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Die Paulskirche in der politischen Ideengeschichte Deutschlands | APuZ 3-4/1998 | bpb.de

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APuZ 3-4/1998 Jahrestage 1998. Ein historischer Spaziergang auf der Achter-Bahn Das Parlament als Nation Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Die Paulskirche in der politischen Ideengeschichte Deutschlands Das Erbe der Paulskirche: Parteienstaat ohne Staatsräson? Artikel 1

Die Paulskirche in der politischen Ideengeschichte Deutschlands

Wilhelm Bleek

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Zusammenfassung

Das Verfassungswerk der konstituierenden deutschen Nationalversammlung, die 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche tagte, steht in der Kontinuität der politischen Ideengeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, obwohl ihr oft beschworenes „Scheitern“ diese Traditionslinien weitgehend verdunkelt hat. Dieses Experiment, politische Ideen in die Praxis umzusetzen, wurde getragen von Volksvertretern aller politischer Schattierungen -nicht nur der verschiedenen Strömungen des Liberalismus, sondern auch des gemäßigten Konservativismus, des demokratischen Radikalismus und des politischen Katholizismus. Die meisten Abgeordneten der Paulskirche hatten schon in der Vormärzzeit vor allem als Hochschullehrer und Schriftsteller daran mitgewirkt, politische Theorien insbesondere auf dem Gebiet der freiheitlichen Grundrechte, der nationalstaatlichen Einheit, des Föderalismus, des Parlamentarismus und einer konstitutionell-rechtsstaatlichen Ordnung zu formulieren und zu verbreiten. Die 1849 nicht in der politischen Wirklichkeit realisierbaren Ideen der Paulskirche haben nicht nur auf die Reichsverfassungen von 1871 und 1919, sondern insbesondere auf die Verfassungsdiskussionen im Parlamentarischen Rat 1948 und damit auf das Grundgesetz ausgestrahlt; selbst die DDR hat Lippenbekenntnisse zur Vollendung des Erbes von 1848/49 abgegeben. Die Bundesrepublik Deutschland konnte unter letztlich günstigeren außen-und innenpolitischen Rahmenbedingungen das ideengeschichtliche Erbe der Paulskirche im Hegelschen Sinne „aufheben“ und an unterbrochene Kontinuitäten Deutschlands als einer „westlichen Demokratie“ anknüpfen. Das doppelte Jubiläumsjahr 1998 bietet Gelegenheit, diese ideengeschichtlichen Kontinuitäten von der Frankfurter Nationalversammlung 1848 zum Beginn der Verfassungsberatungen für die Bundesrepublik Deutschland 1948 umfassender und dauerhafter als bisher wahrzunehmen.

Ob es dem Werk der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, die 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche tagte, in diesem Jubiläumsjahr genauso ergehen wird wie in den vorangegangenen Gedenkjahren? Die Größe des idealistischen Aufbruchs wird beschworen und gleichzeitig die Tragik des Scheiterns an der politischen Wirklichkeit beklagt. Die Paulskirche wird auf diese Weise zu einem unglücklichen Intermezzo in der deutschen Geschichte stilisiert. Diese dramatisierende Sichtweise ist sicherlich im Hinblick auf die spannenden dreizehn Monate zwischen dem Zusammentritt der Nationalversammlung am 18. Mai 1848 und ihrer endgültigen Auflösung am 18. Juni 1849 berechtigt -jedoch werden leicht die Kontinuitäten übersehen, in denen auch diese Epoche der deutschen Geschichte steht. Es erscheint daher problematisch, von der Ablehnung der Frankfurter Reichsverfassung durch die ausschlaggebenden politischen Mächte auf ihre politische Bedeutungslosigkeit zu schließen Vielmehr ist darauf hinzuweisen, daß die Paulskirche -zumal im Hinblick auf die politische Ideengeschichte -kein isoliertes und gescheitertes Experiment war. Sie baute auf vorhergehenden Einsichten sowie Erfahrungen auf und wirkt, wenn auch vielfach nur verdeckt und indirekt, auf positive Weise bis in die Gegenwart der vereinigten Bundesrepublik Deutschland nach.

So ist das Werk der deutschen Nationalversammlung von 1848/49 als. ein Kristallisationspunkt innerhalb der Entwicklung Deutschlands während der beiden letzten Jahrhunderte zu sehen, der es nicht nur verdient, in allgemeinen Darstellungen politischen und Unter zur Geschichte besonderen -suchungen zur neueren Verfassungsgeschichte behandelt zu werden, sondern der auch in Arbeiten zur Entwicklung der politischen Ideen stärkere Berücksichtigung finden sollte

I. Ideenträger im Vormärz

Die verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung, die nach den revolutionären Ereignissen vom März 1848 zwei Monate später in Frankfurt am Main zusammentrat, stellte den Versuch dar, Ideen in die politische Praxis umzusetzen, die in den vorangegangenen Jahrzehnten in der politischen Öffentlichkeit und von der politischen Theoriediskussion entwickelt worden waren Dieser vorbereitende Charakter der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts schlägt sich im Begriff des Vormärzes für diesen Zeitraum nieder. Die Zeitgenossen allerdings konnten die folgenden Entwicklungen lediglich erahnen und standen vielmehr unter dem Eindruck der vorangegangenen Jahre. Ihr Denken wurde durch den Ausbruch der Französischen Revolution, aber auch die nachfolgende Schreckensherrschaft geprägt. Die große Mehrheit der politischen Denker und Schriftsteller des deutschen Vormärzes wollte zwar nicht zu den Verhältnissen eines Ancien regime vor 1789 zurück, sie wollten jedoch gleichzeitig das durch Revolutionen drohende Chaos vermeiden. In diesem Sinne sah der Freiburger Professor Carl von Rotteck in seinem Grundsatzartikel von 1837 über die „Bewegung und Bewegungspartei“ in dem von ihm und seinem Kollegen Carl Theodor Welcker herausgegebenen „Staats-Lexikon“ das vorrangige Merkmal von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der „Möglichkeit eines gesetzlichen Fortschreitens“ Mit diesem Prinzip einer anden Ideen von Vernunft und Ordnung orientierten Reform setzten sich viele Denker dieser Zeit sowohl von legitimistischen Restaurationsbemühungen als auch von revolutionärem Umsturz-denken ab.

Diese gemäßigten Vorstellungen dominierten auch die öffentliche Debatte im Vormärz. Zwar herrschten im Deutschen Bund unter dem „System Metternich“ polizeistaatliche Überwachung und rigide Zensur. Dennoch entfaltete sich im deutschen Bürgertum in jenen Jahren eine kritische Diskussions-und Lesegesellschaft. Das „Staats-Lexikon“ mit seinen 15 Bänden und 12 000 Seiten beispielsweise war ein berühmtes und weit verbreitetes Werk, das nicht nur in den Bücherschränken vieler Bürgerfamilien stand, sondern auch in den parlamentarischen Debatten der Paulskirche häufig zitiert wurde. So konstituierte sich im Vormärz in Deutschland eine bildungsbürgerliche Gesellschaft -eine Kulturnation, die zur Staatsbürgergesellschaft, zu einer Staatsnation strebte.

In Deutschland war das Bürgertum, im Vergleich zu England und Frankreich, weniger ein Ergebnis der wirtschaftlichen als vielmehr der geistigen Entwicklung. Seine ursprünglichen Träger waren nicht Gewerbetreibende und Unternehmer, sondern zunächst Beamte und Pfarrer, dann Lehrer, Anwälte, Notare, Ärzte und Apotheker, schließlich auch Schriftsteller und Journalisten. Ihnen allen war das hohe Selbstbewußtsein von Akademikern als Bildungsbürger gemeinsam. Nach den Humboldtschen Reformen vom Anfang des 19. Jahrhunderts, durch welche die deutschen Universitäten zu weltweitem Ansehen gelangt waren, wurden die akademischen Lehrkatheder zu Rednerbühnen und die geisteswissenschaftlichen Seminare und naturwissenschaftlichen Laboratorien zu Werkstätten von gesamtdeutscher Bedeutung. In der staatlich noch zersplitterten Nation repräsentierten die Universitäten bereits die ersehnte deutsche Einheit.

