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Grönlands langsame Dekolonialisierung von Dänemark | Grönland | bpb.de

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Grönlands langsame Dekolonialisierung von Dänemark

Ulrik Pram Gad

/ 20 Minuten zu lesen

Seitdem Grönland 1953 offiziell als gleichberechtigter Teil in das Königreich Dänemark integriert wurde, hat es Schritt für Schritt mehr Autonomie erlangt. Der Weg zu wirklicher Gleichstellung ist jedoch beschwerlich, und viele Grönländer streben nach Unabhängigkeit.

Nationalgefühle gründen sich nicht nur auf kollektive Erinnerungen, sondern auch auf das Vergessen. Der dänische Nationalstaat hat seine Vergangenheit und Gegenwart als „Konglomeratstaat“ weitgehend verdrängt. Doch das jüngste „Gerangel um die Arktis“, losgetreten durch die Verschiebungen im globalen Gleichgewicht bei Klima, Macht und Wirtschaft, hat den Dän:innen vor Augen geführt, dass das Königreich Dänemark mehr ist als nur ein kleiner Korken in der baltischen Meerenge. Im Folgenden stelle ich die wichtigsten Merkmale und Dynamiken der dänischen Reichsgemeinschaft (Rigsfællesskabet) mit Grönland (Kalaallit Nunaat) heraus. Ich werde zeigen, dass die Zukunft dieser Gemeinschaft immer dann auf dem Spiel steht, wenn dänische Aktionen, Reaktionen oder Passivität so interpretiert werden können, dass Dänemark versucht, das Reich für sich zu beanspruchen. Es werden drei Aspekte der Gemeinschaft in den Blick genommen: der verfassungsrechtliche Status Grönlands, die gesellschaftlichen Verhältnisse und der geopolitische Kontext. In allen drei Bereichen ist Grönland vom Rand in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.

Verfassungsrechtliches Oxymoron

Im Zuge der Vorbereitungen für den neuen rechtlichen Status der Färöer und Grönlands nach dem Zweiten Weltkrieg bat die dänische Regierung einen der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des Landes, Alf Ross, um Rat. Er nutzte die Gelegenheit, um den Begriff der Rigsfællesskabet (Reichsgemeinschaft) – die allgemein verwendete Bezeichnung für die Tatsache, dass zum Königreich Dänemark auch kleine und große Inseln im Nordatlantik gehören – als juristisch gegenstandslos zu bezeichnen, denn „eine Gemeinschaft (fællesskab) besteht zwischen gleichberechtigten Parteien; eine Einheit (enhed) besteht zwischen Teilen und einer Gesamtheit“. Weil Dänemark, die Färöer und Grönland eben nicht gleichberechtigt seien, sei der Begriff Rigsenheden (Reichseinheit) passender. Offizielle Rechtstexte vermeiden daher im Allgemeinen die Verwendung des Begriffs der Rigsfællesskabet. Auch die Website des Büros des dänischen Premierministers hält in ihrer englischen Version an der Bezeichnung Unity of the Realm (Reichseinheit) fest, obwohl die wörtliche Übersetzung ins Englische Community of the Realm (Reichsgemeinschaft) lauten müsste. Dennoch bleibt die Rigsfællesskabet der begriffliche Rahmen für die Vorstellungen der Bevölkerung, für praktische Vereinbarungen sowie für rechtliche Auseinandersetzungen und politische Debatten über die Beziehungen zwischen Grönländer:innen und Dän:innen. Die grönländische Version, naalagaaffeqatigiinneq, geht noch einen Schritt weiter: „Naalagaq“ bedeutet „derjenige, der entscheidet“ – und „qatigiinneq“ beschreibt etwas, das man gemeinsam mit anderen tut.

Aus Sicht der dänischen Verfassungsgeschichte kam Grönland unter die dänische Krone, als sich diese im 14. Jahrhundert mit der norwegischen Krone vereinigte. Norwegische Wikinger hatten sich im Südwesten Grönlands niedergelassen, und von Westnorwegen aus wurde Handel mit ihnen betrieben. Der Kontakt zu den Siedler:innen in Grönland fand jedoch sein Ende – und wie sich später herausstellte, auch die Siedler:innen selbst. Grönland wurde ab 1721 neu kolonialisiert, als der Norweger Hans Egede vom König ausgesandt wurde, um die Seelen der Norweger:innen zu retten, die keine Chance gehabt hatten, von der Reformation zu erfahren. Da keine Norweger:innen zu finden waren, machte sich Egede daran, die Inuit zu christianisieren, die auf die Insel eingewandert waren.

