Altere und alte Menschen in den neuen Bundesländern im zehnten Jahr nach der Wende. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz
Klaus-Peter Schwitzer
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Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt sozialwissenschaftliche Veränderungen in den Einkommensverläufen, den Wohnbedingungen und der Erwerbstätigkeit älterer Menschen im bisher abgelaufenen Vereinigungsprozeß in Ostdeutschland. Es wird dargestellt, wie die Lebensbedingungen wahrgenommen werden und wie sich die Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen entwickelt hat. Einkommen und Lebensstandard der Rentnerinnen und Rentner haben sich -trotz noch vorhandener Unterschiede -an das westdeutsche Niveau angenähert. Dagegen werden die Erwerbsbiographien und Einkommensverläufe jüngerer Altersgruppen künftig zu neuen und stärkeren sozialen Ungleichheiten führen, wovon vor allem Frauen betroffen sein werden. Seit Mitte der neunziger Jahre findet in Ostdeutschland eine Neubewertung von Lebensbedingungen statt. Dabei werden der Verlust des Arbeitsplatzes und die Erosion der sozialen Sicherungssysteme anders bewertet als Gewinne an Konsum und Reisemöglichkeiten sowie die demokratisch-politische und individuelle Freiheit.
I. Vorbemerkungen
Die eruptive Umgestaltung des gesamten politischen Systems seit 1989 hat die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Lebens in Ostdeutschland in kürzester Zeit von Grund auf verändert. Mit der Vereinigung galten quasi über Nacht neue politische, rechtliche und institutioneile Gegebenheiten, Regeln und Verhaltensnormen, die die Lebensbedingungen und die individuellen Lebens-verläufe aller Altersgruppen, Erwerbsbiographien, Einkommensverläufe, sozialen Beziehungen u. a. beeinflußten. Welche Auswirkungen die transformierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und sozialpolitischen Regelungen auf die Lebenslagen der älteren und alten Mitbürger in den neuen Bundesländern und Berlin-Ost im bisher abgelaufenen Vereinigungsprozeß haben, ist Gegenstand des Aufsatzes.
Abbildung 16
Tabelle 3: Struktur der Haushaltseinkommen in Ost-und Westdeutschland nach Altersgruppen 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet), Ergebnisse des Alters-Survey, Bd. I, Berlin 1998, S. 61, S. 63.
Tabelle 3: Struktur der Haushaltseinkommen in Ost-und Westdeutschland nach Altersgruppen 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet), Ergebnisse des Alters-Survey, Bd. I, Berlin 1998, S. 61, S. 63.
Um die Veränderungs-und Angleichungsprozesse quantifizieren zu können, wird zunächst vom Kriterium des Lebensstandards ausgegangen, wobei sich die Analyse auf die wichtigsten Dimensionen der Lebensverhältnisse der Bevölkerung beschränkt: Einkommen, Wohnbedingungen und Erwerbstätigkeit. Der anschließende Abschnitt befaßt sich mit der subjektiven Reflexion des sozialen Wandels. Hierbei wird analysiert, wie die älteren Menschen die für sie neuen Lebensumstände wahrnehmen und bewerten und welche Zufriedenheiten und Zukunftserwartungen sich herausgebildet haben. Für die Analyse werden zwei unterschiedliche Referenzpunkte herangezogen: die Lebenslagen älterer Menschen in der DDR, um -vor dem Hintergrund der Ausgangsbedingungen -zu Aussagen über die Fortentwicklung des Transformationsprozesses zu gelangen sowie die Lebenslagen älterer Menschen im früheren Bundesgebiet, um die seit der deutschen Einheit erreichten Ergebnisse bei der Entwicklung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu verdeutlichen und um auf neue Probleme aufmerksam zu machen. Die Darstellung erfolgt auf der Grundlage der seit 1990 zweijährig erstellten Alten-und Sozialreports des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg e. V. (SFZ), in denen die Lebensverhältnisse der Ostdeutschen repräsentativ dargelegt werden, sowie anderer Umfrageergebnisse und Daten der amtlichen Statistik.
