Feindliche Übernahme oder friedliche Wiedervereinigung? Hongkongs Autonomie auf dem Prüfstand. Eine erste Bilanz
Peter J. Opitz
/ 27 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Fast ein Jahr ist seit der Rückführung Hongkongs unter chinesische Souveränität vergangen. Die Bilanz der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der verganenen Monate läßt sich im wesentlichen in drei Feststellungen zusammenfassen: 1. Die Führung in Peking hat sich weitgehend an die mit London ausgehandelte Übergangsregelung gehalten und sich -zumindest nach außen -nicht in die inneren Angelegenheiten der Stadt eingemischt. 2. Die neuen Behörden waren einerseits damit beschäftigt, die von Gouvemeuer Patten eingeleiteten demokratischen Reformen wieder rückgängig zu machen, andererseits aber auch bemüht, den Übergang in die neue Ära so reibungslos wie möglich zu gestalten. 3. Die eigentliche Bewährungsprobe stellte sich -eher unerwartet -im ökonomischen Bereich. Während es der neuen Administration gelang, die destabilisierenden Wirkungen der ostasiatischen Währungs-und Wirtschaftskrise abzuwehren, muß sie sich nun darauf konzentrieren, den ältesten der asiatischen „Tiger“ für das neue Jahrtausend fit zu machen.
I. Einleitung
Der Aufstieg der Hafenstadt vor dem Perlfluß-Delta von einer von Japan ausgeplünderten und entvölkerten britischen Kronkolonie zu einer der dynamischsten Wirtschaftsmetropolen nicht nur der asiatisch-pazifischen Region, sondern weltweit, gehört zu den faszinierendsten Phänomenen der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Und diese Faszination hält auch heute noch an. Denn noch immer ist diese wirtschaftliche Erfolgsstory nicht zu Ende gekommen, noch immer steht Hongkong für eine Vielzahl von Superlativen: Es hat die freiheitlichste Wirtschaftsordnung und die am meisten dienstleistungsorientierte Wirtschaft der Welt; es steht weltweit an zweiter Stelle hinsichtlich seiner Wettbewerbsfähigkeit, an dritter Stelle hinsichtlich seiner Devisenreserven; es ist eines der größten Banken-und Börsenzentren Asiens. Die Reihe der Superlative könnte beliebig verlängert werden.
Für die heutige Beschäftigung mit Hongkong gibt es jedoch noch einen anderen, einen aktuelleren Grund: Es ist die am Juli 1997 erfolgte Rückführung der Stadt nach 155 Jahren britischer Herrschaft unter chinesische Souveränität. Da dieser Übergangsprozeß in Hongkong selbst, aber auch in der westlichen Öffentlichkeit von Unbehagen, Ängsten und pessimistischen Unkenrufen begleitet worden war, liegt -kurz vor Ablauf des ersten Jahres unter chinesischer Souveränität -das Interesse an einer ersten Bilanz nahe. Eine solche Bilanz muß doppelt ausgerichtet sein: Sie muß sich auf die politische Ordnung beziehen, speziell auf das Schicksal der demokratischen Reformen, die von Gouverneur Christopher Patten gegen den scharfen Widerstand Pekings in letzter Stunde eingeleitet worden waren; und sie muß ihre Aufmerksamkeit auf die Entwicklung Hongkongs als Wirtschaftsstandort richten. Da aber die Standortfrage immer in enger Verbindung mit der politischen Ordnung Hongkongs gesehen wurde -speziell mit Rechtsstaatlichkeit, einer funktionsfähigen Verwaltung und der Politik des „positiven Nicht-Interventionismus“ 1 lassen sich beide Ebenen nur schwer voneinander trennen.
Viel mehr als eine erste Bilanz kann es allerdings nicht sein -zum einen, weil der Zeitraum seit dem handover am 1. Juli 1997 für signifikante Veränderungen viel zu kurz ist, zum anderen, weil dieses erste Jahr überraschend unspektakulär verlief. Keines der beiden Ereignisse, die in den letzten zehn Monaten für Schlagzeilen sorgten -die soge-nannte Hühner-Grippe und die Finanz-Taifune, die in ganz Südostasien schwere Verwüstungen anrichteten -, hat etwas mit dem Souveränitätswechsel zu tun, obwohl man bei beiden gelegentlich auf Hilfe vom Festland hoffte.
II. Politische Weichenstellungen
Abbildung 2
Die Zusammensetzung des Legislative Council zwischen 1980 und 2004
Die Zusammensetzung des Legislative Council zwischen 1980 und 2004
Läßt man die Politik der neuen Hongkonger Führung Revue passieren, so lag der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten zunächst im politischen Bereich, und dieser war es auch, auf den sich die internationale Aufmerksamkeit vor allem konzentrierte. Würde sich Peking an die mit London getroffenen Vereinbarungen halten? Der etwas überhastet vorgenommene Einzug von Einheiten der Volksbefreiungsarmee schon am Vorabend der Übergabe hatte -zumindest international -Unruhe hervorgerufen. Vor allem aber: Welche Politik würde der am 11. Dezember 1996 gewählte Chief Executive Tung Chee-hwa einschlagen? Würde er am ererbten System festhalten oder gleich zu Beginn neue Akzente setzen, um damit Eigenständigkeit zu demonstrieren?
Soweit von außen erkennbar, war die politische Entwicklung in Hongkong seit dem handover von zwei Tendenzen gekennzeichnet: zum einen vom Bestreben, die demokratischen Reformen Christopher Pattens wieder rückgängig zu machen bzw. 1. Rücknahme der Ansätze zu demokratischen Reformen politisch zu entschärfen und durch geeignete Weichenstellungen den politischen Einfluß der demokratischen Kräfte in Hongkong zurückzudrängen; zum anderen von dem Bemühen um einen sanften, reibungslosen Übergang in die neue Ära. Keine dieser beiden Tendenzen kam überraschend; beide waren erwartet, ja sogar angekündigt worden.