Als Norwegen 1814 im Rahmen der Friedensverträge nach den Napoleonischen Kriegen an Schweden verloren ging, wurden Handel und Verwaltung von Grönland, Island und den Färöern von Bergen nach Kopenhagen verlegt. Mit der Verfassungsreform von 1953 wurde Grönland offiziell entkolonialisiert und als gleichberechtigter Teil in das Königreich Dänemark integriert, 1979 erlangte es mit der Regierungsform der Hjemmestyre (Heimverwaltung) weitreichende Autonomie. Die Hjemmestyre wurde 2009 durch die Selvstyre (Selbstverwaltung) abgelöst, und die Autonomierechte wurden erweitert. Gleichzeitig entsendet Grönland trotz eines eigenen Parlaments bis heute zwei Abgeordnete ins dänische Parlament (Folketinget), die den anderen Abgeordneten gleichgestellt sind und in allen Angelegenheiten volles Stimmrecht haben.

Lange Zeit wurde in offiziellen Auslegungen des dänischen Verfassungsrechts darauf bestanden, Grönlands Autonomie als Befugnisse zu behandeln, die vom souveränen (dänischen) Zentrum übertragen worden waren. Die grönländische Kritik konzentrierte sich auf die Frage, ob das Verfahren, das 1953 in der formellen Integration Grönlands gipfelte, überhaupt den UN-Standards entsprochen hatte. Diese schreiben eine freie und informierte Zustimmung vor; den Grönländer:innen waren aber die in den UN-Entkolonialisierungsprozessen diskutierten Alternativen zur Integration – nämlich Unabhängigkeit und freie Assoziierung – nicht vorgelegt worden. Da das Selbstverwaltungsgesetz von 2009 ein Verfahren enthält, wie Grönland seine Unabhängigkeit erklären kann, konzentrieren sich die Auseinandersetzungen seither auf außen- und sicherheitspolitische Kompetenzen. Auch in der Rechtswissenschaft wird eine Ausweitung der unabhängigen Handlungsfähigkeit Grönlands auf internationaler Ebene befürwortet und sich gegen die von der dänischen Regierung vorgebrachten Ansprüche auf ein Vorrecht in auswärtigen Angelegenheiten gewandt.

Die Zuständigkeitsbereiche der grönländischen Regierung sind recht weit gefasst – im Vergleich zu Vereinbarungen zwischen anderen überseeischen Gebieten und ihren jeweiligen Mutterländern. Die grönländischen Behörden haben in fast allen Bereichen der inneren Angelegenheiten die Kontrolle übernommen. Auch die übrigen Angelegenheiten sind größtenteils als übernahmefähig eingestuft, darunter auch staatliche Kernfunktionen wie Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichtsbarkeit, Strafvollzug, Passhoheit, Ausländerangelegenheiten und Grenzkontrolle. Lange Zeit lautete der offizielle dänische Standpunkt bei jeder grönländischen Forderung nach mehr Autonomie, dass dies gegen die dänische Verfassung verstoßen würde; bis die Regierung eines Tages ihre Sichtweise änderte und die Übernahme von Mineralienabbau und Polizei plötzlich ebenso möglich war wie die Beteiligung an auswärtigen Angelegenheiten und die formelle Anerkennung der grönländischen Selbstverwaltung nach internationalem Recht. Nur die Verfassung, die Staatsbürgerschaft, der Oberste Gerichtshof, die Devisen- und Währungspolitik sowie die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind ausdrücklich von der Übernahme ausgenommen.

