Beschäftigungsstrategie der DDR. Frühe Erfolge und zunehmende Erstarrung
Holle Grünert
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Zusammenfassung
Das Beschäftigungssystem der DDR entstand im wesentlichen in den späten vierziger bis frühen sechziger Jahren. Es war gekennzeichnet durch zentrale Planung des Arbeitskräftebedarfs bei relativer Eigenverantwortung der Betriebe für den Arbeitskräfteeinsatz; durch die Zuständigkeit von Bildungssystemen und „territorialen Organen“ für die Mobilisierung, Qualifizierung und „Lenkung“ von Arbeitskräften sowie durch freie Arbeitsplatzwahl und effektiv gesicherte Arbeitnehmerrechte. Unter den Bedingungen vorwiegend extensiven Wachstums in den modernen Wirtschaftssektoren war die Beschäftigungsstrategie der DDR zunächst erfolgreich. So gelang es, das Arbeitskräfte-potential weitgehend auszuschöpfen (insbesondere durch Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen), das Qualifikationsniveau zu erhöhen und den Strukturwandel in Richtung eines schnellen Ausbaus der Schwer-und Großindustrie voranzutreiben. In dem Maße, in dem sich die Erfordernisse intensiven Wirtschaftswachstums verstärkten und die Ressourcen für eine Ausweitung des „Arbeitsvermögens“ zu erschöpfen drohten, stieß die Beschäftigungsstrategie jedoch an ihre Grenzen. Dieselben Instrumente, die eine Mobilisierung zusätzlicher Arbeitskräfte gefördert hatten, behinderten jetzt deren Reallokation. Die Mobilität von Arbeitskräften ging deutlich zurück und blieb bis zum Ende der DDR gering. Kampagnen zur „Freisetzung für neue Aufgaben“ zeitigten kaum Erfolge. Der wirtschaftliche Strukturwandel war zunehmend blockiert.
I. Der institutioneile Rahmen
Das, was man das Beschäftigungssystem der DDR nennen kann, entstand im wesentlichen in den späten vierziger bis frühen sechziger Jahren: einerseits unter den geopolitischen Bedingungen von Planwirtschaft, schrittweiser Auflösung der ursprünglich sehr engen Beziehungen zwischen ost-und westdeutscher Wirtschaft und einer zunehmenden Ausrichtung der ostdeutschen Industrie auf die Sowjetunion; andererseits unter dem fortwirkenden starken Einfluß deutscher sozialpolitischer und sozialrechtlicher Traditionen. Der institutionelle Rahmen von Arbeit und Beschäftigung, der aus diesen Bedingungen resultierte, war durch drei Elemente geprägt, die einander ergänzen und verstärken sollten, aber in der Praxis keineswegs reibungslos zusammenwirkten. Die „Angebots“ -Seite: Weitgehende und effektiv gesicherte Arbeitnehmerrechte Auf der „Angebots“ -Seite des Arbeitsmarktes* besaßen die einzelnen Arbeitnehmer in der Verfassung und in Gesetzen fixierte, mit Hilfe der Rechtsprechung durchsetzbare und in der Praxis zumeist unbestrittene Rechte und Ansprüche. Diese Rechte ergaben sich aus dem individuellen Arbeitsvertrag, der in aller Regel mit dem konkreten Betrieb abgeschlossen wurde, in dem sich der Arbeitsplatz befand (und nicht mit dem Kombinat oder einem anderen übergeordneten Organ). Wohl nirgendwo im Beschäftigungssystem zeigt sich die für die DDR typische Überformung und Vermischung von überkommenen „bürgerlichen“ und aus der Sowjetunion übernommenen „sozia-listischen“ Regulierungsinstrumenten so deutlich wie am Beispiel des individuellen Arbeitsvertrages. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) mit dem darin verankerten Vertragsrecht galt in der DDR weiter. Es wurde später durch ein gesondertes Arbeitsgesetzbuch (AGB) präzisiert, aber niemals außer Kraft gesetzt.
Unter den aus dem Arbeitsvertrag folgenden bzw. in ihm konkretisierten Rechten sind drei Gruppen besonders hervorzuheben: das Recht auf einen im Regelfall der Ausbildung adäquaten Arbeitsplatz; das nur bei bestimmten Beschäftigtengruppen bzw. bei den Absolventen bestimmter Ausbildungsgänge in den ersten Berufsjahren eingeschränkte Recht auf freie Arbeitsplatzwahl; -weitgehende Schutzrechte gegen unerwünschte Dispositionen des Betriebs, insbesondere im Falle von Versetzungen an einen Arbeitsplatz, den der Arbeitnehmer als nicht zumutbar bzw.
nicht angemessen betrachtete.
Es war wohl nicht zuletzt der zu allen Zeiten sehr starken Konkurrenz mit den westdeutschen Verhältnissen zu verdanken, daß diese Rechte sukzessive ausgebaut wurden und in den meisten Fällen auch effektiv einklagbar waren. Wenn dennoch Beschäftigte in manchen Betrieben unter schweren, zum Teil ausgesprochen gesundheitsgefährdenden Bedingungen mehr oder weniger klaglos arbeiteten, so dürfte dies der Gewöhnung wie auch einem spezifischen Konsensmodell geschuldet gewesen sein, das auf „Erziehung“ und „Einsicht“ setzte. 2. Die „Nachfrage" -Seite: Zentrale Planung und betriebliche Verantwortung Anfänge einer zentralen Wirtschaftsplanung nach sowjetischem Vorbild gab es seit Ende der vierziger Jahre (Zweijahrplan 1948-1950, erster Fünfjahrplan 1950-1955). Ihr Ziel bestand in der Planung der Produktions-und Leistungsziele (der Outputs) und der Festlegung von Grundproportionen der Outputverwendung. Die benötigten Arbeitskräfte-und anderen Ressourcen gingen einerseits als verfügbare bzw. zu entwickelnde Bestände, andererseits als Restriktionen für wünschenswerte Outputsteigerungen in die Planung ein. Dabei bildete der Arbeitskräfteplan ein -wie es später hieß -relativ selbständiges „Teilsystem der Gesamtplanung“ mit den Hauptbestandteilen: Planung der Steigerung der Arbeitsproduktivität, Planung des Arbeitskräftebedarfs und Planung des Lohn-und Prämienfonds sowie des Kultur-und Sozialfonds.
