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Geschichte(n) des Gefängnisses | Gefängnis | bpb.de

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Geschichte(n) des Gefängnisses

Falk Bretschneider Natalia Muchnik

/ 16 Minuten zu lesen

In Deutschland befanden sich 2020 rund 58.000 Menschen in Haft, das entspricht 70 Gefangenen auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In den Vereinigten Staaten saßen 2019 – im letzten Jahr, für das entsprechende Zahlen vorliegen – 2.068.800 Menschen in Haftanstalten ein, also 629 Gefangene auf 100.000 Einwohner. Ein paar weitere Fakten: Laut den jeweils jüngsten Zahlen lag diese Quote in Brasilien bei 381 (2020), in Südafrika bei 248 (2020), in Israel bei 234 (2018), in Mexiko bei 169 (2021), in China bei 121 (2018), in Ägypten bei 118 (2021), in Kanada bei 104 (2018) und in Indien bei 35 (2019).

Diese Zahlen machen deutlich, dass das Gefängnis überall auf der Welt ein zentrales Strafmittel ist. Oft ist es sogar das wichtigste überhaupt – zumindest, wenn man von den Geldstrafen absieht, die zwar vielerorts den Löwenanteil aller von Strafgerichten ausgesprochenen Sanktionen ausmachen, aber ebenfalls dazu beitragen, die Haftanstalten mit Insassen zu füllen, nämlich dann, wenn Verurteilte nicht in der Lage sind, sie zu bezahlen. Eine solche Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen in Deutschland aktuell etwa zehn Prozent aller in den Justizvollzugsanstalten einsitzenden Menschen.

Das Gefängnis als Institution ist eine globale Erfolgsgeschichte. Wie lässt sich das erklären? Lange Zeit galt die Strafhaft als eine rein westliche Erfindung. Zur Welt gekommen ist sie, so die herkömmliche Interpretation vieler Historikerinnen und Historiker, in den strafpolitischen Debatten der Aufklärung und den nachfolgenden Bestrebungen zur Reform des traditionellen Strafvollzugs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihre anschließende Verbreitung erfolgte im Rahmen eines umfassenden Diffusionsprozesses, zum Beispiel im Rahmen kolonialer Eroberungen. Diese Perspektive wird heute allerdings mehr und mehr infrage gestellt, wobei sich die Forschung insbesondere in zwei Richtungen neu ausrichtet: Zum einen interessiert sie sich verstärkt für eine Genealogie des Gefängnisses, die nach dessen Wurzeln in früheren Epochen der Geschichte fragt und den Blick über reine Formen der Strafhaft hinaus auf eine Reihe von Praktiken der Einsperrung lenkt, die in verschiedenen institutionellen Kontexten stattfanden und unterschiedlichen Zwecken dienten. Zum anderen kommen zunehmend außereuropäische Traditionslinien der Haft in den Blick, wie sie sowohl in kolonialen als auch in vorkolonialen Gesellschaften sichtbar werden. Insgesamt entsteht so ein erheblich vielfältigeres Bild, das die Ursprünge der Gefängnisstrafe chronologisch wie geografisch auffächert.

Verzweigte Genealogie

Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum intensiver mit der Geschichte des Gefängnisses auseinandergesetzt haben sich Rechtshistoriker in den Jahren um 1900. Ihre Perspektive war in erster Linie ideen- und institutionengeschichtlich geprägt, denn sie interessierten sich vor allem für die Herkunft des sogenannten Besserungsstrafvollzugs, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zum vorherrschenden Paradigma des Umgangs mit Straftäterinnen und Straftätern geworden war. Zwei Interpretationen befanden sich dabei miteinander im Wettstreit: Für Gotthold Bohne ließ sich das Prinzip "Strafe durch Besserung" bis in die spätmittelalterlichen Städte Norditaliens zurückverfolgen, wo es seit dem 12. Jahrhundert bereits zahlreiche Gefängnisse gegeben hatte. Robert von Hippel, Gustav Radbruch und andere vertraten hingegen die Meinung, die geistesgeschichtlichen Wurzeln der modernen Freiheitsstrafe seien in England und den Niederlanden zu suchen, wo in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit den bridewells (zuerst London 1553) und den Tuchthuizen (zuerst in Amsterdam, 1595 Rasphuis für Männer und 1597 Spinhuis für Frauen) neuartige Institutionen der Einsperrung entstanden waren. In diesen, so ihre Auffassung, sei die Erziehung zur Arbeit und zur Religiosität erstmals als Strafmittel zur Anwendung gekommen.