Die Professoren des Vormärzes waren nicht nur die akademischen Lehrer des Bildungsbürgertums, sondern zugleich auch seine öffentlichen Wortführer. Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theologen wie Friedrich Schleiermacher, Rechtsprofessoren wie Friedrich Carl von Savigny, Gemanisten wie Jacob und Wilhelm Grimm, Historiker wie Barthold Georg Niebuhr und Leopold von Ranke, aber auch Mathematiker wie Carl Friedrich Gauß, Physiker wie Joseph Fraunhofer und Chemiker wie Justus Liebig genossen hohes Ansehen weit über den Kreis ihrer Fachwissenschaft und der Universitäten hinaus.

Zu den eigentlichen Sprechern des Bürgertums und zu seinen politischen Helden wurden aber jene Hochschullehrer, die in einem doppelten Sinne als „politische Professoren“ tätig waren Sie ließen sich nicht nur als Abgeordnete der Universitäten und des Wahlvolkes in Ständevertretungen und Kammern wählen, sondern lehrten häufig auch das alte Fach der Politik, das an den europäischen Universitäten seit deren Gründung im Mittelalter mit wechselnden Inhalten gelehrt worden war. Häufig kamen diese Professoren durch ihre Aktivitäten in Lehre und Praxis der Politik in Konflikt mit der Obrigkeit. Der Höhepunkt des öffentlichen Engagements von Hochschullehrern im Vormärz war der Protest der als „Göttinger Sieben“ in die deutsche Geschichte eingegangenen Göttinger Professoren, die 1837 gegen die einseitige Aufhebung der hannoverschen Verfassung durch den neuen König Ernst August protestierten. Diese Professoren -mit dem Historiker und Politiklehrer Friedrich Christoph Dahlmann, dem Germanisten Jacob Grimm und dem Literaturhistoriker Georg Gervinus an der Spitze -verstanden ihren Widerspruch jedoch eher als einen moralischen denn einen politischen Akt. Dennoch wurden sie aufgrund ihrer Entlassung und Landesverweisung zu Märtyrern der volkstümlichen Sache und steigerten das politische Ansehen von Professoren im Vormärz ins Unermeßliche.

Es war daher nur folgerichtig, daß die breite Mehrheit des Bürgertums im Frühjahr 1848 den Professoren als den in ihrer gesellschaftlichen Klasse angesehensten Honoratioren vertraute und viele von ihnen in die verfassunggebende Nationalversammlung wählte. Das Etikett eines „Professorenparlaments“, das dem Paulskirchenparlament später meist in eher kritischer und herabsetzender Absicht aufgeklebt wurde, trifft jedoch rein statistisch nicht zu Mit Blick auf die zahlreichen Richter, Staatsanwälte, Advokaten, aber auch zumeist juristisch vorgebildeten Staats-und Kommunalbeamten könnte die Paulskirche eher als „Juristen-Parlament“ gesehen werden Doch wichtiger als die berufliche Zusammensetzung der 812 Mitglieder umfassenden Nationalversammlung -zu denen auch die nachgerückten Stellvertreter zu zählen sind -war die Tatsache, daß fast drei Viertel des Parlaments eine akademische Bildung hatten. An der Spitze standen dabei in der Tat die 49 Hochschullehrer. Neben Professoren der Rechtswissenschaft, der Philosophie, der Germanistik, der Geschichte, der Staatswissenschaft und der Nationalökomomie gehörten der Paulskirche auch 15 Universitätslehrer an, die im Vormärz über „Politik“ gelesen hatten In der Nationalversammlung waren diese Politik-Lehrer eine zahlenmäßig zwar kleine, aber durch ihren intellektuellen Einfluß herausragende Gruppe, die rasch an die Spitze des parlamentarischen Establishments rückte. So stellten sie auch die entscheidende Gruppe im besonders wichtigen Verfassungsausschuß dar. Hier war der Politikprofessor Friedrich Christoph Dahlmann, der zu fast allen Abschnitten der Reichsverfassung die Entwürfe ausarbeitete, nach Ansicht seines Parlamentskollegen Karl Jürgens der „herrschende Geist“

Diese politischen Intellektuellen, deren Kreis sich keineswegs auf die politischen Professoren beschränkte, erträumten sich von den parlamentarischen Beratungen und Entscheidungen des Jahres 1848/49 die Verwirklichung jener politischen Hoffnungen und Leitgedanken, die sie in den vormärzlichen Jahrzehnten diskutiert und konzipiert hatten So war die Revolution von 1848/49 zwar eine von den Ideen der vorangegangenen Jahrzehnte inspirierte, aber -wie ihre Träger leidvoll erfahren mußten -keine ideale Revolution.

II. Ideendiskurs der politischen Strömungen

In den Plenardebatten der deutschen Nationalversammlung, aber auch in der Arbeit ihrer Ausschüsse wurden jene politischen Ideen aufgegriffen, die schon die öffentliche Diskussion im Vormärz bestimmt hatten. Doch was im Vormärz mehr den Charakter von Denkströmungen gehabt hatte, wuchs nun über gesellige Formen in gemeinsamen Debattierlokalen zu parlamentarischen Fraktionen heran und wurde damit zum programmatischen Ausgangspunkt der Parteienbildung in Deutschland

Die zahlenmäßig größte parlamentarische Gruppe in der Paulskirche -wenn sie auch nie mehr als ein Viertel aller Abgeordneten umfaßte -waren die Anhänger einer organischen Staatskonzeption und gemäßigten Fortentwicklung der Verfassung, wodurch gleichzeitig Freiheit und Ordnung verwirklicht werden sollten. Diese Abgeordneten kamen zumeist aus Nord-und Westdeutschland und sind in der rechten Mitte des politischen Spektrums anzusiedeln. Die Verfassungskonzeption dieser historisch orientierten Liberalen setzte auf einen Ausgleich zwischen dem monarchischen Prinzip und der bürgerlichen Beteiligung durch Volksvertretungen. Sie wollten aus der Geschichte das in ihren Augen Bewährte erhalten und es nur durch behutsame Reformen fortentwickeln.

Der prominenteste unter diesen sich im „Casino“ organisierenden gemäßigten Liberalen war Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860). Sein 1835 erstmals und 1847 in einer überarbeiteten zweiten und unveränderten dritten Auflage veröffentlichtes Buch über „Die Politik“ war prototypisch für die historisch-organische Staatslehre des norddeutschen Liberalismus Der vollständige Titel des Buches drückte das politiktheoretische Grund-axiom des Autors aus: „Die Politik auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt“. Im Mittelpunkt der Überlegungen sollten nicht abstrakte Staatskonstruktionen, sondern die Untersuchung der „gegebenen Zustände“ als der vorfindbaren Wirklichkeit stehen. Deren „Grund“ im Sinne ihrer Ursache sah Dahlmann vor allem in der historischen Entwicklung. Gleichzeitig sollte Politik aber auch am „Maß“ einer „guten Verfassung“ bewertet werden, die für ihn in Anknüpfung an Aristoteles eine gemischte Verfassung war, in welcher sich monarchische, aristokratische und demokratische Elemente die Waage halten sollten.

Stärker den Positionen der Aufklärung und des Vernunftrechts verpflichtetet waren die südwest-deutschen Liberalen, die sich in der Fraktion des „Württemberger Hofes“ und später im „Augsburger Hof“ zusammenfanden. Sie knüpften an die Ideen der Französischen Revolution, aber auch an die politische Philosophie Kants an und stellten die Entfaltung von individueller Persönlichkeit, gesellschaftlicher Autonomie und staatsbürgerlicher Beteiligung in den Mittelpunkt. Im Hinblick auf die Verfassungsordnung legten sie eine stärkere Betonung auf die staatsbürgerliche Souveränität sowie die Rechte des Parlaments und wollten dem Monarchen lediglich ein aufschiebendes Vetorecht zugestehen. Insgesamt verfolgten sie die Konzeption einer parlamentarischen Monarchie.