Doch sogar in der Außenpolitik wurden ausgeklügelte Verfahren für eine unabhängige Vertretung und Beteiligung kodifiziert. Innerhalb ihrer Zuständigkeitsbereiche kann die grönländische Regierung „im Namen des Reiches" Abkommen mit ausländischen Staaten und internationalen Organisationen schließen. Dänemark übernimmt jedoch das Ruder, wenn es als Land selbst an der Angelegenheit beteiligt ist, Mitglied der betreffenden internationalen Organisation ist oder wenn sowohl Grönland als auch die Färöer involviert sind. Aber sogar in solchen und ähnlichen außenpolitischen Angelegenheiten, die die dänische Regierung im Namen Grönlands regelt, sind intensive Konsultationen vorgeschrieben. In der Tat haben sich Präzedenzfälle ergeben, die es für einen dänischen Außenminister künftig schwer machen würden, arktische Angelegenheiten ohne einen grönländischen Ansprechpartner zu verhandeln. Außerdem scheint die grönländische Regierung de facto ein Veto gegen dänische Verteidigungsausgaben in der Arktis einlegen zu können.

Ringen um Gleichstellung

Der Aufbau einer Gemeinschaft (fællesskab) wurde erst notwendig, als das Reich (riget) aufhörte, aus sich selbst heraus legitim zu erscheinen, und sich um 1800 die Idee der Volkssouveränität durchsetzte. Doch auch dann prägten Hierarchievorstellungen in Bezug auf Ethnie, Zivilisiertheit und Bevölkerungsgröße das Verhältnis zwischen den einzelnen Parteien des Reiches. Ursprünglich gehörten die Grönländer:innen in den Augen vieler Dän:innen einer andersartigen „Rasse“ an. Zwar waren sie vielleicht Meister in der Anpassung an ihre besondere Umwelt, jedoch untauglich für die Zivilisation und daher auf dänischen Schutz angewiesen. Überreste dieser Vorstellungen leben in Vorurteilen bis heute weiter: Beispielsweise seien Grönländer:innen nicht in der Lage, jeden Morgen um acht Uhr auf der Arbeit zu erscheinen, da in ihrer Kultur das Leben auf die Natur ausgerichtet ist. Von ihren dänischen Oberherren lernten die Grönländer:innen jedenfalls, dass der beste Weg, um sich in einer komplexen Welt Gleichstellung zu erkämpfen, darin besteht, eine kulturell homogene Nation mit einem eigenen Staat zu sein. Die letzte verbliebene Hierarchie betrifft die Bevölkerungsgröße: Einige Grönländer:innen teilen den Gedanken vieler Dän:innen, ihre Nation sei mit 56.000 Einwohner:innen zu klein, um unabhängig einen modernen Staat zu führen.

Der Zweite Weltkrieg schnitt Grönland vom Mutterland Dänemark ab, das seit 1940 vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt war. Von 1941 bis Kriegsende sicherten die USA die Versorgung und den Status quo der Insel, während die dänischen Behörden vor Ort die Verwaltung übernahmen. Nach der erneuten Zusammenführung gab es keinen Weg zurück zu den alten Hierarchien; stattdessen erachtete man Programme, die eine weitere Gleichstellung vorantreiben würden, als sinnvoll. Der Krieg hatte den „Rasseideologien“ als Begründung für offizielle politische Unterwerfung jede Legitimation entzogen. Bei der Gründung der Vereinten Nationen war daher der Imperativ, alle nicht selbstverwalteten Gebiete zu entkolonialisieren, von wesentlicher Bedeutung.

Die dänische Art und Weise, mit den Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg umzugehen, bestand aus einer Entkolonialisierung durch Integration, sodass die Insel und ihre Bevölkerung mit dem Verfassungsgesetz von 1953 gleichberechtigter Teil von Dänemark wurden. Die Grönländer:innen nahmen an dem Verfassungsreferendum nicht teil. Auf die Integration folgten verstärkte Modernisierungsmaßnahmen. Zwar wurden diese von der grönländischen Elite eingefordert, aber im Wesentlichen ausgearbeitet und umgesetzt vom Ministerium für Grönland sowie von seinen beiden in Kopenhagen ansässigen Exekutivorganen, dem Kongelige Grønlandske Handel (KGH) und der Grønlands Tekniske Organisation (GTO).

