Die gegenwärtige Diskussion sowohl um die Reform der Europäischen Union als auch um ihre Erweiterung hat die Frage nach der Identität zentral werden lassen. Dem komplexen Phänomen der europäischen Identität -und damit Legitimation -nähert sich dieser Beitrag zunächst über das Selbstverständnis wie es in den Verträgen zum Ausdruck kommt. Sodann werden die zeitlichen und die räumlichen Lagerungen des politischen Identitätsbegriffs behandelt. In einem nächsten Schritt werden das historische, das genetische, das philosophische und das sozialpsychologische Verständnis von Identität behandelt und schließlich wird auf die gemeinsamen Grundlagen einer europäischen Identitätsbildung verwiesen.
I. Die europäische Identität in den europäischen Verträgen
Die Frage der europäischen Identität wird im Vertrag über die Europäische Union und im Amsterdamer Vertrag in zwei unterschiedlichen Versionen thematisiert. Die Präambel des EU-Vertrags zitiert den Begriff, der in Artikel B in den Zielkatalog der Union aufgenommen wird:
Präambel EUV: „[Die Unterzeichnenden], . . . entschlossen, eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik zu verfolgen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, und so die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und der Welt zu fördern, ... haben beschlossen, eine Europäische Union zu gründen.“
Art. B EUV: „Die Union setzt sich folgende Ziele: .. . die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene, insbesondere durch eine Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“
In diesen beiden Artikeln wird der Identitätsbegriff also von den Außenbeziehungen her definiert. Die zweite Version definiert Identität in bezug auf die Einzelstaaten:
Art. F EUV: „(1) Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen.“ Alle drei Formulierungen deuten darauf hin, daß sich der Identitätsbegriff der an der Gemeinschaft beteiligten Staaten eher als außenpolitische oder eigenstaatliche Selbstbehauptung denn als positive europäische Selbstbestimmung nach innen definiert. Der Text des EU-Vertrages bezieht die europäische Identität auf gemeinsame Außen-, Sicherheits-und Verteidigungspolitik der einzelnen Staaten, die ihrerseits über nationale Identitäten verfügen.
Als eine heute noch gültige offizielle Aussage über die europäische Identität kann ein im Jahre 1973 von den EG-Außenministern verabschiedetes „Dokument über die europäische Identität“ gelten Auch diese Verlautbarung sieht ihren Zweck in der näheren Bestimmung der Beziehungen der EG zu „den übrigen Ländern der Welt“. Im Zentrum der europäischen Identität stehen „das gemeinsame Erbe, die eigenen Interessen, die besonderen Verpflichtungen [der Gemeinschaft]“ sowie die Feststellung der Verantwortlichkeit der EG durch „den bereits erreichten Grad des Zusammenhalts gegenüber der übrigen Welt.“
Weiterhin heißt es: „Das Europa der Neun ist sich der weltpolitischen Verpflichtungen bewußt, die ihm aus seiner Einigung erwachsen. Diese Einigung ist gegen niemanden gerichtet und entspringt auch keinerlei Machtstreben. Die Neun sind vielmehr überzeugt, daß ihr Zusammenschluß der gesamten Völkergemeinschaft nützt, weil er ein Element des Gleichgewichts und ein Pol der Zusammenarbeit mit allen Nationen ungeachtet ihrer Größe, ihrer Kultur und ihres Gesellschaftssystems ist. Sie wollen in der Weltpolitik eine aktive Rolle spielen und so unter Achtung der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen dazu beitragen, daß die internationalen Beziehungen sich auf mehr Gerechtigkeit gründen, daß Unabhängigkeit und Gleichheit der Staaten besser gewahrt, der Wohlstand besser verteilt und die Sicherheit des einzelnen besser gewährleistet werden. Dieser Wille soll die Neun schrittweise dazu führen, auf dem Gebiet der Außenpolitik gemeinsame Positionen zu erarbeiten.“