Aus den quantitativen Produktionszielen und der geplanten Steigerung der Arbeitsproduktivität sollte sich der Bedarf an Arbeitskräften -nach Volumen und Struktur -ergeben. Zugleich sollte die Produktivitätssteigerung den Rahmen für mögliche Lohnerhöhungen und Zuführungen zum Prämienfonds abstecken. Lohnhöhe und Lohnentwicklung sollten ihrerseits Leistungsanreize für die Erreichung der Planziele setzen und wesentlich zur Allokation von Arbeitskräften in Schwerpunktbereichen beitragen.
Je länger das Beschäftigungssystem bestand, desto deutlicher zeigten sich freilich innere Widersprüche dieser Konstruktion: Um seine Anreizfunktion zu erfüllen, hätte der Lohn in unmittelbarer Verbindung zur Leistung des Einzelnen und des Betriebes stehen müssen. Um seiner Allokationsfunktion gerecht zu werden, hätte er in erster Linie gesamtwirtschaftliche Ziele widerspiegeln müssen. Beide Aufgaben konnten nur unzulänglich miteinander in Einklang gebracht werden; um so mehr, als Veränderungen des Lohngefüges aus sozialpolitischen Gründen nur über differentielle Lohnerhöhungen (bei gleichzeitig angestrebter Preisstabilität), nicht aber über Absenkungen durchsetzbar waren.
Der Arbeitskräfteplan wurde im Laufe der Zeit durch vielfältige Teilpläne zur Qualifizierung und „Kaderentwicklung“, zur Frauen-und Jugendförderung usw. angereichert. Gleichzeitig versuchte man, seinen ökonomischen Kern durch immer präzisere Vorgaben zu härten. Zu keiner Zeit wurde jedoch systematisch in die Verfügung der Betriebe und Einrichtungen über die bei ihnen gebundenen Bestände an Arbeitskräften eingegriffen. Ob die gesteckten Produktions-und Leistungsziele mit den vorhandenen personellen und anderen Ressourcen tatsächlich erreichbar waren, entschied sich „vor Ort“. Umsetzungen von Arbeitskräften aus einem Betrieb in einen anderen oder gar die Schließung eines Betriebes, verbunden mit der Umschulung und Überführung der Belegschaft in einen anderen, bildeten absolute Ausnahmen. Trotz der zentralen Planung fiel den Betrieben deshalb eine Schlüsselrolle im Beschäftigungssystem zu, auch wenn ihnen viele der Instrumente und Handlungsmöglichkeiten fehlten, über die westliche Arbeitgeber im Regelfälle verfügen.
Im Verlaufe der DDR-Geschichte kam es tendenziell zu einer immer engeren Bindung der Arbeitskräfte an ihren Betrieb. In dieser Tendenz trafen sich (bis weit in die siebziger Jahre) die Interessen der staatlichen Planungsbehörden an überschaubaren Bestands-und Flußgrößen mit den Interessen der Betriebe an einer leistungsfähigen und möglichst betriebsverbundenen Stammbelegschaft sowie, bis zu einem gewissen Grade, mit den Interessen der Beschäftigten an Sicherheit und Stabilität ihres Erwerbslebens. Über die Betriebsbindung als „kleinsten gemeinsamen Nenner“ konnten daher lange Zeit Widersprüche und Inkonsistenzen des Beschäftigungssystems neutralisiert und abgearbeitet werden. 3. Unterstützende Rolle von Bildungssystem und staatlicher Verwaltung Bildungssystem und staatliche Verwaltung auf regionaler Ebene trugen wesentlich dazu bei, durch Mobilisierung, Qualifizierung und „Lenkung“ geeigneter Arbeitskräfte die betrieblichen Produktions-und Leistungsziele, die sich aus volkswirtschaftlichen Anforderungen ergaben, mit den individuellen Interessen in Einklang zu bringen. Vorrangige Bedeutung hatte dabei das Bildungssystem: In der Schule begann schon in der 6. Klasse (zum Teil noch früher) ein Prozeß der Berufsberatung mit dem Ziel, die Wünsche und Fähigkeiten der Heranwachsenden schrittweise auf die Erfordernisse der Volkswirtschaft abzustimmen. Nach dem Abschluß ihrer Lehre sollten die Jungerwachsenen möglichst im Ausbildungsbetrieb (oder einem Betrieb, für den die Ausbildung erfolgte) bleiben. Mit Sorge wurden deshalb Anfang der achtziger Jahre Untersuchungsergebnisse aufgenommen, denen zufolge etwa 15 Prozent der jungen Facharbeiter keinen Arbeitsvertrag mit dem Ausbildungsbetrieb abgeschlossen hatten bzw. schon im ersten Jahr nach Abschluß der Ausbildung den Betrieb oder den Beruf wechselten Studenten mußten sich in der Regel bei Studienbeginn verpflichten, den ihnen vermittelten Arbeitsplatz drei Jahre lang nicht zu wechseln.