II. Veränderungen in den Lebenslagen
Abbildung 13
Tabelle 2: Schichtung der Rentenzahlbeträge im Rentenbestand in den neuen Ländern und Berlin-Ost 1997 (in Prozent)
Tabelle 2: Schichtung der Rentenzahlbeträge im Rentenbestand in den neuen Ländern und Berlin-Ost 1997 (in Prozent)
Nach offiziellem DDR-Verständnis war es programmatisches Ziel und Aufgabe der gesamten Gesellschaft, den Bürgern im Rentenalter einen Lebensabend in sozialer Sicherheit und Geborgenheit zu gewährleisten, ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in noch größerem Umfange zu ermöglichen sowie die kulturelle, soziale und medizinische Betreuung auszubauen. Dieses Ziel ließ sich aufgrund systemimmanenter Effizienzmängel nur partiell verwirklichen. Dies führte dazu, daß sich die soziale Lage älterer Menschen verschlechterte, Defizite und Mängel die soziale und medizinische Betreuungssituation in den achtziger Jahren bestimmten und die älteren Menschen zu einer sozialen Randgruppe wurden.
Abbildung 17
Tabelle 4: Umfang der Geldvermögen in Ost-und Westdeutschland 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet) (wie bei Tabelle 3), S. 89.
Tabelle 4: Umfang der Geldvermögen in Ost-und Westdeutschland 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet) (wie bei Tabelle 3), S. 89.
1. Einkommen und Vermögen
Abbildung 18
Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 55 u. S. 58 f. Tabelle 5: Bewertung der wirtschaftlichen Lage und der Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung in den neuen Ländern und Berlin-Ost 1998 (in Prozent)
Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 55 u. S. 58 f. Tabelle 5: Bewertung der wirtschaftlichen Lage und der Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung in den neuen Ländern und Berlin-Ost 1998 (in Prozent)
Die durchschnittliche Altersrente machte in der DDR niemals mehr als ein Drittel des Durchschnittsbruttoeinkommens der Arbeiter und Angestellten aus. Dieses betrug 1988 ca. 1 280 Mark, die Durchschnittsaltersrente 381 Mark. Nach der Rentenerhöhung im Dezember 1989 betrug die neue Durchschnittsrente 445 Mark, die der Männer 518 Mark und die der Frauen 417 Mark. Eine Altersrente aus der Sozialversicherung konnte maximal monatlich 510 Mark betragen Etwa ein Drittel aller Altersrentner und -rentnerinnen erhielt darüber hinaus eine Rentenleistung aus der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR). Der Durchschnittsbetrag je Rente mit FZR bezifferte sich im Dezember 1989 auf rund 555 Mark Höhere Renten erhielten die Mitglieder der rund 30 Zusatzversorgungssysteme (u. a. technische und wissenschaftliche Intelligenz, Ärzte und Tierärzte, Staatsapparat, Parteien, gesellschaftliche Organisationen) bzw. Sonderversorgungssysteme (Armee, Polizei, Berufsfeuerwehr, Strafvollzug, Zollverwaltung, Staatssicherheit), deren Beträge aber in keiner amtlichen Statistik veröffentlicht worden sind.
Abbildung 19
Tabelle 6: Erwerbslose und Erwerbslosenquoten 1991 -1998 Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 4 Erwerbstätigkeit in den neuen Ländern und Berlin-Ost, Mikrozensus-Zusatzerhebung Oktober 1991, Wiesbaden 1992, S. 77; Reihe 4. 1. 1 Stand und Entwicklung der Erwerbstätigkeit 1998, S. 244, S. 334.
Tabelle 6: Erwerbslose und Erwerbslosenquoten 1991 -1998 Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 4 Erwerbstätigkeit in den neuen Ländern und Berlin-Ost, Mikrozensus-Zusatzerhebung Oktober 1991, Wiesbaden 1992, S. 77; Reihe 4. 1. 1 Stand und Entwicklung der Erwerbstätigkeit 1998, S. 244, S. 334.
Die Übertragung des westdeutschen Alterssicherungssystems mit modifizierten Elementen (zeitlich befristete Sozialzuschläge und Auffüllbeträge) und die halbjährlichen Rentenanpassungen führten zu einer deutlichen Anhebung der Renteneinkommen (Tabelle 1). Die ostdeutschen Renten stiegen von 55, 6 Prozent des westdeutschen Rentenniveaus 1990 auf 110 Prozent im Juli 1998.
Abbildung 20
Tabelle 7: Wohnungsausstattung über in Ost-und Westdeutschland 1998 (in Prozent) Quelle: SOEP-West 1989, SOEP-Ost 1990, sfz/leben '94 -'98 (gewichtet), SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 154.