Weiter legt das Dokument über die europäische Identität den Handlungshorizont der Gemeinschaft als „eigenständiges Ganzes“ innerhalb Europas und gegenüber vielen Ländern in unterschiedlichen Weltregionen fest. Herausgehoben werden die Vereinigten Staaten von Amerika, mit denen die „engen Bande“ durch „die, einem gemeinsamen Erbe entspringenden Werte und Ziele“ begründet sind. Explizit erwähnt werden auch Japan, Kanada und China. Der dritte Teil des Dokuments ist der Dynamik des europäischen Einigungswerks gewidmet: „Die Entwicklung der europäischen Identität wird sich nach der Dyna-mik des europäischen Einigungswerks richten. In den Außenbeziehungen werden die Neun vor allem bemüht sein, ihre Identität im Verhältnis zu den anderen politischen Einheiten schrittweise zu bestimmen. Damit stärken sie bewußt ihren inneren Zusammenhalt und tragen zur Formulierung einer wirklich europäischen Politik bei. Sie sind überzeugt, daß die fortschreitende Verwirklichung dieser Politik ein wesentlicher Faktor sein wird, der es ihnen erlaubt, die weiteren Stadien des europäischen Einigungswerks mit Realismus und Vertrauen in Angriff zu nehmen; diese Politik erleichtert auch die vorhergesehene Umwandlung der Gesamtheit ihrer Beziehungen in eine Europäische Union.“
II. Die multiplen Dimensionen des Identitätsbegriffs
Mit der Frage nach der Identität ist „das elementare Konstruktionsprinzip moderner Gesellschaften“ thematisiert. Europa ist und muß mehr sein als ein Konsumenten-und Produzentenmarkt, will es von den Bürgern akzeptiert und damit legitimiert werden, die europäische Identität müßte als eine kollektive Identität entstehen, die die identitätsstiftenden Kräfte des Nationalismus und Rassismus überwindet ohne in puren Konsumismus oder in anonymen Institutionalismus zu verfallen Mit dem Begriff der Identität sind mehrere Dimensionen und Analyseebenen angesprochen; die philosophische (das Mit-sich-eins-sein), die psychologische (Identitätsbewußtsein, Zusammengehörigkeitsgefühl, emotionale Bindung), die geographische (Grenzen: wo beginnt das Andere?), die kulturelle (Sprache, Religion, materielle und ästhetische Kultur) und die historisch-politische (historisches Bewußtsein, Nationalismus, Europa als gegen andere abgrenzbare Idee und Realität).
1. Der politische Identitätsbegriff
Identität im politischen Sinne wird vor allem an dem Begriff der Legitimation festgemacht und fragt nach dem Grad der Zustimmung des Einzelnen zur Regierung und zum Regierungssystem. Der Glaube an die Rechtmäßigkeit einer Regierung wird vor allem von den Leistungen der jeweiligen Regierung gespeist, und dies ist eine Frage der Effizienz. Die Antwort auf die Frage nach dem
Grad der Akzeptanz eines bestimmten politischen Regimes in Form von Zustimmung und Ablehnung ist auch Folge eines erfolgreich eingeschätzten Regierungshandelns. Wir nehmen diesen Gedanken später wieder auf.
Die Thematik der Identität wird unterschiedlich bewertet je nach politischem Lager. Als nationaler Begriff wird Identität vor allem von der politischen Rechten eingefordert. Meist ist auch die Vorstellung von einer homogenen nationalen Gemeinschaft damit verbunden und damit auch die Ausgrenzung Fremder. In der Identifikation mit der Nation sehen Konservative Schutz und Sicherheit gewährleistet. Die politische Linke ist demgegenüber offener und befürwortet eher transnationale Beziehungsmuster, wie sie dies früher etwa in Form einer die Nation überwölbenden Klassengemeinschaft getan hat.
Der politische Begriff der Identität ist an die Dimensionen der Zeit und des Raums gebunden. Die räumliche Lagerung, also die territoriale Bezugseinheit, ist von Bedeutung ebenso wie die Konstanz bzw. Variabilität im historischen Zeitablauf. Die räumliche Lagerung des Identitätsbegriffs Was zunächst die Kategorie Raum angeht, so fragt Identität nach der Verbundenheit des Einzelnen mit einem Kollektiv und dessen territorialer Begrenzung, nach dem Zusammenklang persönlicher Eigenschaften und Eigenarten von Individuen mit denen anderer. Dabei werden im allgemeinen mehrere Bezugseinheiten und Loyalitätsebenen angesprochen. Identität beginnt beim Individuum und seiner Familie bzw. Verwandtschaft und kann im Rahmen politischer Gemeinschaftsbildung über die Gemeinde, das Land und die Nation auf ganz Europa oder universelle Werte (Universal-Kultur) ausgeweitet werden. Somit spricht man von einer Persönlichkeitsidentität, einer Stammesidentität, einer lokalen, regionalen, nationalen und einer europäischen Identität oder einer Identität als Weltbürger. Bei diesem Aufstieg von kleinen zu großen Einheiten können Loyalitäten verschieden