Im Gegensatz zu den Bildungs-und Ausbildungsinstitutionen spielte die staatliche Arbeitsvermittlung nur eine geringe Rolle. Die aus der Kriegs-und Vorkriegszeit überkommenen Arbeitsämter wurden 1952 aufgelöst. Nachfolgeorgane bei den Räten der Kreise und Bezirke kümmerten sich hauptsächlich um Problemgruppen wie Alkoholiker, Asoziale und Haftentlassene. Erst 1972 wurden wieder Arbeitsämter gebildet; und als sich Ende der siebziger Jahre zunehmende Anspannungen und Friktionen bei der Nutzung des „gesellschaftlichen Arbeitsvermögens“ abzeichneten, wurden sie 1979 mit erweiterten Kontroll-und Vermittlungsbefugnissen ausgestattet.
Sonstige Organe der öffentlichen Verwaltung hatten die Aufgabe, die Betriebe durch Schaffung bzw. Aufrechterhaltung angemessener Lebensbedingungen für die „Werktätigen“ zu unterstützen. Stärker als im Westen wurden Großbetriebe aber auch selbst in lebensweltlichen Fragen aktiv.
II. Anfängliche Erfolge
Abbildung 2
Tabelle 2: Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen (in Prozent) Quelle: Amtliche Statistik der DDR.
Tabelle 2: Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen (in Prozent) Quelle: Amtliche Statistik der DDR.
Mit Hilfe des skizzierten Instrumentariums war die DDR während der fünfziger und sechziger, teilweise bis weit in die siebziger Jahre hinein durchaus in der Lage, ehrgeizige Ziele auf dem Wege einer vorwiegend „extensiven Industrialisierung“ zu erreichen. Drei dieser Ziele seien im folgenden besonders hervorgehoben. 1. Maximale Ausschöpfung des Arbeitskräfte-potentials Die sehr ehrgeizigen Wachstumsziele -aufeinander folgende Programme zum Ausbau der Schwerindustrie (Metallurgie, Schwermaschinenbau), zur Sicherung der Energiebasis, zur Entwicklung der chemischen Industrie u. a. -führten die Regierung frühzeitig zu der Erkenntnis: „Die Erfüllung der Volkswirtschaftspläne erfordert die ständige Bereitstellung neuer Arbeitskräfte.“ Die demographische Situation war hierfür allerdings denkbar ungünstig. Zwar überstieg die Zahl der Lebendgeborenen seit 1949 wieder die Zahl der Gestorbenen und der Saldo des natürlichen Bevölkerungswachstums blieb auch bis Ende der sechziger Jahre positiv, doch wurde dieser Effekt bis 1961 bei weitem durch Abwanderungen überkompensiert. Allein im Zeitraum von Anfang 1951 bis Ende 1961 verlor die DDR rund 2, 7 Millionen Einwohner Vor allem Leistungsträger und gut ausgebildete junge Menschen waren darunter. Verglichen mit der Gesamtbevölkerung verringerte sich die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sogar überproportional: Ihr Anteil an der verbleibenden Wohnbevölkerung sank von 64 Prozent im Jahre 1950 auf 60 Prozent 1961 (und in verlangsamtem Tempo weiter auf 58 Prozent bis Ende der sechziger Jahre).
Trotz sinkender Wohnbevölkerung und (bis Ende der sechziger Jahre) auch sinkender Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter gelang es der DDR, die Zahl der Beschäftigten zu steigern. In kaum einem anderen Industrieland lag die Erwerbsbeteiligung ähnlich hoch (vgl. Tabelle 1). Nur so war es -bei insgesamt eher geringer Steigerung der Arbeitsproduktivität -möglich, wichtige struktur-politische Ziele zu verwirklichen.
Im Zentrum der Bemühungen standen die Frauen, die verstärkt und dauerhaft ins Erwerbsleben einbezogen werden sollten. Die Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit war gleichermaßen ökono-mische Notwendigkeit wie Ausdruck der angestrebten Gleichberechtigung der Frau. Sie wurde einerseits durch die Schaffung infrastruktureller Voraussetzungen (z. B. Kindergärten) sowie durch Möglichkeiten zur beruflichen Aus-und Weiterbildung unterstützt. Andererseits kamen „ökonomische Hebel“ zum Einsatz, wie die Streichung von Hinterbliebenenrenten (mit wenigen Ausnahmen) für Witwen, die selbst noch nicht das Rentenalter erreicht hatten, und von Versorgungsansprüchen geschiedener Frauen. Im Ergebnis solcher Maßnahmen stieg die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den fünfziger und sechziger Jahren stark an: Von je 1 000 Frauen zwischen 15 und 60 Jahren waren (wie die Tabelle zeigt) 1950 nur 524, 1970 jedoch 818 erwerbstätig, und zwar ganz überwiegend in Vollzeitstellen
Eine zweite Zielgruppe staatlicher Beschäftigungspolitik bildeten die Altersrentner, denen man die Möglichkeit einräumte, Arbeitsverdienst unbegrenzt mit ihren (meist niedrigen) Renten zu kumulieren. 2. Ein hohes Qualifikationsniveau: Facharbeiter-ausbildung als Regelqualifikation Die Bildungspolitik der DDR war darauf gerichtet, das allgemeine Bildungsniveau zu steigern, Chancengleichheit sicherzustellen und möglichst allen Arbeitskräften eine abgeschlossene Berufsausbildung zu vermitteln. Diese Ziele entsprachen sowohl einer starken deutschen Tradition als auch der herrschenden Ideologie. Die achtjährige Pflicht-schulzeit wurde schrittweise auf zehn Jahre erhöht. Zeitweilig steigerte man auch die Abiturientenzahlen beträchtlich. Später (seit Anfang der siebziger Jahre) war die DDR als einziges europäisches Industrieland in der Lage, die Erlangung der Hochschulreife auf dem ersten Bildungsweg wieder zu drosseln, ohne daß dadurch soziale Unruhen provoziert worden wären.