Diese letzte Sicht blieb in der Geschichtswissenschaft lange Zeit vorherrschend. Erst in den vergangenen Jahren haben die städtischen Kerker von Siena, Florenz, Bologna oder Venedig neue Aufmerksamkeit erfahren, zum Beispiel bei Guy Geltner, der aufgezeigt hat, dass diese seit dem 13. Jahrhundert nicht nur als Untersuchungsgefängnisse dienten, sondern auch zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen genutzt wurden. Andere Historikerinnen und Historiker, etwa Julie Claustre in ihrer Studie zur berühmt-berüchtigten Pariser Stadtfestung Châtelet, haben sich mit einer weiteren Form der spätmittelalterlichen Einsperrung auseinandergesetzt: der Schuldhaft, also der Inhaftierung von zahlungsunfähigen oder -unwilligen Schuldnern, die auf Veranlassung ihrer Gläubiger durch den Aufenthalt im Gefängnis dazu gezwungen werden sollten, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen. Einer dritten Variante hat sich zum Beispiel Gerd Schwerhoff in seiner Arbeit zur Reichsstadt Köln gewidmet: der Turmhaft, die im Rahmen eines Gerichtsprozesses, aber auch als Untersuchungshaft, als Zwangsmaßnahme bei Ungehorsam, als Ersatz für die nicht geleistete Zahlung einer Geldbuße und – bei leichteren Vergehen – als eigenständige Freiheitsstrafe Einsatz fand. Auch Schuldner kamen in Köln in den Turm.

Die "Geburt des Gefängnisses" in die Jahrzehnte um 1800 verlagert, hat vor allem die sogenannte revisionistische Geschichtsschreibung, die in den 1970er Jahren einsetzte. Sie wird so genannt, weil sich ihre Vertreterinnen und Vertreter – allen voran Michel Foucault, aber auch David Rothman, Pierre Deyon, Michael Ignatieff oder Michelle Perrot – vehement gegen die älteren Interpretationen der Rechtsgeschichte wandten, für die das Gefängnis ein Zeichen des Fortschritts und der Humanisierung des Strafens gewesen war. Insbesondere Foucault interpretierte es hingegen in erster Linie als ein Zeichen für sich wandelnde Machtverhältnisse, konkret für einen umfassenden Disziplinierungsprozess, der an der Schwelle zur Neuzeit die gesamte Gesellschaft erfasst hatte. In seinen Augen sorgte die Strafanstalt im Verbund mit den zur gleichen Zeit entstehenden Humanwissenschaften dafür, dass sich ein allumfassendes System der Kontrolle und Normierung durchsetzen konnte, das wie eine gigantische Machtmaschine fügsame und gelehrige Körper produzierte. Und zum Teil schloss Foucault dabei an ältere Arbeiten der marxistischen Historiografie an, insbesondere die Studie von Georg Rusche und Otto Kirchheimer, die bereits in den 1930er Jahren behauptet hatten, die Entstehung der Freiheitsstrafe sei durch einen Angebotsmangel auf dem Arbeitsmarkt zu erklären. Damit wurde das Gefängnis immer mehr zu einem Symbol und Symptom für das Aufkommen der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Das lenkte die Aufmerksamkeit auf die Reformanstalten des 19. und 20. Jahrhunderts, die von Ingenieuren als "Besserungsmaschinen" konzipiert worden waren.

Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Institutionen der Einsperrung hingegen gerieten nun weitgehend aus dem Blick. Das konnte bis zu der Behauptung reichen, im Ancien Régime habe es überhaupt keine Freiheitsstrafen gegeben. Diesem Ausblenden eines Teils der historischen Realität stellte sich seit den 1990er Jahren zum Beispiel Pieter Spierenburg entgegen, der in zahlreichen Publikationen auf die vielfältigen Praktiken der Einsperrung im frühneuzeitlichen Europa und ihre Nutzung zu Strafzwecken hinwies. Dazu gehörten insbesondere die Zucht- und Arbeitshäuser, die vor allem ab dem 17. Jahrhundert auf dem gesamten Kontinent wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber auch andere Strafformen bedienten sich des Entzugs von Freizügigkeit, etwa öffentliche Arbeitsstrafen im Straßenbau oder in Bergwerken, aber auch bei der Instandhaltung von militärischen Festungswerken, sowie die Galeerenstrafe, die vor allem von Seemächten wie Venedig oder Genua, aber auch von anderen Anrainern des Mittelmeerraums wie Frankreich oder dem Osmanischen Reich angewandt wurde, oder die Deportation von Strafgefangenen in Übersee-Kolonien beziehungsweise in entlegene Provinzen, wie sie nahezu alle europäischen Kolonialmächte, aber auch das russische Zarenreich praktizierten.