und gleichzeitig gelagert sein, wobei für jeden einzelnen bestimmte Loyalitäten wichtiger sind als andere. Auch muß der Aufstieg nicht unbedingt linear dieser Loyalitätslinie folgen -es können mehrere sehr unterschiedliche Ebenen gleichermaßen wichtig sein. Symbol hierfür sind die nationalen Autokennzeichen, die zugleich europäische Plaketten tragen. Gegenwärtig dürften die lokalen und nationalen Identitäten die bei weitem tragfähigsten sein, denen gegenüber der europäischen Identität eine viel geringere Bedeutung zukommt (vgl. Tabelle 1). Die Gründe für die viel stärkere emotionale Bindung des einzelnen an die Nation liegen nach Anthony D. Smith in Gegebenheiten nationaler Identität: historisches Territorium als Heimatland, gemeinsame Mythen und geschichtliche Erinnerungen, eine gemeinsame Massenkultur, gemeinsame Rechte und Pflichten für alle Bürger und ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit territorialer Mobilität Diese Merkmale seien lebendig, zugänglich, lange etabliert und popularisiert. Die zeitliche Lagerung des Identitätsbegriffs Identität ist in ihrer räumlichen Lagerung in der Zeit veränderbar. Identität ist auch ein Bewußtseinsvorgang oder besser: ein Vorgang der Bewußtwerdung und hat mit der Wahrnehmung von Realität zu tun. Und diese Wahrnehmung kann in gewissem Maße künstlich oder besser: bewußt politisch erzeugt oder manipuliert werden. Tito versuchte, eine jugoslawische Nation zu schaffen ebenso wie Milosevic eine serbische Identität kreierte. In Deutschland sind wiederholt regionale Identitäten geschaffen worden, die ein hohes Maß an Beliebigkeit aufweisen. Der Grundsatz absolutistischer Herrschaft „cuius regio, eus religio“ gab den Fürsten die Freiheit, Religion nach Belieben zu oktroyieren. Die Neueinteilung der Bundesländer nach dem Zweiten Weltkrieg war zum Teil eher aus strategischen Transportmöglichkeiten vorgenommen worden als aus historischem Gewachsensein. Diese Beispiele zeigen, daß mit der Zeit und für eine bestimmte Zeit auch solche künstlichen Schöpfungen ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen konnten.
2. Die vier Identitätskonzepte
Auf der Suche nach einer europäischen Identität lassen sich ein historischer, ein genetischer, ein philosophischer und ein soziaipsychologischer Identitätsbegriff unterscheiden.
Der historische Identitätsbegriff Historisch-politisch war Europa nie eine Einheit, sondern war seit der Dreiteilung des Reiches Karl des Großen immer durch Gegensätze gekennzeichnet. Davon zeugt der 100jährige Krieg zwischen Frankreich und England, die Rivalität um die Vorherrschaft in Europa zwischen Frankreich und Habsburg mit Spanien, den Niederlanden und Österreich. Während des 30jährigen Krieges stand das katholische Europa dem protestantischen gegenüber, im 19. Jahrhundert die Heilige Allianz des Europas der Restauration gegen das revolutionäre Europa. Im Ersten Weltkrieg kämpften die Mittelmächte gegen die Entente-Mächte, eine Konstellation, die sich zwischen den Achsenmächten und der Kriegsallianz im Zweiten Weltkrieg wiederholte. Schließlich rivalisierte nach 1947 das Europa des kommunistischen Ostens im Kalten Krieg mit dem Europa der westlichen Demokratien. Identität im Sinne zur Deckung gebrachter staatlicher Organisation und kultureller Einheit hat es in Europa erst etwa im 18. Jahrhundert in England, Frankreich, Spanien, Portugal, Dänemark, Schweden, den Niederlanden, zum Teil auch in Polen und Rußland gegeben. In diesen Ländern fielen Volk, Sprache, Kultur, Religion und Staat einigermaßen zusammen. Nationalgefühl und Nationalbewußtsein konnten sich im Rahmen staatlicher Organisation entwickeln. Die aristokratischen Eliten waren zuvor schon europaweit durch Heirat, Annexion und gemeinsame Verteidigung -z. B. gegen Türken und Mauren -verbunden und konnten in den gemeinsamen Sprachen italienisch und französisch kommunizieren; im Laufe der Französischen Revolution ist das Volk „zu sich gekommen“ und avancierte zum Träger nationaler Einheit. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation behinderte die dynastische Rivalität zwischen Preußen (mit slawischen Einsprengseln) und Österreich (noch buntscheckiger) die Ausbildung einer deutschen Nation.