Schon seit den fünfziger Jahren erhielt die große Mehrheit der Jugendlichen bei ihrem Eintritt ins Erwerbsleben eine Berufsausbildung, auf der auch verschiedene weiterführende Bildungsgänge aufbauen konnten. Zugleich wurden die Betriebe angehalten, ihre un-und angelernten Arbeiter zu qualifizieren. Wichtigste Form der Erwachsenenbildung auf der Qualifikationsstufe „Facharbeiter“ war bis Mitte der sechziger Jahre das Nachholen des Ausbildungsabschlusses. Seit 1973 konnte Personen, die langjährig als Fachkräfte gearbeitet hatten, der Abschluß auch ohne formale Ausbildung zuerkannt werden. Tabelle 2 zeigt das Ergebnis dieser Politik. 3. Schneller Ausbau der Schwer-und Großindustrie Zwar umfaßte die DDR bei ihrer Gründung einige der größten und traditionsreichsten Industriegebiete des deutschen Reiches, insbesondere den Maschinenbau in Sachsen, die chemische Industrie im heutigen Sachsen-Anhalt, die feinmechanische und optische Industrie in Thüringen sowie Teile der Elektroindustrie in Berlin. Dennoch sprachen zwei Gründe für eine Strategie industrieller Groß-projekte: Zum einen wollte die DDR-Führung ihre Volkswirtschaft durch den Ausbau einer eigenen schwerindustriellen Basis (Bergbau, Stahl-industrie, Petrochemie) aus der engen Vernetzung und Arbeitsteilung mit der westdeutschen Industrie lösen. Zum anderen waren 1949/50 noch große Teile der Erwerbsbevölkerung in traditionellen Wirtschaftssektoren -Landwirtschaft, Handwerk, Hauswirtschaft -mit niedriger Produktivität tätig. Die forcierte Industrialisierung sollte einen Produktivitäts-und Wachstumsschub auslösen.
Zwischen 1949/50 und 1970 gelang es der DDR (trotz der starken Abwanderungen in den Westen), die Beschäftigung in den „modernen“ Teilen der Volkswirtschaft (Industrie und bestimmte öffentliche Dienstleistungen) auf Kosten von Landwirtschaft und Handwerk erheblich zu steigern. Die Industriebeschäftigung nahm von zwei auf 2, 9 Millionen Menschen zu; die Beschäftigung in der Landwirtschaft ging von 2, 2 auf eine Million zurück. 1970 stellten Industrie und Handwerk insgesamt 42 Prozent der Beschäftigten; der Anteil der Landwirtschaft war auf rd. 13 Prozent gefallen (vgl. Tabelle 3). Der Ausbau des volkseigenen Sektors und die Kollektivierung der Landwirtschaft auf Kosten privater Wirtschaftsformen wurden zugleich als Schritte in Richtung von „Modernisierung“ und Effektivität der Volkswirtschaft verstanden. Die dargestellte Strategie und die hierfür genutzten Instrumente setzten eine kontinuierliche Erhöhung des gesellschaftlichen Arbeitskräftepotentials voraus. Sie beruhten auf dem Prinzip, Arbeitskräfte für Schwerpunktvorhaben in den „modernen“ Wirtschaftssektoren zu mobilisieren und sie dann (mit Hilfe verschiedener Anreize) an ihrem neuen Arbeitsplatz zu fixieren. Weiterer Strukturwandel erforderte, bei relativ geringem Produktivitätswachstum, wieder einen Arbeitskräftezuwachs, und zwar um so mehr, je weniger Arbeitskräfte (zumeist über Prozesse intergenerationellen Wandels) noch aus den „traditionellen“ Sektoren gewonnen werden konnten. Diese Voraussetzung aber wurde zunehmend hinfällig.
III. Erschöpfung der Potentiale für eine Ausweitung des „Arbeitsvermögens“
Abbildung 3
Tabelle 3: Beschäftigungsstruktur nach Wirtschaftssektoren 1949-1989 (in Prozent) Quelle: Amtliche Statistik der DDR.
Tabelle 3: Beschäftigungsstruktur nach Wirtschaftssektoren 1949-1989 (in Prozent) Quelle: Amtliche Statistik der DDR.
Aus der bisher wichtigsten Quelle für einen steigenden Arbeitskräftebestand in der DDR -Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit -war kein nennenswerter Zuwachs mehr zu erwarten. Waren im Jahr 1950 jede zweite, 1960 zwei von drei und 1970 vier von fünf Frauen im erwerbsfähigen Alter in den Arbeitsprozeß einbezogen, so konnte diese Quote bis 1989 zwar noch weiter, auf neun von zehn Frauen erhöht werden; doch damit war (unter Berücksichtigung längerer Ausbildungszeiten einerseits, staatlicher Maßnahmen zur Geburtenförderung andererseits) der Grenzwert erreicht.