Die Ergebnisse waren dramatisch, komplex und umstritten. Einerseits verdoppelte sich die durchschnittliche Lebenserwartung dank verbesserter Gesundheitsdienste, Sozialleistungen und Wohnqualität nahezu, und die Zahl der Grönländer:innen, die über die Grundschule hinaus eine Ausbildung absolvierten, stieg. Andererseits fühlte sich das, was offiziell eine Entkolonialisierung war, für viele wie Neokolonialismus an: Die physische Infrastruktur, die dem neuen Wohlstand sein Gesicht gab, wurde von dänischen Firmen und Bauunternehmen errichtet, Dän:innen wurden vermehrt ins Land geholt, um die Wohlfahrtseinrichtungen personell auszustatten, und sowohl Infrastruktur wie Institutionen wurden größtenteils nach dänischen Vorbildern erbaut. Der Weg in die Gleichstellung als dänische Bürger:innen war mit Ungleichheit gepflastert. Als besonders verletzend wurde das „Geburtsortkriterium“ wahrgenommen: Eigentlich eingeführt, um den (weniger produktiven) grönländischen Arbeitsmarkt vor der Anpassung an die (höheren) dänischen Löhne zu schützen, wurden in Grönland geborene Personen schlechter bezahlt als ihre aus Dänemark rekrutierten Kolleg:innen mit gleicher Ausbildung und Funktion. Diese Erfahrungen mit Diskriminierung und einer Regierung aus der Distanz trieben die Forderungen nach anderen Verständnisweisen von Gleichheit maßgeblich voran.

Durch das grönländische Autonomiegesetz von 1979 wurde die zwar vom grönländischen Volk gewählte, aber lediglich beratende Versammlung Landsrådet zu einem legislativen Landstinget aufgewertet und außerdem eine exekutive Landsstyre, also die grönländische Regierung, eingerichtet. Um die rein formale Übertragung von Befugnissen in die Praxis umzusetzen, wurden die monolithischen Exekutivorgane KGH und GTO entsprechend ihrer Funktionen aufgeteilt, ihr Personal wurde nach Nuuk verlegt oder durch neue Mitarbeiter:innen ersetzt. Weiterhin wurden ehrgeizige Reformen eingeleitet, insbesondere in der eminent wichtigen Fischereiindustrie (Dezentralisierung der Produktion und der Entscheidungsfindung in die Städte und Siedlungen entlang der Küste) sowie im Bildungssektor (Priorisierung der grönländischen Sprache). Bereits 1992, viel früher als allgemein gedacht, hatte die Autonomieregierung in Nuuk von Null auf einen Verwaltungsapparat aufgebaut und nicht nur die politische Verantwortung, sondern auch die praktische Organisation der wichtigsten Dienstleistungen übernommen: von Krankenhäusern und Hubschraubern bis hin zu Lebensmittelläden in fast hundert abgelegenen Siedlungen und einem weltweit führenden Garnelenexportgeschäft.

Das Gefühl, gleichberechtigt zu sein, wollte sich jedoch noch immer nicht einstellen. Die neuen Stellen in Nuuk, die unter grönländischer politischer Kontrolle standen, wurden nach wie vor überwiegend mit Dän:innen besetzt, die über einen Hochschulabschluss verfügten, und nicht mit Grönländer:innen, die zwar keinen Hochschulabschluss hatten, aber mit den grönländischen Verhältnissen vertraut waren. Die existierende Infrastruktur, die Geschäftsbeziehungen und Verbraucher:innenwünsche lenkten Verkehr und Handel weiterhin nach Dänemark und verstärkten die bestehenden ethnischen Hierarchien. Dänische Paradigmen, Modelle und Ausbildungen prägten die Regulierung, Organisation und Lösung grönländischer Probleme – oft auf überraschend unhinterfragte Weise.

Abgesehen von der anhaltenden dänischen Dominanz beim Import von Fachwissen und Arbeitskräften war der Mangel an Einnahmen unter der Autonomieregierung ein ernsthaftes Hindernis, das Grönland den Weg zur Gleichberechtigung als eigenständiges Land verstellte: Grönland war (und ist) auf eine dänische Pauschalsubvention angewiesen. Entscheidend dabei war, dass Grönlands reiche Bodenschätze, zu denen sowohl gut dokumentierte Mineralienvorkommen an Land als auch potenziell riesige Ölvorkommen vor der Küste gehören, nach dem Autonomiegesetz von 1979 dänisches Staatseigentum blieben. Auch die fehlende Anerkennung als ein Volk mit Anspruch auf Selbstverwaltung nach internationalem Recht blieb vielen Grönländer:innen ein Dorn im Auge.