Nachdem im Vormärz Carl von Rotteck (17751840) der führende Repräsentant des vernunft-rechtlichen, südwestdeutschen Liberalismus gewesen war, wurde dessen prominentester Vertreter in der Paulskirche der Tübinger und dann Heidelberger Professor der Staatswissenschaft Robert von Mohl. Er war mit seiner 1832/33 veröffentlichten „Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ einer der ideengeschichtlichen Väter der modernen Konzeption des sozialen Rechtsstaates und sprach sich für ein breites, auch sozialpolitsches Tätigkeitsfeld der öffentlichen Verwaltung sowie deren strikte rechtsstaatliche Bindung aus. Als einer der ersten in Deutschland wies Mohl auf die mit der Entstehung des modernen Industrieproletariats verbundene „soziale Frage“ hin und konzipierte 1843 in seinem Beitrag zum Staats-Lexikon über „Gewerbe-und Fabrik-wesen“ durchaus moderne Vorschläge wie die Gewinn-und Besitzbeteiligung von Arbeitern. 1846 wies Mohl in seiner Abhandlung „Über die verschiedene Aufnahme des repräsentativen Systems in England, Frankreich und Deutschland“ darauf hin, daß das zeitgenössische britische Regierungssystem nicht mehr auf einer konstitutionellen, sondern einer parlamentarischen Monarchie beruhe, und setzte sich für eine ähnliche Regierungsform in Deutschland ein.

Radikalere Positionen als die Liberalen in der Mitte des politischen Spektrums vertraten auf der Linken jene Demokraten, die schon im Vormärz die Monarchie durch die Republik ersetzen wollten und die Volksherrschaft anstrebten. Diese parlamentarische Gruppe postulierte die umfassende Gleichheit aller Menschen. Daraus leitete sie nicht nur ihr gesellschaftliches Programm der Aufhebung der Klassenunterschiede, sondern auch die politische Forderung nach einem allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht sowie einer wirklichen Herrschaft des Parlaments als der Vertretung des ganzen Volkes und nicht nur der gebildeten und besitzenden Schichten ab. Solchen „revolutionären“ Ideen hing in der deutschen Gesellschaft der Vormärzzeit nur eine kleine Minderheit von Intellektuellen an. Sie bestand aus radikalen Studenten und Privatdozenten und wurde nicht nur von den staatlichen Behörden im Rahmen der sogenannten Demagogenverfolgungen ins Gefängnis geworfen, ihrer Stellungen enthoben und zur Auswanderung gezwungen, sondern auch von der Mehrheit des Bildungsbürgertums aufgrund ihre Ideen eher gefürchtet.

Einer der wenigen Radikalen der Vormärzzeit und der Märzrevolution, der für die Demokratie nicht nur dichtete und agitierte, sondern auch ein einschlägiges politiktheoretisches Werk vorlegte, war Julius Fröbel (1805 -1893) In Thüringen geboren, wuchs er unter dem Einfluß seines Onkels, des Reformpädagogen und Begründers der Kindergartenbewegung Friedrich Fröbel, und damit auch im Geiste Rousseaus auf. Nach einer Exilzeit in der Schweiz kehrte Julius Fröbel 1846 nach Deutschland zurück und veröffentlichte in diesem Jahr zunächst anonym, im Jahr darauf unter seinem Namen ein zweibändiges Werk: „System der socialen Politik“ Dann entwickelte der Linkshegelianer eine demokratische Staats-und Gesellschaftslehre, die auf den fortschrittlichen Prinzipien von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Selbstverwirklichung in Assoziationen sowie der Organisation eines Volksstaates basierte. Nimmt man noch Fröbels Votum für eine umfangreiche Sozialpolitik hinzu, durch welche jedem Staatsbürger nicht nur ein Existenzminimum, sondern auch der Erwerb von Eigentum ermöglicht werden sollte, so kann man in seinem Politikentwurf einen Vorgriff auf spätere Konzeptionen einer sozialen Demokratie sehen.

So war es selbstverständlich, daß Fröbel, der Anfang Oktober 1848 als Stellvertreter in die deutsche Nationalversammlung nachrückte, sich dem parlamentarischen Lager der radikalen Demokraten anschloß, die für eine unbedingte Revolution eintraten. Julius Fröbel wurde kurz danach zusammen mit Robert Blum als dem anerkannten Wortführer der parlamentarischen Linken nach Wiengesandt, um den dortigen Aufständischen eine Sympathieadresse zu überbringen. Beide wurden von der Obrigkeit verhaftet und zum Tode verurteilt, Fröbel jedoch begnadigt. Nach der Teilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament und dem badischen Aufstand im Mai 1849 mußte er in die Vereinigten Staaten emigrieren, um dann später als deutscher Konsul im türkischen Smyrna und in Algier seinen Frieden mit dem Kaiserreich von 1871 zu schließen, wie es auch viele andere frühere Radikale getan haben.

Sozialistische und kommunistische Positionen, wie sie im Vormärz von kleinen revolutionären Intellektuellenzirkeln entwickelt wurden, waren in der Nationalversammlung nicht vertreten. Sie nahmen vielmehr Einfluß auf außerparlamentarische Bewegungen wie den ersten Demokratenkongreß, der zu Pfingsten 1848 in Frankfurt stattfand und unter anderem eine „deutsche demokratische Republik“ forderte. Schon am Vorabend der Märzrevolution hatten Karl Marx und Friedrich Engels im Februar 1848 ihr „Manifest der Kommunistischen Partei“ mit der Prognose abgeschlossen, daß „die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann“ Seit dem 1. Juli 1848 gaben die beiden Gründungsväter des Kommunismus in Köln die „Neue Rheinische Zeitung“ heraus, in der sie die Frankfurter Nationalversammlung einschließlich ihrer linken Fraktionen als „Schwatzklub“ diffamierten und ihrer bürgerlichen Mehrheit einen feigen Kompromiß mit den alten Kräften des Feudal-und Polizeistaates zu Lasten des Volkes vorwarfen

In der Paulskirche waren jedoch neben den Ideen der äußersten Linken auch die Auffassungen der äußersten Rechten, die mit dem Berner Professor der Staatswissenschaften Carl Ludwig von Haller eine pauschale Restauration der alten Verhältnisse forderte, nicht vertreten. In der rechten Parlamentsfraktion „Cafe Milani“ fanden sich vielmehr eher gemäßigte Konservative zusammen. Sie wollten in der Argumentationstradition des englischen Politikers und Publizisten Edmund Burke die Gefahren der Aufklärung, des Individualismus und des Rationalismus zurückdrängen und ihnen die Ideen der politischen Romantik, die Betonung des Gefühls, den Aspekt der Geschichtlichkeit und die Bedeutung des Organismus entgegensetzen. Die alte Ordnung sollte nicht pauschal wiederhergestellt, sondern lediglich in ihren wichtigsten Elementen -wie der Bewahrung des überlieferten gesellschaftlichen Gefüges, des staatlichen Vorrangs der Monarchen und vor allem der Respektierung einer der Politik übergeordneten religiös-sittlichen Ordnung -fortgeführt werden.

Der renommierteste Staatstheoretiker des Konservativismus war Friedrich Julius Stahl (1802-1861), der 1848/49 der preußischen Nationalversammlung an seinem Universitätsort Berlin angehörte und später Führer der konservativen Fraktion im preußischen Herrenhaus wurde Er stammte aus einer in Bayern lebenden jüdischen Kaufmanns-familie und konvertierte 1819 zum evangelischen Glauben. 1840 wurde der anerkannte Staatsrechtler und Rechtsphilosoph durch den ihm gleichgesinnten neuen König Friedrich Wilhelm IV, den „Romantiker auf dem Thron“, an die Universität Berlin berufen.

Stahls politische Theorie kann mit dem Untertitel des 1837 erschienenen zweiten Bandes seiner „Philosophie des Rechts“ als eine „Rechts-und Staatslehre auf der Grundlage der christlichen Weltanschauung“ charakterisiert werden. Demzufolge war für den strenggläubigen Lutheraner die gesamte Weltordnung eine Ordnung Gottes und die jeweilige Obrigkeit von Gott eingesetzt, somit standen aber auch der Staat und der Monarch unter Gott und seinem Gesetz. Die staatsrechtlich-politischen Konsequenzen aus dieser rechtsphilosophisch-theologischen Grundposition veröffentlichte Stahl 1845 in einer einflußreichen Programmschrift über „Das Monarchische Princip“ Demnach kam dem mit umfangreichen Prärogativen ausgestatteten Herrscher der Vorrang im politischen System zu, die Volksvertretung hingegen sollte sich auf eng begrenzte Funktionen der Gesetzgebung beschränken. Doch gleichzeitig nahm Stahl liberale Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, Repräsentativsystem und vor allem Gewährung einer Verfassungsordnung in seine Konzeption auf. Auf diese Weise versöhnte er den preußischen Konservativismus mit dem Konstitutionalismus. Damit bahnte Stahl der bis 1918 in Deutschland dominierenden Verfassungskonzeption einer konstitutionellen Monarchie den Weg. Dies sollte sich als ein europäischer Sonderweg erweisen, der durch die politische Verwirklichung der Ideen der Paulskirche vermutlich hätte vermieden werden können und der erst in der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik sowie der Bundesrepublik Deutschland verlassen worden ist.