Der Umstand, daß sich das Reservoir „nichtarbeitender“ Frauen allmählich erschöpfte, gefährdete in den siebziger Jahren die Arbeitskräftestrategie der DDR noch nicht; waren doch in zunehmender Zahl Neueintritte Jugendlicher aus den geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen (bis Mitte der sechziger Jahre) in das Erwerbsleben zu verzeichnen. 1982 erreichte die Zahl der Berufsanfänger mit mehr als 260000 jungen Leuten (Lehrlinge, die ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, Hoch-und Fachschulabsolventen aus dem Direkt-studium) ihren Höchststand. Doch war bereits ein Rückgang absehbar. Erst Mitte/Ende der neunziger Jahre treffen -im Resultat der, alles in allem, recht erfolgreichen DDR-Bevölkerungspolitik -wieder zahlenmäßig stärkere Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt; jetzt aber auf einen Arbeitsmarkt, dessen Bedingungen sich grundlegend gewandelt haben und der diesen jungen Menschen nur sehr wenig Aufnahmemöglichkeiten bietet.
Die Suche nach sozialverträglichen Instrumenten zur Ausweitung des Beschäftigungspotentials brachte fast keine Resultate. Arbeitszeiterhöhungen waren in der DDR, angesichts der westlichen Debatte um Arbeitszeitverkürzung und angesichts der Tatsache, daß die reguläre Wochenarbeitszeit für die meisten Beschäftigten seit Mitte der sechziger Jahre unverändert bei 43 3/4 Stunden lag völlig ausgeschlossen. Die Verlängerung des Erholungsurlaubs, des Schwangerschafts-und Wochen-urlaubs, Verkürzungen der Wochenarbeitszeit für Schichtarbeiter sowie für Mütter mit zwei und mehr Kindern und andere „sozialpolitische Maßnahmen“ hatten bereits zur Verringerung des gesellschaftlichen Arbeitsvolumens in einem das Beschäftigungssystem belastenden Maße geführt. Arbeitsökonomen rechneten aus, die DDR hätte in der Zeit zwischen 1960 und Mitte der achtziger Jahre, alle Formen der Arbeitszeitverkürzung zusammengenommen, ein Zeitvolumen „verloren“, das ungefähr dem Äquivalent von einer Million Vollbeschäftigten entsprach.
Auch eine stärkere Einbeziehung von Altersrentnern in den Erwerbsprozeß war nicht möglich. Im Gegenteil, die auf Grund niedriger Renten sozial-politisch notwendig gewordene Einführung der „Freiwilligen Zusatzrentenversicherung“ (FZR) im Jahre 1972 hatte, zusammen mit Veränderungen der Alterspyramide, zur Folge, daß die Zahl erwerbstätiger Rentner sank: von 680000 im Jahre 1972 auf 280000 1989. Der Anteil dieser Gruppe an der gesamten Bevölkerung im Rentenalter verringerte sich von 20 Prozent im Jahre 1972 auf 10, 5 Prozent 1989 (genauer: von 29 auf elf Prozent bei den Männern und von 15 auf zehn Prozent bei den Frauen).
Seit Ende der siebziger Jahre versuchte die DDR gezielt, ausländische Arbeitskräfte zur Überbrükkung von personellen Engpässen, vor allem in der Industrie, anzuwerben. Dieser Weg erwies sich aus vielerlei Gründen -sozialen, politischen, nicht zuletzt ökonomischen -als außerordentlich problematisch. Eine Öffnung für Einwanderer (die es in keinem Land uneingeschränkt gibt) kam nicht in Frage. Damit wäre sowohl das System der Planwirtschaft als auch jenes der politischen „Sicherheit“ überfordert gewesen. Die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte erfolgte vielmehr auf der Grundlage eines Staatsvertrages mit dem jeweiligen Entsenderland, in dem Quoten, Einsatzdauer und Modalitäten der „Rückführung“ geregelt waren. Der umfangreichste dieser Verträge wurde in den achtziger Jahren mit Vietnam geschlossen. Über das Ausmaß des Einsatzes ausländischer Arbeitskräfte gehen die Angaben auseinander. Die offizielle DDR-Statistik nennt für 1989 eine Zahl von 106000 Personen (darunter 78 Prozent Männer). Für die Deckung des -zumeist durch systemspezifische Ursachen bedingten -Arbeitskräftebedarfs war dies freilich nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“.
IV. Blockierungen in den siebziger und ausgeprägte Stagnationstendenzen in den achtziger Jahren
In dem Maße, wie sich die Reserven für eine Ausweitung des Arbeitskräftepotentials sukzessive erschöpften, hätte die Reallokation vorhandener Arbeitskräfte eine wachsende Bedeutung erlangen müssen. Der institutioneile Rahmen und die Steuerungsinstrumente, mit denen die DDR in den ersten beiden Jahrzehnten ihrer Geschichte unbestreitbare Erfolge erzielte, waren jedoch nicht dazu geeignet, die neuen Aufgaben zu lösen, die sich in den siebziger und vor allem in den achtziger Jahren gestellt hätten, wenn die DDR ihre eigenen Ziele -in der offiziellen Terminologie: „intensives“, später „umfassend intensives Wachstum“ -wirklich erreichen wollte. Sie blockierten den, an sich wünschenswerten, Reallokationsprozeß. Dies sei an zwei zentralen Aspekten der Beschäftigungspolitik jener Zeit dargestellt, die sich mit den Schlagworten „das Fluktuationsproblem“ und „die Schwedter Initiative“ beschreiben lassen. 1. Geringer Umfang zwischenbetrieblicher Mobilität Individuell initiierte Betriebswechsel („Fluktuation“) wurden von offizieller Seite mit Mißtrauen betrachtet. Sie galten als eine potentielle Gefahr für die Ziele der Arbeitskräfteplanung. Durch beschäftigungspolitische Instrumente (wie Senioritätsregelungen in bestimmten Bereichen, betriebliche Sozialleistungen u. a.), aber auch durch moralischen Druck und in Einzelfällen durch administrative Restriktionen versuchte man vielmehr, die Betriebsbindung der „Werktätigen“ zu erhöhen. Auch war ein rationales Suchverhalten der Einzelnen nur in engen Grenzen möglich, weil kaum geeignete Informationsmedien existierten und es an infrastrukturellen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wechsel (z. B. Verfügbarkeit von Wohnraum) fehlte. Über das quantitative Ausmaß der Fluktuation liegen nur wenige und zudem disparate Angaben vor. Mit einiger Sicherheit aber lassen sich drei Feststellungen ableiten:
-Im Laufe der DDR-Geschichte hat die Fluktuation tendenziell abgenommen. -In den siebziger und achtziger Jahren lag sie deutlich unter der Häufigkeit von Betriebs-wechseln in den alten Bundesländern.