Die erste -in ihrem Kernanliegen revisionistische -Tendenz war nicht nur die interessanteste, sondern auch die politisch weitreichendste. Sie manifestierte sich vor allem in drei Maßnahmen bzw. Ereignissen: 1. Die erste Maßnahme betraf die Aufhebung wichtiger Reformgesetze der Patten-Administration Im Oktober 1989 hatte der damalige britische Gouverneur David Wilson in Reaktion auf die Niederschlagung der chinesischen Demokratie-bewegung auf dem Festland den Erlaß einer Bill of Rights angekündigt; sie sollte den ohnehin in Hongkong geltenden Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte durch ein lokales Gesetz fester verankern, hatte aber de facto einen eher symbolischen Charakter, der auf die Beruhigung der durch die Ereignisse auf dem Festland verunsicherten Bevölkerung abzielte. Die Ankündigung wurde am 8. Juni 1991 in Form einer Bill of Rights Ordinance (BORO) in die Tat umge-setzt Diese sah u. a. vor, alle geltenden Gesetze, die nicht in Einklang mit der BORO standen, entweder aufzuheben oder entsprechend anzupassen; dieselbe Kompatibilität wurde auch für alle zukünftigen Gesetze verlangt. Bezug nehmend auf die Artikel 3(2) und der BORO glichen die britischen Behörden bis zum Juli 1997 in insgesamt 38 Änderungsgesetzen Hunderte bestehender Gesetze der BORO an, darunter auch die Societies Ordinance (SO) und die Public Order Ordinance (POO). In ihrer allgemeinen Tendenz liefen die Änderungen auf eine Entschärfung vieler restriktiver kolonialer Bestimmungen hinaus, was die britischen Behörden angesichts des ohnehin bevorstehenden Endes der Kolonialära nichts kostete, dafür aber viel internationale Zustimmung einbrachte. Einige Jahre früher unternommen, wäre ein solcher Schritt nicht nur den demokratischen Traditionen Großbritanniens als Mutterland der Demokratie gerechter geworden, sondern hätte auch den Lauf der Entwicklung Hongkongs eine andere Richtung geben können.
Peking hatte postwendend gegen die britischen Maßnahmen als Verstoß gegen die Gemeinsame Erklärung (GE) 4 protestiert und für die Zeit nach dem 1. Juli 1997 entsprechende Änderungen der BORO und der Gesetzesangleichungen angekündigt. Bezug nehmend auf Artikel 160 des Hongkonger Grundgesetzes (GG) hatte dann im Januar 1997 der von Peking eingesetzte Vorbereitungsausschuß, der den Übergang vorbereiten sollte, die Suspendierung von 16 der neuen Gesetze vorgeschlagen sowie die Änderung von neun Gesetzen. Den Zorn Pekings hatte vor allem die Bestimmung erregt, daß kein zukünftiges Gesetz in Widerspruch zur BORO stehen dürfe. Diese hätte damit einen höheren Rang als das vom Nationalen Volkskongreß erlassene Grundgesetz für die Sonderverwaltungsregion Hongkong (SVRH), was in Peking als Affront gegen die Souveränität Chinas verstanden werden mußte. -Eine der ersten Amtshandlungen des Provisorischen Legislativrats (Legislative Council = LegCo) nach dem handover bestand deshalb in der Umsetzung dieser Ankündigungen. Zu den Gesetzen, die weitgehend in ihrer alten Form wiederhergestellt wurden, gehörte auch die SO, die 1991 in Einklang mit der BORO gebracht worden war. Dabei ging es im wesentlichen um eine Registrierungspflicht neuer Organisationen sowie um das Verbot für „politisch engagierte Organisationen“, zu ausländischen Organisationen Verbindung aufzunehmen; untersagt wurde auch die Annahme finanzieller Zuwendungen. Durchaus ähnlich verfuhr man bei der POO, bei deren Änderung 1995 die britischen Behörden auf die bis dahin geltende Pflicht einer schriftlichen Genehmigung von Demonstrationen verzichtet hatten. Nach der nun erneut revidierten Fassung ist eine schriftliche Genehmigung durch die Polizei erforderlich, die Demonstrationen unter Hinweis auf die „nationale Sicherheit“ untersagen kann. 2. Erheblich weniger Aufsehen erregte international ein zweites Ereignis: das am Court of Appeal anhängige Verfahren über die Legalität des Provisorischen LegCo -also jenes Gremiums, das die Gesetzesänderungen durchgeführt hatte. Das Verfahren war von den Verteidigern eines Strafprozesses ausgelöst worden, die argumentiert hatten, die neuen Gesetze Hongkongs seien illegal, da von einem Gremium verabschiedet, das im GG gar nicht vorgesehen und damit illegal sei. Die Entscheidung war von erheblicher Tragweite. Denn zum einen stand mit der Legalität des Provisorischen LegCo auch die Rechtmäßigkeit aller von ihm getroffenen Entscheidungen auf dem Spiel; zum anderen drohte eine Entscheidung des Gerichtes zugunsten der Kläger Hongkong gleich zu Beginn der neuen Ära mit einer schweren Verfassungskrise zu konfrontieren, mit unabsehbaren Auswirkungen auf das weitere Verhältnis der SVRH zu Peking.