Im Jahr 2009 wurden diese Hürden bei der Gleichberechtigung der Grönländer:innen durch eine reformierte Version der Autonomie unter der Bezeichnung Selvstyre (Selbstverwaltung) neu priorisiert. Erstens wurde die Liste der Bereiche, die Nuuk übernehmen kann, erweitert. In finanzieller Hinsicht wurde der Spieß jedoch umgedreht: Seit 1979 war jede neuerlangte grönländische Zuständigkeit mit einer Erhöhung der dänischen Subventionen einhergegangen, doch seit 2009 muss Grönland neue Ausgaben selbst finanzieren. Zweitens erhielt Grönland das Recht, den größten Teil von potenziellen Einnahmen aus dem Rohstoffabbau eigenständig zu regulieren, zu verwalten und für sich selbst zu erwirtschaften. Dadurch ist es überhaupt erst vorstellbar geworden, dass Grönland in Zukunft umfangreiche selbstfinanzierte Verantwortungsbereiche übernimmt. Die grönländische Regierung warb selbstbewusst damit, dass der Abbau von Bodenschätzen das geeignete Mittel sei, um eine sich selbst tragende Wirtschaft aufzubauen und damit den finanziellen Ausgleich zu erreichen.

Die meisten dänischen Politiker:innen haben aus den Debatten vor und nach 2009 die Lehre gezogen, jede Hierarchie wenn möglich ausdrücklich zu leugnen, sobald sie den Verfassungsstatus Grönlands erwähnen. Allerdings fällt es ihnen eher schwer, zu erklären, was Gleichheit unter ungleichen Partnern konkret bedeuten soll. Vor diesem Hintergrund bekennen sich alle grönländischen Parteien – bis auf die Partei Atassut – nach wie vor zu einer Gleichheit von zwei souveränen Staaten; das Parteiensystem ist eher um die Frage herum strukturiert, wie schnell man mit der formalen Souveränität vorankommen will und welche Entwicklungsschritte nötig sind, damit die Souveränität nachhaltig gelingen kann.

Geopolitik und Paradiplomatie

In den Verhandlungen darüber, wie die souveräne Gleichheit zu erreichen sei, liegt der Schlüssel augenscheinlich darin, Abhängigkeiten über Dänemark hinaus zu verteilen. Hierbei sind die USA von entscheidender Bedeutung.

Die USA übernahmen die Kontrolle über Grönland 1941, um eine Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland zu verhindern und ihre eigene Teilnahme am Krieg in Europa zu erleichtern. Sie stellten der Bevölkerung Lebensmittel bereit und überließen die zivile Verwaltung den dänischen Behörden vor Ort. Nach Kriegsende ging Kopenhagen davon aus, dass die Amerikaner wieder abziehen würden, doch die Entwicklungen in der Waffentechnologie machten den nördlichsten Teil Grönlands für die US-Nuklearstrategie sowohl in defensiver als auch offensiver Hinsicht unverzichtbar. Grönland ist entscheidend für die Abwehr von gegen Nordamerika gerichtete Raketen aus Eurasien, insbesondere von der Kola-Halbinsel. So kam es zu dem Abkommen über die Verteidigung Grönlands von 1951, das „unbeschadet der Souveränität des Königreichs Dänemark" dem US-Militär in Grönland zugestand, zu tun und zu lassen, was es wollte. Wie weit das dänische Einknicken vor den US-Prioritäten ging, kam 1968 heraus, als mit der B-52 ein US-amerikanischer Nuklearwaffenträger in den eisbedeckten Fjord beim Luftwaffenstützpunkt Thule stürzte – die dänische Regierung verbietet die Lagerung und den Transport von Atomwaffen im Kernland ausdrücklich.