-Innerhalb dieses allgemeinen Trends war seit etwa 1983 wieder ein geringfügiger Anstieg zu verzeichnen.
Für die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre verfügen wir über einige Fallstudien aus Industriebetrieben, die in Einzelfällen jährliche Fluktuationsraten von über 30 Prozent ausweisen; d. h., statistisch gesehen erneuerte sich (z. B. in Berlin, bei offener Grenze) in drei Jahren die gesamte Belegschaft einmal. Später mehren sich Indizien, die auf durchschnittliche Fluktuationsraten von etwa 15 Prozent gegen Mitte der sechziger Jahre und von 10 bis 12 Prozent Anfang der siebziger Jahre hindeuten. Dieser Rückgang stand sicher auch mit der Kombinatsbildung, mit Zentralisati-onsprozessen auf betrieblicher Ebene und den dadurch erweiterten Spielräumen betrieblicher Personalstrategien in Verbindung. Parallel zur sinkenden Tendenz der zwischenbetrieblichen Mobilität aber stieg -vor allem gegen Ende der siebziger Jahre -die Aufmerksamkeit, die schon geringfügigen Erhöhungen (und sei es um wenige Zehntel Prozentpunkte) beigemessen wurde. Sogar ein Volkskammerausschuß befaßte sich mit den Ursachen der Fluktuation und mit Möglichkeiten zu ihrer Eindämmung.
Die Betriebe wurden verpflichtet, Fälle, in denen Beschäftigte auf eigenen Wunsch ihr Arbeitsverhältnis lösten und den Betrieb wechselten, an die wiedergegründeten Arbeitsämter zu melden. Die Meldungen liefen beim Staatssekretariat für Arbeit und Löhne zusammen. Nach diesen (zu DDR-Zeiten vertraulich behandelten) Angaben sank die gesamtwirtschaftliche Fluktuationsrate zunächst von neun Prozent im Jahre 1979 auf knapp sechs Prozent 1983. Danach stieg sie wieder leicht an und konnte bis zum Ende der DDR nicht mehr unter sieben Prozent gedrückt werden.
Mit einiger Vorsicht lassen sich die Angaben für die DDR mit solchen für die alte Bundesrepublik vergleichen: Hier liegen uns Daten aus der Beschäftigtenstichprobe des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg für die Jahre von 1975 bis 1990 vor. Danach hat durchschnittlich jeder fünfte Beschäftigte pro Jahr den Betrieb gewechselt und eine Tätigkeit neu aufgenommen, die Fluktuationsrate war also nahezu dreimal so hoch wie in der DDR. Der Anteil der Wechsler schwankte im Konjunkturverlauf zwischen 17 Prozent im Krisenjahr 1983 und 24 Prozent im Aufschwungjahr 1990. Sicher erfolgten die Betriebswechsel im Westen zum Teil unfreiwillig, nicht selten lagen Phasen von Arbeitslosigkeit zwischen altem und neuem Beschäftigungsverhältnis. Dessen ungeachtet -und auch bei Berücksichtigung der deutlich anderen Betriebsgrößenstruktur -bleiben die Unterschiede sowohl beim Ausmaß zwischenbetrieblicher Mobilität in den siebziger und achtziger Jahren als auch beim Umgang mit diesem Phänomen klar erkennbar Anzumerken ist, daß (auf sehr unterschiedlichem Niveau) im Osten wie im Westen Fluktuationsbereitschaft und -häufigkeit stark in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Qualifikation und Beruf variieren.
Gewissermaßen den Reziprokwert zwischenbetrieblicher Mobilität bildet die Dauer der Betriebszugehörigkeit. Unsere Auswertungen des sozioökonomischen Panels ergeben, daß 1990 -am Ende der DDR und am Beginn der Transformation -die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit im Osten Deutschlands deutlich über der im Westen lag. Auf die Frage, in welchem Jahr sie ihre jetzige Stelle angetreten haben, gaben im Sommer 1990 (als erstmals auch eine Ost-Stichprobe erhoben wurde) 21 Prozent der Erwerbspersonen in der DDR, aber nur 14 Prozent in der alten Bundesrepublik einen Zeitpunkt vor 1970 an. Dagegen lag der Anteil derjenigen, die erst im letzten Jahrzehnt vor der Befragung ihre Stelle angetreten hatten, in der DDR bei 52 Prozent und war damit nahezu zehn Prozentpunkte niedriger als in der Bundesrepublik, wo er 62 Prozent betrug. Dieser Befund ist nicht durch Unterschiede in der Alters-struktur erklärbar. 2. Kaum „Freisetzung von Arbeitskräften für neue Aufgaben“
So unerwünscht individuelle Mobilität in der DDR war, so sehr wuchs an der Schwelle zu den achtziger Jahren das Interesse an planmäßigen Umsetzungen von Arbeitskräften. Die eingespielten Mechanismen des Beschäftigungssystems erschwerten jedoch Mobilität, auch wenn sie den Planzielen entsprach. Geradezu ein Lehrbeispiel für sich aufbauende Blockierungen bildete die „Schwedter Initiative“, die in der DDR als Erfolgsgeschichte dargestellt wurde. Der Ortsname Schwedt steht dabei für einen Ausgangspunkt, von dem aus sich die Initiative -nach dem Willen ihrer Initiatoren -über das ganze Land verbreiten sollte.