Nicht zuletzt aufgrund dieser politischen Konsequenzen fiel die Entscheidung, zu der das Gericht am 29. Juli 1997 kam, politisch nicht ganz unerwartet aus. In der Sache selbst war sie nichtsdestoweniger enttäuschend: Einerseits kam das Berufungsgericht nach Prüfung der Sachlage zu dem Ergebnis, daß der Provisorische LegCo rechtmäßig bestehe, weil der Vorbereitungsausschuß, der den Auswahlausschuß eingerichtet hatte, vom Nationalen Volkskongreß (NVK) in Peking geschaffen worden war und zur Schaffung des Provisorischen LegCo ermächtigt gewesen sei. Andererseits und hinsichtlich der in Frage stehenden Legalität erklärte sich das Berufungsgericht jedoch für nicht zuständig -Begründung: „Regionale Gerichte haben keine Jurisdiktion, die Gültigkeit von Gesetzen und Beschlüssen des Souveräns in Frage zu stellen.“ Verfassungsrechtlich waren Entscheidung und Begründung -so die Ansicht der Mehrzahl der Mitglieder der Hong Kong Bar Association -höchst problematisch, insofern sie damit dem Nationalen Volkskongreß das Recht zugestanden, hinsichtlich Hongkong alles zu beschließen, was immer er wolle. Dieser Vorgang zeigte gleich zu Beginn der neuen Phase, daß die Grenzen der Autonomie Hongkongs in hohem Maße von politischen Rücksichten auf Peking bestimmt werden
3. Bedeutsam, weil in seiner Wirkung weitreichend, war auch die dritte Maßnahme: der Erlaß des neuen Wahlrechts für die zum 24. Mai 1998 angesetzten Wahlen zum ersten LegCo. Hätten Experten den Auftrag gehabt, ein Wahlrecht zu entwerfen, das geeignet war, den nach 1991 angelaufenen Demokratisierungsprozeß rückgängig zu machen, sie hätten es kaum geschickter anlegen können als mit demjenigen, das am 8. Juli 1997 vom Chief Executive vorgelegt und nach einer kurzen Diskussions-und Amendierungsphase am 28. September vom Provisorischen LegCo angenommen wurde. Es sah für alle drei Wählergruppen, die die 60 Mitglieder des Hongkonger Parlament zu wählen haben, Verfahren vor, von denen absehbar war, daß sie sich zuungunsten der demokratischen Kräfte auswirken würden. Es widersprach damit dem Geist der „Offenheit und Demokratie“, den das Grundgesetz forderte
Bei der Wahl der 20 Direktkandidaten der geographischen Wahlkreise {geographical constituencies), die 1995 fast alle von Kandidaten der demokratischen Parteien gewonnen worden waren, trug zur Benachteiligung der demokratischen Kandidaten vor allem die Abschaffung der Ein-Mann-Wahlkreise und die Einführung des Verhältnis-Wahlrechts bei. Dieselbe Tendenz hatte das Verrechnungsverfahren der abgegebenen Stimmen, das ebenfalls kleinere Parteien begünstigte. Auch die Vergrößerung der Wahlkreise und die Erhöhung der Wahlkampfkostenpauschale wirkten sich zuungunsten der demokratischen Parteien und unabhängigen Kandidaten aus, da diese -anders als die vom Festland und der Hongkonger Wirtschaft unterstützten Parteien -über erheblich weniger Mittel verfügen. Zu Lasten finanzschwacher Parteien und Kandidaten ging schließlich auch das Verbot finanzieller Zuwendungen aus dem Ausland, da auf solche Zuwendungen am ehesten die demokratischen Gruppierungen in Hongkong angewiesen sind, verfügt doch die Liberale Partei über ausreichende Zuwendungen der Hongkonger Wirtschaft, während die Pro-Peking-Gruppen vom Festland alimentiert werden. Ähnlich negativ wirkte sich das neue Wahlrecht hinsichtlich der 30 branchenbezogenen und berufsständischen Wahlkreise (functional constituencies) aus, in denen 30 der 60 Mitglieder des LegCo gewählt werden. War von Gouverneur Patten, um die Wahl in ihnen demokratischer zu gestalten, die Zahl der Wahlberechtigten auf 2, 7 Millionen erhöht worden, so wurde sie nun wieder auf 180 000 herabgesetzt. Begünstigt wurden dabei Verbände, die von der Wirtschaft und den Pro-Peking-Gruppen dominiert werden. Eine Verminderung ihrer Wahlchancen erlitten dadurch auch jene Kandidaten, die als Inhaber eines ausländischen Passes nun nur noch in zwölf functional constituencies kandidieren durften. Kandidaten mit ausländischen Pässen, die in den geographischen Wahlkreisen gute Chancen hatten -wie Emily Lau und Christine Loh -, blieb damit nur der Verzicht auf ihren ausländischen Paß. Wie ungleich die Wählerstimmen zwischen den geographischen Wahlkreisen und den funktionalen Wahlkreisen gewichtet sind, machte der Fall des Textil-und Bekleidungsverbands deutlich. Während auf jeden der 20 Sitze der geographischen Wahlkreise zirka 200 000 Wählerstimmen entfielen, reichten dort schon 1 696 Stimmen.
Zu Lasten der Direktwahl und der demokratischen Parteien ging nach dem neuen Wahlrecht auch die Wahl der zehn Abgeordneten, die durch den Wahlausschuß gewählt werden. Hatte sich dieser 1995 aus 283 direkt gewählten Mitgliedern der District Boards zusammengesetzt, so besteht er nun aus 800 Vertretern, die zu gleichen Teilen von vier großen Gruppen gewählt wurden; auch in ihnen ist wieder der Einfluß der Wirtschaft und der Pro-Peking-Kräfte stark.
Angesichts dieser widrigen Rahmenbedingungen -NichtVertretung der demokratischen Parteien in dem von Peking ernannten Übergangsparlament; ein unfaires, für viele Wähler undurchschaubares Wahlrecht und ein in seinen Kompetenzen stark beschnittenes und damit weitgehend bedeutungsloses Parlament -hatten die meisten Beobachter mit einer schwachen Wahlbeteiligung gerechnet. Das Ergebnis entsprach dann aber doch nicht diesen Erwartungen. Nicht nur verzeichnete die Wahlbeteiligung trotz schwerer Unwetter mit 1, 4 Millionen Menschen (53, 3 Prozent der registrierten Wähler) einen neuen Rekord -an den LegCo-Wahlen 1995 hatten sich nur 920 500 Wahlberechtigte (35, 8 Prozent) beteiligt. Erheblich beser als erwartet schnitten auch die Parteien und Kandida-ten des demokratischen Lagers ab. Zwar werden, wenn das neue Parlament am 1. Juli 1998 zusammentritt, die China-freundlichen Kräfte die Mehrheit haben, denn erwartungsgemäß fielen von den 30 Sitzen, die von den berufsständischen Organisationen und Berufsverbänden bestimmt wurden, 25 an Vertreter Peking-und wirtschaftsnaher Parteien, und auch die von dem Wahlausschuß vergebenen zehn Sitze gingen alle an pro-chinesische Kandidaten. Doch in den fünf geographischen Wahlkreisen, in denen die Bevölkerung 20 der 60 Parlamentarier direkt wählen konnte, verzeichneten die Hongkonger Demokraten triumphale Erfolge. Hier gewannen sie zirka 60 Prozent aller Stimmen und damit 15 der insgesamt 20 Mandate. Damit verfügt das demokratische Lager im neuen LegCo über ein Drittel aller Sitze. Das sind zwar neun Sitze weniger als im LegCo von 1995, aber doch deutlich mehr als viele Beobachter erwartet hatten.
