Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Oder: Warum sich die Ostdeutschen als Bürger 2. Klasse fühlen -
Dieter Walz/Wolfram Brunner
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Zusammenfassung
Es ist es keine Neuigkeit, daß es Probleme mit der „inneren Einheit“ zwischen West-und Ostdeutschland gibt. Die sprichwörtliche „Mauer in den Köpfen“ wird fast täglich beklagt. Unmengen von wissenschaftlicher Literatur sind zu diesem Thema veröffentlicht worden, und es vergeht kaum eine Woche, in der nicht neue Daten zum Stand der deutschen Einheit publiziert werden. In jüngster Zeit wird zudem eine wachsende Distanz der Werte zwischen West und Ost konstatiert, die als Beleg für die in der Öffentlichkeit oft beschworene „innere Mauer“ gewertet wird. Dieser Umstand fällt mit dem Befund zusammen, daß sich die Ostdeutschen seit Ende 1995 wieder zunehmend als Bürger 2. Klasse fühlen. (t Der Artikel soll. einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob diese Entwicklung nun auf die Entstehung oder gar Verfestigung der vielzitierten „inneren Mauer“ -also auf mentale Differenzen zwischen Ost und West -hindeutet oder ob für diesen Befund andere Erklärungsgrößen ausschlaggebend sind. Wie sich zeigt, hat das Gefühl, „Bürger 2. Klasse“ zu sein, ganz offensichtlich mehrere Dimensionen oder Bedeutungsaspekte, die sich im Laufe der Zeit in ihrer relativen Wichtigkeit verändert haben. Zwar haben intellektuell-charakterliche Abwertungsfaktoren für das Gefühl eine Bedeutung; verglichen mit sozioökonomischen Benachteiligungsempfindungen aber spielen sie nur eine sekundäre Rolle. Es ist also nicht der Abbau der vermeintlichen „Überheblichkeit des Westens“, sondern vielmehr eine durchgreifende Änderung der Verhältnisse auf wirtschaftlicher Ebene, die einen Rückgang des Gefühls „Bürger 2. Klasse“ bewirken und den entscheidenden Beitrag zur „inneren Einheit“ Deutschlands leisten wird. Mit anderen Worten: „It’s the economy, stupid!“
Ende Juli 1997 hat die Bundesregierung ihren ersten „Bericht zum Stand der deutschen Einheit“ vorgelegt. Die etwa 300 Seiten umfassende Dokumentation ist zwar durchaus im Sinne einer auf PR abzielenden Erfolgsstory zu lesen, doch enthält sie auch leisere Töne: „Langsamer als die Einigung Deutschlands auf administrativem, wirtschaftlichem und sozialem Niveau“, so berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung, „vollzieht sich nach Ansicht der Bundesregierung die , innere Einigung‘. Das Ende dieses Prozesses sei heute noch nicht abzusehen.“ Nun ist es wohl keine Neuigkeit, daß es Probleme mit der „inneren Einheit“ zwischen West-und Ostdeutschland gibt. Die sprichwörtliche „Mauer in den Köpfen“ wird fast täglich beklagt, Unmengen von wissenschaftlicher Literatur sind zu diesem Thema veröffentlicht worden, und es vergeht kaum eine Woche, in der nicht neue Daten zum Stand der deutschen Einheit publiziert werden 2. In jüngster Zeit wird zudem eine wachsende Distanz der Werte zwischen West und Ost konstatiert, die als Beleg für die in der Öffentlichkeit oft beschworene „innere Mauer“ gewertet wird Dieser Umstand fällt mit dem Befund zusammen, daß sich viele Ostdeutsche auch nach sieben Jahren in der Bundesrepublik noch immer nicht heimisch fühlen. Im Gegenteil: Eine sehr auffällige demoskopische Entwicklung der letzten zwei Jahre ist die Zunahme -nicht der Rückgang! -des Gefühls in Ostdeutschland, Bürger 2. Klasse zu sein. Das politisch-gesellschaftliche Experiment „Vereinigung“ verläuft offensichtlich höchst unbefriedigend.