Der Stammbetrieb des Petrochemischen Kombinates (PCK) Schwedt hatte Mitte der siebziger Jahre über den Mechanismus der Planstellenvergabe zusätzliche Arbeitskräfte für den Aufbau einer neuen Produktionslinie beantragt. Da Arbeitskräfte nicht zur Verfügung standen, wurde beschlossen, in Schwedt exemplarisch zu zeigen, wie ein Betrieb bzw. Kombinat sein „Arbeitskräfteproblem“ durch interne Frei-und Umsetzungen lösen könne. Das PCK erhielt Anfang 1978 den Auftrag, bis 1982 ohne zusätzliche Investitionen 2400 Arbeitsplätze einzusparen. Dies gelang in der Tat. Partei-und Staatsführung nutzten die „Schwedter Initiative“, um die „Gewinnung von Werktätigen für neue Aufgaben“ seit 1981 generell zum Bestandteil des Kennziffernsystems im Prozeß der Planung und Planerfüllung erklären zu können.
Alle Betriebe aus den Bereichen Industrie, Bau-wesen, Verkehrswesen, Umweltschutz und Wasserwirtschaft sowie Forstwirtschaft erhielten die Aufgabe, jährlich drei Prozent ihrer Arbeitskräfte auf der Basis wissenschaftlich-technischer Maßnahmen freizusetzen und für neue Aufgaben zu gewinnen. Verglichen mit dem Ausmaß ständiger Neuerungen und Personalumschichtungen in westlichen Betrieben war diese Rate gering. Auch konnte sie, trotz aller statistisch-methodischen Vorgaben, relativ leicht geschönt werden. Trotzdem wurde das Ziel in keinem Jahr erreicht. Die „Schwedter Initiative“ ist, quantitativ wie qualitativ, weitgehend gescheitert.
In der Industrie der DDR (aus anderen Bereichen sind keine „Erfolge“ bekannt) wurden in den Jahren von 1981 bis 1986 -bei rund 3, 2 Millionen Beschäftigten -jährlich nur zwischen 55 000 und knapp 64000 Personen „für neue Aufgaben“ gewonnen; das entsprach einer Freisetzungsrate von nicht mehr als zwei Prozent. Noch offenkundiger wird das Scheitern, wenn man fragt, für welche „neuen“ Aufgaben die Arbeitskräfte gewonnen werden sollten. Was bei ausreichendem Zeitvorsprung (doch gerade über den verfügte die DDR nicht mehr) ein wirksames Instrument für Innovationen und Strukturwandel hätte sein können, wurde de facto zum Hilfsmittel im Prozeß akuten Krisenmanagements. Wichtigste Ziele der Arbeitskräftegewinnung waren die Erhöhung der Schicht-auslastung, Eigenproduktion von Rationalisierungsmitteln in den Betrieben und Kombinaten, Steigerung der Konsumgüterproduktion (unabhängig vom eigentlichen Produktionsschwerpunkt der Betriebe) sowie „Importablösung“, d. h. Eigenbau von Gütern, die bisher gegen Devisen eingeführt werden mußten.
Durchgängig rund neun Zehntel der freigesetzten Arbeitskräfte erhielten im eigenen Betrieb eine andere Aufgabe. Die Beschäftigten selbst wollten vielfach an ihrem bisherigen Arbeitsplatz oder zumindest im bisherigen Betrieb bleiben. Die Betriebe, die -zumeist ohne Erweiterung ihrer Ressourcen -mit immer neuen Aufgaben belastet wurden, waren nicht daran interessiert, Arbeitskräfte abzugeben. Im Zweifelsfall setzten sie lieber gar nicht erst frei. Die staatlichen Planungsinstanzen ihrerseits fürchteten (gerade in der Endzeit der DDR) nichts mehr als eine Beunruhi-gung in der Bevölkerung, vielleicht gar eine momentane „friktionale Arbeitslosigkeit“
Wie Zeitzeugen sich erinnern, trat im Ergebnis der geforderten Freisetzungen im Planzeitraum 1982/83 erstmals ein geringfügiger Arbeitskräfteüberschuß auf: in der Größenordnung von etwa 20000 bis 30000 Personen, was nicht mehr als 0, 2 bis 0, 3 Prozent aller Erwerbspersonen entspricht. „Aber die Angst davor, daß der Westen der DDR vorwerfen könnte, daß auch sie Arbeitslosigkeit habe, war so groß, daß dieser geringe Arbeitskräfteüberschuß als wirkliche Katastrophe verstanden wurde. Daraufhin wurde in einem Feuerwehreinsatz sofort festgelegt: 90 Prozent aller freigesetzten Arbeitsplätze verbleiben im Betrieb. "
Eine Maßnahme zur Arbeitskräftegewinnung galt nunmehr erst dann als abgeschlossen und konnte auch erst dann „abgerechnet“ werden, wenn der Wiedereinsatz der Arbeitskräfte -für eine effektivere Tätigkeit im eigenen Betrieb, verbunden mit der arbeitsrechtlichen Vereinbarung einer neuen Arbeitsaufgabe, oder aber nach Unterzeichnung des Überleitungsvertrages im Falle eines Betriebswechsels -vollzogen war.