Tabelle 7: Wohnungsausstattung über in Ost-und Westdeutschland 1998 (in Prozent) Quelle: SOEP-West 1989, SOEP-Ost 1990, sfz/leben '94 -'98 (gewichtet), SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 154.
Die relativ hohen Ostrenten resultieren daraus, daß die Männer in der DDR erst mit 65 Jahren eine Altersrente beanspruchen konnten und die Frauen langjährig erwerbstätig waren. Während die durchschnittlichen Versichertenrenten 1998 im früheren Bundesgebiet bei Männern auf 40, 0 Jahren rentenrechtliche Zeiten und bei Frauen auf 26, 6 Jahren beruhten, lagen den Ostrenten bei Männern im Durchschnitt 43, 4 Jahre und bei Frauen 40, 2 Jahre zugrunde Die in Tabelle 1 angegebenen Durchschnittswerte sind aber nur bedingt aussagefähig, da sie nichts über die Verteilung der Einkommen aussagen und in Ost und West eine völlig andere Versichertenklientel besteht. So bezieht ein gutes Drittel der ostdeutschen Frauen eine Altersrente unter 1 000 und die Hälfte eine Rente zwischen 1 000 bis 1 500 DM, während fast ein Drittel der Männer zwischen 2 000 bis 2 500 DM erhält (Tabelle 2)
Abbildung 21
Tabelle 8: „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig -alles in allem -mit ihrem Leben?“ Neue Bundesländer und Berlin Ost 1998 (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 32 f.
Tabelle 8: „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig -alles in allem -mit ihrem Leben?“ Neue Bundesländer und Berlin Ost 1998 (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 32 f.
Anders als im früheren Bundesgebiet sind im Osten nahezu alle über 60jährigen durch die gesetzliche Rentenversicherung abgesichert. Damit gehen auch die relativ hohen Rentenbeträge von Ärzten, Rechtsanwälten, Wissenschaftlern und von ehemals in beamtenähnlichen Funktionen Tätigen in die Berechnung der Durchschnittsrente ein. Außerdem kann in Westdeutschland von niedrigen Frauenrenten nicht automatisch auf geringfügige Haushaltseinkommen geschlossen werden, da dort die Einkommenssituation älterer Frauen stärker als die der Männer vom Familienstand geprägt ist Die ost-und westdeutschen Rentner-haushalte unterscheiden sich weiterhin wesentlich in der Struktur der Einkommen (Tabelle 3) Jeder vierte ostdeutsche Haushalt der 40-bis 69jährigen bezog 1996 zumindest einen Teil des Haushalteinkommens aus Leistungen des Arbeitsamtes.
Abbildung 22
Tabelle 9: Zufriedenheit mit Lebensbereichen über 60jähriger in den neuen Ländern und Berlin-Ost 1990 -1998 (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 34.
Tabelle 9: Zufriedenheit mit Lebensbereichen über 60jähriger in den neuen Ländern und Berlin-Ost 1990 -1998 (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 34.
Für die ostdeutschen Altersrentnerinnen und -rentner beruht die Alterssicherung nahezu ausschließlich auf den Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Betriebsrenten oder Zusatz-versorgungen der Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes spielen in den neuen Bundesländern nur eine unbedeutende Rolle, ebenso Einkünfte aus Vermietung, Verpachtung und Einkommen aus Kapitalvermögen. Die Möglichkeit einer Eigenvorsorge im Sinne von renditeträchtigen Kapitalanlagen, des Erwerbs von Eigentumswohnungen u. a. gab es in der DDR nicht. Anders als im westlichen Landesteil der Bundesrepublik konnten dort die Rentnerhaushalte im Verlauf der 40 Jahre DDR nur bescheidene Vermögen ansammeln, vor allem Spareinlagen (durchschnittlich 11 400 Mark). Daraus wurden nach der Währungsunion durchschnittlich 8 700 DM 81997 entfielen auf die privaten Haushalte in den neuen Bundesländern, die 18 Prozent aller Haushalte in Deutschland stellen, rund 7 Prozent des Geld-, 8 Prozent des Immobilien-und 14 Prozent des Gebrauchsvermögens. Die ostdeutschen Durchschnittsbeträge machten dabei 32 Prozent (1990: 19 Prozent) beim Geldvermögen und beim Haus-und Grundbesitz 37 Prozent (1990 : 15 Prozent) der westdeutschen Vergleichswerte aus Daß seit der Vereinigung auch die ostdeutschen Rentner-haushalte aufgeholt haben, verdeutlicht Tabelle 4
Abbildung 23
Tabelle 10: „Ist die deutsche Einheit für Sie insgesamt gesehen ...?“ 1994 -1998 -Neue Bundesländer und Berlin Ost (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1994, Berlin 1994, S. 209; SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 292 f.