Historisch ist somit Europa durch eine große Vielfalt von Kulturen, Nationen oder Staaten gekennzeichnet, die in den vergangenen Jahrhunderten inner-und außerhalb Europas rivalisierten, ja sich bekriegten. Zu gemeinsamen (westeuropäischen Aktionen kam es nur vereinzelt z. B. bei den Kreuzzügen oder bei gemeinsamer Bedrohung durch außereuropäische Mächte. Der genetische Identitätsbegriff In seiner Genese entsteht Identität nach Münch vor allem durch vier Prozesse, nämlich dem der Homogenisierung nach innen, dem der Abgrenzung nach außen, dem der Inklusion der Peripherie ins Zentrum und dem des Ausgleichs innerer Spannungen.
Gemeinsamkeit: Das lateinische identitas, auf das der Identitätsbegriff etymologisch zurückzuführen ist, bedeutet „vollkommene Gleichheit“. „Identität“ wird hier jedoch weniger im allgemeinen Sinne einer vollkommenen Übereinstimmung gebraucht. Maßgeblich ist vielmehr die Verbundenheit des Individuums mit einem Kollektiv, d. h. die Stellung des einzelnen in einer größeren gesellschaftlichen und politischen Bezugseinheit und die Abgrenzung dieser von anderen Bezugseinheiten. Das „christliche Abendland“ z. B. wurde von Adenauer, De Gasperi und Schuman, den Gründungsvätern der europäischen Integration, als einzige Alternative zum kommunistischen Osten gesehen. De facto lag die Betonung allerdings eher auf „katholisch“ als auf „christlich“.
Geogaphisch lassen sich mit eurasischen, mediterranen und atlantischen Bezugsräumen drei Vorfelder des europäischen Kontinents ausmachen. Jeder Mitgliedstaat bringt seine eigene, durch die Geschichte geprägte Orientierung mit. Deutschland und die skandinavischen Länder erinnern sich der früheren geopolitischen Ausrichtung ihrer Außenpolitik nach Osteuropa, die Mittelmeeranrainerstaaten Spanien, Italien oder Griechenland ihrer mediterranen Politik oder Großbritannien seiner transatlantischen Vergangenheit. In die Außenpolitik der Mitgliedstaaten, die zum Teil selbständig betrieben wird, wie z. B. die Afrikapolitik Frankreichs, zum Teil aber auch als vergemeinschaftete EU-Außenpolitik weitergeführt wird, mischt sich die Erinnerung an frühere Groß-machtpositionen.
Auch kulturell bleibt Europa der bunte Teppich von National-oder Regionalkulturen, deren Vereinheitlichungstendenzen gleichzeitig Diversifizierungstendenzen der Regionen auslösen. Europa lebt mit seinen Mythen, Bildern, Bauwerken, Dichtern und Denkern, in der Welt des Glaubens und der Wissenschaft. Eine politische Gemeinschaft definiert sich auch aus gemeinsamen Ursprungsmythen, auf die aus historischen Anlässen immer wieder verwiesen werden kann. Solche Mythen oder gemeinschaftsbildenden Symbole sind meist in Schöpfungen der Kunst festgehalten und erinnern Zeitgenossen an diese gemeinsamen historischen Fixpunkte. Zu den gemeinsamen Symbolen Europas sind die Bauwerke der Römer (Limes, Aquädukte, Kastelle, Kollosseen, Straßen) oder der Sieg über den Islam bei Tours und Poitiers zu zählen. Auch die Kreuzritter, die ab dem 11. Jahrhundert zur Verteidigung und Ausbreitung des Christentums zu den mittlerweile islamisch beherrschten „heiligen“ christlichen Stätten auszogen, waren eher (westeuropäischen als nationalen Ursprungs. Die italienische Renaissance mit Malerei, Skulpturen, Schriften, Musik und die französische Revolution mit Menschenrechten, später aber auch mit der Guillotine und dem Code Napoleon bestimmten den Lauf der gesamteuropäischen Geschichte. Die imperiale Politik, als Kolonisation gebrandmarkt und Transfer von Zivilisation befürwortet, prägte das europäische Bewußtsein. Auch in der jüngeren Zeit lassen sich in der Politik der Europäischen Union mit Europa-flagge, Europakennzeichen, Europapaß, europäischer Staatsbürgerschaft oder dem europäischen Geld Symbole für europäische Gemeinsamkeit finden. Ökonomisch wird das Europa der EU immer mehr zu einer Einheit in Abgrenzung gegenüber und in Konkurrenz mit den Wirtschaftspolen der NAFTA (mit den USA), der APEC (mit Japan) und später eventuell dem Mercosur (mit Brasilien). „Aus der Ära der Geopolitik treten die fortgeschrittenen Industrieländer in eine Ära der geopolitischen Ökonomie. Wo die , großen Mächte einst um Territorium, Kolonialreiche und Einflußsphären kämpften, da kämpfen sie jetzt um technologische Führerschaft und Beherrschung der globalen Technologiemärkte.