Daneben erfuhr das Feld der Gefängnisgeschichte wichtige Erweiterungen durch Untersuchungen, die sich mit der Geschichte der Armenfürsorge auseinandersetzten. Diese nahm in der Frühen Neuzeit immer stärker institutionelle Züge an, zu denen auch die Einsperrung von Bettlern, Vaganten und anderen Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen gehörte, die in Zuchthäuser und vergleichbare Anstalten gebracht und dort zur Arbeit gezwungen wurden. Zwar stehen auch solche Forschungen oft in der Tradition des Disziplinierungsparadigmas, sie öffnen aber den Blick für die große Vielfalt von Formen des Absonderns, der Abschließung und des Verwahrens auch vor der "Geburt" der Strafanstalt im 19. Jahrhundert. Das rückt zwei weitere institutionelle Typen in den Fokus: zum einen karitative Einrichtungen wie die spätmittelalterlichen Hospitäler, deren Aufgaben in der Frühen Neuzeit oft von multifunktionalen Anstalten übernommen wurden, wie etwa im Fall der französischen hôpitaux généraux, in denen nicht nur Arme versorgt, Bettler diszipliniert und Prostituierte bestraft, sondern auch psychisch und physisch kranke Menschen betreut und verpflegt wurden; zum anderen Klostergemeinschaften, deren Gebäude seit dem 16. Jahrhundert – in protestantischen Gegenden etwas eher, in katholischen etwas später – in Zucht- und Arbeitshäuser oder Strafanstalten umgewandelt wurden. Ein prominentes Beispiel ist Clairvaux im Osten Frankreichs: Hier gründete Bernhard von Clairvaux 1115 eine Abtei, die zur Mutteranstalt für unzählige Gründungen des Zisterzienserordens in ganz Europa werden sollte. Nach der Französischen Revolution wurde das Kloster aufgehoben und die Anlage 1808 in ein Zentralgefängnis (maison centrale) umgewandelt, das noch heute besteht – die Schließung ist für 2023 angekündigt.

Insbesondere die "Wahlverwandtschaft" von Kloster und Gefängnis hat in den vergangenen Jahren viele Forscherinnen und Forscher beschäftigt. Zwar finden sich eigenständige Räume der Einsperrung bereits in der Antike. Als eigentliche "Erfinderinnen" der räumlichen Urform des Gefängnisses aber müssen die vielen monastischen Gemeinschaften gelten, die seit der Spätantike in ganz Europa eine freiwillige Absonderung von der Welt praktizierten, um Zugang zu Gott zu finden. Am Modell des nach allen Seiten hin abgeschlossenen Vierecks orientierten sich jedoch nicht nur die Kreuzgänge der Klöster, auch viele Zuchthäuser und andere Anstalten waren nach exakt diesem Muster gebaut. Gleiches gilt für die räumliche Trennung der Klöster in verschiedene Lebensbereiche: einen Schlafraum (dormitorium) für die Nacht, einen Speisesaal (refectorium) für die Nahrungsaufnahme, Werkstätten für die Arbeit sowie die Kirche für den Gottesdienst. Auch diese Aufteilung lässt sich bis in die Gegenwart in vielen Gefängnissen wiederfinden. Darüber hinaus dienten viele Klöster selbst als Haftorte, sei es für undisziplinierte Geistliche oder für Straffällige aus den umliegenden Dörfern. Im zaristischen Russland wurde die Klosterhaft ebenso gern zur Neutralisierung politischer Gegner eingesetzt.