Tabelle 10: „Ist die deutsche Einheit für Sie insgesamt gesehen ...?“ 1994 -1998 -Neue Bundesländer und Berlin Ost (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1994, Berlin 1994, S. 209; SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 292 f.
Die Einkommensentwicklung der Rentnerhaushalte und die Erfahrung der Haushaltsmitglieder, daß das verfügbare Einkommen in den Jahren 1990 bis 1998 stärker als die Lebenshaltungskosten gestiegen ist, finden ihren Niederschlag in der Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage sowie in der Beurteilung der Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung. Dabei bewerten die Jüngeren ihre Lebenssituation weniger positiv als die Älteren -seit 1994 mit abnehmender Tendenz (Tabelle 5)
Abbildung 24
Tabelle 11: Gewinn-Verlust-Bilanz in Bezug auf ausgewählte Lebensbereiche 1998 -Neue Länder und Berlin Ost (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 294.
Tabelle 11: Gewinn-Verlust-Bilanz in Bezug auf ausgewählte Lebensbereiche 1998 -Neue Länder und Berlin Ost (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport 50+ 1998, Berlin 1998, S. 294.
Das monatliche Haushaltseinkommen ermöglicht in der Hälfte der Haushalte über 60jähriger die Befriedigung der Bedürfnisse ohne Einschränkungen (1990: 25 Prozent) und wird von neun Prozent der Haushalte (1990: 21 Prozent) als zu gering bewertet.
Abbildung 25
Tabelle 12: Identifikation mit dem Gesellschaftssystem 1998 (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport. 50+ 1998, Berlin 1998, S. 273.
Tabelle 12: Identifikation mit dem Gesellschaftssystem 1998 (in Prozent) Quelle: SFZ, Sozialreport. 50+ 1998, Berlin 1998, S. 273.
2. Haushaltsausstattung
Der seit 1990 angestiegene materielle Lebensstandard ostdeutscher Rentnerhaushalte zeigt sich auch in der Modernisierung der Haushaltsausstattung. Dabei traten in Ostdeutschland, anders als in Westdeutschland, wo die alten Menschen „mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung von der allgemeinen Anhebung des Lebensstandards und von der verbesserten Ausstattung der Infrastruktur, der Dienstleistungs-und Versorgungsangebote profitiert [haben]“ die positiven Wirkungen der Wohlstandsentwicklung relativ kurzfristig ein. Im Januar 1993 gab es bei der „Standardausstattung“ der Haushalte kaum noch nennenswerte Unterschiede zwischen Ost und West. Lediglich Geschirrspülmaschinen, Mikrowellengeräte, Telefone, Videorecorder und CD-Player waren unterschiedlich verbreitet. Seitdem ist die Neu-und Ersatzausstattung der Haushalte mit langlebigen Gebrauchsgütern für Hauswirtschaft und Freizeit in Ostdeutschland fortgeschritten. Größere Unterschiede bestehen noch bei der Ausstattung mit Geschirrspülmaschinen und Wäschetrocknern
3. Betroffenheit von Armut
Zehn Prozent aller Haushalte und 45 Prozent der Rentnerhaushalte in der DDR lebten 1988 in relativer Einkommensarmut, d. h., das monatliche Äquivalenzeinkommen betrug weniger als 50 Prozent des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens Aufgrund der einstigen Vollbeschäftigung und der höheren Erwerbsbeteiligung der ostdeutschen Rentnerinnen sowie durch die Überleitung der in der DDR erworbenen Rentenansprüche sind die ostdeutschen älteren Menschen seit der Vereinigung weit weniger als jüngere und minder häufig als westdeutsche Rentnerhaushalte von Einkommensarmut betroffen. 1990 betrug die Armutsrate bei den Ein-Personen-Haushalten der Altersgruppe 66 Jahre und älter in Ostdeutschland 5, 3 Prozent (Westdeutschland 6, 4) und 1, 5 Prozent bei den Partner-Haushalten dieser Altersgruppe (Westdeutschland 3, 9). Bei den Ein-Personen-Haushalten ging die Rate im Osten von 1990 bis 1995 auf 2, 3 Prozent und bei den Partner-Haushalten auf 1, 6 Prozent zurück Bei den über 50jährigen Ostdeutschen vollzog sich ein Anstieg der Einkommensarmut von rund vier Prozent (1994) auf acht Prozent 1998. Davon betroffen waren vor allem Arbeitslose (19 Prozent), in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) Beschäftigte (elf Prozent), 50-bis 59jährige (zehn Prozent), Rentner (fünf Prozent) sowie mehr Frauen als Männer (elf gegenüber zwei Prozent)