Auch viele prononciert katholische Denker und Politiker der Vormärzzeit fanden sich in der Nationalversammlung im konservativen Lager. Dort standen sie Seite an Seite mit den Repräsentanten des evangelischen Glaubens in ihrer Ablehnung sowohl der atheistischen Ideen der Französischen Revolution als auch der auf strikte Trennung von Kirche und Staat hinauslaufenden laizistischen Vorstellungen vieler Liberaler. Diese politische Einheit von Katholizismus und Protestantismus wurde aber bereits im Vormärz durch die Konflikte zwischen katholischer Kirche und preußischer Staatsgewalt gefährdet, wobei vor allem die Frage der christlichen Schulen, die Anerkennung von Mischehen und allgemein die Bindung der Katholiken an die päpstliche Autorität in Rom eine Rolle spielten. Vor allem die öffentliche Auseinandersetzung um die Amtsenthebung des Kölner Erzbischofs im Jahr 1837 führte auch in Deutschland zur Formierung eines politischen Katholizismus In der deutschen Nationalversammlung waren 1848/49 katholische Abgeordnete in allen Fraktionen vertreten, neben dem konservativen „Cafe Milani“ insbesondere im rechtsliberalen „Casino“. Zur Beratung der besonders brisanten Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat fanden sich 30 bis 40 katholische Abgeordnete in einem interfraktionellen Klub zusammen. Der Sprecher dieser Gruppe wurde nach seinem Eintritt in die Nationalversammlung im Dezember 1848 Franz Joseph Buß, der zuvor Anfang Oktober 1848 in Mainz die Generalversammlung der „Piusvereine für religiöse Freiheit“ geleitet hatte, die mit an die 100 000 Teilnehmern faktisch den ersten deutschen Katholikentag darstellte.

Franz Joseph Buß (1793-1878) war wie zahlreiche seiner katholischen Parlamentskollegen in der Paulskirche ein Vorkämpfer des sozialen Katholizismus Er hatte 1836 die Freiburger Professur für Staatswissenschaft und Völkerrecht von dem entlassenen Carl von Rotteck übernommen. Angeregt durch seine eigenen Kindheitserfahrungen als Sohn eines Schneiders im verarmten Schwarzwald prangerte er 1837 im badischen Landtag in der ersten parlamentarischen Rede zum Pauperismus die materiellen und immateriellen Nöte der unteren Schichten an und forderte -inspiriert durch Robert von Mohl -ein Eingreifen des Staates Auch Wilhelm von Ketteier, der spätere Bischof von Mainz, und andere Repräsentanten des politischen Katholizismus in der Paulskirche verbanden konservative mit sozial-karitativen Grundauffassungen. Sie nahmen nicht nur in der Nationalversammlung erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der Grundrechte, sondern regten auch die späteren Debatten um Sozialpolitik und Sozialstaat an. Somit wurden sie im Deutschen Reich von 1871 zu Gründungsmitgliedern der Zentrumspartei als der politischen Vertretung der Katholiken.

III. Verfaßte Ideen

Die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung, die sich am 18. Mai 1848 konstituierte, und vor allem ihr am 24. Mai 1848 gewählter Verfassungsausschuß hatten zum Ziel, die politischen Ideen des Vormärzes durch verfassungsrechtliche Kodifizierung in die politische Wirklichkeit umzusetzen. Bei diesen Bemühungen kam die erste Priorität der Erarbeitung und Inkraftsetzung eines Kanons von freiheitlichen Grundrechten zu, waren diese doch „die Glaubensartikel der bürgerlichen Konfession und der Sinn des Verfassungsstaates“ Aufgrund einer Vorlage, welche ein Unterausschuß von drei Mitgliedern, von denen mit Dahlmann und Mohl zwei Politik-Professoren waren, konzipierte, konnte der Verfassungsausschuß in weniger als vier Wochen einen Grundrechtsentwurf erarbeiten. Mit diesem Entwurf beschäftigte sich dann das Plenum der Nationalversammlung über ein halbes Jahr lang, wobei insbesondere Grundfragen des Verhältnisses von Staat, Kirche und Schule sowie einer Wirtschaftsund Sozialordnung umstritten waren Am 27. Dezember 1848 verabschiedete die Nationalversammlung das „Reichsgesetz betreffend dieGrundrechte des deutschen Volkes“, das sofort in Kraft gesetzt und später in die „Verfassung des Deutschen Reiches“ vom 28. März 1849 integriert wurde.

Die intensive Erörterung von Grundrechten in der Paulskirche stand in einer ideengeschichtlichen Tradition, die durch die Virginia Bill oft Rights von 1776 begründet und in der französischen Erklärung von Menschen-und Bürgerrechten von 1789 fortgeführt worden war Sie setzte die einschlägige Diskussion des deutschen Vormärzes um, indem sie nicht nur die polizeistaatlichen Ausnahmegesetze des Deutschen Bundes aufhob, sondern vor allem die feudal-patrimonialen Rechtsstrukturen auf dem Lande für verfassungswidrig erklärte. Die allgemeine staatsbürgerliche Gleichheit wurde postuliert und insbesondere der Adel als Stand aufgehoben, nachdem Jacob Grimm in einer bewegenden Rede erklärt hatte: „Der Adel ist eine Blume, die ihren Geruch verloren hat, vielleicht sogar ihre Farbe. Wir wollen die Freiheit, als das Höchste, aufstellen, wie ist es dann möglich, daß wir ihr noch etwas Höheres hinzugeben?“

Im Mittelpunkt der vom Paulskirchenparlament verabschiedeten Grundrechte stand aber nicht die Aufhebung der unfreien Vergangenheit, sondern die Gewährleistung von Person und Eigentum als Voraussetzung freiheitlicher Entfaltung der Staatsbürger. Gleich an den Anfang des Grundrechtskatalogs stellte die Reichsverfassung von 1849 das deutsche Reichsbürgerschaftsrecht, das als Grundlage der Einheit der Nation gelten sollte. Dies geschah nach einer langen und auch heute noch lehrreichen Debatte über das Staatsbürgerschaftsrecht Ferner wurden die Vereins-und Versammlungsfreiheit sowie das allgemeine Wahlrecht als staatsbürgerliche Grundrechte verankert. Das in der deutschen Nationalversammlung repräsentierte Bildungsbürgertum sah nicht nur die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Meinungsund Wissenschaftsfreiheit, sondern auch die Garantie eines öffentlichen Schulwesens als selbstverständlich an. Ein höchst umstrittenes Thema waren alle das Verhältnis von Staat und Religion betreffenden Verfassungsbestimmungen. Insbesondere die Katholiken nahmen durch wahre Petitionsstürme Einfluß auf die Beratungen der Nationalversammlung. Auf diese Weise konnten sie zwar die Autonomie der Kirchen sichern, aber z. B. die Oberaufsicht des Staates über das Unterrichtswesen und die Verankerung der Zivilehe nicht verhindern.

Rechtsstaatliche Garantien im Bereich der Justiz hatten schon im Vormärz im Mittelpunkt der Forderungen des liberalen Bürgertums gestanden. In der Paulskirchenverfassung wurde nicht nur allgemein die Unabhängigkeit der Rechtspflege, sondern auch die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen, die Einführung von Schwurgerichten und die Abschaffung der Todesstrafe garantiert. Das Reichsgericht an der Spitze der Rechtsprechung sollte nicht nur die traditionelle Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den Organen des Reiches sowie der Zentralgewalt und den Einzelstaaten gewährleisten, sondern sollte auch über Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen . durch die Reichsverfassung gewährten Rechte entscheiden -ein Vorgriff auf den erst über 100 Jahre später mit der Einführung der Verfassungsbeschwerde gewährten individuellen Grundrechtsschutz.

