafür sprechen, daß Mißtrauen um so stärker auf die Beurteilung des politischen Systems durch-schlägt, je länger es andauert. Oder anders formuliert: Wenn die Vermittlungsinstitutionen kontinuierlich in der Sicht der Bürger eine negative Bilanz haben, gerät auch das politische System in die „roten Zahlen“.
V. Schlußfolgerungen
Abbildung 5
Tabelle 3: Vertretung durch Vermittlungsinstitutionen, 1990 und 1994
Tabelle 3: Vertretung durch Vermittlungsinstitutionen, 1990 und 1994
Die empirischen Analysen haben auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in vielfältigen Hinsichten Unterschiede in den Einstellungen der Bürger der alten und der neuen Länder zur Demokratie des vereinigten Deutschland erbracht. Diese Unterschiede sind nicht nur in einem statistischen Sinne signifikant, sondern sie machen auch deutlich, daß es zumindest hinsichtlich der Akzeptanz der Demokratie des vereinigten Deutschlands noch keine integrierte politische Gemeinschaft gibt. Wie können diese Befunde interpretiert werden, und wie sind sie auf die Kontroverse über die „innere Einheit“, und in diesem Zusammenhang auf die Sozialisationshypothese einerseits und die Situationshypothese andererseits, beziehbar?
In der kritischen Wendung gegen die Sozialisationshypothese wird eine überzeichnete Version dieser These als Bezugspunkt genommen die von den meisten Vertretern des Sozialisationsansatzes nicht geteilt wird. Wir gehen nicht von einer lükkenlosen Determination der Einstellungen der Bürger durch den DDR-Sozialismus aus und unterstellen schon gar nicht obrigkeitsstaatliche und somit antidemokratische Einstellungen. Es ist aber wenig plausibel und steht auch im Widerspruch zum allgemeinen sozialwissenschaftlichen Erkenntnisstand, daß der institutioneile Rahmen, in dem Bürger leben, gar keinen Einfluß auf deren Einstellungen haben soll. Ein sogenanntes „institutionelles Lernen“ ist fast unvermeidlich. Die Frage ist nur, wie stark dieses ist und worauf es sich bezieht.
Das „institutioneile Lernen“ der Bürger der neuen Länder in der früheren DDR hat nach unserer Auffassung dazu geführt, daß diese bestimmte Prinzipien betonen, die zur Präferenz eines anderen Demokratiemodells führen als desjenigen, das durch die Verfassung des vereinigten Deutschland eingerichtet ist. Dabei handelt es sich um Formen der direkten Bürgerbeteiligung an den politischen Entscheidungsprozessen und vor allem um soziale Grundrechte. Es wurde ausführlich herausgearbeitet, daß dies legitime Vorstellungen im Rahmen dessen sind, was Demokratie alles sein kann Die Sozialisationshypothese ist also keinesfalls notwendig mit einer Deformationshypothese im Sinne antidemokratischer Einstellungen verknüpft.
Gegen diese Argumentation könnte immer noch eingewendet werden, daß auch in den alten Ländern eine starke Priorität von sozialen Zielen existiert Dabei wird aber zum einen der immer noch bestehende und nicht zu vernachlässigende Unterschied in den Einstellungen zum Sozialstaat zwischen den beiden Teilen Deutschlands übersehen. Zum anderen zeigen empirische Analysen, daß die Bürger der neuen Länder die von ihnen festgestellte unzureichende Realisierung sozialer Ziele dem demokratischen System des vereinigten Deutschland zurechnen, die Bürger der alten Länder jedoch lediglich der jeweiligen Regierung und der aktuellen Politik Nur in den neuen Ländern werden also diese Defizite zu einer grundsätzlichen Frage der Gestaltung des demokratischen Regierungssystems gemacht.
Wir wollen abschließend also festhalten, daß es nach unseren Analysen beträchtliche Unter-schiede in der Akzeptanz der Demokratie des vereinigten Deutschland zwischen den alten und den neuen Ländern gibt und daß diese zumindest teilweise auf die Sozialisation in unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen zurückgeführt werden können. Wenn dieser Sachverhalt zutrifft, dann wären diese Einstellungen kurz-und mittelfristig nur sehr schwierig änderbar. In diesem Sinne bleibt die Frage der „inneren Einheit“ also durchaus noch offen Das erleichtert die Bewältigung de neuen Herausforderungen, mit denen alle liberale! Demokratien konfrontiert sind, sicherlich nicht.
Dieter Fuchs, Dr. phil., Privatdozent; wissenschaftlicher Angestellter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozial-forschung (WZB). Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Hans-Dieter Klingemann), Citizens and the State, Oxford 1995; Wohin geht der Wandel der demokratischen Institutionen in Deutschland? Die Entwicklung der Demokratievorstellungen der Deutschen seit ihrer Vereinigung, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Institutionenwandel, Sonderheft des Leviathan, Opladen 1997. Edeltraud Roller, Dr. phil.; wissenschaftliche Angestellte am WZB. Veröffentlichungen u. a.: Einstellungen der Bürger zum Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992; Sozialpolitische Orientierungen nach der deutschen Vereinigung, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997. Bernhard Weßels, Dr. phil., geb. 1955; wissenschaftlicher Angestellter am WZB. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Ulrich von Alemann) Verbände in vergleichender Perspektive, Berlin 1997; Einstellungen zu den Institutionen der Interessenvermittlung, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997.