Geografische Verortung

Anders als noch vor 30 Jahren geht die Forschung aktuell also nicht mehr davon aus, dass es nur eine Geschichte des Gefängnisses gibt. Vielmehr existieren viele verschiedene Stränge, die sich im Laufe der Jahrhunderte miteinander verflochten und im Endergebnis die moderne Freiheitsstrafe hervorgebracht haben. Offen muss hingegen im Moment die Frage bleiben, wie die Ursprünge des Gefängnisses geografisch zu verorten sind. Die außereuropäischen Räume der Welt gehören nach wie vor zu den eher seltenen Terrains der Gefängnisgeschichte – auch wenn selbst in diesem Bereich Veränderungen spürbar sind.

So ist in den vergangenen Jahren vor allem die sogenannte diffusionistische Perspektive unter Druck geraten, die davon ausgeht, dass die Gefängnisstrafe von Westeuropa und Nordamerika aus ihren Siegeszug über den Globus angetreten habe. Ohne Zweifel wurden Gefängnisse in zahlreichen Regionen als Teil einer kolonialen Herrschaftsarchitektur von westlichen Kolonialmächten eingeführt, etwa in vielen Ländern Afrikas, wie eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Florence Bernault festgestellt hat. In Angola zum Beispiel trat die Haft in einer institutionalisierten Gestalt zuerst am Ende des 15. Jahrhunderts im Zuge der Gründung portugiesischer Handelsniederlassungen auf. Sie diente einerseits zur Inhaftierung von Kriminellen, meist Portugiesen, die zu einer Verbannungsstrafe verurteilt worden waren, andererseits aber auch dazu, Sklaven festzusetzen. Als Orte für solche Praktiken der Einsperrung fungierten häufig militärische Anlagen wie Forte oder Festungen, aber auch "zivile" Gefängnisse in den Städten – meist einfache Räume in Lagerhäusern oder Verwaltungssitzen – lassen sich nachweisen. Weiße und schwarze Gefangene wurden hier in der Regel gemeinsam verwahrt.

In Indochina hingegen, das zeigen die Arbeiten von Peter Zinoman, hat sich das moderne Gefängnis aus dem Modell des Kriegsgefangenenlagers heraus entwickelt. Es spielte dort eine ausschließlich repressive Rolle als ein gegen die einheimische Bevölkerung gerichtetes Disziplinierungsinstrument, das nach 1850 von den französischen Kolonisatoren im Dienst eines rassistischen Unterdrückungsapparats eingeführt wurde. Von Zinoman wird das koloniale Gefängnis somit explizit als ein Gegenpol zur Entwicklung in Europa verstanden, wo die Freiheitsstrafe ihre Wurzeln in Institutionen wie dem Kloster oder dem Hospital und in Motiven wie Seelenheil, Erziehung oder Fürsorge hatte. Da Disziplin als sozialer Wert in der sino-vietnamesischen Tradition nur eine untergeordnete Rolle spielte, konnten sich vergleichbare Praktiken dort nicht herausbilden.

Ganz anders in China: Wie Frank Dikötter dargestellt hat, war die Herausbildung von modernen Haftanstalten dort auch von der konfuzianischen Erziehungsauffassung motiviert. Die an westlichen Modellen orientierte Bewegung einer Reform der chinesischen Gesellschaft führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Errichtung einer Reihe neuer Gefängnisse. Zwar folgten diese okzidentalen Vorbildern, lassen sich aber nicht als bloße Imitationen und Ergebnisse eines reinen Imports von Ideen verstehen. Die Durchsetzung eines auf dem Prinzip der Besserung der Gefangenen beruhenden Modells der Strafhaft war in China einerseits Teil einer globalen Reformbewegung, andererseits aber auch Teil einer "lokalen Neuausprägung des traditionellen Glaubens an die verändernde Kraft von Erziehung".