Den Mitgliedern der Nationalversammlung von 1848/49 ist häufig vorgeworfen worden, sie hätten sich mit ihren Bemühungen um ein detalliertes Grundrechtssystem maßgeblich auf idealistische Fragen konzentriert, anstatt sich vorrangig den realpolitischen Fragen der staatlichen und nationalen Organisation des Deutschen Reiches zu widmen. Diese gängige Kritik übersieht nicht nur leicht, daß die nationale Einheit 1848/49 weniger aus innenpolitischen denn aus außenpolitischen Gründen scheiterte. Vor allem verkennen Kritiker hier die Grundidee des Bürgertums, Freiheit und Einheit als sich gegenseitig bedingende und stützende, aber als nicht entgegengesetzte Ziele zu begreifen. Durch die Gewährung von freiheitlichen Grundrechten für alle Deutschen sollten diese zu einer Staatsbürgernation integriert werden. In diesem Sinne schrieb Theodor Mommsen, damals junger Leipziger Extraordinarius der Rechtswissenschaft, in einer gleich nach der Verabschiedung der deutschen Grundrechte veröffentlichten Schrift „von Deutschlands Einheit..., die nicht aufblühen kann, bevor die Kleinstaaterei beseitigt ist und in Einem großen Staate alle Deutschen frei athmen und weder den Nachbarn fürchten noch die Polizei“ Mehrheitlich war sich das zeitgenössische Bürgertum darin einig, daß freiheitliche Strukturen nicht in partikularistischenKleinstaaten, sondern nur in einem gesamtdeutschen Nationalstaat gewährleistet werden konnten. In diesem Sinne hatte Heinrich von Gagern schon in der zweiten Sitzung der Nationalversammlung am 19. Mai 1848, nachdem er mit großer Stimmenmehrheit zu deren Präsidenten gewählt worden war, erklärt: „Wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen. Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesammte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation ... Deutschland will Eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes, unter der Mitwirkung aller seiner Gliederungen.“

Doch so einig man sich im Ziel der Nationalstaats-bildung war, so konfliktträchtig war seine Umsetzung. Vor allem die Bestimmung dessen, was zu einem geeinten Deutschland gehören sollte und wer als Deutscher zu gelten habe, war umstritten. Von Anfang an stand die Gründung des deutschen Nationalstaates vor dem Problem seiner äußeren Grenzen und geriet dabei in Konflikt mit den Nationalbewegungen seiner Nachbarn. So wurde z. B. die Zugehörigkeit des ungeteilten Schleswig-Holsteins zum Deutschen Reich nach der Einverleibung Schleswigs Ende März 1848 in den dänischen Staatsverband in der Paulskirche unter der Wortführerschaft Dahlmanns, Waitz’ und anderer norddeutscher Professoren zu einer Frage der „Ehre von Deutschland“ Der nationale Konflikt um die beiden Herzogtümer gipfelte schließlich im September 1848 mit der dramatischen Krise um den Malmöer Waffenstillstand in einem sowohl außenpolitischen als auch innenpolitischen Wendepunkt in der Geschichte der Nationalversammlung. Diese Krise führte dem deutschen Volk und dessen Vertretern die tatsächliche Machtlosigkeit des reformgesinnten Parlaments vor Augen und stimulierte nicht nur auf der Rechten die reaktionäre Gegenrevolution, sondern auch auf der Linken den außerparlamentarischen Aufruhr.

Noch problematischer wurde die Realisierung der Idee der Nation an der Ostgrenze des Reiches. Hier unterstützte die Mehrheit der in der Pauls-kirche versammelten Abgeordneten zunächst die Wiedererrichtung des polnischen Nationalstaates, argumentierte jedoch dann für die Einbeziehung der ganzen preußischen Provinz Posen -trotz ihrer überwiegend nichtdeutschen Bevölkerung -in einen deutschen Nationalstaat. Die hier zugrunde-liegende Argumentation der kulturellen historischen Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Slawen wurde besonders von Abgeordneten der Linken vertreten -und auch von Marx und Engels geteilt. Eine ähnliche Ambivalenz zwischen internationaler Völkerverbrüderung und nationalistischen Expansionsbestrebungen offenbarte die deutsche Nationalbewegung im Südosten gegenüber der böhmischen und im Süden gegenüber der italienischen Nationalbewegung, während im Westen der Streit um das Herzogtum Limburg zum Konflikt sowohl mit'den Niederlanden als auch mit Großbritannien und Frankreich führte. Überlagert wurden diese Grenzkonflikte durch die große Auseinandersetzung um die Mitgliedschaft der Österreicher im Deutschen Reich und das Beharren der Habsburger Monarchie auf der Einheit ihres Reiches. Dieser Konflikt führte am 27. Oktober 1848 zu dem nationalstaatlichen Grundsatzbeschluß, daß kein Teil des Deutschen Reiches mit nichtdeutschen Ländern in einem Staate vereint sein kann. In letzter Konsequenz bedeutete dies den Übergang von einem großdeutschen zu einem kleindeutschen Verständnis der deutschen Nationalidee.

Diese Konfliktlinien lassen die zwei Seiten der nationalen Bewegung deutlich werden: der demokratische Aspekt der gegenseitigen Achtung und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker auf der einen sowie die imperialistische Perspektive des Vorrangs der eigenen Nation gegenüber fremden Völkern auf der anderen Seite So ist 1848/49 nach Auffassung vieler, vor allem ausländischer Autoren auch als die Geburtsstunde des aggressiven deutschen Nationalismus zu sehen. Kritiker können sich nicht nur auf die Polenrede des bis dahin der demokratischen Linken angehörenden ostpreußischen Abgeordneten Wilhelm Jordan berufen, der am 26. Juli 1848 einen „gesunden Volksegoismus“ gegenüber den östlichen Nachbarn forderte Auch die Abschiedsrede des Greifswalder Rechtsprofessors Georg Beseler vom 19. Mai 1849 nach der Ablehnung der deutschen Kaiserwürde durch den preußischen König und damit dem faktischen Scheitern des Verfassungswerkes entwarf nochmals die Vision einer starken deutschen Nation: „Es ist das Bedürfnis nach Macht und einer Weltstellung, welches durchaus mit dem Streben nach Einheit verbunden ist, und damit wir dieses erreichen, dürfen wir nichtabstracten Freiheitsbestrebungen nachjagen, sondern müssen auch als Nation zusammenhalten und handeln, damit wir auch in der Fremde geachtet sind, daß wir unsere Flagge geschützt hinsenden nach fremden Welttheilen. Das ist es, was erst in der neuesten Zeit recht zum Bewußtsein gekommen ist, und dieses Gefühl, dieses Streben nach Macht und nach einer Theilnahme an den großen Weltgegebenheiten, nach einer selbständigen Theilnahme sichert uns eine Zukunft in Deutschland, die, wenn sie eintritt, erst zeigen wird, welche ungeheuren Kräfte und Schätze in der Nation verborgen sind.“

Leichter als mit der äußeren Umsetzung der nationalen Idee tat sich die deutsche Nationalversammlung mit deren innenpolitischer Konzipierung. In der Paulskirche trat nur eine radikale Minderheit auf der Linken für eine unitarische Republik als einen nationalen Einheitsstaat ein. Auch strebten auf der äußersten Rechten nur wenige partikularistisch eingestellte Abgeordnete einen Staatenbund an. Die liberale Mehrheit in der Mitte hingegen plädierte für das Modell eines Bundestaates. Dabei wurde nicht nur auf das Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika verwiesen, wofür sich insbesondere der Breslauer Staatswissenschaftler Johann Louis Tellkampf einsetzte, der von 1838 bis 1846 in den USA gelehrt hatte. Auch knüpfte die Paulskirche eindeutig an die ältere Tradition des deutschen Föderalismus an. Allerdings vermied man den Begriff des „Bundes“ -nicht nur, weil er aufgrund des vorangegangenen „Deutschen Bundes“ reaktionäre Assoziationen hervorrief, sondern auch, weil man damit eine sehr lockere föderalistische Ordnung verknüpfte. Daher ließ die Verfassungsmehrheit der deutschen Nationalversammlung den alten Begriff des „Reiches“ wieder-auferstehen, knüpfte damit an die im Vormärz weit verbreitete Glorifizierung des mittelalterlichen „Römischen Reiches“ an, das zu Beginn der Neuzeit den Zusatz „Deutscher Nation“ erhalten hatte, und kondensierte daraus den Staatsnamen „Deutsches Reich“.