4. Erwerbstätigkeit
In den ersten Jahren nach der Vereinigung trat ein dramatischer Rückgang der Erwerbstätigkeit in den neuen Bundesländern ein, nicht zuletzt durch extensive Vorruhestandsregelungen. Die Zahl der Erwerbstätigen ging von 1989. bis 1992 um über ein Drittel von 10, 4 Millionen auf 6, 5 Millionen zurück. Dabei wurden die älteren Arbeitnehmer vom Arbeitsplatzabbau und der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland überproportional betroffen. Die Erwerbstätigenquote der 55-bis 59jährigen Männer sank in den Jahren 1989 bis 1991 von 93, 7 Prozent auf 69, 0 Prozent und bei den 60-bis 64jährigen Männern von 77, 2 auf 28, 4 Prozent. Unter den älteren Frauen mußten noch mehr ihren Arbeitsplatz räumen Nach dem Auslaufen der Vorruhestandsregelungen und der Anhebung der Grenzen für den Eintritt in das Rentenalter erhöhte sich die Zahl der Erwerbslosen bei den über 55jährigen weiter. Im April 1998 waren von den ostdeutschen Männern dieser Altersgruppe 179 000, von den Frauen 196 000 erwerbslos, d. h., die Zahl der erwerbslosen Männer erhöhte sich von Oktober 1991 um über 200 und die der Frauen um fast 400 Prozent (Tabelle 6)
Während die Erwerbslosenquoten bei den 45-bis unter 55jährigen in Deutschland in etwa dem Durchschnitt entsprechen, steigen diese bei den über 55jährigen beträchtlich an. In den neuen Ländern sind die Frauen stärker von Erwerbslosigkeit betroffen als Männer, und für beide Geschlechter gilt, daß die Erwerbslosenquoten doppelt so hoch sind wie im früheren Bundesgebiet. 1998 waren 58 Prozent aller über 50jährigen Ostdeutschen bereits einmal oder mehrmals arbeitslos (49 Prozent der Männer und 67 Prozent der Frauen), davon rund ein Drittel der Frauen und etwa 15 Prozent der Männer länger als zwei Jahre 5. Wohnbedingungen
In der DDR kam es durch die vorrangige Vergabe der Wohnungen an jüngere Familien zu sozialen Segregationserscheinungen. Ältere Menschen lebten in überdurchschnittlichem Maße in verschlissenen Altbauwohnungen, Altbauwohngebieten bzw. in Städten mit geringem Wohnungsneubau.
Seit 1990 wurden 69 Prozent der Häuser, in denen über 60jährige leben, saniert bzw. modernisiert. Der im Osten zum Erbe der DDR gehörende Substandard (kein Innen-WC, fehlendes Bad, Ofenheizung) ist beseitigt, und die vormals beträchtlichen Unterschiede im Ausstattungsniveau zwischen Gemeinde-und Ortsgrößen haben sich bis 1998 angeglichen (Tabelle 7)
III. Subjektive Reflexionen des Vereinigungsprozesses
Abbildung 14
Tabelle 3: Struktur der Haushaltseinkommen in Ost-und Westdeutschland nach Altersgruppen 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet), Ergebnisse des Alters-Survey, Bd. I, Berlin 1998, S. 61, S. 63. 1,
Tabelle 3: Struktur der Haushaltseinkommen in Ost-und Westdeutschland nach Altersgruppen 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet), Ergebnisse des Alters-Survey, Bd. I, Berlin 1998, S. 61, S. 63. 1,
1. Zufriedenheit und Zukunftszuversicht
Die Mehrheit der älteren Menschen in Ostdeutschland ist mit ihrem Leben zufrieden. Der Anteil der Zufriedenen stieg bei den über 60jährigen Ostdeutschen von 44 Prozent 1990 auf 61 Prozent 1998; der Anteil der Unzufriedenen ging von 11 Prozent 1990 auf 8 Prozent 1998 zurück. In den jüngeren Altersgruppen, in denen die Zufriedenheit geringer und die Unzufriedenheit etwas höher ausgeprägt ist, wird die Lebenszufriedenheit wesentlich vom Erwerbsstatus bestimmt (Tabelle 8).