Als Bürger 2. Klasse fühlten sich Ende 1990 gleich nach der Vereinigung etwa 85 bis 90 Prozent aller Ostdeutschen. Dieser Anteil ging dann langsam, aber stetig zurück, bis er im Herbst 1995 seinen Tiefstand von 69 Prozent erreichte. Zwar war auch dieser Wert noch sehr hoch, doch im Trendvergleich ergab sich eine hoffnungsvolle Tendenz, die auf eine -wenn auch schleichende, so doch erfolgreiche -Integration des Ostens hinzudeuten schien. Diese Tendenz ist jedoch seit Ende 1995 abgebrochen. Statt dessen hat sich das Gefühl, Bürger. 2. Klasse zu sein, wieder deutlich ausgebreitet: von über 74 Prozent im März 1996 auf 80 Prozent im Mai 1997 (vgl. die Graphik).
Abbildung 11
Tabelle 4: Regressionsanalyse mit „Bürger 2. Klasse“ Quelle: Eigene Darstellung.
Tabelle 4: Regressionsanalyse mit „Bürger 2. Klasse“ Quelle: Eigene Darstellung.
Wir wollen hier einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob diese Entwicklung nun auf die Entstehung oder gar Verfestigung der vielzitierten „inneren Mauer“ -also auf mentale Differenzen zwischen Ost und West -hindeutet oder ob für diesen Befund andere Erklärungsgrößen aus-schlaggebend sind
II. Theoretischer Rahmen
Abbildung 7
Graphik: Das Gefühl, Bürger 2. Klasse zu sein Quelle: Eigene Darstellung
Graphik: Das Gefühl, Bürger 2. Klasse zu sein Quelle: Eigene Darstellung
„Mit der Übernahme des Regelwerkes des Grundgesetzes und der Verwaltungsordnungen, der Wahl von Volksvertretern und der Einführung der Marktwirtschaft hat die Bevölkerung im Osten Deutschlands Bekanntschaft mit den Institutionen des westdeutschen politischen Alltags gemacht.“ Die Vereinigung Deutschlands ist jedoch nicht nur mit einem kompletten Institutionentransfer von West nach Ost einhergegangen, sie ist auch als Zusammenschluß zweier „politischer Gemeinschaften“ zu sehen. Mit der Herstellung der deutschen Einheit wurden also nicht nur Fragen des strukturellen, sondern auch Fragen des kulturellen Wandels aufgeworfen
Wenn man das Gefühl, „Bürger 2. Klasse“ zu sein, das wir im folgenden näher analysieren wollen, theoretisch einordnen möchte, so bietet sich zunächst der Rückgriff auf die Politische-Kultur-Forschung nach Gabriel Almond/Sidney Verba und David Easton an. Gemäß dem „Konzept politischer Unterstützung“ von Easton gibt es drei Objektklassen des politischen Systems: die politische Gemeinschaft, das politische Regime und die politischen Herrschaftsträger. Die Systemkultur differenziert sich bei Easton in spezifische (leistungsbezogene) und diffuse (vertrauens-und legitimitätsbezogene) Unterstützung Ungeachtet der unterschiedlichen Annahmen über das in einer Demokratie erforderliche Mindestmaß an politischer Unterstützung kann jedoch gelten, daß dauerhafte Kritik an oder der Ausschluß aus der politischen Gemeinschaft für die Stabilität des politischen Systems mehr als kontraproduktiv sein dürfte Auf der personalen Ebene der politischen Gemeinschaft, also hinsichtlich der Haltungen zu den Mitbürgern, stellt sich die Frage nach der nationalen Identität, das heißt die Frage nach einem gemeinsamen Wir-Gefühl Fühlen sich die Ostdeutschen in der neuen politischen Gemeinschaft zu Hause, fühlen sie sich willkommen, oder grenzen sie sich -wie auch immer und warum auch immer -von ihren Landsleuten im Westen ab? Es stellt sich hier die Frage, wie das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ zu interpretieren ist. Was steckt dahinter? Was sind die Ursachen für die deutliche Ausbreitung des Gefühls seit Ende 1995? Mit einiger Anfangsplausibilität kann man vermuten, daß das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ im Rahmen der deutsch-deutschen Vereinigung folgende Ursachen -und damit Bedeutungsinhalte -haben könnte:
Erstens kann es zum Ausdruck bringen, daß man sich in der Gesellschaft (in Politik und Wirtschaft, im täglichen Leben, bei Behördengängen etc.) nicht so gut auskennt wie andere Mitbürger. Der Drang nach Kontrolle der sozialen Umwelt trifft auf das Bewußtsein, nicht genug bzw. weniger als andere zu wissen. Diese Konstellation ist praktisch immer gegeben, wenn Menschen in Situationen geraten, die sie zuvor noch nicht erfahren haben. Insofern ist es durchaus plausibel, vielen Ostdeutschen ein solches Gefühl für die nähere Zeit nach der Vereinigung zu unterstellen.
Zweitens mag das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ auch auf der Wahrnehmung wirtschaftlicher Ungleichheit basieren, welche zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR bzw.den neuen Bundesländern zum Zeitpunkt der Vereinigung bestanden hat. Bürger 2. Klasse bedeutet in diesem Sinne einfach, im ärmeren Teil Deutschlands zu leben; man sieht dies nicht als Folge der Vereinigung oder einer verfehlten Politik der Bundesregierung, sondern gleichsam als „natürliche“ Fortsetzung der Situation vor dem Zusammenschluß („reiche BRD“ versus „arme DDR“); die wirtschaftliche Ungleichheit wird an dieser Stelle also als ein strukturelles Problem interpretiert.
Bürger 2. Klasse zu sein impliziert drittens im klassischen Sinne natürlich auch die aktive Diskriminierung, sei es nun rechtlich oder praktisch-politisch. Daß Ostdeutsche die gleichen Rechte haben wie Westdeutsche, dürfte wohl unbestritten sein. Unter praktisch-politischen Aspekten hingegen wurde der Bundesregierung schon häufig vorgeworfen, sie tue nicht genug für den Osten bzw. sie vertrete eher die Interessen des Westens als die des Ostens. Auch in dieser Situation ist die Wahrnehmung eines wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen West und Ost der grundlegende Faktor; jetzt jedoch wird dieser „Rückstand“ des Ostens nicht als strukturelles Problem aufgefaßt, sondern als Folge von Versäumnissen bzw. aktiver Benachteiligung durch die Bundesregierung oder den Westen insgesamt.
Viertens schließlich wurde die intellektuell-charakterliche Diskriminierung des Ostens ebenfalls sehr schnell nach der Vereinigung zum Diskussionspunkt. Der „Besserwessi“, der arrogant und herablassend meint, den Ostdeutschen zeigen zu müssen, wie man Demokratie und freie Marktwirtschaft betreibt, ist schon beinahe ein Topos. Gleichzeitig wimmelt es nur so von tatsächlichen und vermeintlichen Vorurteilen zwischen West und Ost. Bürger 2. Klasse ist in diesem Zusammenhang als ein Reflex auf die tatsächliche und vermeintliche Überheblichkeit des Westens zu verstehen
Die Vermutung liegt nahe, daß alle vier hier dargelegten Bedeutungsaspekte in der sozialen Realität eine Rolle spielen, zumal sie eng miteinander verknüpft sein dürften und nur theoretisch wirklich trennbar sind. Allerdings ist ebenso zu vermuten, daß sich die Bedeutungsaspekte in ihrer relativen Wichtigkeit im Längsschnitt verändert haben.