Dieser Staat sollte seiner Verfassung gemäß ein auf dem Vorrang der Reichsverfassung gegenüber den Länderverfassungen und einer Kompetenzvermutung zugunsten der Zentralgewalt beruhender Bundesstaat werden, der mit einem moderneren Begriff als „unitarischer Bundestaat“ (Konrad Hesse) charakterisiert werden kann. Sein Reichstag sollte aus zwei Kammern bestehen: zum einen dem Volkshaus mit den gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes, zum anderen dem Staaten-haus,das als zweite Kammer das föderalistische Element verkörpern und zur einen Hälfte von den Regierungen und zur anderen Hälfte von den Volksvertretungen der Einzelstaaten bestellt werden sollte. Ein ähnliches Mischsystem zwischen dem Rats-und dem Senatsprinzip wurde auch in der bundesrepublikanischen Verfassungsdebatte 1948 von der FDP vorgeschlagen.

In der alltäglichen Organisation der Parlamentsarbeit wie auch im politiktheoretischen Verständnis des Verhältnisses von Parlament und Regierung machten die Mitglieder der deutschen Nationalversammlung aufgrund ihrer Erfahrungen den größten Lernprozeß bei der Umsetzung politischer Ideen in die politische Wirklichkeit durch. Die meisten Paulskirchen-Abgeordneten hingen dem Ideal eines unabhängigen, nur von seinen ethischen Überzeugungen und wissenschaftlichen Einsichten geleiteten Abgeordneten an. Doch nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung reichten wenige chaotische Sitzungen, um die Honoratiorenpolitiker von der Notwendigkeit fraktioneller Zusammenschlüsse zu überzeugen, innerhalb derer nicht nur die programmatischen Reden für das Plenum koordiniert, sondern auch personelle Verabredungen getroffen wurden; vor allem aber auch, da sich die deutsche Nationalversammlung mit den sie tragenden Fraktionen bald nicht mehr auf die ursprüngliche Aufgabe der Verfassungsgebung und der Erarbeitung von Reichs-gesetzen beschränkte, sondern auch ausschlaggebenden Einfluß auf die Zusammensetzung und Politik der Reichsregierung gewann

Damit ging man über jenes Modell eines Regierungssystems hinaus, das im Vormärz und auch beim Zusammentritt der Nationalversammlung noch innerhalb des deutschen Bürgertums favorisiert worden war: die konstitutionelle Monarchie, wie sie auf klassische Weise Dahlmann in seiner „Politik“ konzipiert hatte. In diesem dualistischen Regierungssystem sollte der unverletzliche König die gesamte vollziehende Gewalt besitzen und sie durch verantwortliche Minister ausüben. Die Volksvertretung hingegen sollte lediglich „mitgesetzgebend, gesetzeswahrend, aber eben darum nicht mitregierend, nicht mitverwaltend sein“

Die von der Nationalversammlung im März 1849 verabschiedete Reichsverfassung sah als Kompromiß eine Regierung des erblichen Kaisers durch dem Reichstag verantwortliche Minister und die Möglichkeit der Ministeranklage vor dem Reichs-gericht vor Ohne Zweifel hätte sich das Deutsche Reich, wenn die Verfassungsbemühungen von 1848/49 erfolgreich gewesen wären, entsprechend den Erfahrungen in der Paulskirche zu einer parlamentarischen Monarchie nach britischem Vorbild weiterentwickelt. Doch diese Chance der Verknüpfung von monarchischem Staatsoberhaupt und parlamentarischem Regierungssystem wurde vertan, die deutsche Verfassungswirklichkeit kehrte in der Folgezeit zum Modell einer konstitutionellen Monarchie zurück, wonach die Regierung an den Monarchen gebunden und die gewählte Volksvertretung weitgehend auf die Gesetzgebung beschränkt ist Dieses dualistische Regierungssystem mit seinen problematischen Folgen einer obrigkeitsstaatlichen Ausrichtung der Regierungen, einer Interessenzersplitterung des Parlaments und der Ideologisierung der Parteien ist letztlich erst nach 1949 in der Bundesrepublik überwunden worden.

IV. Nachwirkung der Ideen von 1848/49

Obwohl die von der deutschen Nationalversammlung 1848/49 debattierten und erarbeiteten politischen Ideen nicht in einer dauerhaften Verfassung verwirklicht werden konnten und daher mit dem Makel des „Scheiterns“ verknüpft wurden, haben sie doch auf vielfältige, wenn auch oft unbewußte Weise nachgewirkt Das gilt selbst für die politische und verfassungsrechtliche Ordnung des Deutschen Reiches von 1867/71, obwohl diese mit ihrer Konzeption einer nationalstaatlichen Einigung von oben, einer-dominanten Exekutivmacht im System der konstitutionellen Monarchie, einem auf einem Fürstenbund beruhenden Föderalismus und einem Verzicht auf Grundrechte als ein Gegenmodell zu den liberalen Bemühungen von 1848/49 stilisiert wurde. Im Gegensatz dazu ist jedoch bekannt, daß Bismarck bei seiner Vorbereitung des Entwurfs für eine Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 auch die Frankfurter Reichsverfassung herangezogen hat. Für die Staatsgründung von 1871 hat er den 1848/49 kreierten Namen eines „Deutschen Reiches“ wieder aufgenommen. Auch das Wahlrecht für den konstituierenden Deutschen Reichstag von 1867 und danach alle folgenden Reichs-tage bis zum Jahr 1918 knüpfte an das am 12. April 1849 von der Nationalversammlung verabschiedete Gesetz über die Wahl der Abgeordneten an. Wegen der antiliberalen politischen Grundordnung des Bismarckreiches wird oft übersehen, daß das Kaiserreich von 1867/71 zahlreiche Forderungen von 1848/49 zur Herstellung der deutschen Rechtseinheit verwirklicht hat -bis hin zum Jahrhundertwerk des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), das am 1. Januar 1900 in Kraft trat.

Doch in der politischen Öffentlichkeit des Bismarckreiches wurde die Erinnerung an die deutsche Nationalversammlung von 1848/49 zunächst weitgehend verdrängt, wie sich an ihrem fünfundzwanzigsten Jahrestag 1873 zeigte. Im Jubiläumsjahr 1898 allerdings begann man sich nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch innerhalb der Parteien der deutschen Revolution vor 50 Jahren zu besinnen Während die Sozialdemokraten an das Bekenntnis der außerparlamentarischen Demokratenbewegung zum „Volksstaat“ erinnerten, war für Linksliberale wie Friedrich Naumann und in der Folgezeit Max Weber und Hugo Preuß die 1849 angestrebte Versöhnung zwischen dem preußischen Kaisertum und einer parlamentarischen Demokratie Vorbild bei ihren Bemühungen um die Reform des Wilhelminischen Kaiserreiches. Diese Versuche kamen zwar während des Ersten Weltkriegs nicht über erste Ansätze hinaus, doch nach dem Zusammenbruch der Monarchie übernahm Hugo Preuß als Staatssekretär im Reichsministerium des Innern die Aufgabe, den Entwurf einer neuen, nun republikanischen Reichsverfassung auszuarbeiten. Der ihm geistesverwandte Theodor Heuss, damals ein junger Journalist im Gefolge Friedrich Naumanns, brachte die Anknüpfung der Verfassungsväter von 1919 an die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 in einem Vortrag am 17. Januar 1919 auf einen anschaulichen Begriff: „Wenn wir heute staatsrechtlich neu denken sollen, so nehmen wir den Verfassungsentwurf des Jahres 1849 aus der Schublade und buchstabieren dort weiter, wo unsere Großväter aufgehört haben.“ Nicht nur die Übernahme der Farben von 1848/49 und nicht des Schwarz-Weiß-Rot von 1867/71, sondern auch die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung -dieses Mal nach Weimar -stand eindeutig in der Tradition der Paulskirche. So lag es nahe, daß Preuß bei der Einbringung seines Entwurfs der Reichsverfassung am 8. Februar 1919 in der Weimarer Nationalversammlung aus der Rede zitierte, die Heinrich von Gagern im Mai 1848 nach seiner Wahl zum Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung gehalten hatte In inhaltlicher Hinsicht knüpfte Preuß vor allem bei der Konzipierung der Grundrechte an das Werk von 1848 an und baute es auf dem Gebiet der sozialen Grundrechte aus.