Im Verteidigungsabkommen von 1951 war festgelegt worden, dass „jede Anstrengung unternommen wird, jeglichen Kontakt zwischen dem Personal der Vereinigten Staaten und der lokalen Bevölkerung zu vermeiden“. Diese Bestimmung entsprach dem dänischen Kolonialnarrativ, demzufolge die einheimischen Inuit vor Einmischung von außen geschützt werden müssten und Dänemark den Modernisierungsprozess auf eine einzigartig sanfte und wohlwollende Weise steuern würde. Trotzdem haben die Bemühungen Dänemarks, seine Souveränität über Grönland gegenüber anderen konkurrierenden Mächten aufrechtzuerhalten, in bestimmten Fällen zu harten Eingriffen in das Leben der grönländischen Bevölkerung geführt. Im Jahr 1925 wurden 70 Grönländer:innen etwa 800 Kilometer nördlich von Tasiilaq in das spätere Ittoqqortoormiit umgesiedelt. Die Umsiedlung wurde den Grönländer:innen mit Aussicht auf bessere Jagdgründe angepriesen, in Wirklichkeit wurde die Entscheidung jedoch getroffen, um die dänische Souveränität zu sichern: Nordostgrönland wurde von Norwegen beansprucht. Die Frage, wem das Gebiet gehöre, wurde später vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verhandelt, der 1933 zugunsten von Dänemark entschied.

Jahrzehnte später drängten der UN-Entkolonisierungsprozess und die US-Militärstrategie Dänemark zu einem ähnlichen Bevölkerungstransfer. Anfang 1953 betrachteten die USA es als notwendig, den Luftwaffenstützpunkt Thule zu schützen, indem sie ein taktisches Atomraketen-Silo inmitten einer nahen Inuit-Siedlung errichteten. Da die Überarbeitung der dänischen Verfassung ab Juni 1953 die bürgerlichen Freiheiten auf Grönländer:innen ausweiten sollte, um den UN-Forderungen nach Entkolonialisierung von nicht selbstverwalteten Gebieten gerecht zu werden, gerieten die dänischen Behörden in Eile. Die Bewohner:innen wurden im späten Frühjahr aufgefordert, das Gelände innerhalb weniger Tage zu räumen und ihre Habseligkeiten auf ihre Hundeschlitten zu verladen. Eine Ersatzunterkunft auf dem verlassenen nomadischen Lagerplatz Qaanaaq 100 Kilometer nördlich wurde erst im darauffolgenden Winter eingerichtet. Erst 1999 stellte ein Urteil des Obersten Gerichtshofs fest, dass die Umsiedelung der Jäger und ihrer Familien erzwungen worden war und nicht, wie von den dänischen Behörden behauptet, freiwillig erfolgte.

Die Zahl der US-Einrichtungen in Grönland ist mittlerweile auf eine einzige geschrumpft, die Pituffik Space Base – bis 2023 Thule Air Base – im Nordwesten der Insel. Außerdem wurden einige Verfahren eingerichtet, um die dänische und grönländische Beteiligung und den Einblick in die militärischen Aktivitäten der USA zu verbessern. Die nicht enden wollenden „Thule-Gates“ haben das Selbstbild Dänemarks als besonders wohlwollender Beschützer seiner grönländischen Untertanen aber wiederholt in Verlegenheit gebracht. So musste die grönländische Regierung 2004 das Igaliku-Abkommen zur Änderung des Verteidigungsabkommens mit den USA und Dänemark unterzeichnen und damit den Plänen der USA zustimmen, die Thule-Radare für das nationale Raketenabwehrsystem zu modernisieren. Dänemark hält seine Souveränität symbolisch aufrecht, indem es seine Flagge über Thule wehen lässt, die Hundeschlittenpatrouille SIRIUS durch das unbewohnte Nordostgrönland schickt und mit einer Handvoll Schiffen in grönländischen Gewässern patrouilliert, um die Fischerei zu kontrollieren. Im Ernstfall liegt die Verteidigung Grönlands jedoch in den Händen der USA. Grönland darf im Gegenzug für die Unterzeichnung jetzt auch seine Flagge (Erfalasorput) über der Pituffik Space Base (ehemals Thule) hissen. In diesem Sinne gewähren die Aushandlungen um militärische Angelegenheiten den Vertretern eines kleinen Volkes eine gewisse Beteiligung und rechtfertigen gleichzeitig die offizielle dänische Souveränität und die militärische Souveränität der USA über ein riesiges Gebiet.