III. Empirische Befunde
Abbildung 8
Tabelle 1: Die Ostdeutschen fühlen sich als Bürger 2. Klasse weil... Quelle: Eigene Darstellung
Tabelle 1: Die Ostdeutschen fühlen sich als Bürger 2. Klasse weil... Quelle: Eigene Darstellung
Wir werden im folgenden versuchen, mit den demoskopischen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ näher zu analysieren. Unsere Analysen stützen sich dabei auf Umfragedaten des EMNID-Instituts.
Die verfügbaren Daten für den Zeitraum 1990 bis 1997 zeigen zwei Auffälligkeiten:
Erstens entwickelt sich das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ in den meisten Bevölkerungsgruppen Ostdeutschlands tendenziell ähnlich; das heißt, fast überall ist eine Abnahme bis Ende 1995 sowie ein prägnanter Anstieg bis Anfang 1997 festzustellen. Dieser Anstieg wird allerdings von zwei Bevölkerungsgruppen nicht mitvollzogen, nämlich von den über 64jährigen sowie von den formal höher Gebildeten.
Zweitens existieren trotz der ähnlichen Gesamt-tendenz deutliche Einschätzungsunterschiede zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen. Diese Differenzen nahmen im Laufe der Zeit -besonders zwischen Ende 1991 und Ende 1995 -zu, durch den Anstieg bis Anfang 1997 werden sie zwar etwas abgemildert, dennoch besteht längst nicht mehr jene Homogenität, wie sie in den ersten ein bis zwei Jahren nach der Vereinigung sichtbar wurde: In zunehmendem Maße nämlich fühlen sich die ostdeutschen Rentner und Pensionäre, die 18-bis 29jährigen, die höher Gebildeten, die Bewohner Sachsens sowie die CDU-Wähler gleichberechtigter als der Durchschnitts-Ostdeutsche.
Es scheint somit, als würde das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ im Zeitverlauf immer stärker mit wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung gefüllt. Während sich zunächst fast alle Bürger Ostdeutschlands als Bürger 2. Klasse fühlten -anscheinend weitgehend unabhängig von ihrer individuellen Situation -, gerät die Einschätzung immer stärker unter den Einfluß der objektiven oder subjektiven individuellen sozioökonomischen Verortung in der neuen Gesellschaft bzw. unter den Einfluß der auf das Umfeld bezogenen wirtschaftlichen Wahrnehmungen; das Gefühl reagiert damit gleichsam auf die objektiven oder subjektiven sozialen Auf-und Abstiegsbewegungen bzw. -bedrohungen, denen jeder Ostdeutsche seit der Vereinigung ausgesetzt ist.
Die Erklärung mit sozioökonomischen Faktoren wird durch die Umfragedaten bestärkt. Vergleicht man die Entwicklung des Gefühls „Bürger 2. Klasse“ mit dem Verlauf von subjektiv wahrgenommenen Wirtschaftsindikatoren, stößt man in den Verläufen sowohl auf Abweichungen als auch auf Übereinstimmungen: Die vergleichsweise kurzfristigen Schwankungen der wirtschaftlichen Erwartungen werden vom Gefühl, „Bürger 2. Klasse“ zu sein, nicht nachvollzogen; allerdings entspricht die Entwicklung des Gefühls in der Grundtendenz der der Wirtschaftswahrnehmungen: Die negativen Wirtschaftserwartungen gehen nach einem kurzen und nur geringen Anstieg zwischen Ende 1990 und Mitte 1991 bis Mitte 1994 deutlich zurück, um dann bis Zum Frühjahr 1996 wieder sehr stark anzuwachsen. Das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ scheint dieser Entwicklung in zeitlichem Abstand zu folgen, ist somit von Anfang an ein Reflex auf die Einschätzung der wirtschaftlichen Situation im