“ Fraglich ist, ob diese geopolitische und geoökonomische Lage „auf die Herausbildung einer kollektiven Identität der Europäer hinwirkt“ Entgegenzuhalten ist, daß die Ökonomie nicht -oder allenfalls indirekt -zur Identitätsbildung führt. Ökonomische Prosperität geht allerdings mit Legitimation einher nach dem Satz: Legitim ist, wer den Lebensstandard erhöht. Wohlstand wirkt magnetisch anziehend, wie der starke und prosperierende Westen gezeigt hat. Die Bildung wirtschaftlicher Wachstumszonen führt zu Wanderungsbewegungen oder Flüchtlingsströmen von Süd-nach Nord, von Ost-nach Westeuropa oder von der damaligen DDR in die Bundesrepublik. Abgrenzung: Die Abgrenzung gegenüber dem Anderen kann in Europa auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon die Griechen versuchten, sich von den Barbaren abzugrenzen. Die seit Karl dem Großen in Europa bestehende Einheit der Christenheit sah sich im Gegensatz zu Ungläubigen, Sarazenen, Heiden sowie andersgläubigen Christen. Ab dem 10. Jahrhundert etwa kann man von der Idee des christlichen Europa in Opposition zum Islam sprechen. Zur Verteidigung des Glaubens wurden im 11. und 12. Jahrhundert Kreuzzüge unternommen. Diese Zusammenführung verschiedener Länder zu einer „Armee Gottes“ angesichts eines gemeinsamen Feindes war das erste Gemeinschaftswerk europäischer Staaten in dieser Zeit. Der Begriff des Kalten Krieges, der im 13. Jahrhundert geprägt wurde, brachte das Spannungsverhältnis zwischen Muslimen und Christen zum Ausdruck. Im weiteren Verlauf der Geschichte bildeten sich im 15. Jahrhundert zwei europäische Identitäten heraus: die eine durch Abgrenzung im Osten Europas gegenüber dem Islam mit dem Fall von Konstantinopel 1453 und die andere durch die Bildung westlicher Grenzen nach 1492 mit dem Aufstieg der europäischen Seemächte In der Folgezeit war Europa politisch durch die Rivalität je zweier Mächte bzw. Macht-bündnisse gekennzeichnet, das absolutistische Frankreich seit Henri IV. und das Kaiserreich der Habsburger, das revolutionäre Frankreich und das restaurative Metternich-Europa des 19. Jahrhunderts sowie im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Achsen-oder Mittelmächte und die Entente-mächte. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich hat der Gegensatz zwischen den westlichen Demokratien und den östlichen kommunistischen Regimen den zweiten Kalten Krieg bestimmt. Einheit und Vielfalt waren und sind somit in Europa kein Gegensatz, sondern vielmehr europäische Realität, wobei die Abgrenzungen nach außen von Epoche zu Epoche variierten.
Inklusion der Peripherien ins Zentrum: In Europa gab es schon immer Zentrum-Peripherie-Verhältnisse. Handel und Gewerbe blühten an unterschiedlichen Orten, meist in den Stadtstaaten. Wanderungen von den Peripherien in die Zentren setzten ein. Industrielle Zentren entstanden, Peripherien proletarisierten. Dies geschah erst auf nationalstaatlicher und später auf europäischer Ebene. Innerhalb von Italien beispielsweise steht ein reicher Norden dem ärmeren Süden gegenüber. In dem Dreieck um die Zentren Turin -Genua -Mailand liegen die industriellen Wachstumszonen. Im Verhältnis zu den peripheren ärmeren Ländern Griechenland, Portugal, Spanien und Irland kann man Italien als Zentrum bezeichnen. Durch Europa hindurch gibt es von Nord nach Süd einen „Bananengürtel“, beginnend in Großbritannien über die Niederlande, Belgien, Deutschland, Schweiz, Norditalien bis nach Nordspanien spannt sich ein Band industrieller Zentren, die magnetisch Kapital und Arbeitskräfte anziehen.