Es verwundert sicher nicht, daß das ursprünglich als Ergänzung zur „Schwedter Initiative“ gedachte „Staßfurter Beispiel“ (zur Gewinnung von Arbeitskräften für andere Betriebe in einem Territorium mit differenzierten Wachstumsraten der Produktion und der Arbeitsproduktivität) sang-und klanglos im Sande verlief. 3. Blockierter Strukturwandel Seit dem Ende der siebziger Jahre zeichnete sich für das Beschäftigungssystem der DDR eine zunehmend dramatische Konstellation ab: Wenn die DDR noch eine Chance behalten wollte, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen und die unabweislichen Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, war die Forcierung einer intensiven, auf kontinuierliche Produktivitätssteigerung aller Produktionsfaktoren gerichteten Wachstumsstrategie unvermeidlich. Das in einer Phase extensiven Wachstums entstandene und auf dessen Erfordernisse abgestellte Beschäftigungssystem konnte jedoch den hiermit verbundenen Wandel der Arbeitsplatz-und Beschäftigungs-Struktur allenfalls innerhalb eines engen Korridors realisieren, dessen Grenzen sich im wesentlichen aus der Mechanik des Generationswechsels und der Zuwachsrate der Erwerbsbevölkerung ergaben. Dieser Korridor reichte auch nach Einschätzung der DDR-Experten nicht aus und wurde, nachdem alle Möglichkeiten zur Mobilisierung zusätzlicher Arbeitskräfte ausgeschöpft waren, schmäler und nicht breiter. Zugleich stießen Versuche, durch Maßnahmen nach dem Modell der „Schwedter Initiative“ die Flexibilität der Beschäftigungsstrukturen ohne größere Eingriffe in das Beschäftigungssystem zu erhöhen, sehr rasch auf unüberwindliche Hindernisse, so daß nicht einmal die sehr bescheidenen Planziele ganz überwiegend betriebsinterner Frei-und Umsetzungen erreicht wurden.
Der Widerspruch zwischen wachsenden Anforderungen an Tempo und Breite des Strukturwandels einerseits und eng begrenzter, tendenziell sogar abnehmender Fähigkeit, diesen zu realisieren, prägte in den achtziger Jahren immer stärker das Beschäftigungssystem der DDR und äußerte sich in zunehmender Immobilität und Stagnation:
1. Der in den ersten Jahrzehnten der DDR lebhafte intersektorale Strukturwandel kam (wie aus Tabelle 3 ersichtlich) zum Stillstand. Auch wenn man feinere Untergliederungen, z. B.
nach Industriezweigen, zugrunde legt, ergibt sich ein ähnliches Bild.
2. Die Internalisierung von Strukturwandel in die bestehenden Betriebs-und Beschäftigungsstrukturen -z. B. die Verpflichtung aller Industriebetriebe zur Konsumgüterproduktion, vieler großer Betriebe zu eigenem Rationalisierungsmittelbau, die Integration von immer mehr nichtlandwirtschaftlichen Funktionen in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften u. a. -wurde zumeist mit erheblichen Effizienzverlusten erkauft. 3. Die Notwendigkeit von und der Aufwand für „Crash“ -Aktionen zur punktuellen Überwindung besonders gravierender Blockierungen nahmen zu. (Ein bezeichnendes Beispiel bildet der hohe Aufwand für die Forcierung der Mikroelektronik in den achtziger Jahren, wodurch -auch in beschäftigungsstrategischer Hinsicht -an anderer Stelle zusätzliche Engpässe verursacht wurden.)
Die Ereignisse von 1990 trafen das Beschäftigungssystem der DDR in einer denkbar ungünstigen Verfassung: Die zunehmende Blockierung des inter-wie intrasektoralen Strukturwandels und fast alle Versuche, diese mit prioritären Sonderprogrammen zu überwinden oder durch Übertragung neuer, zusätzlicher Aufgaben an die Betriebe zu kompensieren, drängten die Entwicklung der Produktions-und Leistungsstruktur in den achtziger Jahren in eine Richtung, die der gleichzeitigen Entwicklung in den westlichen Industrieländern diametral entgegengesetzt war: Erhöhung statt Reduzierung der Fertigungstiefe, Verbreiterung statt Verschlankung des Produkt-und Leistungssortiments, Verminderung statt Vertiefung der zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung, Verzicht auf statt systematische Nutzung von Serien-und Spezialisierungseffekten. Hierdurch entstand eine Strukturdiskrepanz zwischen Ost-und Westdeutschland, die mit dem in den ersten Jahren nach 1989/90 so beliebten Begriffspaar „Plan versus'Markt“ nur sehr oberflächlich beschrieben wird und die in eben jenen ersten Jahren wesentlich zu den dramatischen Umstrukturierungsproblemen und Beschäftigungseinbrüchen beigetragen hat.
Holle Grünert, Dr. sc. oec., geb. 1951; Mitwirkung an der Berichterstattung der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW); Gründungsmitglied und seit 1997 Mitarbeiterin des Zentrums für Sozialforschung an der Universität Halle-Wittenberg (ZSH). Veröffentlichungen u. a.: Arbeitsmarkt Sachsen-Anhalt im Umbruch, Magdeburg 1994; Arbeit und Beschäftigung -Schlüsselthemen der Transformationsforschung, in: Soziologische Revue, (1995) 2; Das Beschäftigungssystem der DDR, in: B. Lutz/H. M. Nickel/R. Schmidt/A. Sorge (Hrsg.), Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe (KSPW: Berichte 1), Opladen 1996; (zus. mit B. Lutz) Der Zerfall der Beschäftigungsstrukturen der DDR 1989-1993, Opladen 1996; Beschäftigungssystem und Arbeitsmarkt in der DDR, Opladen 1997.
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