Entsprechend selbstbewußt fielen nach der Wahl die Stellungnahmen der demokratischen Führer aus. So forderte der Vorsitzende der Democratic Party, Dr. Martin Lee, schon im Jahre 2000 alle Sitze des Parlaments und zwei Jahre später, im Jahre 2002, auch den nächsten Chief Executive direkt wählen zu lassen. Das wäre zwar nur fair und würde der demokratischen Reife entsprechen, die die Bevölkerung Hongkongs an den Tag gelegt hat. Allerdings besteht kein Zweifel daran, daß die Pekinger Führung, die ja mit dem neuen Wahlgesetz genau eine solche Mehrheit der Demokraten im Parlament verhindern wollte und sich durch den Ausgang der Direktwahlen in der Richtigkeit ihrer Strategie bestätigt sehen dürfte, dies ablehnen wird. Sie kann dies mit Hinweis auf das Grundgesetz tun, das für den LegCo erst im Jahre 2004 eine Erhöhung der Direktmandate auf dann 30 vorsieht; die Regelungen für den Wahlmodus des Chief Executive sind sogar noch restriktiver. Hier ist eine Änderung nicht vor dem Jahre 2007 möglich und dies auch nur dann, wenn sie von zwei Dritteln der Mitglieder des LegCo gebilligt wurde, wenn sie die Zustimmung des Chief Executive hat und wenn sie von dem Ständigen Ausschuß des Nationalen Volkskongresses in Peking, dem sie vorgelegt werden muß, gebilligt wird. Die Vielzahl der Hindernisse, die hier aufgestellt wurden, zeigt unmißverständlich, daß die Pekinger Führung nicht daran denkt, auf ihr Ernennungsrecht beim Chief Executive zu verzichten.
Doch zurück in die Gegenwart: Da das Hongkonger Parlament weitgehend durch das Grundgesetz entmachtet wurde, werden die Demokraten wenig Möglichkeiten haben, direkt auf die Politik der Regierung Einfluß zu nehmen. Allerdings verfügen sie nun über ein Forum, das sie dazu nutzen können, die Regierung öffentlich zu kritisieren und den Geist der Demokratie in der Bevölkerung wachzuhalten. Auch das ist ein kleiner Erfolg. 2. Bemühen um einen sanften Übergang Weniger spektakulär, dafür aber nicht minder bedeutsam war die zweite Tendenz der bisherigen Politik: das Bemühen um einen sanften und reibungslosen Übergang. Diese Tendenz -die sich im übrigen auch in einer deutlichen Zurückhaltung und Nicht-Einmischung der Pekinger Zentralregierung in Hongkonger Angelegenheiten zeigte -hatte sich schon vor dem eigentlichen Machtwechsel angekündigt. So befanden sich unter den elf Mitgliedern des neuen Exekutivrats, dem Tung Chee-hwa am 24. Januar 1997 ernannte, auch zwei, die bislang schon dem Gremium angehört hatten. Wieder im Amt ist auch die frühere Chief Secretary, Frau Anson Chan -die stille Favoritin vieler Hongkonger für das Amt des Chief Executive. Dieselbe Tendenz von good will und personeller Kontinuität zeigte sich auch in der weitgehenden Übernahme der bisherigen Verwaltungsspitze. Nur zwei der Positionen waren neu besetzt worden: das Justizministerium, das es vor dem handover nicht gegeben hatte, sondern lediglich das Amt eines Attorney General sowie die Leitung der Kommission für Korruptionsbekämpfung; in keinem der beiden Fälle standen hinter dem Wechsel politische Motive. Ohne das Plazet der Pekinger Regierung, die ja die Spitzenbeamten auf Vorschlag des Chief Executive ernennt, wäre ein solches Maß an personeller Kontinuität nicht möglich gewesen.
Das Bemühen um Kontinuität und Vertrauen zeigte sich aber vor allem darin, daß es bislang in der Praxis zu keiner signifikanten Einschränkung von Grundfreiheiten kam. Dies wurde besonders deutlich bei der Handhabung des Demonstrationsrechts. Obwohl es seit dem 1. Juli 1997 immer wieder zu politisch motivierten Demonstrationen kam -etwa anläßlich des Machtwechsels, beim Jahres-treffen von Weltbank und IWF sowie am 10. Oktober, dem Nationalfeiertag der chinesischen Nationalisten -und obwohl sich einige der Kundgebungen auch gegen die Anwesenheit von Oktober, dem Nationalfeiertag der chinesischen Nationalisten -und obwohl sich einige der Kundgebungen auch gegen die Anwesenheit von hohen chinesischen Regierungsvertretern wie Premier Li Peng richteten, verliefen sie weitgehend friedlich und ohne unangemessene polizeiliche Behinderungen. Selbst die Demonstrationen Hongkonger Bürger, die Ende Mai zum Gedenken an die Opfer des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens stattfanden -für viele Beobachter die Nagelprobe für den Fortbestand des Demonstrationsrechtes konnten ohne größere Behinderungen durch die Polizei stattfinden 8. Auch für die befürchtete Erosion des Justizwesens, das nach
Artikel 85 GG „frei von jeglicher Einmischung“ sein soll, gibt es keine Anzeichen. Weder kam es bislang zu Verstößen gegen den im GG garantierten Fortbestand der bestehenden Gesetze -sieht man einmal von den oben beschriebenen Veränderungen durch den Provisorischen LegCo ab -noch zu politischer Einflußnahme auf die Rechtsprechung. Positiv vermerkt wurde auch die Übernahme sämtlicher Richter sowie die Ernennung international angesehener Richter zum Court of Appeal.
Vor diesem kurz skizzierten Hintergrund ist eine vielzitierte Bemerkung des renommierten Führers der Demokratischen Partei zu sehen. Martin Lee hatte mit Blick auf die dominierende Rolle, die das GG dem Chief Executive einräumt, bemerkt, daß China zwar einen „Tyrannen“ geschaffen habe, der über alle Machtbefugnisse verfügt, daß dieser sich aber bislang als „wohlwollend“ erwiesen habe 9. Er hatte allerdings warnend hinzugefügt, daß sich dies von einem Tag auf den anderen ändern könne.