Generell läßt sich dabei beobachten, daß die Kultur des Zentrums im Zeitverlauf bestimmend wird. Einkommensverhältnisse im Zentrum laufen den Einkommensverhältnissen in der Peripherie davon. Als Folge entstehen ungleiche Bevölkerungswachstumszentren. Nationale Eliten im Zentrum sind die politisch maßgebliche Kraft. Ihre Sprache und Kultur setzen sich durch -in Frankreich beispielsweise verdrängte das Pariserische langsam die sechs übrigen Sprachen. Durch den zentralen Verwaltungsaufbau überzogen die Eliten das ganze Territorium, so daß Regionalsprachen, Regionalkulturen und Rechtstraditionen sich mit der Zeit verloren. In anderen zentralistisch organisierten Staaten wie Spanien oder Großbritannien sind die Nationenbildungsprozesse in etwa ähnlich verlaufen. Auf Gesamteuropa übertragen wird sich meines Erachtens diese Entwicklung jedoch nicht wiederholen. Das Zentrum wird im Falle Europas durch interne Multipolarität der größeren Staaten und durch extern wirkende Polarität zu den USA ausbalanciert.
Ausgleich innerer Spannungen: Die Zentrum-Peripherie-Konstellation wird durch Ausgleichsmechanismen, die vor allem in föderativ organisierten Gemeinwesen ausgeprägt sind, gewissermaßen abgefedert. Die Gleichheit der Ungleichheit schlägt sich im EU-Rahmen in Abstimmungsmodalitäten, Ausgleichszahlungen, Rechtsgleichheit sowie Regional-, Struktur-, Sozial-und Agrarfonds nieder. So, wie in der Bundesrepublik Deutschland die Schaffung gleicher Lebensverhältnisse in den Ländern ein Grundgesetzgebot ist, so sollen auch die Mitgliedsländer der Europäischen Union einen vergleichbaren Lebensstandard erhalten.
Der philosophische Identitätsbegriff Die Wurzeln des sozialpsychologischen Identitätsbegriffs liegen in philosophischen Systemen, die eine einheitsstiftende Identität zwischen dem Individuum und seinem Umfeld herzustellen versuchen. Philosophiegeschichtlich beginnt die Identitätsfrage erstmals in der neueren Zeit bewußt zu werden mit der Entdeckung der Subjektphilosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert. Das Individuum wird als widersprüchliche Existenzform erkannt. „Wir sind Ich -folglich identisch und getheilt -folglich mittelbares und unmittelbares Ich zugleich“, schreibt Novalis in Auseinandersetzung mit Fichte 9. In den Werken der Schriftsteller und Philosophen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wird in dem einzelnen die Menschheit mitgedacht, wird das Provinzielle und das Kosmopolitische aufeinander bezogen.
In sechs Ansätzen kann dieses neue Bewußtsein seine Ausprägung finden, nämlich in Rousseaus Staatsbürgernation, im kategorischen Imperativ Kants, in Humboldts Erziehungsideal, in Herders Kultur-, in Hegels Staats-und schließlich in Marx Klassennation. In diesen Konzepten wird der einzelne auf verschiedenen Bezugsebenen mit dem Allgemeinen verbunden. Die Autonomie des Individuums kann somit auf unterschiedlichem Wege hergestellt werden. Bei politischen Gemeinschaften ist der Bezug des einzelnen zur kulturellen, ökonomischen, sozialen oder politischen Umwelt von allergrößter Bedeutung für die Identitätsbildung. Im europäischen Kontext überwiegen die lokalen, nationalen bzw. regionalen Loyalitäten bei weitem die europäischen, wie aus der Tabelle zu ersehen ist. Bei Konfrontation mit anderen außereuropäischen Identitäten kann sich allerdings ein europäisches Bewußtsein stärker ausbilden, auch hat sich im Brüsseler Apparat ein europäischer Corpsgeist eingefunden. Eine europäische Willensbildung wird tagtäglich in den Brüsseler Institutionen praktiziert. Die historische Erinnerung an „kollektive Gefühle des Stolzes und der Scham, der Freude und des Leides“ (John Stuart Mill) dürfte durch die gemeinsam erlebte bzw. durchlittene Geschichte ein europäisches Band abgeben. Viele Denkmäler und Gebäude erinnern an eine gemeinsame kulturelle Herkunft. Das Wertesystem, auf das sich die europäische Gemeinschaft festgelegt hat, bildet eine gemeinsame Basis. Die Klassengegensätze sind durch Wirtschafts-und Sozialpolitik gemildert worden und bilden kein identitätsstiftendes Kriterium.
Der sozialpsychologische Identitätsbegriff Dieser Begriff kommt aus der Gruppenpsychologie und formuliert identitätsstiftende Elemente der Gruppenkohäsion. Der sozialpsychologische Identitätsbegriff -die affektive Bindung an eine soziale Bezugseinheit -kann nicht an einem einzigen Kriterium festgemacht werden. Eine ethnische Übereinstimmung oder Ähnlichkeit ist nicht gegeben. Die kulturelle Heterogenität Europas entspricht in ihrer Vielfalt eher einer Dialektik von Einheit und Differenz. Das Nebeneinander verschiedener christlicher Religionen läßt auch eine einheitliche religiöse Identität kaum vorstellbar erscheinen. Auch Mythen können allenfalls begrenzt europäische Identität schaffen.