Osten. Obwohl das Gefühl immer ein Reflex auf die wirtschaftliche Situation des Ostens bleibt, kommt es im Zeitverlauf zu einem Bedeutungswandel des Gefühls: Es basiert immer weniger auf der Wahrnehmung, historisch bedingt im ärmeren Teil Deutschlands zu leben; die Wahrnehmung wird stattdessen zunehmend mit Versäumnis-oder sogar Diskriminierungs-Vorwürfen an den Westen insgesamt bzw. an die Bundesregierung verbunden. Für einen Bedeutungswandel spricht zum einen die Ausdifferenzierung der sozioökonomischen Basis des Gefühls sowie der im Zeitverlauf zunehmende Zusammenhang zwischen dem Gefühl und anderen, auf die politische Lage bzw. auf die Regierungszufriedenheit bezogenen Einstellungen: Vergleicht man nämlich den Verlauf des Gefühls „Bürger 2. Klasse“ mit der Entwicklung der Unzufriedenheit mit der politischen Lage und der Bundesregierung, zeigt sich bis Ende 1993 eine markante Gegenbewegung. Während das Benachteiligungsgefühl der Ostdeutschen langsam, aber stetig abnimmt, wächst die Unzufriedenheit mit der politischen Lage und der Regierung. Seit 1994 jedoch bewegen sich alle Indikatoren mit gleicher Tendenz. Das heißt, in den ersten Jahren nach der Vereinigung verläuft die Entwicklung des Gefühls „Bürger 2. Klasse“ anscheinend losgelöst von den Einstellungen zur politischen Lage und zur Bundesregierung; spätestens seit Mitte der neunziger Jahre aber existiert ein deutlicher Bezug. Das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ ist somit endgültig zu einem Indikator geworden, der politischen Zündstoff enthält. Wenn dieses Gefühl also ein Politikum geworden ist und zugleich eine massive Ausbreitung des Gefühls seit Ende 1995 festzustellen ist, ist die politische Lage um so ernster. Allerdings sehen wir das Gefühl getreu dem Motto „It’s the economy, stupid!“ zuallererst in Abhängigkeit von den wirtschaftsbezogenen Wahrnehmungen; das heißt, das Gefühl ist für uns nicht Ausfluß langfristig stabiler Einstellungen, sondern das Resultat relativ kurzfristiger Einflußfaktoren. In dem Moment, in dem sich die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland verbessert, wird auch das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ wieder zurückgehen. „It’s the economy, stupid!“, so behaupten wir; gerade die Ausbreitung des Gefühls seit Ende 1995 ist ein Indikator dafür. Ein Ansatz, der das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ vor allem auf die intellektuell-charakterliche Ablehnung und Abwertung der Ostdeutschen zurückführt kann unseres Erachtens den plötzlichen Anstieg seit 1995 nicht erklären.
Wie schätzen die Ostdeutschen jedoch das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ eigentlich selbst ein? Zur Beantwortung dieser Frage haben wir zunächst in Form einer offenen Abfrage zu ermitteln versucht, welche Aspekte dem Gefühl „Bürger 2. Klasse“ von Ostdeutschen zugeschrieben werden. Die Auswertung der Antworten hat gezeigt, daß in dieser Frage ein großes Mitteilungsbedürfnis bei den Befragten aus den neuen Bundesländern besteht. Auf Basis der Antworten wurde dann eine Liste mit 20 Aussagen entwickelt (vgl. Tabelle 1), die in einer weiteren Umfrage getestet wurde.
Im Rahmen einer Faktorenanalyse mit den 20 Aussagen (vgl. Tabelle 1) konnten vier Dimensionen (vgl. Tabelle 2) extrahiert werden, die inhaltlich plausibel interpretiert werden können.