Andere Historikerinnen und Historiker gehen noch weiter und weisen nach, dass Praktiken der Einsperrung in einigen Ländern außerhalb Europas auch jenseits eines kolonialen Kontextes existierten und auf eigenständigen Traditionen beruhen. In Japan, so Daniel Botsman, gab es bereits im 17. Jahrhundert regelrechte Gefängniskomplexe. Der bekannteste von ihnen war die Tokioter Anlage von Kodenmacho, die – wie manche europäische Gefängnisse auch, etwa The Fleet in London – in verschiedene Zonen aufgeteilt war, die der Unterbringung der Gefangenen in Abhängigkeit von ihrem sozialen Status und/oder ihres Geschlechts dienten. Es gab Räume für Frauen, Krieger, Männer aus der Oberklasse, gewöhnliche Männer oder für Insassen, die keinen festen Wohnsitz hatten. Jede dieser Abteilungen hatte ihre eigenen Regeln und Lebensbedingungen, zum Beispiel hinsichtlich der Versorgung der Gefangenen oder der Ausstattung der Hafträume. Und auch im Osmanischen Reich sammelte man bereits in der Frühen Neuzeit Erfahrungen mit der Unterbringung von Menschen im Gefängnis. Wie Fariba Zarinebaf zeigt, wurden Sträflinge regelmäßig bis zu ihrer Verbringung auf die Galeeren in eigenständigen Anlagen festgehalten. Und in den Arsenalen von Lepante, Nafplio, Kavala oder Konstantinopel setzte man immer wieder Gefangene zur Zwangsarbeit ein – zum Teil glichen ihre Unterkünfte auch hier veritablen Gefängnisanstalten mit Moschee, Küche, Bäckerei, Badehaus und Krankenstation.

Das Gefängnis als eine rein "westliche" Erfindung anzusehen, fällt deshalb immer schwerer. Allerdings liegen nur wenige Untersuchungen zu außereuropäischen Räumen vor. Auch behandeln diese die Geschichte der Strafhaft und anderer Formen der Einsperrung oft als einen Nebenaspekt. Ob es so etwas wie eine "globale" Existenz des Gefängnisses vor dem 19. Jahrhundert gegeben hat, bleibt deshalb bis auf Weiteres offen. Fest steht lediglich, dass es auch in anderen Teilen der Welt vielfältige Formen der Einsperrung gegeben hat, die sich von denen im Europa des Ancien Régime kaum unterschieden. Carlos Aguirre weist etwa auf eine Reihe von Haftorten im kolonialen Lateinamerika hin: "Inquisitionsgefängnisse und Stadttore, Militär- und Polizeiwachen, religiöse Zufluchtsorte für mittellose Frauen und privat betriebene Haftanstalten wie Bäckereien oder Textilmanufakturen, wo Sklaven und Kriminelle eingesperrt und zur Arbeit gezwungen wurden, oder Torbauten von ländlichen Haciendas und Plantagen, wo man widerspenstige Arbeiter züchtigte."

Neue Erkenntnisse lassen sich deshalb insbesondere von der Geschichte kolonialer Herrschaftspraktiken erwarten, dienten die Formen der Machtausübung in den Kolonien doch nicht selten als eine Art von Laboratorium für die Art des Herrschens in den Metropolen. Bereits die ersten Zuchthäuser auf europäischem Boden entstanden nicht zufällig in Regionen wie den Niederlanden und England, die intensiv in den Welthandel eingebunden und Drehscheiben der "ersten Globalisierung" waren. In einer 1587 erschienenen Schrift diskutierte etwa Dirk Coornhert, der Stadtschreiber von Haarlem und Gouda, die Vor- und Nachteile von Galeerenstrafe, Zwangsarbeit und Einsperrung – seine Schrift gilt als einer der Auslöser für die wenige Jahre später erfolgte Gründung des ersten Zuchthauses in Amsterdam.

Auch die Gefängnisreform des 19. Jahrhunderts, das zeigen aktuelle Forschungen von Stephan Scheuzger, verlief nicht nur im Rahmen eines vermeintlich ausschließlich vom Westen ausgehenden globalen Modernisierungsprozesses. Eine solche Geschichte des modernen Strafvollzugs, die die Entwicklung in anderen Erdteilen lediglich als eine nachholende Anpassung an europäische und nordamerikanische Modelle denkt, übersieht, dass die Reformbewegung viele Zentren hatte und der Ideenfluss nicht immer nur einer Richtung folgte. Bereits vor dem Bau des Londoner Gefängnisses Pentonville, das 1842 seinen Betrieb aufnahm und für mehrere Jahrzehnte so etwas wie den Goldstandard moderner Gefängnisarchitektur verkörperte, entstanden im postkolonialen Lateinamerika Projekte, die ganz ähnlich ausgerichtet waren. Ab 1833 plante man etwa in Rio de Janeiro eine Casa de Correção mit vier Flügeln und einem radialen Grundriss. In Brasilien, aber auch in Chile, fanden darüber hinaus ausgedehnte Diskussionen über eine Reform des Gefängniswesens statt, die zwar von den zeitgleich in Nordamerika laufenden Debatten inspiriert waren, aber auch auf spanische Anregungen aus der späten bourbonischen Kolonialzeit zurückgriffen.