Die Einstellungen der Bürger zu Europa werden jährlich in Umfragen (Eurobarometer) ermittelt. Sie zeigen eine von Land zu Land unterschiedliche, im Durchschnitt aber nur mäßige Zustimmung zur europäischen Vergemeinschaftung. Dem Maastrichter Vertrag wollten 1992 beispielsweise im Durchschnitt nur 43 Prozent der Befragten zustimmen; nur 45 Prozent der Bürger in den damals zwölf Mitgliedsländern „täte es leid, wenn die EG aufgelöst würde“ und 58 Prozent fanden die EU „eine gute Sache“, bei 37 Prozent herrscht Unentschiedenheit oder Ablehnung.
3. Gemeinsamkeiten
Gemeinsame Werte bilden den Grundstein einer jeden politischen Gemeinschaft. Je größer der Fundus an Gemeinsamkeit, desto größer auch die Solidarität unter den Bürgern und das Gefühl für Gemeinsamkeit. Identität beruht auf diesem Fundus. Das Konzept der „Zivilreligion“ von Jean-Jacques Rousseau eröffnet den Zugang zum Glauben an die Legitimität einer politischen Ordnung. Ein solcher „Verfassungspatriotismus“ (Sternberger) umfaßt den Glauben an ein konstitutionelles System, das auf Werten und Institutionen beruht. Die Charta von Paris der KSZE von 1990 beschreibt ausführlich das Wertesystem des „Westens“, indem sie Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft als die wichtigsten Pfeiler hervorhebt. Der Vertrag von Maastricht nimmt diese Werte wieder auf. Noch ausführlicher sind die Werte in den Aufnahmegrundsätzen der Europäischen Union für neue Mitglieder niedergelegt, die auf dem Kopenhagener Gipfel im Juni 1993 beschlossen worden sind. Diese Aufnahmekriterien (demokratische Institutionen, funktionierende Marktwirtschaft sowie die Übernahme des erreichten Standes der politischen und wirtschaftlichen Union) in die Europäische Union, die als gemeinsame Identitätsmerkmale der Mitgliedstaaten verstanden werden können, beziehen sich eher auf Elemente der „Staatsbürgernation“, als auf Merkmale der Kultur-, Klassen-oder Volksnation, denn sie werden vor allem über politische Entscheidungsprozesse hergestellt. Die europäische Multikulturalität, die als ein Nebeneinander vieler Kulturen aus dem gleichen Raum grundsätzlich Toleranz für anderes impliziert, hat nichtsdestoweniger auch Grenzen. Mit dem islamischen Fundamentalismus beispielsweise reibt sich die säkulare Staatsauffassung des Westens. Anders als im Schmelztiegel Amerikas sind in Europa räumlich abgeschlossene Nationalkulturen entstanden. Die US-amerikanische Dominanz der „wasp“ -Kultur (white, anglo-saxon, Protestant) kann daher nicht als multikulturelles Beispiel dienen. Es ist nicht zu sehen, daß die „Vereinigten Staaten von Europa“ nach dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika gebildet werden könnten. Die National-kulturen sind in Europa viel zu ausgeprägt, als daß sich daraus eine Einheitskultur oder gar sich absondernde Kulte entwickeln könnten.
III. Schlußfolgerungen
Europa, so muß das Resümee lauten, lebt aus Spannung, Vielfalt und Veränderung. Die Spannungen und Gegensätze äußern sich in Dualismen wie Stadtstaaten versus Imperien, Rationalismus versus Nationalismus, Kleinflächigkeit versus Großflächigkeit oder Verteidigung versus Aggression. Die europäische Vielfalt besteht aus dem Pluralismus unterschiedlicher Kulturen, unterschiedlicher Sprachen -im Europa der Fünfzehn existieren elf offizielle Sprachen -, der Pluralität der Nationen und politischen Regierungssysteme. Die europäischen Veränderungen sind in der Idee des Fortschritts und der Beschleunigung von Ereignissen zu sehen. Mit anderen Worten: Gegensätze, Vielfalt und Veränderungen sind das Kennzeichen Europas. Zusammengeführt bzw. zusammengehalten wird das Ganze durch gemeinsame historische Erfahrungen und Erinnerungen, durch die Verpflichtung auf gemeinsame Werte, durch die Kongruenz von Interessen und durch die gemeinsame Bedrohung von außen. Als Politikmodell, das Einheit und Vielfalt verbinden kann, kommt, so weit ich sehe, nur der Föderalismus -oder vorsichtiger formuliert: eine föderativ organisierte Gemeinschaft -in Frage. Vielen europäischen Staaten ist dieses Politikmodell fremd oder wird für fremde Zwecke eingesetzt. Einige britische Politiker z. B.sehen im europäischen Föderalismus lediglich ein Aufblähen der Brüsseler Bürokratie. „Federal“ bedeutet im angelsächsischen Kontext Bundes-bzw. Zentral-staatlichkeit. Regionalistische Politiker z. B. in Katalonien oder Irland verbinden mit dem europäischen Föderalismus ein Instrument, um von der nationalen Zentrale wegzukommen oder die Dominanz der ehemaligen Referenzkultur abzustoßen. Beide Impulse haben mit dem Grundgedanken des subsidiär abgestuften Föderalismus nichts zu tun, der ein vernetztes System von unterschiedlich gelagerten Loyalitäten, Institutionen sowie horizontalen wie vertikalen Verflechtungen kennt.