Der Blick auf Tabelle 2 zeigt, daß die von Pollack favorisierten Abwertungsaspekte offenbar nicht die zentrale Rolle beim Gefühl, „Bürger 2. Klasse zu sein, spielen. Maßgeblich sind hingegen -eher persönliche -ökonomische Benachteiligungsempfindungen. Vor allem werden Unterschiede bei Lohn und Gehalt oder die hohe Arbeitslosigkeit im Osten genannt. Daneben spielt nach wie vor die Einschätzung eine Rolle, in dem strukturell -also durch die 40jährige Teilung und die DDR„Mißwirtschaft“ -benachteiligten Gebiet zu leben. Eine dritte Dimension bezieht sich auf eher allgemeine ökonomische Aspekte, wobei hier sehr stark die aktive Diskriminierung durch den Westen betont wird („Westen macht den Osten platt“; „kein Interesse am Aufbau Ost“). Erst an vierter Stelle und damit am wenigsten relevant sind schließlich die von Pollack genannten „Abwertungsaspekte“, das heißt, eine Geringschätzung der Ostdeutschen durch die Wessis, da Statements wie „Wessis verachten die Ossis“, „Wessis akzeptieren die Ossis nicht“ oder „Wessis halten Ossis für dumm und faul“ am seltensten als Gründe für das „Bürger-2. Klasse“ -Gefühl ge-nannt wurden. In einer weiteren Umfrage wurde schließlich nicht nur eine Auswahl der wichtigsten Aussagen nochmals abgefragt, sondern auch die „Bürger 2. Klasse“ -Frage gestellt, um die Befunde unmittelbar miteinander in Beziehung setzen zu können (vgl. Tabelle 3).
Wiederum rangieren ökonomische sowie „historische“ Aspekte -nicht aber intellektuell-mentale Abwertungsaspekte -ganz oben auf der Zustimmungsskala, und zwar nicht nur bei allen Ostdeutschen, sondern auch bei denjenigen, die sich selbst als Bürger 2. Klasse fühlen. Setzt man die Aussagen im Rahmen einer Regressionsanalyse in Beziehung zum Gefühl „Bürger 2. Klasse“, so zeigt sich das in der Tabelle 4 dargestellte Bild.
Mit einer Erklärungskraft von 20 Prozent steht die ökonomische Benachteiligung ganz oben auf der Liste. An zweiter Stelle -immerhin -folgt mit 10 Prozent Abwertung im Sinne Pollacks. Damit zeigt sich die Relevanz beider Dimensionen -allerdings mit deutlichem Vorrang für die Ökonomie.
IV. Diskussion
Abbildung 9
Tabelle 2: Die Dimensionen des Gefühls „Bürger 2. Klasse“ Quelle: Eigene Darstellung
Tabelle 2: Die Dimensionen des Gefühls „Bürger 2. Klasse“ Quelle: Eigene Darstellung
Das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ hat ganz offensichtlich mehrere Dimensionen oder Bedeutungsaspekte, die sich im Laufe der Zeit in ihrer relati-ven Wichtigkeit verändert haben. Zwar haben die von Detlef Pollack thematisierten intellektuell-charakterlichen Abwertungsfaktoren eine nicht zu unterschätzende Bedeutung; verglichen mit sozioökonomischen Benachteiligungsempfindungen aber spielen sie nur eine sekundäre Rolle. Das Gefühl „Bürger 2. Klasse“ fußt primär auf diesem sozioökonomischen Benachteiligungsempfinden, das heute weitaus stärker als in den ersten ein bis zwei Jahren nach der Vereinigung die Ursachen der Benachteiligung im Nichtfunktionieren des politischen Systems (west-) deutscher Prägung verortet. In den Jahren unmittelbar nach der Vereinigung wurde das wirtschaftliche und soziale West-Ost-Gefälle eher noch als Erbe der Teilung und der DDR-„Mißwirtschaft“ empfunden. Daß sich aber die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse in den Augen vieler Ostdeutscher auch im siebten Jahr der Vereinigung noch nicht denen des Westens angeglichen haben, ist nun in erster Linie ein Versäumnis der Bundesregierung bzw.des Westens insgesamt. Und es ist damit auch ein