Diese relativ positive Bilanz gilt cum grano salis auch für einen Bereich, der schon im Vorfeld des Machtwechsels Anlaß zur Sorge gegeben hatte: die Pressefreiheit. Schon seit Beginn der neunziger Jahre waren vom Festland immer wieder tiefe Schatten auf Hongkong gefallen, als die dortigen Behörden auch rigoros gegen Journalisten aus Hongkong vorgingen, mit deren China-Berichterstattung sie nicht einverstanden waren. In einigen Fällen war es sogar zu Inhaftierungen und Prozessen gekommen 10. Bedenklich stimmte ferner, daß die Eigentümer einiger führender Zeitungen Hongkongs mit Rücksicht auf ihre wirtschaftlichen Aktivitäten auf dem Festland den Redaktionen ihrer Blätter und Sender offenbar Zurückhaltung bei allen China betreffenden sensiblen Themen auferlegt hatten; das galt vor allem für die Berichterstattung über Taiwan und Tibet und natürlich über alles, was mit der chinesischen Demokratie-bewegung zusammenhängt. So hatten schon im Sommer 1994 Journalisten der Nachrichtenabteilung Asia Television gegen den Beschluß der Geschäftsleitung protestiert, auf die Ausstrahlung eines spanischen Filmes über die Niederschlagung der Studentendemonstrationen zu verzichten. In Erinnerung ist auch die Entlassung eines Karikaturisten der South China Morning Post, der wegen China-kritischer Zeichnungen in Ungnade gefallen war. Wenn im vergangenen Jahr kein spektakulärer Fall der Behinderung der Pressefreiheit bekannt wurde, so dürfte dies neben einer diskreten Regie hinter den Kulissen allerdings auch die Folge der Selbstzensur vieler Journalisten sein.
Dennoch gibt es eine Reihe beunruhigender Indizien, die Anlaß zur Sorge sind, daß es allmählich zu einer Verschärfung kommen könnte. Unruhe verursachte Ende März in Hongkong die scharfe Kritik eines Delegierten der chinesischen Konsultativkonferenz an Sendungen des Radio Television Hong Kong, in denen Regierungsmitglieder in Hongkong und Peking angegriffen wurden. Befürchtungen, dies sei der Startschuß zu einer Einschüchterung vor den kommenden Wahlen, haben sich aber nicht bestätigt Mit Spannung wird derzeit auch der Ausgang eines Verfahrens erwartet, das am 21. Dezember 1997 gegen die Hong Kong Alliance in Support of the Democratic Patriotic Movement und die April 5th Action Group angestrengt wurde. Zielsetzung dürfte die Auflösung gemäß Artikel 23 GG sein, der von der Sonderverwaltungsregion Gesetze gegen „Verrat, Loslösung, Aufstand, Subversion“ gegen die Zentralregierung und den Diebstahl von Staatsgeheimnissen vorsieht. Die Anklageschrift fordert Geldstrafen von 10 Millionen HK-Dollar von Sceto Wah sowie je 3 Millionen HK-Dollar von Martin Lee und einem weiteren Mitglied der Democratic Party. Sollten die Gerichte diesem Antrag folgen, so wäre dies ein erster schwerer Schlag gegen die Redefreiheit
Aufmerksamkeit erregten schließlich Ankündigungen von Tung Chee-hwa, neue Akzente in der Sozialpolitik zu setzen. Den Hintergrund bildet dabei die Tatsache, daß über Glanz und Glamour Hongkongs häufig übersehen wird, daß von den 6, 3 Millionen Bewohnern der Stadt zirka 650 000 unterhalb der Armutsgrenze leben daß es in Hongkong an bezahlbaren Wohnungen fehlt, daß es noch keine Altersversorgung gibt und daß auch das bestehende Sozialsystem schwere Defizite aufweist. Die Ankündigung Tungs in seiner ersten Regierungserklärung am 9. Oktober 1997 sich . verstärkt der Verbesserung der Wohnungssituation zu widmen -geplant ist der Bau von 85 000 Apartments jährlich -sowie mit Regierungsgeldern die Alterssicherungssysteme zu verbessern, ist zweifellos Teil einer Politik, die Regierung vom Makel einer allzu großen Nähe zur Wirtschaft zu befreien und der Demokratischen Partei, die sich bislang am stärksten für die Interessen der einfachen Bevölkerung engagierte, Wähler abzujagen. Zudem reagierte die Regierung damit auch auf die Betonung wirtschaftlicher Anliegen in Meinungsbefragungen. Schon im Juli 1997 rangierten diese (etwa Wirtschaftswachstum, Wohnungsbau und Beschäftigung) mit 43 Prozent weit vor sozialen (26 Prozent) und politischen Anliegen (19 Prozent). Im April 1998 hatten sie ihren Vorsprung mit 63 Prozent noch weiter ausgebaut: Soziale Anliegen wie Erziehung, Kriminalität, Gesundheit und Umwelt verzeichneten jetzt nur noch Prozent, und politische Anliegen waren mit 12 Prozent noch weiter abgesunken. Unter diesen bildete wiederum der seit fast 20 Jahren heiß diskutierte Autonomiestatus der Stadt eines der Versammlungsfrei Schlußlichter -ebenso wie die -heit war er nur für 1 Prozent der Befragten noch ein Anliegen 15.
Auf ein Problem ganz anderer Art machten die Ende 1997 vom Amt für Zensus und Statistik veröffentlichten Daten über die Bevölkerungsentwicklung Hongkongs aufmerksam. Ihnen zufolge war die Bevölkerung der Stadt im vergangenen Jahr um drei Prozent auf 6, 62 Millionen Menschen angewachsen; es war die höchste Zuwachsrate seit 1979. Das Anwachsen der Bevölkerung Hongkongs wird im wesentlichen von vier Faktoren bestimmt: vom natürlichen Wachstum der Bevölkerung; von einer verstärkten Rückwanderung von Hongkonger Auswanderern; von einer Zuwanderung von Fachkräften für die in Hongkong operierenden ausländischen und festlandchinesischen Firmen; sowie von der Zuwanderung vom benachbarten Festland. Das Hauptgewicht liegt dabei auf dem vierten Faktor. Obwohl die Hongkonger Behörden die Zuwanderung vom Festland überaus strikt handhaben und bislang an einer täglichen Zuwanderungsquote von 150 Personen festhalten, gibt es eine Reihe von Schwachstellen, die diese Politik unterminieren könnten. Sie betreffen zum einen den Rechtsanspruch von Kindern, deren Eltern ihren Wohnsitz in Hongkong haben. Da es sich bei ihnen um mehrere zehntausend handelt, haben die Behörden den Zugang kontingentiert und sich damit ein Gerichtsverfahren der betroffenen Eltern am Berufungsgericht eingehandelt, dessen Ausgang noch offen ist. Sollte das Gericht zugunsten der Familienzusammenführung entscheiden, wäre mit einem weiteren Zustrom zu rechnen. Dieser würde für den Fall weiterwachsen, daß das Gericht auch unehelichen und adoptierten Kindern von Hongkonger Bürgern das Zuzugs-recht zuerkennen würde. Zu einer weiteren Verschärfung würde es kommen, wenn auch die ille-gale Zuwanderung vom Festland wieder zunähme, was für den Fall einer Verschlechterung der Lebensbedingungen auf dem Festland nicht auszuschließen ist.