Zwei Fragen drängen sich in bezug auf die beiden Gesichtspunkte auf, die in diesem Beitrag diskutiert worden sind: Zum einen stellt sich die Frage, wie die vier Identitätskonzepte zueinander in Beziehung stehen und wie sich dies im europäischen Raum niederschlägt. Zum andern muß die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der europäischen Identität und der Legitimation der Europäischen Union beantwortet werden.
Zur ersten Frage nach dem Zusammenhang zwischen den vier Identitätskonzepten (historisch, genetisch, philosophisch, sozial-psychologisch) kann generell geantwortet werden, daß bestimmte Elemente der Konzepte eher komplementär sind, als daß sie sich ausschließen. Mit anderen Worten -die erwähnten Divergenzen, Unterschiede, Widersprüche etc., die als Merkmal des europäischen Projektes hervorgehoben worden sind, markieren zwar Unterschiedliches, können aber auch als Bereicherung aufgefaßt und als Gesamtheit gesehen werden. Die Vielfalt schließt die Einheit nicht aus.
Die vier Identitätskonzepte weisen neben Unterschieden auch Gemeinsamkeiten auf, die Identitätsgefühle stützen können. Es kann davon ausgegangen werden, daß der gemeinsame Euro nicht nur ein einfaches Zahlungsmittel sein, sondern auch hohe Symbolkraft besitzen wird. Neben den gemeinsamen Werten bildet die gemeinsame Währung die zweite Ressource für die europäische Identität. Eine dritte besteht in der Konfrontation mit anderen regionalen ökonomischen Zusammenschlüssen. Damit kann sich die europäische Identität aus drei Quellen speisen, aus der Komplementarität der Unterschiede, aus den gemeinsamen Werten, Symbolen, dem europäischen Erbe etc., sowie aus einer gemeinsamen Konkurrenzlage.
In bezug auf die zweite Frage nach den Beziehungen zwischen den Identitätskonzepten und der Legitimation läßt sich antworten: Je mehr sich die europäischen Staatsbürger mit der Union identifizieren, desto höher ist die Legitimität, denn die Legitimation speist sich vor allem aus zwei Quellen, aus der Akzeptanz eines politischen Regimes durch die Staatsbürger und aus der Effektivität und den Leistungen der Regierenden. Politisch manifestiert sich somit die europäische Identität in der Unterstützung durch die Europäer (Legitimität) und ist abzulesen an den Erfolgen der europäischen Politik. Doch wie steht es damit gegenwärtig? Die empirischen Daten der Meinungsbefragungen belegen ziemlich eindeutig, daß die Europäische Union in beiden Bereichen defizitär ist. Der Union mangelt es im öffentlichen Bewußtsein an Unterstützung. Auch mit Erfolgen wird die Union nicht unbedingt in Verbindung gebracht, wenn man die zahlreichen Krisen in der Vergangenheit und die außenpolitischen Mißerfolge z. B. in den Bosnien-und Kaukasuskonflikten betrachtet. Die Konferenz von Amsterdam konnte dieses Defizit kaum mildern, geschweige denn beheben.
Frank R . Pfetsch, Dr. phil., geh. 1936; seit 1976 Professor für Politikwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; zur Zeit Inhaber des Lehrstuhls Alfred Grosser am Institut d’Etudes Politiques in Paris. Veröffentlichungen u. a.: Die Europäische Union. Eine Einführung, München 1997; Dimensionen des Politischen: Erkenntnis und Politik, Handlung und Reflexion, Entwicklung und Evaluation, 3 Bde., Darmstadt 1995.
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