Zeichen für Mißfunktionen in dem vom Westen importierten politischen System. Kein Wunder also, wenn die Unterstützung für dieses System zurückgeht; kein Wunder, wenn es zu einer -vielleicht auch verklärten -Rückbesinnung auf durch den Sozialismus propagierte WIerte kommt. Die Erkenntnis, daß Wohlstand zu vermehrter Akzeptanz desjenigen Systems führt, das den Wohlstand generiert, ist alt. Wir finden ein hervorragendes Beispiel hierfür in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands; wir finden Beispiele in den unterschiedlich erfolgreich ablaufenden Transformationsprozessen osteuropäischer Staaten; und wir sehen dafür ständig Beispiele im Rahmen unserer Meinungsumfragen in der Bundesrepublik -auch in den alten Bundesländern: Je mehr der eigene soziale Status als gesichert wahrgenommen wird, desto uneingeschränkter ist die Befürwortung des politischen Systems -und umgekehrt. Wenn also die Bundesregierung in ihrem „Bericht zum Stand der deutschen Einheit“ die „innere“ von der „materiellen“ Einigung unterscheidet, so ist dies falsch: Es gibt nur die materielle -erst wenn diese erreicht ist, kann man in anderen Bereichen Angleichungen erwarten.
In Wirklichkeit also haben wir es hier gar nicht mit der Frage der „inneren Einheit“ oder gar der „inneren Mauer“ zu tun, sondern mit der Frage der materiellen Einheit. Das Gefühl, „Bürger 2. Klasse“ zu sein, kann unseres Erachtens nicht als Indikator für eine „Mauer“ herhalten, da es heute stärker denn je in Abhängigkeit von ökonomischen Wahrnehmungen zu sehen ist und somit deutlichen Schwankungen unterliegt. Wenn man schon die Frage nach der „inneren Mauer“ stellen muß, läßt sie sich nur anhand eines wirklich harten Indikators beantworten, nämlich anhand des Wunsches der Ostdeutschen, die Vereinigung rückgängig zu machen. Man muß nicht lange mutmaßen, wie die Bewohner der neuen Bundesländer zu dieser Frage stehen: Im September 1997 sprachen sich in einer EMNID-Umfrage ganze 13 Prozent der Ostdeutschen für das Rückgängigmachen der deutsch-deutschen Vereinigung aus; 84 Prozent bevorzugten hingegen den Status quo -zurück zur alten DDR will also praktisch keiner mehr.
Es ist somit nicht der Abbau der vermeintlichen „Überheblichkeit des Westens“, sondern vielmehr eine durchgreifende Änderung der Verhältnisse auf wirtschaftlicher Ebene, die einen Rückgang des Gefühls „Bürger 2. Klasse“ bewirken und den entscheidenden Beitrag zur „Einheit Deutschlands“ leisten wird. Mit anderen Worten: „It’s the economy, stupid!“
Dieter Walz, Dr. rer. pol., geb. 1964; Studium der Politikwissenschaft in Bamberg und an der University of the South, Sewanee (USA); Political Consultant und Studienleiter im Bereich Politik-und Sozialforschung beim EMNID-Institut, Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Gert Pickel) Politikverdrossenheit in Ost-und Westdeutschland: Dimensionen und Ausprägungen, in: Politische Vierteljahresschrift, (1997) 1; Einstellungen zu den politischen Institutionen, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997. Wolfram Brunner, M. A., geb. 1968; Studium der Politik-und Kommunikationswissenschaften in Göttingen und an der University of California, Riverside; Political Consultant und Studienleiter im Bereich Politik-und Sozialforschung beim EMNID-Institut, Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: Parteienstrategien und Wählerreaktionen. Auf der Suche nach Bundestagswahlkampfeffekten 1972-1994, München 1998 (i. E.).
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