III. Wirtschaftliche Herausforderungen
Während Tung Chee-hwa in seiner ersten Regierungserklärung den politischen Bereich nur kurz streifte, fielen seine Ausführungen zur wirtschaftlichen Entwicklung Hongkongs erheblich umfangreicher und auch detaillierter aus. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Zum einen und zuerst war dies die Folge eines engen politischen Handlungsspielraums, der von Peking nicht nur vorgegeben, sondern auch aufmerksam überwacht wird. Dagegen genießt die Verwaltung der SVRH im wirtschaftlichen Bereich weitgehende Handlungsfreiheit; der Maßstab, an dem sie hier gemessen wird, ist vor allem der wirtschaftliche Erfolg. Zum anderen waren die richtungsweisenden politischen Weichenstellungen zum großen Teil schon vor dem handover erfolgt, während die wirtschaftlichen Probleme noch ungelöst waren. Der dritte Grund ist vielleicht der wichtigste: Die wirtschaftlichen Probleme sind erheblich schwerer zu lösen als die politischen, und die neue Führung kann sich nicht mehr, wie ihre Vorgängerinnen, auf ein Laisserfaire bzw. auf die Position eines „positiven Nicht-Interventionismus“ zurückziehen. Statt das Feld den sichtbaren und unsichtbaren Händen des Marktes und der Hongkonger Konzerne zu überlassen, muß sie selbst stärker steuernd eingreifen.
Daß der Wirtschaftsstandort Hongkong nach den boomenden achtziger Jahren erneut in schwierige Gewässer geraten war, wurde -ungeachtet weiterhin günstiger konjunktureller Daten -spätestens seit Beginn der neunziger Jahre sichtbar. Handlungsbedarf bestand vor allem bei drei großen Problembereichen:
Der erste Bereich betraf den Produktionsstandort Hongkong. Noch Anfang der achtziger Jahre war nahezu die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung der Stadt in der verarbeitenden Industrie beschäftigt -1994 war ihr Anteil auf unter zehn Prozent gefallen und fiel weiter. Ursache war die Auslagerung zahlreicher arbeitsintensiver Industrien auf das chinesische Festland und in asiatische Billiglohnländer wie Indonesien und Vietnam. In der Erwartung, den Verlust an Arbeitskräften über die expandierenden Wirtschaftssektoren, insbesondere den Dienstleistungssektor, kompensieren zu können, hatte man die Entwicklung neuer, technologisch hochwertiger Produkte und damit den Aufbau von leistungsfähigen Hightech-Industrien weitgehend vernachlässigt -ein Versäumnis, dessen man sich zu Beginn der neunziger Jahre immer mehr bewußt wurde.
Der zweite Problembereich betraf Hongkong als Handels-bzw. Zwischenhandelszentrum. Nach der Öffnungspolitik Pekings war Hongkong zum wichtigsten Tor nach, aber auch von China geworden. Denn nicht nur China verschiffte einen großen Teil seines ständig wachsenden Außenhandels über Hongkong, das damit bald zum größten Container-hafen der Welt wurde, auch die Exporte vieler Industrieländer nach China liefen über Hongkong. Das galt auch für Länder, die über keine diplomatischen Beziehungen zu Peking verfügten, aber einen wachsenden Handel mit China verzeichneten wie Südkorea und Taiwan.
Auch hier zeichnen sich inzwischen Entwicklungen zuungunsten Hongkongs ab. Konkurrenz droht zum einen von anderen chinesischen Hafenstädten, die dabei sind, mit großen Investitionen ihre wirtschaftliche Infrastruktur auszubauen; sie werden damit auf absehbare Zeit zu ernsthaften Rivalen Hongkongs aufsteigen. Die Tendenz zu einer Diversifizierung der Handelsströme wird durch einen zweiten Faktor verschärft: durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Peking und Seoul 1992 sowie durch die Anfang 1997 vereinbarte Aufnahme von direkten Verkehrsverbindungen zwischen dem Festland und Taiwan. Erhebliche Risiken für Hongkong bergen auch eventuelle Handelskriege zwischen den westlichen Staaten und China, aber auch Probleme der chinesischen Wirtschaft. So wären im Fall eines Abflauens des Wirtschaftswachstums auf dem Festland starke negative Auswirkungen auf Hongkong absehbar; dasselbe gilt für den Fall einer Abwertung des Renminbi (RMB)
Einen dritten Problembereich bildet der Dienstleistungssektor, dessen Bedeutung für Hongkong seit den achtziger Jahren ständig gewachsen ist und in dem 1996 zirka 77 Prozent der Beschäftigten tätig waren. Notorische Probleme verursachen die seit langem hohen Büromieten, Immobilienpreise und Lohnkosten; hinzu kommt seit dem handover die Sorge vor zunehmender Rechtsunsicherheit und Korruption aufgrund festlandchinesischer Einflüsse. Schließlich mehren sich aber auch die Warnungen vor negativen Effekten, die sich aus dem Fehlen eines modernen Industriesektors auch für den Dienstleistungsbereich ergeben. Auch wenn man davon ausgehen kann, daß Hongkong aufgrund seiner günstigen geographischen Lage sowie enger Beziehungen zum Festland auch im kommenden Jahrzehnt der beste Standort für das Süd-china-Geschäft bleiben wird, sind zwei Gefahren unübersehbar: die Abwanderung großer Konzerne und Dienstleistungsunternehmen in kostengünstigere Standorte der Region und der Verlust von Arbeitsplätzen durch verstärkte Rationalisierungen.