Die hohe allgemeine Lebenszufriedenheit geht einher mit der Unzufriedenheit in einzelnen Lebensbereichen. Wird die Bewertung der Lebensbereiche seit 1990 betrachtet, so wird deutlich, daß sich die Zufriedenheitswerte in einigen Berei-chen relativieren (medizinische Betreuung, persönliche Sicherheit, Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung), aber seit Mitte der neunziger Jahre tendenziell sinken (Tabelle 9). Ein erheblicher Rückgang des Zufriedenheitsniveaus betrifft die Bewertung der sozialen Sicherheit, der Möglichkeit demokratischer Mitwirkung und Bürgerbeteiligung. Unterschiede zwischen der Altersgruppe der 50-bis 59jährigen und den über 60jährigen bestehen in der höheren Unzufriedenheit der Jüngeren mit dem Einkommen (50 zu 41 Prozent) und der sozialen Sicherheit (44 zu 33 Prozent). Zu konstatieren ist weiterhin die Abnahme der Zukunftszuversicht der über 60jährigen. Während 1992 in bezug auf die Entwicklung der nächsten Wochen und Monate 28 Prozent vor allem Hoffnungen und 25 Prozent vor allem Befürchtungen hatten lagen die Anteile 1998 bei 20 bzw. 31 Prozent. Die zunehmende Unzufriedenheit mit bestimmten Lebensbereichen und die abnehmende Zukunftszuversicht lassen sich nicht auf die etwaige Verschlechterung der objektiven Lebensbedingungen und persönlichen Lebensumstände von 1990 bis zur Gegenwart zurückführen, sondern auf die negativere Bewertung der gesellschaftlichen Realität. Dieser Vertrauensverlust in das wirtschaftliche und politische System und der gewachsene Pessimismus sind seit Mitte der neunziger Jahre auch in Westdeutschland erkennbar. Dort wird die Zukunft des Netzes der sozialen Sicherung ebenfalls sehr skeptisch beurteilt, und bei der Einschätzung der Lebensbereiche wurde 1995 kein Bereich so positiv bewertet wie 1991
2. Gewinn-Verlust-Bilanzierung
Nach neun Jahren deutscher Einheit zählt sich etwa jeder dritte der über 60jährigen ostdeutschen Mitbürgerinnen und -bürger zu den Gewinnern der Einheit, bei jedem fünften überwiegen die Verluste (Tabelle 10). Die Tabelle 10 verdeutlicht, daß die Bewertung 1998 kritischer als vor vier Jahren ausfällt und daß Verlustbewertungen bei den 50-bis 59jährigen aufgrund ihrer spezifischen Lebenslage häufiger auftreten als bei den älteren (wenn auch geringer als 1994).
Bezogen auf einzelne Lebensbereiche überwiegt der Gewinn beim Angebot an Waren und Dienstleistungen, bei den Möglichkeiten zu reisen und gut zu leben sowie bei der errungenen persönlichen Freiheit und bei der Wohnqualität. Verluste werden dagegen in der persönlichen und sozialen Sicherheit und bei den 50-bis 59jährigen im Bereich Arbeit und in den sozialen Beziehungen wahrgenommen (Tabelle 11).
Daß die Ostdeutschen vor allem den Verlust der sozialen Sicherheit und die Jüngeren den Verlust der Arbeit zum Ausdruck bringen, resultiert aus der für die Ostdeutschen neuen existentiellen Unsicherheit (Arbeitslosigkeit, Ersatzbeschäftigung in befri-steten Arbeitsverhältnissen, Sorge um steigende Kriminalität und Gewalt) und aus einer Lebenspla-nung, in der Arbeitslosigkeit faktisch nicht vorkam. Was mitunter als (N) ostalgie benotet wird, ist nicht Rückbesinnung auf Ideologieinhalte, die in der DDR vermittelt worden sind, sondern Ergebnis einer Neubewertung und Gewichtung von materiel- und sozialen Lebensbedingungen in Vergangen-heit und Gegenwart. Ernstzunehmende restaurative Neigungen oder Bestrebungen gibt es in Ostdeutschland nicht (Tabelle 12).