In anderen Bereichen der Außenpolitik fallen die Vorteile in Hinblick auf die Souveränität für Grönland deutlicher aus. Als das Königreich Dänemark 1972 in einem Referendum für den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) stimmte, blieb es ohne Folgen, dass eine grönländische Mehrheit gegen den Beitritt war. Als „gleichberechtigter" Teil integriert, folgte Grönland Dänemark in die EG. Die Aussicht, dass die für Grönlands Wirtschaft und Entwicklungspläne so entscheidende Souveränität über die Fischerei sich noch weiter südlich von Kopenhagen nach Brüssel verlagern sollte, war ausschlaggebend für die Forderung nach dem Status der Hjemmestyre. Durch ihre Einführung 1979 konnte Grönland selbst über seine Mitgliedschaft in der EG entscheiden. Ein Referendum ergab 1982 eine knappe Mehrheit für den Austritt, und drei Jahre später verließ Grönland die EG. Über die Kategorie der „Überseeischen Länder und Gebiete“ (ÜLG) blieb Grönland aber mit der EG verbunden. Die ÜLG gehören nicht zum Territorium der EU, genießen aber Personenfreizügigkeit und Steuerfreiheit bei Exporten für den Binnenmarkt. Allerdings gilt nach dem Grönland-Vertrag von 1985 die Steuerfreiheit nur unter der Bedingung, dass es „zufriedenstellende“ Abkommen über die Zusammenarbeit in der Fischerei gibt. Ein maßgeschneidertes Partnerschaftsabkommen, das die Förderung der „nachhaltigen Entwicklung“ Grönlands zum Ziel hat, ergänzt seit 2006 das Fischereiabkommen, was Grönland – ohne ein souveräner Staat und ohne Mitglied zu sein – eine einzigartig unabhängige Sichtbarkeit und Handlungsfähigkeit gegenüber der EU verschafft.

Die erhöhte Aufmerksamkeit, die mit den Veränderungen des globalen Klimas und der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Verhältnisse einhergeht, hat Grönland vermehrt Möglichkeiten eröffnet, über Dänemark hinaus Kontakte zu knüpfen. Die grönländische Regierung entsendet ihr eigenes diplomatisches Personal (mit dänischen Diplomatenpässen) nach Brüssel, Washington, Beijing und Reykjavík. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass nicht alle Verhandlungen mit Drittstaaten so reibungslos ablaufen wie die mit der EU. Seit der erweiterten Selbstverwaltungsregelung von 2009 arbeitete die grönländische Regierung – unterstützt durch dänische Diplomat:innen – einige Jahre lang daran, chinesische Unternehmen davon zu überzeugen, dass sie als Investoren in Grönland willkommen seien. Der aktuelle Kurs der USA im „Gerangel um die Arktis“ machte Grönland jedoch klar, dass dies gar nicht der Fall ist. Daher werden sich die Bestrebungen Grönlands, seine Abhängigkeiten breiter zu verteilen und so mehr Gleichberechtigung zu erlangen, vorerst auf die Wiederbelebung und den Ausbau der langjährigen Beziehungen zu Brüssel konzentrieren. Gleichzeitig wird es versuchen, die USA in Richtung Investitionen und Handel zu bewegen und von Annexionsideen abzubringen: Grönland sei weiterhin „offen für Geschäfte, aber nicht zu verkaufen“.

Fazit

Die Reichsgemeinschaft bleibt ein verfassungsrechtliches Oxymoron, das gleichermaßen eine imperiale Hierarchie und eine Gemeinschaftsbindung impliziert. Beide politischen Gebilde teilen das Ideal einer Welt aus Nationen, die ethnisch homogen sind und jeweils über ihren eigenen Staat verfügen. Nach und nach ist Dänemark einigen grönländischen Forderungen nachgekommen, doch die eigentlich angestrebte Gleichberechtigung hat sich als schwer realisierbar erwiesen. Im Laufe der Zeit wandelte sich die dänische Strategie zur Bewahrung der eigenen Souveränität: Von einem etwas plumpen, wenn auch nie blutigen dänischen Imperialismus hin zu immer ausgefeilteren sprachlichen und diplomatischen Handlungen, welche die Zusammenarbeit betonen. Weil sich das von Kopenhagen exportierte Ideal des Nationalstaats durchgesetzt hat, genießt die Idee der Gemeinschaft als einer immer lockerer werdenden Union die größte Zustimmung in Grönland. Auch Dänemark sieht eine grönländische Unabhängigkeit und damit die Auflösung der Gemeinschaft als letztendliches Ziel – und fördert gerade damit die Lebensfähigkeit der bestehenden Gemeinschaft. Wann immer dänische Aktionen, Reaktionen oder Passivität hingegen so gelesen werden können, dass Dänemark versucht, das Reich allein für sich zu behalten, steht die Existenz der Gemeinschaft auf dem Spiel.