Schluss

Das moderne Gefängnis kam nicht in England, Frankreich und den USA zur Welt, um sich anschließend als Idee und konkrete Praxis über den Erdball zu verbreiten, sondern es entstand im Rahmen eines globalen Austauschprozesses, der sich mit dem traditionellen Modell eines Wissenstransfers zwischen einem Zentrum und seinen Peripherien nicht adäquat erfassen lässt. Die Freiheitsstrafe, wie wir sie heute kennen, war im 19. Jahrhundert das Kind einer globalen Verflechtung, die insbesondere auch lateinamerikanische und asiatische Räume einbezog. Diese globale Dimension des Gefängnisses im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigt sich nicht zuletzt an den internationalen Gefängniskongressen, die immer stärker auch von Vertretern aus Brasilien, Chile, Argentinien, Mexiko, Japan, China, Indien oder der Türkei besucht wurden. Heute hingegen, so kann man den Eindruck gewinnen, zieht sich die Entwicklung in vielen Weltregionen auf erheblich kleinräumigere Traditionen zurück: War die Strafhaft vor einem Jahrhundert noch ein Objekt transnationalen Reformeifers, scheinen die Debatten heute nur noch im nationalen Rahmen geführt zu werden.

Diesem Rückfall in die nationale Engstirnigkeit kann die Beschäftigung mit der Geschichte der Einsperrung etwas entgegensetzen. Die Erforschung von Vergangenheit und Gegenwart des Gefängnisses war lange von Denkmodellen dominiert, die westlich ausgerichtet und von den Erfahrungen dessen geprägt sind, was man gemeinhin "die Moderne" nennt. Heute hingegen trägt sie dazu bei, uns bewusst zu machen, dass die Freiheitsstrafe viele Ursprünge hat und nicht nur im Westen zur Welt gekommen ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Externer Link: https://prisonstudies.org/country/germany.

  2. Siehe Externer Link: https://prisonstudies.org/country/united-states-america.

  3. Siehe Externer Link: https://prisonstudies.org/world-prison-brief-data.

  4. Vgl. Gotthold Bohne, Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12.−16. Jahrhunderts, 2 Bde., Leipzig 1922 und 1925.

  5. Vgl. Robert von Hippel, Die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe und des Erziehungs-Strafvollzugs, Jena 1932; Gustav Radbruch, Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund, in: ders., Elegantiae Juris Criminalis. Vierzehn Studien zur Geschichte des Strafrechts, Basel 1950, S. 116–129.

  6. Vgl. Guy Geltner, The Medieval Prison. A Social History, Princeton–Oxford 2008.

  7. Vgl. Julie Claustre, Dans les geôles du roi. La prison pour dette à Paris à la fin du Moyen Âge, Paris 2007. Mit dem Schwerpunkt auf die Frühe Neuzeit unternehmen derzeit Simon Castanié (zu Paris), Leïla Cheurfa (zu Aberdeen) und Benoît Saint-Cast (zu Lyon) weitere Studien zur Geschichte der Schuldhaft.

  8. Vgl. Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn–Berlin 1991, insb. S. 95–104 und S. 123–132.

  9. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994; David J. Rothman, The Discovery of the Asylum: Social Order and Disorder in the New Republic, Boston–Toronto 1971; Pierre Deyon, Le temps des prisons: essai sur l’histoire de la délinquance et les origines du système pénitentiaire, Villeneuve-d’Ascq 1975; Michel Ignatieff, A Just Measure of Pain: The Penitentiary in the Industrial Revolution, 1750–1850, New York 1978; Michelle Perrot (Hrsg.), L’impossible prison. Recherches sur le système pénitentiaire, Paris 1981.

  10. Vgl. Georg Rusche/Otto Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug, Frankfurt/M. 1974.

  11. Vgl. Thomas Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine: Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775–1848, München 2001.

  12. Vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 2014, S. 8; Arlette Farge, Condamnés au XVIIIe siècle, Paris 2008, S. 25.

  13. Vgl. Pieter Spierenburg, The Prison Experience. Disciplinary Institutions and Their Inmates in Early Modern Europe, Amsterdam 2007; Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen vom 18. bis zum 19. Jahrhundert, Konstanz 2008.