In allen drei Problembereichen bestand für die neue Verwaltung somit Handlungsbedarf. Die Notwendigkeit einer verstärkten Strukturpolitik war schon seit Beginn der neunziger Jahre unübersehbar; konkrete Vorschläge enthielten zwei umfangreiche amerikanische Studien, die die neue Administration bei Amtsantritt vorfand Stimulating New Technology Industries figurierte in der Regierungserklärung denn auch an prominenter Stelle. Die Regierung kann gerade hier an Initiativen der britischen Behörden anknüpfen. Dazu gehörten u. a. die Schaffung eines Applied Research Council, der durch öffentliche Mittel Initiativen im Bereich angewandter Forschung und Entwicklung fördern soll, die Gründung eines Hong Kong Industrial Technology Center sowie Kooperationsabkommen zwischen Hongkong und dem Festland zur Förderung technologischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet angewandter Forschung und Entwicklung. In dieselbe Richtung zielen nun ein Industry Support Fund und ein Applied Research Fund sowie die Bereitstellung von 500 Millionen HK-Dollar zur Unterstützung von Forschung in Informationstechnologien und anderen Hightech-Industrien. Mittelfristig beabsichtigt Tung Chee-hwa, Hongkong zu einem „Innovationszentrum nicht nur für sich selbst, sondern für Südchina und die Region“ zu machen. Ob dies gelingt, ob Hongkong zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten Region werden kann, bleibt allerdings abzuwarten
Derselben wirtschaftlichen Stoßrichtung entsprechen die Pläne für eine grundlegende Verbesserung des bestehenden Bildungssystems. Bildung hatte der neue Chief Executive schon bei seiner Amtsübernahme als „Schlüssel für die Zukunft Hongkongs“ bezeichnet; insofern ist es nur konsequent, wenn das gesamte Bildungssystem nun unter Einsatz erheblicher Finanzzusagen grundlegend überholt und verbessert werden soll. Wie schon im Bereich neuer Technologien orientiert man sich auch hier zunehmend an der Politik Singapurs, der großen Rivalin.
Auch in Hinblick auf die Sicherung Hongkongs als regionale Drehscheibe und Entrepot für den Zwischenhandel waren wichtige Weichenstellungen schon von der vorangegangenen Administration vorgenommen worden. Diese betrafen zum einen den Bau eines neuen Flughafens auf der kleinen, vor Lantau gelegenen Insel Chek Lap Kok, der über eine aufwendige Infrastruktur mit den Zentren Hongkongs verbunden ist und dessen erste Landebahn am 6. Juli 1998 eröffnet werden soll. Mit einer Kapazität von jährlich 35 Millionen Passagieren und drei Millionen Tonnen Cargo stellt er eines der ambitioniertesten Flughafenprojekte der Region dar. Ob er die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen wird, dürfte jedoch nicht nur von einem hohen Dienstleistungsniveau abhängen, sondern auch von konkurrenzfähigen Gebühren. Derzeit liegen die Gebühren Hongkongs trotz Senkungen noch weit über denen der Flughäfen von Shenzhen, Zhuhai und Macao. Dasselbe gilt für ein zweites großes Projekt, den Bau neuer Hafenanlagen, die die vorhandenen Kapazitäten vervierfachen werden. Während der durch Pekinger Einsprüche lange verzögerte Container-Terminal 9 inzwischen weitgehend fertiggestellt ist, stoßen die Pläne zum Bau weiterer zwei Container-Terminals auf Widerstand und Zurückhaltung. Hintergrund dafür ist die zunehmende Konkurrenz von Festlandhäfen -wie Shanghai, Kanton, Tianjin -, über die ein wachsender Anteil des chinesischen Außenhandels direkt verschifft wird. Ein neues Projekt mit einem Investitionsvolumen von derzeit 53, 1 Milliarden HK-Dollar ist der Bau einer Eisenbahnverbindung -des Western Corridor Rad Link (West Rad) -durch den Nordwesten der New Territories nach China. Ein weiteres wichtiges Infrastrukturprojekt hat Ende 1997 die Regierung der Sonderwirtschaftszone Zhuhai bekanntgegeben. Vorgesehen ist der Bau einer 27 km langen und 33 Meter breiten Brücke über den Zhuhai-Fluß zwischen Zhuhai und Hongkong; für den Bau, der bis 2004 abgeschlossen sein soll, wurden 16, 5 Milliarden HK-Dollar veranschlagt.
Neben den strukturellen Problemen, die den Wirtschaftsstandort Hongkong langfristig gefährden könnten, gab es unerwartet einige weitere Probleme, die die Kompetenz der neuen Administration auf eine erste harte Bewährungsprobe stellten. Zu ihnen gehörten zunächst Spekulationen gegen den Hongkong Dollar, der seit Oktober 1983 -mit einer Wechselkursrelation von 1 US-Dollar zu 7, 8 HK-Dollar -fest an den US-Dollar gekoppelt ist. Obwohl die langfristigen Vorteile einer solchen Bindung -des sogenannten „peg“ -hinsichtlich der Planungssicherheit evident sind, verstärkten sich mit dem nahenden Souveränitätswechsel Gerüchte, wonach Dauer und Haltbarkeit dieser Bindung in Frage zu stellen seien. Denn abgesehen von den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, die von einem starken US-Dollar auf das Zinsniveau Hongkongs ausgehen, wurde argumentiert, daß Peking, obwohl es Hongkong im GG eine separate Währung zugestanden hatte, die Dollar-Bindung auf die Dauer nicht hinnehmen würde. Milton Friedman vermutet sogar, daß der HK-Dollar nur zwei Jahre nach dem handover vom Renminbi absorbiert werden wird.