Im Dritten Reich hingegen reklamierten die Nationalsozialisten zwar gelegentlich die Verwirklichung der großdeutschen Träume von 1848/49 für sich, doch im allgemeinen wurden die Ideen der Paulskirche als „liberalistisch" abgelehnt. Um so entschiedener wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Anknüpfung an die bürgerliche Revolution gefordert, als es im Gefolge des Kalten Krieges zwischen den Siegermächten und der deutschen Teilung um die Konstituierung zweier separater deutscher Staaten in West-und Ostdeutschland ging. Dies galt nicht nur für die westdeutsche Staatsentwicklung, sondern auch für die von den deutschen Kommunisten unter dem Protektorat der Sowjetunion initiierte Gründung der DDR. Schon in ihrem ersten Aufruf vom 11. Juni 1945 hatte die KPD sich zum Ziel gesetzt, „die Sache der Demokratisierung Deutschlands, die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung die 1848 begonnen wurde, zu Ende zu führen“ . Als die SED am 14. November 1946 einen ersten „Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik“ veröffentlichte, nahm sie nicht nur mit dem gewählten Namen den Vorschlag des Demokratenkongresses vom Juli 1848 auf, sondern rezipierte auch zahlreiche Bestimmungen sowohl aus der Weimarer als auch der Frankfurter Reichsverfassung Am 18. März 1948, dem hundertsten Jahrestag des Ausbruchs der bürgerlichen Revolution von 1848, proklamierte der von der SED als verfassungsgebendes Organ eingesetzte Deutsche Volksrat auch Schwarz-Rot-Gold als Nationalfarben, die daraufhin in Art. 2 der DDR-Verfassung von 1949 verankert wurden. Die Bestimmung in Art. 118 der gesamtdeutsch ausgerichteten Verfassung, daß Deutschland ein einheitliches Zoll-und Handelsgebiet bilden sollte, umgeben von einer gemeinschaftlichen Zollgrenze, wurde fast wörtlich aus § 33 der Reichsverfassung von 1849 übernommen. Auch später, nachdem der explizit gesamtdeutsche Anspruch der DDR-Gründung und ihrer ersten Verfassung fallengelassen worden war, wurden die Partei-und Staatsführer der DDR und die von ihnen angeleiteten Historiker nicht müde, ihren Staat als die Verwirklichung der „Lehren der Märzrevolution“ durch die Arbeiterklasse zu legitimieren

Die Bundesrepublik Deutschland und ihre politischen wie akademischen Eliten beteiligten sich ebenfalls von Anfang an in diesem „deutsch-deutschen Erbschaftsstreit“ um die Realisierung der Ideen von 1848/49 im Jubiläumsjahr 1948. Zahlreiche Geschichtsprofessoren, Journalisten und Politiker stellten Säkularbetrachtungen an, wobei nicht nur innenpolitische Lehren aus der Größe und dem Versagen des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert beschworen, sondern auch außen-politische Parallelen zwischen dem drohenden Schatten des russischen Zaren, der über die deutsche Einheit im Jahr 1848 fiel, und der Schreckensherrschaft Stalins über Mitteleuropa im Jahr 1948 gezogen wurden Theodor Heuss, inzwischen Vorsitzender der liberalen Partei in den drei Westzonen, sah in Anknüpfung an seine Reden zu Beginn der Weimarer Republik das Erbe der Paulskirche vor allem in dem Auftrag an deren Enkel und Enkelkinder „zur demokratischen Selbstgestaltung der Nation“ Um so eigentümlicher war die Zurückhaltung, die Heuss ein halbes Jahr später im Parlamentarischen Rat bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem historischen Vorbild der Frankfurter Reichsverfassung empfahl, als er im Ausschuß für Grundsatzfragen zur Vorsicht mahnte vor der „Legendenbildung vom Jahre 1848“, an der er sich selbst beteiligt habe Noch aussagekräftiger für den Streit um das Scheitern der deutschen Nationalversammlung von 1848/49 und die Nachwirkungen der Ideen der Paulskirche war ein Wortgefecht im Plenum des Parlamentarischen Rates am 21. Oktober 1948 Anlaß war der Vorschlag Thomas Dehlers (FDP), die Länderkammer der Bundesrepublik entsprechend der Staatenhaus-Lösung von 1849 zusammenzusetzen. Carlo Schmid (SPD) warf dagegen ein: „Der Fortschritt besteht nicht immer darin, daß man über gestern auf vorgestern zurückgeht.“ Dehler erwiderte, daß „unsere Großväter“ in der Paulskirche in vielem klüger gewesen seien als die Schöpfer der Weimarer Verfassung. Doch Carlo Schmid hielt dem entgegen, daß diese Großväter noch nicht einmal ein geeintes Deutschland zustande gebracht hätten. Im nachhinein muß erstaunen, wie unkritisch Carlo Schmid das gängige Vorurteil vom Scheitern der Paulskirche auf die ideengeschichtliche Entwicklung übertrug und wie wenig Gespür der herausragende Vater des Bonner Grundgesetzes und „politische Professor“ von bildungsbürgerlichem Format für die Nachwirkungen der Ideen der Achtundvierziger zeigte.

Durchaus im Gegensatz zu solchen Distanzierungen ist der Text des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland auf vielfältige Weise von dem Werk der deutschen Nationalversammlung von 1848/49 inspiriert worden. Bereits in seiner Über-schrift ist dies zu erkennen, hatten doch die 17 Vertrauensmänner am 26. April 1848 in Anknüpfung an einen älteren Sprachgebrauch den Entwurf zu einem „Deutschen Reichsgrundgesetz“ vorgelegt. Vor allem in der Konzeption der Grundrechte, aber auch bei der rechtsstaatlichen Verfassung der Justiz und der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion beruht das Grundgesetz vielfach auf Ideen und Formulierungen von 1848/49. Wie jedoch bei der Ausarbeitung im Parlamentarischen Rat, so stehen bis heute in der politischen Öffentlichkeit und verfassungsrechtlichen Interpretation des Grundgesetzes die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Reichsverfassung und der nationalsozialistischen Machtergreifung im Vordergrund

Doch in einem Jubiläumsjahr, in welchem nicht nur der hundertfünfzigste Jahrestag der Konstituierung der deutschen Nationalversammlung am 18. Mai 1848 in Frankfurt am Main, sondern auch der fünfzigste Jahrestag des Zusammentritts des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 in Bonn gefeiert wird, sollte es an der Zeit sein, die längerfristigen ideengeschichtlichen Kontinuitäten zwischen den beiden Ereignissen trotz aller dazwischenliegenden politischen Systemumbrüche angemessener als bisher zu würdigen. Denn die Bundesrepublik Deutschland kann eindeutig an eine gleichermaßen freiheitliche, demokratische und nationalstaatliche Verfassungstradition in Deutschland anknüpfen, deren Ursprung 1948/49 von den in der Paulskirche versammelten Abgeordneten des deutschen Volkes gelegt worden ist.

So sind die politischen Ideen von 1848/49 auf dreifache Weise in einem Hegelschen Verständnis „aufgehoben“ worden: Durch die Nichtinkraftsetzung der Reichsverfassung vom 28. März 1848 sind sie damals verfassungsrechtlich annulliert worden. Gleichzeitig sind die politischen Ideen von 1848/49 in der nachfolgenden Zeit auf vielfältige, wenn auch oft verdeckte Weise bewahrt worden. Schließlich sind sie in der Bundesrepublik Deutschland, zumal nach der staatlichen Vereinigung vom 3. Oktober 1990, höher gehoben worden. Sie sollten als Anregung und Verpflichtung zur Gestaltung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung des deutschen Nationalstaates unter heute wohlgesonnenen europäischen Bedingungen verstanden werden. Noch immer verdient jenes politische Programm zur Kenntnis genommen zu werden, welches Friedrich Christoph Dahlmann als Präambel dem Verfassungsentwurf der 17 Vertrauensmänner vom 26. April 1848 voranstellte: „Da nach der Erfahrung eines ganzen Menschen-alters der Mangel an Einheit in dem Deutschen Staatsleben innere Zerrüttung und Herabwürdigung der Volksfreiheit, gepaart mit Ohnmacht nach Außen, über die Deutsche Nation gebracht hat, so soll nunmehr an die Stelle des bisherigen Deutschen Bundes eine auf Nationaleinheit gebaute Verfassung treten.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. So argumentiert wie viele andere auch der Heidelberger Rechtswissenschaftler Jochen A. Frowein, Artikel „Grundrechte“, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Neuausgabe Bonn 1995, S. 235.