  14. Vgl. Gerhard Schuck, Arbeit als Policeystrafe. Policey und Strafjustiz, in: Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 611–625; Thomas Krause, Opera publica, in: Gerhard Ammerer/Falk Bretschneider/Alfred Stefan Weiß (Hrsg.), Gefängnis und Gesellschaft. Zur (Vor-)Geschichte der strafenden Einsperrung, Leipzig 2003, S. 117–130.

  15. Vgl. André Zysberg, Les galériens. Vies et destins de 60000 forçats sur les galères de France, 1680–1748, Paris 1987; Fariba Zarinebaf, Crime and Punishment in Istanbul, 1700–1800, Berkeley 2010, S. 164–168.

  16. Vgl. Gwenda Morgan/Peter Rushton, Banishement in the Early Atlantic World. Convicts, Rebels and Slaves, London–New York 2013; Stephan Steiner, Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext, Wien–Köln–Weimar 2014.

  17. Vgl. Bronisław Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, Zürich 1988; Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut, Weimar 2000.

  18. Erste Einblicke in die Geschichte dieser Institution gibt Nicolas Sainte Fare Garnot, L’Hôpital Général de Paris. Institution d’assistance, de police, ou de soins?, in: Histoire, économie et société 4/1984, S. 535–542.

  19. Vgl. Gerhard Ammerer et al. (Hrsg.), Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter, Leipzig 2010.

  20. Vgl. Hubert Treiber/Heinz Steinert, Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Über die "Wahlverwandtschaft" von Kloster- und Fabrikdisziplin, Münster 2005.

  21. Vgl. Jens-Uwe Krause, Gefängnisse im Römischen Reich, Stuttgart 1996.

  22. Vgl. Isabelle Heullant-Donat/Julie Claustre/Élisabeth Lusset (Hrsg.), Enfermements. Le cloître et la prison (Ve-XVIIIe siècles), Paris 2011.

  23. Siehe Externer Link: http://cloitreprison.fr.

  24. Vgl. Julia Hillner, Prison, Punishment and Penance in Late Antiquity, Cambridge 2015.

  25. Vgl. Katja Makhotina, Klosterhaft als Sozialdisziplinierung? Russische Klöster der Frühen Neuzeit als Räume des Strafens, der sozialen Fürsorge und der "Korrektur der Seele", in: Diana Ordubadi/Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Die "Alleinherrschaft" der russischen Zaren in der "Zeit der Wirren" in transkultureller Perspektive", Göttingen 2020, S. 207–234.

  26. Vgl. Mary Gibson, Global Perspectives on the Birth of the Prison, in: The American Historical Review 4/2011, S. 1040–1063.

  27. Vgl. Jan Vansina, L’enfermement dans l’Angola ancien, in: Florence Bernault (Hrsg.), Enfermement, prison et châtiments en Afrique du XIXe siècle à nos jours, Paris 1999, S. 83–97.

  28. Vgl. Peter B. Zinoman, The Colonial Bastille: A History of Imprisonment in Vietnam, 1862–1940, Berkeley 2001.

  29. Frank Dikötter, Crime, Punishment and the Prison in Modem China, London 2002, S. 8.

  30. Vgl. Natalia Muchnik, Les prisons de la foi. L’enfermement des minorités, XVIe-XVIIIe siècle, Paris 2019, S. 86–90.

  31. Vgl. Daniel V. Botsman, Punishment and Power in the Making of Modern Japan, Princeton 2005, S. 59–84.

  32. Vgl. Zarinebaf (Anm. 15), S. 169–171.

  33. Carlos Aguirre, Prisons and Prisoners in Modernising Latin America (1800–1940), in: Frank Dikötter/Ian Brown (Hrsg.), Cultures of Confinement. A History of Prisons in Africa, Asia and Latin America, Ithaca 2007, S. 14–54, hier S. 17.

  34. Vgl. Roger Deacon, "A Punishment More Bitter Than Death": Dirck Coornhert’s "Boeven-tucht" and the Rise of Discipline, in: A Journal of Social and Political Theory 118/2009, S. 82–88.

  35. Das Folgende nach Stephan Scheuzger, Contre une vision diffusionniste de la "naissance de la prison". Perspectives sur les débuts de l’histoire mondiale des régimes pénitentiaires modernes, in: Socio 14/2020, S. 55–75.

  36. Vgl. ebd., S. 68.

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ist Maître de Conférences an der École des hautes Études en Sciences sociales in Paris.
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