Die dänische Regierung hat akzeptiert, dass Grönland eine eigene Verfassung erarbeitet hat. Ihre Verabschiedung wird der Reichsgemeinschaft, wie sie aktuell verfassungsmäßig besteht, eines Tages ein offizielles Ende setzen. Doch wird ein souveräner grönländischer Staat kaum das Ende der dänisch-grönländischen Beziehungen bedeuten. Im Gegenteil ist eine unmittelbar nach der Abspaltung wiederbelebte „Gemeinschaft“, die sich bloß nicht länger als „Reich“ versteht, wohl das wahrscheinlichste und belastbarste aller Szenarien. Manche grönländischen Politiker:innen und Diplomat:innen haben, inspiriert von anderen sich entkolonialisierenden Inselgruppen, die „freie Assoziation“ als möglichen Rahmen für ein unabhängiges Grönland in den Raum gestellt. Dies würde bedeuten, dass sich Grönland offiziell vom dänischen Staat abspaltet, nur um sich im gleichen Atemzug aus eigenem Impetus mit ihm zusammenzuschließen. In den Verhandlungen im Vorfeld dieser Neuordnung wird man sich um Verfassungsrecht, Bürger:innenrechte, die alltägliche Außenpolitik und Finanzen streiten, aber letztlich im Sinne eines dänischen Pragmatismus Lösungen finden.

Der Knackpunkt liegt eher in der Organisation der Sicherheitspolitik. Die derzeitige US-Regierung hat deutlich gemacht, dass ihre Sicherheitsinteressen von jeder grönländischen Regierung berücksichtigt werden müssen – ansonsten werden die USA im Alleingang handeln. Hinzu kommt, dass sich Grönlands Streben nach Selbstbestimmung, insbesondere in Bezug auf die Sicherheitspolitik, nicht so leicht mit den Forderungen der USA vereinbaren lässt. In dieser Situation könnte sich Dänemark erneut als praktischer Puffer zwischen Grönland und dem Rest der Welt erweisen.

Um dem Gefühl Grönlands, in einer untergeordneten Position gefangen zu sein, Abhilfe zu schaffen, könnte auch die EU eine wichtige Rolle spielen. Erstens schätzt Grönland die moralische und symbolische Unterstützung für sein Selbstbestimmungsrecht, die es von der EU und ihren Mitgliedstaaten bekommt. Zweitens könnten verstärkte europäische Bemühungen um die Erneuerung der grönländischen Rohstoff- und Wasserkraftindustrie einen Wendepunkt für die grönländische Wirtschaft sowie für die strategische Unabhängigkeit Europas von russischer Energie und chinesischen Mineralien bedeuten. Drittens könnte eine gewisse verfassungsrechtliche Flexibilität seitens der EU im Falle eines offiziell unabhängigeren Grönland sinnvoll sein: Würde man jede künftige Vereinbarung – selbst wenn es sich formal um einen Vertrag zwischen zwei souveränen Staaten handelt – als „verfassungsrechtliche Beziehung zu einem Mitgliedstaat“ auslegen, bliebe Grönland in der Umlaufbahn der EU. Damit hätten die Grönländer:innen weiterhin ein Anrecht auf den Status als EU-Bürger:innen und die grönländischen Krabben (und potenziellen Rohstoffe) weiterhin steuerfreien Zugang zum Binnenmarkt.

ist Senior Researcher am Dänischen Institut für Internationale Studien in Kopenhagen. Zuvor arbeitete er unter anderem für die grönländische Regierung in Nuuk und für das dänische Kultur- sowie Außenministerium.