Nur zehn Prozent wünschen sich das ostdeutsche Gesellschaftssystem zurück, wobei der etwas höhere Anteil bei den 50-bis 64jährigen mehr auf die gegenwärtigen Probleme des Arbeitsmarktes (Arbeitslose 17 Prozent) als auf das Bedürfnis nach Wiederherstellung der alten Ordnung zurückzuführen ist.
Der Vereinigungsprozeß ist aus ostdeutscher Sicht die Integration in die Bundesrepublik Deutschland. Daß sich relativ wenige Ostdeutsche als Bundesbürger fühlen, hängt mit der gesamtwirtschaftlichen Lage, der Erosion der sozialen Sicherungssysteme und mit dem derzeitigen Stand der Integration zusammen. Im bisherigen Verlauf des Vereinigungsprozesses wurden große Teile der Bevölkerung aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt, und auf der kulturell-diskursiven Ebene ist die Kommunikation zwischen Ost und West gestört
Der Prozeß der Transformation der früheren DDR-Gesellschaft und ihre Integration in die institutioneilen Strukturen ist abgeschlossen, die wirtschaftliche, soziale und identifikatorische Intedie wird noch lange anhalten. Die Vollendung der „inneren“ deutschen Einheit wird nicht ohne den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit in Ostlen zu erreichen sein,
IV. Resümee
Abbildung 15
Tabelle 3: Struktur der Haushaltseinkommen in Ost-und Westdeutschland nach Altersgruppen 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet), Ergebnisse des Alters-Survey, Bd. I, Berlin 1998
Tabelle 3: Struktur der Haushaltseinkommen in Ost-und Westdeutschland nach Altersgruppen 1996 (in Prozent) Quelle: Alters-Survey 1996 (gewichtet), Ergebnisse des Alters-Survey, Bd. I, Berlin 1998
Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie, vom zentralistischen Wirtschaftssystem zur Marktwirtschaft und der sozialpolitische Systemwechsel brachten insbesondere den Rentnerinnen und Rentnern beträchtliche Verbesserungen in den Bereichen Einkommen, Wohnen, Konsum und Infrastruktur. Beim Einkommen und beim Lebensstandard läßt sich, trotz noch vorhandener Unterschiede, eine Annäherung an das westdeutsche Niveau erkennen. Die zwischen 45 und 60 Jahre alten verbuchen für sich Gewinne beim Waren-und Dienstleistungsangebot, bei der Reise-freiheit und der persönlichen Freiheit sowie Defizite bei der sozialen Sicherheit, bei Arbeit und Einkommen, aber auch bei den sozialen Beziehungen. Die Erwerbsbiographien und Einkommens-verläufe der rentennahen Jahrgänge werden künftig zu neuen und stärkeren sozialen Llngleichheiten zwischen den älteren Menschen führen. Davon werden, nach Lage der Dinge, vor allem Frauen betroffen sein.
Seit Mitte der neunziger Jahre findet in Ostdeutschland eine Neubewertung und Wichtung von materiellen und sozialen Lebensbedingungen statt, die wesentlich von der -für die Ostdeutschen neuen sozialen Erfahrung -Arbeitslosigkeit bestimmt wird. Auf die Lebenszufriedenheit und die Zukunftszuversicht wirken sich der relativ hohe Lebensstandard und die (früher vermißten) Konsum-und Reisemöglichkeiten letztlich weniger aus als der ehemals sichere Arbeitsplatz. Die älteren Menschen haben zu DDR-Zeiten zwar nicht besser gelebt, sich aber sozial sicherer gefühlt.
Klaus-Peter Schwitzer, Dr. sc. phil., geb. 1946; Oberassistent am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Gunnar Winkler) Altenreport '92, Berlin 1993; Das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR in und nach der Wende, in: Hans Bertram (Hrsg.), Soziologie und Soziologen im Übergang. Beiträge zur Transformation der außer-universitären soziologischen Forschung in Ostdeutschland, Opladen 1997; Ungleichheit und Sozialpolitik in den neuen Ländern. Systemvergleich und akkumulierte sozialpolitische Perseveration, in: Berliner Journal für Soziologie, 7 (1997) 4.
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