  2. Vgl. insbesondere Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, München 1990.

  3. Vgl. Hans Fenske u. a., Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, Königstein 1981; Iring Fetscher/Herfried Münkier (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, insbesondere Bd. 4, München 1986; Hans-Joachim Lieber (Hrsg.), Politische Theorie von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 19932; Franz Neumann (Hrsg.), Handbuch Politische Theorien und Ideologien, Opladen 1995.

  4. Immer noch die anregendste Darstellung zur Ideen-geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Franz Schnabels „Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“., Bd. 2. Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg i. Br. 1933. Das Gesamtwerk ist jüngst wieder publiziert worden: 4 Bde., München 1996. Vgl. auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983 und die Spezialuntersuchung von Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975.

  5. Carl von Rotteck/Carl Theodor Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 1-15 (nebst) Suppl. 1-4, Altona 1834-1848; Neuausgabe Frankfurt a. M. 1990.

  6. Vgl. F. Schnabel (Anm. 4), Bd. 4, S. 204 ff.

  7. Vgl. die Übersicht über die verschiedenen Berechnungen der sozialen Zusammensetzung der Nationalversammlung bei Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850, Düsseldorf 1977, S. 161.

  8. Vgl. Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972.

  9. Vgl. Wolfram Siemann, Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform. Die Bedeutung der Juristendominanz in den Verfassungsverhandlungen des Paulskirchenparlaments, Bern-Frankfurt a. M. 1976.

  10. Vgl. Wilhelm Bleek, Die Politik-Professoren in der Paulskirche, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u. a. 1994, S. 276-299.

  11. Karl Jürgens, Zur Geschichte des deutschen Verfassungswerkes 1848/49, Braunschweig 1850, 1. Abt., S. 982.

  12. Vgl. Lewis B. Namier, 1848: The Revolution of the Intellectuals, Oxford 1946.

  13. Vgl.den Beitrag von Manfred Funke in diesem Heft.

  14. Vgl. die Neuausgabe: Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, Bd. 7), hrsg. und mit einem Nachwort von Wilhelm Bleek, Frankfurt a. M. -Leipzig 1997.

  15. Tübingen 1832, 3. Aufl. 1866.

  16. In: Robert von Mohl, Politische Schriften, hrsg. von Klaus von Beyme, Köln-Opladen 1966, S. 47-84.

  17. Vgl. Rainer Koch, Demokratie und Staat bei Julius Fröbel 1805-1593, Wiesbaden 1978.

  18. Julius Fröbel, System der socialen Politik, 2 Bde., Mannheim 1847; Reprint, mit einer Einleitung von Rainer Koch, Aalen 1975.

  19. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies., Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 493.

  20. Vgl. Neue Rheinische Zeitung. Organ der Demokratie, Neudruck Berlin -Bonn 1977; Wolfgang Schieder, Karl Marx als Politiker, München 1991, S. 43 ff.

  21. Vgl. Wilhelm Füssl, Professor in der Politik. Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988.

  22. Friedrich Julius Stahl, Das monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg 1845.

  23. Vgl. Tillmann Bendikowski, Großer Kampf um kleine Seelen. Konflikte um konfessionelle Mischehen im Preußen des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte, Bd. 91 (1997), S. 87-108.

  24. Vgl. Franz Schnabel, Der Zusammenschluß des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848, phil. Diss., Heidelberg 1910, Reprint Lichtenstein 1976; ders., Deutsche Geschichte (Anm. 4), Bd. 4, S. 204 ff.

  25. Vgl. Julius Dorneich, Franz Josef Buß und die katholische Bewegung in Baden, Freiburg 1979.

  26. Vgl. Franz Joseph Buß, Über den Einfluß des Christentums auf Recht und Staat, Freiburg 1841.

  27. Th. Nipperdey (Anm. 4), S. 616.

  28. Vgl. Heinrich Scholler (Hrsg.), Die Grundrechts-diskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation, Darmstadt 1982.

  29. Vgl. Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 1 9782.

  30. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrsg. von Franz Wigard, Frankfurt a. M. 1848/49, Bd. 2, S. 1310.

  31. Vgl. ebd., S. 848 ff.

  32. Theodor Mommsen, Die Grundrechte des deutschen Volkes mit Belehrungen und Erläuterungen, anonyme Erstausgabe, Leipzig 1849, Neudruck Frankfurt a. M. 1969.

  33. Stenographischer Bericht (Anm. 30), Bd. 1, S. 17.

  34. Dahlmann am 9. Juni 1848, in: Stenographischer Bericht, ebd., Bd. 1, S. 273.

  35. Vgl. Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt a. M. 1985 und Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland. 1770-1990, München 1993.

  36. Vgl. Eric J. Hobsbawn, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. M. 1991.

  37. Vgl. Stenographischer Bericht (Anm. 30), Bd. 2, S. 1145.

  38. Stenographischer Bericht, ebd., Bd. 9, S. 6668.

  39. Vgl. M. Botzenhart (Anm. 7).

  40. F. Chr. Dahlmann (Anm. 14), § 180.

  41. Vgl. §§ 73 und 126 i) Frankfurter Reichsverfassung.

  42. Vgl. Emst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918), Köln 1972, S. 146-170.

  43. Vgl. die informative, sich allerdings auf die Kontinuitäten auf dem Gebiet der Grundrechte konzentrierende Untersuchung von Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Frankfurt a. M. 1985.

  44. Vgl. die Hinweise zur Forschungs-und Rezeptionsgeschichte in der großen, 1930/31 veröffentlichten Revolutionsdarstellung von Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-49, Bd. 2, Berlin 1931, S. 595 ff.

  45. Zit. in: ebd., S. 605.

  46. Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Deutschen Reiches, Bd. 326, S. 12 C. Zu Gagerns Rede siehe Anm. 33.

  47. Man beachte die Vermeidung des Begriffs der Revolution.

  48. Deutsche Volkszeitung vom 13. Juni 1945, S. 1.

  49. Vgl. Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 1, Berlin 1948, S. 108-129.

  50. Vgl. Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1973, besonders S. 366; ferner Andreas Dorpalen, Die Revolution von 1848 in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Historische Zeitschrift, Bd. 210 (1970), S. 324-368.

  51. Dieter Langewiesche, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Die deutsche Revolution von 1848/49 (Wege der Forschung, Bd. 164), Darmstadt 1983, S. 9.

  52. Vgl. Hans Rothfels, 1848 -Betrachtungen im Abstand von hundert Jahren, engl. 1948, deutsch Darmstadt 1972.

  53. Theodor Heuss, 1848. Werk und Erbe, Stuttgart 1948,

  54. Zit. in: J. -D. Kühne (Anm. 43), S. 167.

  55. Vgl. Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht über die Plenarsitzungen, 1948/49, S. 88.

  56. Vgl. insbesondere Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Forderungen des Parlamentarischen Rates

  57. Zit. nach Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 286.

Weitere Inhalte

Wilhelm Bleek, Dr. phil., Dr. rer. pol. habil., geb. 1940; Professor für Politikwissenschaft (Politische Systeme in Deutschland) an der Ruhr-Universität Bochum; 1984/85 und 1986/87 Gastprofessor an der University of Toronto, 1990/91 Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Hans J. Lietzmann) Politikwissenschaft. Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa, München-Wien 1996; (zus. mit Kurt Sontheimer) Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, München 199717; (Hrsg.) Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, Bd. 7), Frankfurt a. M. -Leipzig 1997; Geschichte der Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten. Von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart der deutschen Vereinigung, München 1998.