Obwohl solche Absichten von der chinesischen Führung entschieden dementiert werden und auch die neuen Hongkong-Behörden sich entschlossen zeigen, zur Abwehr der Spekulationsangriffe auf ihre beträchtlichen Devisenreserven zurückzugreifen, die sich im Dezember 1997 auf 92, 8 Milliarden US-Dollar beliefen, setzten Ende 1997 erneut heftige Spekulationswellen ein. Den Hintergrund bildeten nun dramatische Währungsabwertungen in mehreren Staaten Südostasiens, die in Hongkong zu einer weiteren Verteuerung der Büromieten und Lebenshaltungskosten führten. Wenn sich die neue Führung trotz der wirtschaftlichen Belastungen, die der „peg“ für die Wettbewerbsfähigkeit der Hongkonger Wirtschaft zur Folge hat, auch weiterhin entschlossen zeigt, die Bindung unter allen Umständen zu verteidigen, so auch deshalb, weil sie und viele Experten die negativen Auswirkungen im Falle einer Lösung des „peg“ als noch größer einschätzt; dasselbe gilt für eine Abwertung des Hongkong-Dollars • Eine ähnliche Entschlossenheit demonstrierte die neue Administration auch gegenüber den von der Währungs-und Bankenkrise Südostasien verursachten schweren Kurseinbrüchen an der Hongkonger Börse. So fiel der Hang-Seng-Index, nachdem er Anfang August seinen bisherigen Höchstwert von 16 820 Punkten erreicht hatte, im Oktober in nur wenigen Tagen auf 8 775 Punkte. Neben der Verteidigung des „peg“ leitete die Hong Kong Monetary Authority eine Reihe von zusätzlichen Maßnahmen ein, um einen Vertrauensverlust oder gar einer Destabilisierung des Hongkonger Bankensystems vorzubeugen Dazu gehörten neben einer weiteren Verschärfung der schon bis dahin strengen Bankenaufsicht auch eine Aufstockung des „Rettungsfonds“, der für die Verluste von Kleinanlegern aufkommt Trotz dieser Maßnahmen dürfte sich das Wirtschaftswachstum Hongkongs im Jahre 1998 verlangsamen und das reale Bruttoinlandsprodukt, das 1997 noch um 5, 2 Prozent gewachsen war, deutlich unter dem des Vorjahres liegen; Schätzungen der Hongkonger Regierung belaufen sich für 1998 auf 3, 5 Prozent. Ursachen dafür sind neben den Maßnahmen zur Verteidigung der Dollar-Bindung -ein hohes Zinsniveau, das insbesondere zu Belastungen des Finanz-und Immobiliensektors führt -und einer schwachen Inlandsnachfrage vor allem die verschlechterten äußeren Rahmenbedingungen: die reale Aufwertung des Hongkong-Dollars gegenüber den meisten anderen asiatischen Währungen, von denen viele die Dollar-Bindung inzwischen gelöst haben; geringere Exporte in die von der Währungs-und Wirtschaftskrise gebeutelten Nachbarländer, aber auch deutlich rückläufigen Touristenzahlen
Allerdings ist die asiatische Finanzkrise noch keineswegs überstanden. Auf Grund der Interventionen des Internationalen Währungsfonds ist zwar in Südkorea, Thailand und Malaysia eine gewisse Stabilisierung eingetreten, aber es ist keineswegs sicher, daß die Turbulenzen nicht wieder aufbrechen und erneut auf Hongkong übergreifen. Eine nachhaltige Beschädigung des Banken-und Börsenzentrums Hongkong, die bislang erfolgreich verhindert werden konnte, hätte jedoch nicht nur für die Stadt selbst tiefgreifende Auswirkungen. Auch das chinesische Festland, dessen Modernisierungspolitik bislang stark von Hongkong profitiert hat, würde einen schweren Schlag erleiden, und ein Übergreifen der Krise auf das Festland hätte wiederum schwere globale Konsequenzen zur Folge. Nicht zuletzt aus diesem Grunde kann Peking derzeit kein Interesse daran haben, das Vertrauen in den Finanzplatz Hongkong zu gefährden. Im Gegenteil, es muß im eigenen Interesse dazu bereit sein, Hongkong im Notfall zu Hilfe zu kommen, ganz abgesehen von dem Gesichtsverlust, den ein wirtschaftlicher Kollaps Hongkongs gleich im ersten Jahr nach der Übergabe für die chinesische Führung bedeuten würde.
Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die Stimmung der unmittelbar Betroffenen -der Bevölkerung Hongkongs deren Schwankungen sorgfältig von einem seit mehreren Jahren laufenden Transition Project der Baptist University in Hongkong registriert werden. Die Ergebnisse sind einigermaßen überraschend: Dominierten in den vergangenen Jahren vor allem Ängste vor einem politischen Umschwung, so sind diese nun weitgehend von Sorgen über die wirtschaftliche Zukunft abgelöst bzw. überlagert. Wesentlich beigetragen zu diesem Stimmungsumschwung hat zweifellos die Wirtschaftskrise der vergangenen Monate. Einen nicht unerheblichen Anteil daran hat aber auch die geschickte, nämlich zurückhaltende Politik der Zentralregierung gegenüber Hongkong, die sich im April 1998 bei Meinungsumfragen der bislang größten Zustimmung erfreute Hatten sich im September 1995, nach den letzten LegCo-Wahlen, nur 17 Prozent der Befragten zufrieden, 62 Prozent dagegen unzufrieden über Pekings Hongkong-Politik geäußert, so war die Stimmung im April 1998 fast ins Gegenteil umgeschlagen: 67 Prozent der Befragten zeigten sich nun zufrieden mit der Handhabung der Hongkong-Angelegenheiten durch Peking, 17 Prozent waren unzufrieden, während 15 Prozent keine Meinung hatten. Daß sich inzwischen auch eine Mehrheit der Bevölkerung der Stadt mit dem Souveränitätswechsel abgefunden hat und die Wiedervereinigung mit China unter dem Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ sogar als die historisch beste Lösung ansieht, ist ein weiteres Ergebnis der Befragung: Während sich 5 Prozent entschieden und 13 Prozent eher allgemein gegen den Wechsel aussprachen, wurde er von 40 Prozent der Befragten allgemein und von 24 Prozent sogar entschieden befürwortet. Durchaus im Einklang damit erklärte schon im Januar 1998 erstmals eine Mehrheit der Befragten, daß sie auch bei einer Verschlechterung ihrer persönlichen Situation nicht versuchen würde, Hongkong zu verlassen Es bleibt zu hoffen, daß sich auch in den kommenden Jahren kein Grund zu einem erneuten Meinungswechsel ergibt, wenn mit dem nachlassenden internationalen Interesse an der Stadt vor dem Perlfluß-Delta in Peking und Hongkong der Zwang zur Zurückhaltung nachläßt.
Peter J. Opitz, Dr. phil., geb. 1937; Studium der Politischen Wissenschaft, Sinologie, Philosophie in Freiburg und München; Professor für Politische Wissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Grundprobleme der Entwicklungsländer, München 1991; Gezeitenwechsel in China. Die Modernisierung der chinesischen Außenpolitik, Zürich 1991; (Hrsg.) Weltprobleme -Herausforderungen an der Schwelle zum Dritten Jahrtausend, München-Bonn 1995; Die Vereinten Nationen, München 1995; (Hrsg.) Der globale Marsch: Weltprobleme, Flucht und Migration, München 1997; (Hrsg.) Auf den Spuren der Tiger: Entwicklungsprozesse in den asiatischen Regionen, München 1997; (Hrsg.) Grundprobleme der Entwicklungsregionen: Der Süden an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, München 1997.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).